Ausgabe 07/08 2010 • Présentation Wil • Alles zum ... - Schw. StV

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Rütli unterliegen. Die sprichwörtliche eidgenössische Kompromissbereitschaft wirkt sich glättend und versöhnend auf die Nachkriegszeit aus. 1848 kommt es zum heutigen modernen Bundesstaat mit der Hauptstadt Bern. Den Besiegten gegenüber tritt man grosszügig auf: Es gibt Sammlungen für die ehemaligen Sonderbundskantone. Sie erhalten Einzug in den Bundesrat. Sodann sind es gerade die progressiven Kräfte, die Liberalen, welche dem Vakuum konkreter Bilder ausgesetzt sind und genauso wie die Konservativen nun Konkretisierung, Abstützung und Symbolik in identitätsstiftenden Geschichtsbeschreibungen benötigen. Das ist ein Grund, warum das Rütli in seiner Symbolkraft an Schwung dazugewann. Der Kunstgriff mit der Jugend der Schweiz Die Initiative ging von Zürich aus. Dort hat die SGG bis heute ihren Sitz. Friedrich Haefelin schlug vor, mittels einer gesamtschweizerischen Sammlung das Rütli zu kaufen. Es folgten Verhandlungen mit dem bisherigen Eigentümer Michael Truttmann. Dieser willigte ein, zum Preis von 55 000 Franken das Rütli an die Gesellschaft zu verkaufen. Die Wiese umfasst rund 50 000 m 2 Fläche. Der geplante und bereits begonnene Bau des Hotels wurde eingestellt. Auf Monumentalität wurde wie seit jeher verzichtet. Es gibt ein kleines Gasthaus, eine Picknickwiese, einen von Quellen der Wiese gespiesenen Brunnen und ein wiederum kleines Museum. Eine Schiffsanlegestelle ermöglicht eine bequeme Zufahrt über den See, ist doch der Landweg weit und eher beschwerlich. Blenden wir zurück in die Zeit der Aktion der SGG 1858. Wie sollte nun die Sammlung zur Bezahlung des Kaufpreises für das Rütli organisiert werden? Am 3. März 1859 erliess man einen schweizweiten Aufruf. Dabei wandte sich die SGG direkt an die Kinder. Gemütstiefe und Herzenswärme des Patriotismus liessen sich geschickt mit der rührenden Vorstellung verbinden, dass sich Kinder zur Rettung des Rütli einsetzten. Der Kunstgriff funktionierte. Wenn auch das Scherflein der Schuljugend einen kleineren Teil ausmacht als die übrigen zum Teil sehr grosszügigen Spenden, die sogar aus dem Ausland eintrafen, so entfachte die sympathische Geste doch eine allgemein wirkende, entscheidende Motivation. Es kam die stolze Summe von Fr. 95 199.31 zusammen. Was diese Summe 62 civitas 07/08 2010 damals bedeutete, wird uns klar, wenn wir versuchen festzustellen, wie hoch der damalige Franken im Wert stand: Die damalige Kaufkraft von 95 000 Franken entspricht heute schätzungsweise vier Millionen Franken. Mit einer abermals grossen Geste dankte es die SGG der Schweizer Schuljugend, indem jedes Kind ein Bildchen des Rütli als Andenken erhielt. Es wurden über eine viertel Million Bildchen verteilt. 1907 rühmte Bundespräsident Eduard Müller an einer 600-Jahr-Feier die Mitwirkung der Schweizer Jugend als «einzigartig in ihrer Art, gross und erhaben in ihrer kindlichen Einfachheit». Zum Engagement der SGG äusserte er: «Die Wiege der Freiheit sollte nicht angetastet werden; die Kinder des Landes scharten sich um sie und beschützten das Kleinod.» Der Einsatz der Kinder verleiht dem geretteten Rütli einen zusätzlichen Wert. In einer Stiftungsurkunde vom 2. Juli 1860 übergab die Gesellschaft das Rütli als «unveräusserliches Nationaleigentum» dem Bundesrat, der ihr die Verwaltung übertrug. Eine Rütlikommission der Gesellschaft kommt dieser Aufgabe nach. Erneute Renaissance des Rütli? Interessant ist, dass auf dem Rütli nach Jahren eher ruhiger nationaler Besinnlichkeit erneut Unruhe um sich greift. Dies ist insofern nicht erstaunlich, als dem Land und der schweizerischen Bevölkerung wiederum – und dies eben sehr ähnlich wie um die Mitte des vorletzten Jahrhunderts – ein hoher Grad an landesspezifischer Identität verloren zu gehen droht. Wir wissen immer weniger, wohin unser Land steuert, was die Schweiz ausmacht und wer wir selber sind. Alles verändert sich rasend schnell. Verwurzelungen greifen nicht mehr. Viele Menschen wirbeln wie Blätter im Wind dahin, ziellos, zufällig und ohne Bestand. Dieses Resultat führt zu Verunsicherung. Die Gegenreaktion ist, Sicherheit wiederzuerlangen, Halt zu finden. Und genau in diesem Moment sucht der Mensch eine Antwort auf die Frage: Wer und was bin ich eigentlich? Woher komme ich, und wie sieht es dort aus? Die Lösung ist dann erzählte Geschichte, die Beschreibung der Herkunft. Der Anker wird geworfen. Und so haben wir tatsächlich das erstaunliche Phänomen, dass seit einigen Jahren auf dem Rütli, etwas gekünstelt zwar, weil zunehmend straffer und fast hektisch, Bundesfeiern abgehalten werden. Die Hektik und Unruhe steigerte sich an diesem mythischen Ort so sehr, dass Bundespräsident Samuel Schmid 2005, zumal als rechtsgerichteter Politiker, beschimpft und niedergeschrien wurde. Die Konfusion wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Störefriede nicht etwa einem linksextremen Lager, sondern mehrheitlich einem Rechtsaussenlager angehörten. Wie schon vor rund 150 Jahren, suchen aber auch die Linken das Rütli auf, um erneut Identität, Verwurzelung und Bildhaftigkeit zu finden. Aber die Stimmung ist aufgeregter, betroffener und komplizierter geworden. Die Versöhnlichkeit, die Vereinigung fehlt. Am 1. August 2007 hielt die linke Bundesrätin Micheline Calmy eine Rede auf dem Rütli. Auch ihre Feier wurde gestört. Es detonierte ein kleiner Sprengsatz. Einige Grasbüschel wurden beschädigt, sonst gar nichts. Sowohl im Fall Schmid als auch im Fall Calmy stehen die theatralischen, geradezu hysterischen Reaktionen der Medien in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Ereignissen. Diese Theatralik aber entspricht exakt der Unruhe, die sich aus dem Verlust identitätsspendender Bilder und Verankerungen ergibt. Und es sind keine Anzeichen auszumachen, welche auf einen symbolischen Zusammenschluss von Links und Rechts hinweisen würden, wie es um 1860 zwischen Liberalen und Konservativen möglich war. Den kleinstmöglichen Nenner, für Linke wie für Rechte, das kostbare Gut der Freiheit, symbolisiert und hypostasiert, also gleichsam verdinglicht im Rütli, erreichen zurzeit beide politischen Lager nicht. Beide neigen zum heute zunehmenden Staatsdirigismus. Eine neue Diktatur des Konformismus erzeugt Denkverbote und Vorstellungstabus. Und diese Meinungsdiktatur wird zur Quelle politisch nicht mehr Konformer, solcher von links bis rechts, die mit der angeblichen Political Correctness der Etablierten nicht mehr übereinstimmen wollen. Im Namen der Freiheit, die ausgerechnet auf dem Rütli in ihren Augen mit Füssen getreten wird, entrüsten sie sich. Es ist eine Entrüstung wie 1858. Unübersehbar ist, dass diese Entrüstung heute verzweifelter und damit aggressiver wird. Zuerst mit Worten, später mit Taten.
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