Contents Содержание - edition esefeld & traub
Contents Содержание - edition esefeld & traub
Contents Содержание - edition esefeld & traub
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
144<br />
145<br />
Rossija<br />
Modest Mussorgskys Oper Chowanschtschina<br />
stand 2001 auf dem Programm des Opernhauses<br />
in Zürich. Darin geht es, vereinfacht<br />
gesagt, um den Kampf zwischen Tradition<br />
und Fortschritt, zwischen Zentralgewalt und<br />
Feudalherren, zwischen Staat und Kirche<br />
im alten Russland. Der Bühnenbildner Karl<br />
Kneidl fragte mich damals, ob ich für seine<br />
Bühne eine Videoprojektion herstellen<br />
möchte. Das Photo erinnert mich an diese<br />
Bühne.<br />
Genau hinter dem überdimensionalen Reklame-Bauzaun<br />
mit dem Bild eines Rennfahrers,<br />
dessen gestreckte „Alles-Super“-<br />
Daumen die Länge eines Autos haben, stand<br />
bis vor wenigen Jahren das größte Hotel<br />
der Welt, das legendäre „Rossija”. Es wurde<br />
2006 abgerissen.<br />
3.100 Zimmer, 5.500 Betten, ein riesiger<br />
Klotz. Ich habe dort während der Dreharbeiten<br />
fürs Video gewohnt.<br />
Auf dem Hotelvorplatz stand die Attrappe<br />
einer Videokamera, tausendfach vergrößert,<br />
Reklame für den japanischen Hersteller. Sie<br />
schwenkte pausenlos hin und her über die<br />
Köpfe der zwergen-kleinen Menschen, wie<br />
eine überdimensionale Überwachungskamera,<br />
nicht weit entfernt von den überwältigend<br />
bunten Zwiebeltürmen der Basilius-<br />
Kathedrale und den endlosen Mauern des<br />
Kreml.<br />
Von meinem Bett aus konnte ich auf den gar<br />
nicht so Roten Platz schauen, zwanzig Stockwerke<br />
unter mir. Das tat ich gerne, und oft<br />
sehr lange. Am liebsten mit einem Bier und<br />
einer Wurst in der Hand. Ich beobachtete die<br />
Muster, die die ameisengroßen Menschen<br />
gingen, das Ballett der nachts arbeitenden<br />
Kehrmaschinen, die Lichtveränderungen im<br />
Sonnenuntergang oder das Erwachen am<br />
frühen Morgen. Ich stellte mir vor, wie zu<br />
Zeiten der alten Sowjetunion die Delegierten<br />
aus dem fernen Sibirien, nachdem sie<br />
im Obersten Sowjet ihre Stimme abgegeben<br />
hatten, hier oben saßen, sich mit Wodka<br />
und Kaviar belohnten und zufrieden auf die<br />
großartige Kulisse ihrer sowjetischen Zentrale<br />
schauten. Ein einzelner Mensch war<br />
kaum zu erkennen.<br />
Meine Betrachtungen wurden regelmäßig<br />
von Telefonanrufen unterbrochen, die immer<br />
ähnlich abliefen. Nur die Namen wechselten:<br />
Anja, Ina, Swetlana, Yolanda. „Hallo Hans“,<br />
sagte eine Frauenstimme in schlechtem Englisch.<br />
„Hier spricht Swetlana. Wie geht’s? Ich<br />
würde Dich gerne auf Deinem Zimmer besuchen.“<br />
Anfangs war ich noch freundlich,<br />
lehnte einen Besuch dankend ab. Aber im<br />
Laufe der Tage und Nächte wurde ich immer<br />
unhöflicher, bis ich entnervt in den Hörer<br />
brüllte: „Ich möchte weder jetzt noch in den<br />
nächsten Tagen Damenbesuch.“<br />
Nach einem Tag Pause begann der Telefonsex-Terror<br />
wieder. „Hallo, hier ist Igor. Soll<br />
ich auf Dein Zimmer kommen?“<br />
Ein anderer Hotelgast dem ich von den Anrufen<br />
erzählte, lachte herzlich: „Geben Sie<br />
der Etagenaufsicht Dollars, dann hören die<br />
Anrufe auf.“ So war es auch.<br />
Das Hotel Rossija ist weg, weil es auf dem<br />
wohl teuersten Grundstück Moskaus stand.<br />
Der Rennfahrer auf der Chowanschtschina-<br />
Projektionsfläche hebt die „Alles-Super“-<br />
Daumen. Die Rennstrecke hinter ihm führt in<br />
den dunklen Wald.<br />
Hans Peter Böffgen<br />
Rossiya<br />
In 2001, Modest Mussorgsky’s opera<br />
Khovanshchina was on the program in Zurich.<br />
In simplified terms, it portrays the battle between<br />
tradition and progress, centralized<br />
power and feudal lords and between church<br />
and state in Old Russia. The set designer,<br />
Karl Kneidl, asked me at that time if I would<br />
produce a video projection for his stage production.<br />
The photograph reminds me of that<br />
staging.<br />
Right behind the colossal advertisement on<br />
the construction fence showing the picture<br />
of a racing driver giving the ‘thumbs up’ sign<br />
(each thumb a car-length long) stood, what<br />
was a few years ago, the largest hotel in the<br />
world. The legendary Rossiya Hotel was demolished<br />
in 2006.<br />
3,100 rooms, 5,500 beds, simply a huge block.<br />
I stayed there during the filming the video.<br />
A sham video camera stood enlarged a<br />
thousand times as an advertisement for the<br />
Japanese manufacturer. Without pause, it<br />
turned back and forth, like a colossal security<br />
camera over the heads of dwarf-sized people,<br />
not far from the overwhelmingly colorful<br />
onion domes of the St. Basil Cathedral and<br />
unending Kremlin walls.<br />
From my bed, I could look down on the<br />
often not so Red Square, 20 stories below.<br />
Preferably with a beer and a sausage in<br />
hand, I observed the patterns with which<br />
the ant-sized people walked, the ballet of<br />
the street sweeping machines working at<br />
night, the light changing at sunset or the<br />
awakening early in the morning. I imagined<br />
how in Soviet times, the delegates from<br />
distant Siberia after having voted, would sit<br />
up there and reward themselves with vodka<br />
and caviar, while observing the tremendous<br />
stage of their Soviet capital. A single man<br />
was hard to recognize.<br />
My observations were regularly interrupted<br />
by telephone calls which always went the<br />
same way. Only the names changed: Anja,<br />
Ina, Swetlana, Yolanda. “Hello Hans,” a<br />
woman’s voice said in bad English: “This is<br />
Swetlana. How are you? I would like to visit<br />
you in your room.” At first I was friendly and<br />
thanking her, declined the offer. As the days<br />
and nights passed I became ruder and ruder<br />
until unnerved, I shouted into the receiver:<br />
“I don’t want any ladies to visit me, either<br />
today or in the next few days.”<br />
After an interlude, the sex terrorism began<br />
again. “Hello, this is Igor. Should I come to<br />
your room?”<br />
I told another hotel guest about the phone<br />
calls. He laughed heartily and said: “Give the<br />
floor supervisor some dollars and then the<br />
phone calls will cease.” And so I did.<br />
The Hotel Rossiya is gone because it stood<br />
on the most expensive property in Moscow.<br />
The racing driver on the Khovanshchina projection<br />
screen raises his thumbs in approval.<br />
The race track behind him leads into the<br />
dark forest.<br />
Hans Peter Boeffgen