Contents Содержание - edition esefeld & traub
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Das neue Moskau<br />
Ich hatte das deutliche Gefühl gehabt,<br />
dass ich eine Aufgabe erhalten und sie zu<br />
erfüllen hatte, koste es, was es wolle. Man<br />
kann sogar annehmen, dass es sich um eine<br />
besondere Operation handelte, die langsam<br />
in meinem Bewusstsein herangereift war,<br />
ich aber in der Tat nur den Kopf heben und<br />
die Hände nach ihr ausstrecken sollte: das<br />
Sujet wäre vom Himmel gefallen, und ich<br />
hätte nur noch danach greifen müssen. Dies<br />
ist nicht geschehen. Der Roman Das neue<br />
Moskau, den ich Mitte der 90er Jahre geplant<br />
und mit dem ich beinahe zehn Jahre<br />
gelebt hatte, blieb so in den Niederungen<br />
nebulöser Ansprüche.<br />
Es ist merkwürdig: Ich glaubte, dass das<br />
Schreiben dieses Romans geholfen hätte,<br />
das feste Gewebe der Moskauer Geschichte<br />
zu zerreißen und einen neuen Impuls für die<br />
Entwicklung der Stadt zu setzen, in der ich<br />
geboren wurde und die ich als meine Heimat<br />
betrachte. Denn die Verwandlung Moskaus<br />
nach dem Zerfall der UdSSR hatte wahrlich<br />
etwas Magisches. Eine gewisse junge Fee<br />
mit einem Zauberstab sowie ein smarter<br />
Teufel aus den feuchten Moskauer Wäldern<br />
ließen sich trauen und erklärten Moskau zu<br />
ihrem Ehebett mit dem Kopfende auf dem<br />
Roten Platz. Die Fee war als neue Hausfrau<br />
entschlossen, alles zu ändern: Sie entzündete<br />
die Lichter der Stadt, wusch die Gardinen,<br />
schüttelte die Kissen auf, öffnete die Archive<br />
des KGB und hauchte der Stadt Liebes-Energie<br />
ein. Der Teufel verfiel ihrem Charme<br />
und nahm nur das Nachtleben Moskaus in<br />
Angriff – damit sich niemand zu langweilen<br />
brauchte. Keinem wurde langweilig: Über<br />
das rasende Leben des nächtlichen Moskaus,<br />
über seine Zechereien – Vergiss alles! Reiß dich<br />
los! – zogen über die ganze Welt Legenden<br />
– Amsterdam und New York verloren stürmisch<br />
an Anziehungskraft. Außerdem hatte<br />
sich der Teufel dazu verpflichtet, seine chtonische<br />
Orientierung zu ändern: Wenn schon<br />
kein Engel, so sollte er doch wenigstens ein<br />
anständiger Manager werden. Alles wäre<br />
gut geworden, aber die Menschen haben die<br />
edlen Absichten des frisch vermählten Paares<br />
nicht verstanden: In ihre süße Liebe vertieft,<br />
merkten sie nicht, wie die Menschen in krimi-<br />
nelle Gruppierungen zerfielen, in Erniedrigte<br />
und Beleidigte durch die Wandlungen des<br />
neuen Lebens. Und auch Moskau, wie ein<br />
altes Weib, hatte für diese Veränderungen<br />
kein Verständnis. Es hatte seine eigene Aura:<br />
Es glaubte aufrichtig nicht an Menschen, die<br />
sich an den geheimen und offenkundigen<br />
Schrecken der Geschichte satt gesehen hatten.<br />
Letztendlich brachte es die Fee nicht bis<br />
zum Moskauer Hof. In einer stillen Gasse des<br />
Arbat wurde sie von Menschen in Polizeiuniform<br />
entführt, in den Serebrjany Bor (Silberwädchen)<br />
gebracht, dort vergewaltigt,<br />
worauf ihr der Zauberstab in den Anus<br />
gesteckt, der Kopf abgerissen und sie in den<br />
Fluss Moskwa geworfen wurde. Ob es nun<br />
wirkliche Milizionäre waren oder ob es sich<br />
um eine Maskerade handelte, weiß bis heute<br />
immer noch keiner genau.<br />
Der jugendliche Teufel mit seinen roten Augen<br />
bekam vor Kummer graue Haare und<br />
beschloss, Moskau zu bestrafen: „Ich werde<br />
es in eine Stadt des vulgären Luxus und<br />
der schamlosen Risikofreude verwandeln!“<br />
Er verführte die Frauen dazu, Nerzmäntel<br />
auf nacktem Körper zu tragen, zynisch zu<br />
blinzeln und unflätig zu fluchen. Statt eines<br />
neuen Moskau erfand er eine neue Ordnung:<br />
Er verurteilte die Männer dazu, eine<br />
Vertikale der Macht zu errichten, eine Art<br />
Stange für Stripperinnen, und sich um diese<br />
zu drehen bis in alle Ewigkeit. Seltsamerweise<br />
seufzten die Moskauer erleichtert auf:<br />
„Wie gut!“, riefen sie. Endlich wird auch auf<br />
unseren Straßen gefeiert!<br />
Wiktor Jerofejew