Kreml, Roter Platz, Lenin-Mausoleum Kremlin, Red Square, Lenin Mausoleum (1987)
54 55 Die Frau, das Café, die Plastiktüte und ich Ein Stück in vier Akten 1 Unvermittelt bleibt die Frau stehen. Direkt vor dem Café, fast schon daran vorbei gelaufen. Jetzt eine Tasse Kaffee oder einen Becher Tee mit etwas süßem Gebäck oder vielleicht lieber einen kleinen Imbiss und ein Gläschen dazu. Sie kennt das Café. Sie weiß, was es da gibt. Es ist ihr Viertel, ihre Nachbarschaft. Die Frau steht mitten auf der Straße. Es ist kaum Verkehr in dieser Straße. Sie wühlt in ihrer Plastiktüte und sucht nach dem Geldbeutel. Sie möchte gerne ins Café gehen, sich ein bisschen ausruhen und etwas trinken. Sie kommt vom Einkaufen und hat schon einiges ausgegeben. Sie ist sich nicht sicher, ob sie noch genug Geld hat. 2 Das Café mit dem Wagenrad im Fenster heißt ARBA. Das ist Türkisch und steht für einen hohen zweirädriger Karren, gezogen von einem Pferd. Oben im Fenster steht ein kleines weißes Modell einer Arba. Auch das Schild zeigt eine Arba, stilisiert, aus Schmiedeeisen oder aus Eisenstäben zusammengeschweißt. Vielleicht stammt der Wirt aus der Ukraine oder aus dem Kaukasus, wo diese Karren auf dem Land von den Bauern noch heute benutzt werden. Ein Stück Heimat für den Wirt eines kleinen unscheinbaren Cafés in einer „namenlosen” Straße in Moskau. 3 Die Frage ist: Wo hat die Frau die Plastiktüte her? Eine ganz gewöhnliche Plastiktüte mit dem Werbeaufdruck „Duplo”, einem Schokoriegel aus Deutschland. Die Frau sieht nicht so aus, als würde sie in Geschäften einkaufen, in denen exotische Waren aus dem Westen teuer angeboten werden. In den normalen einfachen Läden wird es kaum deutsche Schokoriegel zu kaufen geben. Sie wird die Tüte gefunden haben oder irgendjemand hat sie ihr geschenkt. Sie benutzt sie als Einkaufstasche. Sie gefällt ihr einfach, ist auch etwas besonderes. Nicht jeder hat so eine tolle Tüte. Auch wenn sie mittlerweile ein bisschen zerknittert ist und etwas vergammelt aussieht. 4 Ich weiß nicht, ob es Plastiktüten von Duplo überhaupt gibt. Ich war noch nie im Café ARBA und ich kenne auch die Frau nicht. Ich war bisher zwei Mal in Moskau und – ganz ehrlich – auch nur auf dem Flugplatz zwischen irgendwelchen Flügen irgendwohin. So sieht’s aus, genau so. Jürgen Hennicke The Woman, the Café, the Plastic Bag and Me A Piece in Four Acts 1 Suddenly the woman stops, directly in front of the café, nearly having walked past it. Now a cup of coffee or tea with a somewhat sweet pastry or perhaps preferring a snack and a little glass of something with it. She knows the café. She knows what is there. It is her district, her neighborhood. The woman stands in the middle of the street. There is scarcely any traffic on the street. She rummages in her plastic bag, looking for her wallet. She would like to go into the café, rest a little and drink something. She has been shopping and has spent some money already. She is not sure if she has enough money. 2 ARBA is the name of the café with the wagon wheel in the window. It is Turkish and means a high, two-wheeled horsedrawn cart. High up on the window there is a small, white model of an Arba. The sign also shows a stylized Arba welded together with wrought-iron and iron rods. The landlord comes perhaps from the Ukraine or the Caucasus where such carts are still used today in the country. It was a piece of the homeland for the owner of this small, inconspicuous café in an nameless street in Moscow. 3 The question is: where did the woman get her plastic bag? A very everyday one with an advertisement for Duplo, a chocolate bar from Germany. The woman did not look like she shopped in stores where expensive and exotic Western goods were sold. There would scarcely be any German chocolate bars sold in the normal shops. She must have found the bag or someone had given it to her. She used it as a shopping bag. She likes it and it is something special. Not everyone has such a sweet bag, even though it is getting to be a little wrinkled and somewhat worn out with use. 4 I don’t know if there are any plastic shopping bags from Duplo. I was never in the ARBA café and I do not know the woman. I have only been to Moscow twice, and, quite honestly, only in the airport terminal between some flights to some place or other. So that’s what it looks like – exactly that. Juergen Hennicke