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Contents Содержание - edition esefeld & traub

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Rossija<br />

Modest Mussorgskys Oper Chowanschtschina<br />

stand 2001 auf dem Programm des Opernhauses<br />

in Zürich. Darin geht es, vereinfacht<br />

gesagt, um den Kampf zwischen Tradition<br />

und Fortschritt, zwischen Zentralgewalt und<br />

Feudalherren, zwischen Staat und Kirche<br />

im alten Russland. Der Bühnenbildner Karl<br />

Kneidl fragte mich damals, ob ich für seine<br />

Bühne eine Videoprojektion herstellen<br />

möchte. Das Photo erinnert mich an diese<br />

Bühne.<br />

Genau hinter dem überdimensionalen Reklame-Bauzaun<br />

mit dem Bild eines Rennfahrers,<br />

dessen gestreckte „Alles-Super“-<br />

Daumen die Länge eines Autos haben, stand<br />

bis vor wenigen Jahren das größte Hotel<br />

der Welt, das legendäre „Rossija”. Es wurde<br />

2006 abgerissen.<br />

3.100 Zimmer, 5.500 Betten, ein riesiger<br />

Klotz. Ich habe dort während der Dreharbeiten<br />

fürs Video gewohnt.<br />

Auf dem Hotelvorplatz stand die Attrappe<br />

einer Videokamera, tausendfach vergrößert,<br />

Reklame für den japanischen Hersteller. Sie<br />

schwenkte pausenlos hin und her über die<br />

Köpfe der zwergen-kleinen Menschen, wie<br />

eine überdimensionale Überwachungskamera,<br />

nicht weit entfernt von den überwältigend<br />

bunten Zwiebeltürmen der Basilius-<br />

Kathedrale und den endlosen Mauern des<br />

Kreml.<br />

Von meinem Bett aus konnte ich auf den gar<br />

nicht so Roten Platz schauen, zwanzig Stockwerke<br />

unter mir. Das tat ich gerne, und oft<br />

sehr lange. Am liebsten mit einem Bier und<br />

einer Wurst in der Hand. Ich beobachtete die<br />

Muster, die die ameisengroßen Menschen<br />

gingen, das Ballett der nachts arbeitenden<br />

Kehrmaschinen, die Lichtveränderungen im<br />

Sonnenuntergang oder das Erwachen am<br />

frühen Morgen. Ich stellte mir vor, wie zu<br />

Zeiten der alten Sowjetunion die Delegierten<br />

aus dem fernen Sibirien, nachdem sie<br />

im Obersten Sowjet ihre Stimme abgegeben<br />

hatten, hier oben saßen, sich mit Wodka<br />

und Kaviar belohnten und zufrieden auf die<br />

großartige Kulisse ihrer sowjetischen Zentrale<br />

schauten. Ein einzelner Mensch war<br />

kaum zu erkennen.<br />

Meine Betrachtungen wurden regelmäßig<br />

von Telefonanrufen unterbrochen, die immer<br />

ähnlich abliefen. Nur die Namen wechselten:<br />

Anja, Ina, Swetlana, Yolanda. „Hallo Hans“,<br />

sagte eine Frauenstimme in schlechtem Englisch.<br />

„Hier spricht Swetlana. Wie geht’s? Ich<br />

würde Dich gerne auf Deinem Zimmer besuchen.“<br />

Anfangs war ich noch freundlich,<br />

lehnte einen Besuch dankend ab. Aber im<br />

Laufe der Tage und Nächte wurde ich immer<br />

unhöflicher, bis ich entnervt in den Hörer<br />

brüllte: „Ich möchte weder jetzt noch in den<br />

nächsten Tagen Damenbesuch.“<br />

Nach einem Tag Pause begann der Telefonsex-Terror<br />

wieder. „Hallo, hier ist Igor. Soll<br />

ich auf Dein Zimmer kommen?“<br />

Ein anderer Hotelgast dem ich von den Anrufen<br />

erzählte, lachte herzlich: „Geben Sie<br />

der Etagenaufsicht Dollars, dann hören die<br />

Anrufe auf.“ So war es auch.<br />

Das Hotel Rossija ist weg, weil es auf dem<br />

wohl teuersten Grundstück Moskaus stand.<br />

Der Rennfahrer auf der Chowanschtschina-<br />

Projektionsfläche hebt die „Alles-Super“-<br />

Daumen. Die Rennstrecke hinter ihm führt in<br />

den dunklen Wald.<br />

Hans Peter Böffgen<br />

Rossiya<br />

In 2001, Modest Mussorgsky’s opera<br />

Khovanshchina was on the program in Zurich.<br />

In simplified terms, it portrays the battle between<br />

tradition and progress, centralized<br />

power and feudal lords and between church<br />

and state in Old Russia. The set designer,<br />

Karl Kneidl, asked me at that time if I would<br />

produce a video projection for his stage production.<br />

The photograph reminds me of that<br />

staging.<br />

Right behind the colossal advertisement on<br />

the construction fence showing the picture<br />

of a racing driver giving the ‘thumbs up’ sign<br />

(each thumb a car-length long) stood, what<br />

was a few years ago, the largest hotel in the<br />

world. The legendary Rossiya Hotel was demolished<br />

in 2006.<br />

3,100 rooms, 5,500 beds, simply a huge block.<br />

I stayed there during the filming the video.<br />

A sham video camera stood enlarged a<br />

thousand times as an advertisement for the<br />

Japanese manufacturer. Without pause, it<br />

turned back and forth, like a colossal security<br />

camera over the heads of dwarf-sized people,<br />

not far from the overwhelmingly colorful<br />

onion domes of the St. Basil Cathedral and<br />

unending Kremlin walls.<br />

From my bed, I could look down on the<br />

often not so Red Square, 20 stories below.<br />

Preferably with a beer and a sausage in<br />

hand, I observed the patterns with which<br />

the ant-sized people walked, the ballet of<br />

the street sweeping machines working at<br />

night, the light changing at sunset or the<br />

awakening early in the morning. I imagined<br />

how in Soviet times, the delegates from<br />

distant Siberia after having voted, would sit<br />

up there and reward themselves with vodka<br />

and caviar, while observing the tremendous<br />

stage of their Soviet capital. A single man<br />

was hard to recognize.<br />

My observations were regularly interrupted<br />

by telephone calls which always went the<br />

same way. Only the names changed: Anja,<br />

Ina, Swetlana, Yolanda. “Hello Hans,” a<br />

woman’s voice said in bad English: “This is<br />

Swetlana. How are you? I would like to visit<br />

you in your room.” At first I was friendly and<br />

thanking her, declined the offer. As the days<br />

and nights passed I became ruder and ruder<br />

until unnerved, I shouted into the receiver:<br />

“I don’t want any ladies to visit me, either<br />

today or in the next few days.”<br />

After an interlude, the sex terrorism began<br />

again. “Hello, this is Igor. Should I come to<br />

your room?”<br />

I told another hotel guest about the phone<br />

calls. He laughed heartily and said: “Give the<br />

floor supervisor some dollars and then the<br />

phone calls will cease.” And so I did.<br />

The Hotel Rossiya is gone because it stood<br />

on the most expensive property in Moscow.<br />

The racing driver on the Khovanshchina projection<br />

screen raises his thumbs in approval.<br />

The race track behind him leads into the<br />

dark forest.<br />

Hans Peter Boeffgen

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