06.01.2013 Aufrufe

Contents Содержание - edition esefeld & traub

Contents Содержание - edition esefeld & traub

Contents Содержание - edition esefeld & traub

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

106<br />

107<br />

Roter Platz<br />

Wenn früher jemand zu uns nach Moskau zu<br />

Besuch kam, wurde ihm als erstes der Rote<br />

Platz gezeigt, das sakrale Zentrum der Macht,<br />

die größte Sehenswürdigkeit unserer Stadt,<br />

geografisch gesehen. Die Sterne des Kremls<br />

waren in heutiger Sprache ausgedrückt die<br />

Markenzeichen unseres Landes. Die großen<br />

Uhren auf den Türmen zeigten unsere eigene<br />

sowjetische Zeit, die Glocken hörte man jeden<br />

Morgen im Rundfunk. Viele Moskauer hatten<br />

eine intime Beziehung zum Roten Platz. Ich<br />

habe zum Beispiel meine erste Schulliebe,<br />

ein Mädchen aus der Parallelklasse, nach<br />

fünf Monaten vergeblichen Telefonierens<br />

zur ersten sexuellen Handlung (einem Kuss)<br />

während des gemeinsamen Kremlbesuchs<br />

überredet. Die alljährliche Militärparade zum<br />

Tag des Sieges auf dem Roten Platz mit Panzern,<br />

Raketen und jubelnden Massen war die<br />

beliebteste Fernsehsendung meines Vaters,<br />

diese Parade versetzte ihn in Extase. Er, ein<br />

parteiloser sowjetischer Ingenieur ohne jegliche<br />

Illusionen, der sich am großen Tisch<br />

gerne als Zyniker und Menschenhasser positionierte,<br />

weinte beim Anblick der Kriegsveteranen,<br />

die über den Platz marschierten.<br />

So weit ich mich erinnern kann, war dieser<br />

große Platz nie leer. Vor dem Historischen<br />

Museum quengelten tagsüber die Jungpioniere,<br />

die dort feierlich in die Jugendorganisation<br />

eingeweiht wurden. Vor dem Mahnmal<br />

des unbekannten Soldaten fand permanent<br />

eine nicht enden wollende Hochzeit statt,<br />

immer neue Brautpaare legten dort immergleiche<br />

Blumenkränze nieder. Vor dem<br />

Lenin-Mausoleum standen unaufhörlich<br />

die Menschen Schlange. Ich war insgesamt<br />

dreimal im Mausoleum, zweimal mit meiner<br />

Klasse und einmal später mit amerikanischen<br />

Verwandten, ich wäre aber nie freiwillig<br />

dorthin gegangen. Die mumifizierte Leiche<br />

von Lenin unter dem gepanzerten Glas<br />

sah furchtbar aus – irgendwie gelb, ausgetrocknet<br />

und unmenschlich, als ob sie schon<br />

mehrmals auseinander gefallen und wieder<br />

zusammengeklebt wurde. Man konnte<br />

zum Beispiel sehen, wenn man sich etwas<br />

über das durchsichtige Glas beugte, dass<br />

die Fingernägel bei Lenin ziemlich schräg<br />

auf die Fingerkuppen geklebt waren. Sein<br />

Kopf wirkte, als wäre er aus Wachs. „Wer<br />

will das sehen?“, fragte ich mich und konnte<br />

keine Antwort finden. Vielleicht war die<br />

Schlange nicht echt, zur Hälfte aus Mitarbeitern<br />

der Staatssicherheit bestehend? Meine<br />

Eltern sind der Meinung, dass die Schlange<br />

echt war, die Menschen sehen sich gern die<br />

Leichen ihrer Herrscher an. Meine Mutter<br />

erinnert sich gut an Stalins Tod, sie ist damals<br />

mitgegangen um den verstorbenen Führer<br />

zu sehen und wurde in der Menge, nach<br />

sechs Stunden Stehen, beinahe zu Tode gequetscht.<br />

Den toten Stalin hat sie erst später<br />

im Mausoleum gesehen, eine kurze Zeit lang<br />

lag er dort neben Lenin, bevor er von seinem<br />

Nachfolger Chruschtschow wieder rausgetragen<br />

wurde. Schon damals, in den Fünfzigern,<br />

berichtete mir meine Mutter, war<br />

Lenin gelb und zusammengeklebt, während<br />

Stalin ganz rosa und frisch aussah. Vom Kapitalismus<br />

hat der Kreml nur gewonnen. Er<br />

wurde auf die modernste Schicki-Micki-Art<br />

renoviert, frisch gestrichen und umgebaut<br />

– die Wasserfälle, die Cafés, eine riesige unterirdische<br />

Shoppingmeile, Pelze und Gold in<br />

den Vitrinen, Gucci, Armani, Cartier ... nur<br />

dieses komische Mausoleum ist jetzt fehl<br />

am Platz, wie eine DDR-Krawatte zu einem<br />

Boss-Anzug. Dieser kleine dunkelrote Marmorkasten<br />

sieht aus wie ein UFO nach einer<br />

Bruchlandung, er passt nicht mehr hierher.<br />

Jahrelang diente das kleine Mausoleum als<br />

Podest für alte Greise aus dem Politbüro.<br />

Von hier aus begrüßten sie die Paraden,<br />

die meinen Vater zum Weinen brachten, sie<br />

standen in ihren komischen, schlecht geschnittenen<br />

Mänteln und kuchenförmigen<br />

Pelzmützen und winkten den Panzern und<br />

Raketen hinterher. Vor ihnen marschierten<br />

die Massen, über ihnen wehten die roten<br />

Fahnen und Transparente, unter ihnen lag<br />

Lenin mit seinem Gesicht aus Wachs und<br />

angeklebten Fingernägeln. Das Politbüro ist<br />

längst Vergangenheit, die Panzerparaden,<br />

die Transparente, sowie das Land, das sie<br />

schmückten, existiert schon lange nicht<br />

mehr, nur Lenin liegt noch immer da, steif<br />

auf dem Rücken und schaut an die Decke.<br />

Wer weiß, wie lange er noch da liegen muss?<br />

Zum ersten Mal verspürte ich nun Lust, das<br />

Mausoleum zu besuchen – genau genommen<br />

wollte ich meinen Kindern dieses Unge-<br />

heuer zeigen, so lange es noch da ist. Doch<br />

wir waren außerhalb der Besuchszeiten vor<br />

Ort. Verzweifelt versuchte ich zumindest, die<br />

Kinder dort über Lenin aufzuklären – doch<br />

ein Einbalsamierter weckt bei ihnen andere<br />

Assoziationen. „Wie der Skorpion-König?“,<br />

fragten sie, „wie die Nazgul aus Herr der<br />

Ringe, die Dementoren von Harry Potter,<br />

Mumie I und II?“ Die Kinder haben die Geschichte<br />

von Lenin nicht verstanden, wer er<br />

ist und warum er so lange nicht begraben<br />

wurde. Das versteht in Russland inzwischen<br />

auch kein Erwachsener mehr, glaube ich.<br />

Das Mahnmal für die gefallenen Soldaten<br />

des Zweiten Großen Vaterländischen Krieges<br />

haben die Kinder immerhin verstanden,<br />

und die Andachtstafeln der Heldenstädte<br />

sowieso. Im Großen und Ganzen hat sich<br />

der Rote Platz wenig verändert. Eine sensationelle<br />

Veränderung besteht darin, dass<br />

neuerdings ein italienisches Restaurant seine<br />

Tischchen und Stühlchen direkt auf das<br />

Pflaster des Platzes stellen darf. Wir haben<br />

dort Cola, Fanta und frisch gepressten Ananassaft<br />

direkt vorm Mausoleum bequem im<br />

Sitzen getrunken, für lausige 15 Dollar pro<br />

Glas.<br />

Wladimir Kaminer

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!