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Koolhaas nimmt in der Reihe Theorie

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Vorlesung 6.12.06<br />

Rem <strong>Koolhaas</strong> und OMA / AMO<br />

Bild 1: [Porträt + Titelbil<strong>der</strong>]<br />

Vorbemerkung:<br />

<strong>Koolhaas</strong> <strong>nimmt</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Reihe</strong> <strong>Theorie</strong>n <strong>der</strong> Gegenwartsarchitektur vermutlich den<br />

Spitzenplatz e<strong>in</strong>. Kaum e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Architekt <strong>der</strong> letzten 20 Jahre dürfte so e<strong>in</strong>flussreich<br />

se<strong>in</strong> wie die zahlreichen publizierten Texte von <strong>Koolhaas</strong>, <strong>der</strong>en je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelner jeweils<br />

den Charakter e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>zeltraktates o<strong>der</strong> Manifestes hat. An<strong>der</strong>s als an<strong>der</strong>e Architekten<br />

schreibt <strong>Koolhaas</strong> nicht, um se<strong>in</strong>e Architektur abzusichern, son<strong>der</strong>n se<strong>in</strong>e Texte haben<br />

von Beg<strong>in</strong>n an e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tellektuelle Unabhängigkeit, auch gegenüber <strong>der</strong> Architektur<br />

überhaupt, die zum e<strong>in</strong>en ihre Kraft ausmachen, zum an<strong>der</strong>en <strong>Koolhaas</strong> be<strong>in</strong>ahe bis<br />

heute den Ruf e<strong>in</strong>brachten, „bloß“ e<strong>in</strong> Theoretiker, aber ke<strong>in</strong> Architekt zu se<strong>in</strong>. Ja, es<br />

gibt nicht wenige, die sich gerne und andauernd spöttisch über se<strong>in</strong>e schlecht<br />

detaillierten, handwerklich eher nachlässig hergestellten Bauten äußern, <strong>der</strong>en Zahl ja<br />

bis vor e<strong>in</strong>igen Jahren auch nicht allzu groß war. Das hat sich <strong>in</strong>zwischen geän<strong>der</strong>t.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e die Nie<strong>der</strong>ländische Botschaft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und die Hauptbibliothek <strong>in</strong> Seattle<br />

zeigen, dass das Büro von <strong>Koolhaas</strong>, das ja den Namen Office für Metropolitan<br />

Architecture trägt, auch technisch und konstruktiv-handwerklich anspruchsvolle<br />

Lösungen umsetzen kann. <strong>Koolhaas</strong> hat sich während <strong>der</strong> letzten Jahre sehr bemüht,<br />

als Architekt <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung zu treten, daher ist auch die Zahl se<strong>in</strong>er theoretischen<br />

Texte zurückgegangen bzw. <strong>in</strong>haltlich s<strong>in</strong>d sie schwächer geworden.<br />

Ich werde mich auf folgende Texte bzw. Publikationen konzentrieren:<br />

Delirious New York<br />

SMLXL<br />

„Veldwerk“<br />

„Bigness“<br />

„Generic City“<br />

„Junk Space“<br />

Zuerst e<strong>in</strong>e Kurzbiographie – diese ist nicht unwichtig, weil <strong>Koolhaas</strong> auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

an<strong>der</strong>en H<strong>in</strong>sicht sich sehr stark von se<strong>in</strong>en Kollegen abhebt: er verweigert sich dem<br />

Zunftethos, <strong>der</strong> u.a. auch dar<strong>in</strong> besteht, ausschließlich <strong>der</strong> Sache zu dienen, die eigene<br />

Person und ihre <strong>in</strong>dividuellen und autobiographischen Eigenheiten völlig zu<br />

unterdrücken, dem Publikum und den Auftraggebern nichts davon zuzumuten, bis h<strong>in</strong><br />

zur Selbstverleugnung. Schließlich ist man ja Mitglied <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kammer, <strong>der</strong> Beruf ist<br />

ständisch geschützt, da sche<strong>in</strong>t persönliches Klagen und Wehjammern fehl am Platz.<br />

<strong>Koolhaas</strong> hat sich nie daran gehalten. Se<strong>in</strong>e persönlichen Leidenserfahrungen<br />

beispielsweise mit Auftraggebern werden von ihm nicht nur mitveröffentlicht (z.B. se<strong>in</strong>e<br />

tagebuchartigen Notizen zum ZKM <strong>in</strong> Karlsruhe und zu den Jussieu-Bibliotheken <strong>in</strong><br />

Paris > SMLXL), son<strong>der</strong>n sie gehen oft auch <strong>in</strong> das Entwurfskonzept e<strong>in</strong>. Von Anfang an<br />

begreift <strong>Koolhaas</strong> sich selbst und se<strong>in</strong> Projekt als Teil e<strong>in</strong>es gesellschaftlichen und<br />

sozialen Milieus, das bed<strong>in</strong>gend ist und doch zugleich durch das Projekt umgeformt<br />

werden soll (das ist schon Teil und Basis se<strong>in</strong>er <strong>Theorie</strong>). Diese Art von Teilhabe und<br />

Engagement ist für nicht wenige e<strong>in</strong>e echte Überfor<strong>der</strong>ung, denn jede Art von


Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>Koolhaas</strong> bedeutet immer, dass man sich mit se<strong>in</strong>er Person<br />

und se<strong>in</strong>em Charakter ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen muss, und <strong>der</strong> ist, um es freundlich<br />

auszudrücken, nicht eben e<strong>in</strong>fach.<br />

Geb. 1944 <strong>in</strong> Rotterdam<br />

Die Familie zieht für e<strong>in</strong>ige Jahre (1952-56) von <strong>Koolhaas</strong>’ K<strong>in</strong>dheit nach Indonesien<br />

(nachdem Indonesien unabhängig wurde) <strong>der</strong> Vater ist Autor von K<strong>in</strong><strong>der</strong>büchern<br />

<strong>Koolhaas</strong> beg<strong>in</strong>nt nach <strong>der</strong> Schulausbildung (jetzt wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Rotterdam, Mitte bis Ende<br />

<strong>der</strong> 60er Jahre) für die Haagse Post als Journalist zu arbeiten. Tatsächlich verfasst er<br />

e<strong>in</strong>e <strong>Reihe</strong> von Artikeln bzw. macht Interviews über und mit e<strong>in</strong>igen <strong>in</strong>teressanten<br />

Persönlichkeiten, darunter Le Corbusier, Fre<strong>der</strong>ico Fell<strong>in</strong>i, Constant.<br />

Die Haagse Post ist e<strong>in</strong>e eigenwillige Tageszeitung: konservativ-liberal <strong>in</strong> <strong>der</strong> gesamten<br />

Ausrichtung, <strong>der</strong> Feuilleton wird aber von jeden E<strong>in</strong>mischungen frei gehalten, so dass<br />

sich dort e<strong>in</strong>e Gruppe bildet, die zwar bee<strong>in</strong>flusst ist von den Bewegungen <strong>der</strong> sechziger<br />

Jahre – Studentenbewegung, Protest gegen den Vietnamkrieg usw. –, sich zugleich<br />

aber auch davon absetzt. Eher dandyhaft treten die Mitglie<strong>der</strong> dieser Gruppe auf; sie<br />

partizipieren nicht an den Demonstrationen auf <strong>der</strong> Straße, aber sie profitieren von <strong>der</strong><br />

Freiheitsidee, welche sich auf vielen Ebenen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e natürlich im kulturellen und<br />

sozialen Bereich, durchzusetzen beg<strong>in</strong>nt, und die sie auch dazu nutzen, politisch nicht<br />

ganz korrekt zu schreiben und sich z.B. auch zu kleiden (<strong>in</strong> Anzügen).<br />

[Bild 2: Constant + Berl<strong>in</strong>er Mauer]<br />

<strong>Koolhaas</strong> dürfte von dieser Zeit stark bee<strong>in</strong>flusst se<strong>in</strong>, wobei die Frage, was ihn am<br />

meisten und vor allem <strong>in</strong> welcher Form bee<strong>in</strong>druckt hat, nicht so ohne weiteres zu klären<br />

ist.<br />

In diesem Zusammenhang sei auf zweierlei verwiesen.<br />

1. Bart Lootsma hat e<strong>in</strong>en Text gerade über diese Zeit bei <strong>der</strong> Haagse Post<br />

geschrieben: „<strong>Koolhaas</strong>, Constant, und die nie<strong>der</strong>ländische Kultur <strong>der</strong> 60er Jahre“. Dort<br />

geht er u.a. <strong>der</strong> Frage nach, ob die auffälligen Geme<strong>in</strong>samkeiten zwischen dem<br />

Aussehen von bestimmten Projekten von Constant, <strong>der</strong> lose den Situationisten<br />

assoziiert war, und denen von <strong>Koolhaas</strong>, beabsichtigt ist o<strong>der</strong> nicht. Da Bart vermutlich<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Vorlesungen im Sommer bereits darauf e<strong>in</strong>gegangen ist, beschränke ich mich<br />

jetzt nur auf e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Ausschnitt dieser Frage.<br />

2. Wie bereits gesagt, spielen autobiographische Bezüge bei <strong>Koolhaas</strong> immer e<strong>in</strong>e<br />

Rolle, gleichwohl steuert <strong>Koolhaas</strong> viel davon selbst. Das heißt, er selektiert das<br />

Informationsmaterial, das über ihn als Person im Umlauf ist, und er bereitet es auch so<br />

auf, dass e<strong>in</strong>e gewisse Neigung zum Legendenhaften nicht zu übersehen ist. Ich will<br />

daher nur bemerken, dass diese frühe Phase se<strong>in</strong>es <strong>in</strong>tellektuellen Werdegangs<br />

bestimmt von großer Wichtigkeit ist, aber manches vielleicht auch nicht überbewertet<br />

werden sollte. Immerh<strong>in</strong> war <strong>Koolhaas</strong> noch e<strong>in</strong> blutjunger Journalist, wenngleich es<br />

offenkundig ist, dass er sehr schnell „dazugehörte“: zu <strong>der</strong> Szene, die sich selber für<br />

wichtig hielt.


Se<strong>in</strong> Selbstbewusstse<strong>in</strong> muss damals schon groß gewesen se<strong>in</strong>. Er verlässt die Haagse<br />

Post, beg<strong>in</strong>nt als Drehbuchschreiber (den Kontakt zu Renée Daal<strong>der</strong>, dem Stiefbru<strong>der</strong><br />

von Bart Lootsma, bekommt er über die Zeitung), und arbeitet angeblich o<strong>der</strong> tatsächlich<br />

u.a. auch für Russ Meyer. (Hier wird auch vieles teils richtig, teils Legende se<strong>in</strong>.)<br />

Endlich entschließt er sich zum Architekturstudium, und zwar an <strong>der</strong> enorm teuren<br />

Architectural Association <strong>in</strong> London. Er selbst behauptet, das Geld für das Studium mit<br />

dem Schreiben von Drehbüchern zusammengebracht zu haben. Egal: das Schreiben<br />

von Drehbüchern wird se<strong>in</strong>e Art, zu entwerfen, bleiben.<br />

Über die Zeit an <strong>der</strong> AA hat <strong>Koolhaas</strong> e<strong>in</strong>en Text geschrieben, <strong>der</strong> zuerst auf<br />

Nie<strong>der</strong>ländisch und dann 1995 auf Englisch erschienen ist. Der Text heißt „Veldwerk“<br />

bzw. „Field Trip“; e<strong>in</strong>e deutsche Übersetzung existiert nicht, aus – wie <strong>Koolhaas</strong> selber<br />

me<strong>in</strong>t – nahe liegenden Gründen.<br />

Der Text handelt von se<strong>in</strong>er „Summer Study“, e<strong>in</strong>er akademischen Sem<strong>in</strong>ararbeit, die<br />

die Studenten an <strong>der</strong> AA als e<strong>in</strong>zig verbliebene verpflichtende Übung während e<strong>in</strong>es<br />

Sommers machen mussten (die sechziger Jahre dieser Schule waren von Archigram,<br />

vor allem von Leuten wie Peter Cook geprägt). Und zwar sollten sie e<strong>in</strong> Bauwerk ihrer<br />

Wahl aufnehmen und analysieren. Gewöhnlich fällt die Wahl auch von Studenten <strong>der</strong><br />

sechziger Jahre – ganz im Stil <strong>der</strong> Grand Tour – auf e<strong>in</strong> Gebäude im schönen Italien,<br />

weil man auf diese Weise das Angenehme mit dem Nützlichen verb<strong>in</strong>den kann.<br />

<strong>Koolhaas</strong> phantasiert jedoch <strong>in</strong> diesem Text, „ganz plötzlich“ im Jahr 1971 <strong>in</strong> West-<br />

Berl<strong>in</strong>, mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em heißen Sommer, angekommen zu se<strong>in</strong>. Er entschließt sich, die<br />

Berl<strong>in</strong>er Mauer, die gerade knapp zehn Jahre alt ist, als Architektur zu untersuchen, was<br />

an sich schon e<strong>in</strong>e provokante Angelegenheit ist.<br />

Im ersten Moment möchte man annehmen, dass die unmittelbare Begegnung mit <strong>der</strong><br />

baulichen Demonstration von politischer Macht und Durchsetzungswillen, wie sie bei <strong>der</strong><br />

Berl<strong>in</strong>er Mauer zum Ausdruck kommt, <strong>der</strong> Haupte<strong>in</strong>druck für den Studenten gewesen<br />

se<strong>in</strong> müsste, <strong>der</strong> zuvor noch nie <strong>in</strong> <strong>der</strong> geteilten Stadt war. Und obwohl <strong>Koolhaas</strong> diese<br />

Tatsache nicht leugnet, sie auch jeweils <strong>in</strong> ihre Beobachtungen und Analysen<br />

e<strong>in</strong>bezieht, so ist doch se<strong>in</strong> Ansatz vornehmlich davon geprägt, das Bauwerk an sich<br />

wahrzunehmen, se<strong>in</strong>e Größe, se<strong>in</strong> Aufbau, se<strong>in</strong>e Gestalt, se<strong>in</strong>e Materialität usw. „Die<br />

Berl<strong>in</strong>er Mauer als Architektur“, so heißt auch <strong>der</strong> Titel <strong>der</strong> Arbeit, die <strong>Koolhaas</strong> im<br />

Herbst 1971 vor Kommilitonen und Professoren vorstellt, und die ihn nach eigener<br />

Aussage „mit e<strong>in</strong>em Schlag berüchtigt“ macht. 1<br />

<strong>Koolhaas</strong> schil<strong>der</strong>t anschaulich die Atmosphäre an <strong>der</strong> privaten Eliteschule <strong>in</strong> London,<br />

wo sich aufreizend verschiedene Salonrevoluzzer tummeln, denen man als Student<br />

wohl nur zu gerne die Grenzen ihres angeblichen anarchistischen Denkens aufzeigen<br />

wollte, <strong>in</strong>dem man z.B. nachweist, dass die von ihnen immer wie<strong>der</strong> phantasierte und<br />

1 Rem <strong>Koolhaas</strong>, „Veldwerk“, <strong>in</strong>: Hilde Heynen (Red.), Wonen tussen gemeenplaats en poëzie.<br />

Opstellen over stad en architectuur, uitgeverij 010, Rotterdam 1993, S. 156-164. Dieser letzte<br />

Satz fehlt <strong>in</strong> <strong>der</strong> englischen Fassung „Field Trip“, welche <strong>in</strong> S,M,L,XL veröffentlicht ist. Über das<br />

genaue Jahr des Besuchs – 1971 – gibt <strong>der</strong> Text an zwei Stellen Auskunft.


propagierte Nicht-Architektur bereits existierte, und zwar versehen sogar mit großer<br />

Macht. Zudem handelte es sich bei <strong>der</strong> „Summer Study“ ausdrücklich um e<strong>in</strong>e<br />

Bauaufnahme –, doch steckt h<strong>in</strong>ter dem Fokus auf dem Baulichen und<br />

Architektonischen schon <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er <strong>Theorie</strong>, welche <strong>in</strong> den folgenden Jahren zum<br />

Vorsche<strong>in</strong> kommen soll.<br />

Angesichts <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er Mauer, <strong>der</strong>en Verlauf und bauliche Ersche<strong>in</strong>ung an den<br />

verschiedenen Abschnitten (manchmal frei stehend, manchmal von Bebauung<br />

umgeben, manchmal ignorant gegen den Kontext, manchmal devot usw.) von <strong>Koolhaas</strong><br />

genau dargelegt wird, realisiert er nach eigener Auskunft zum ersten Mal, dass im<br />

konkurrierenden Verhältnis zwischen Architektur und Stadt <strong>der</strong> Architektur nicht zu<br />

trauen ist. Weil die Architektur <strong>der</strong> Mauer, ihr Dase<strong>in</strong> als Objekt, offenbar so „marg<strong>in</strong>al“<br />

war, während ihre Bedeutung so „schwer“ wiegte, weil also architektonische Form und<br />

Bedeutung nicht das ger<strong>in</strong>gste mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu tun haben müssen, hat <strong>in</strong> <strong>Koolhaas</strong>’<br />

Analyse die „Berl<strong>in</strong>er Mauer als Architektur“ etwas zweideutiges und spezifisch<br />

h<strong>in</strong>terhältiges, das nicht auf Anhieb zu durchschauen ist. Erst nachdem er sich damit<br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat, ist er nach eigenen Worten „e<strong>in</strong> ernster Student“ geworden.<br />

<strong>Koolhaas</strong> macht demzufolge am Anfang se<strong>in</strong>er Karriere als Architekt angesichts <strong>der</strong> 225<br />

Kilometer langen Mauer, welche den westlichen Teil <strong>der</strong> Stadt Berl<strong>in</strong> „umz<strong>in</strong>gelt“, die<br />

Erfahrung e<strong>in</strong>es Schocks, <strong>der</strong> nicht von ihren politischen Implikationen ausg<strong>in</strong>g (von<br />

denen er selbst ja auch nie betroffen war), son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von ihrer<br />

provozierenden Nicht-Architektur, die diese schwerwiegenden politischen Implikationen<br />

ermöglichte.<br />

Se<strong>in</strong> Hauptangriff richtet sich aber vor allem gegen die romantischen Träumereien<br />

se<strong>in</strong>er Lehrer (und damit implizit auch gegen Constant), die glauben, mit dieser Art von<br />

Nicht-Architektur Freiheit für die ganze Gesellschaft erlangen zu können. Die Berl<strong>in</strong>er<br />

Mauer so <strong>Koolhaas</strong>, beweise das Gegenteil.<br />

[Bild 3: Exodus]<br />

Hier trifft <strong>Koolhaas</strong> auch auf e<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>er ersten zentralen Begriffe: void, die Leere, aber<br />

nicht im S<strong>in</strong>ne von Abwesenheit, Mangel, son<strong>der</strong>n als etwas, was Potential hat, das<br />

erstaunliche Verhaltensweisen hervorrufen kann (davon abgeleitet se<strong>in</strong>e bekannteste<br />

These, nach <strong>der</strong> Architektur die Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung von Ereignissen sei, während die Leere<br />

Möglichkeiten schaffe). Daraus ergibt sich se<strong>in</strong> Projekt Exodus, se<strong>in</strong>e<br />

Diplomarbeit an <strong>der</strong> AA, unverkennbar bee<strong>in</strong>flusst von <strong>der</strong> Mauer, aber auch von den<br />

immer pessimistischer werdenden Projekten <strong>der</strong> italienischen Gruppe Superstudio, die<br />

mit ihren Megastruktur-Entwürfen das Irrationale an sche<strong>in</strong>bar rationalen Strukturen<br />

aufdecken wollen.<br />

[Bild 4: New York]<br />

Delirious New York<br />

<strong>Koolhaas</strong> ergattert anschließend e<strong>in</strong> Stipendium an Peter Eisenmans Institute for<br />

Architecture and Urban Studies (IAUS) <strong>in</strong> New York, außerdem studiert er weiter bei O.<br />

M. Ungers an <strong>der</strong> Cornell University, Ithaca.


Das Stipendium nutzt er für se<strong>in</strong> theoretisches Hauptwerk (das ist es bis heute)<br />

Delirious New York, das 1978 ersche<strong>in</strong>t. Zuvor s<strong>in</strong>d schon Teile veröffentlicht<br />

worden. <strong>Koolhaas</strong> beg<strong>in</strong>nt, sich e<strong>in</strong>en Namen zu machen; se<strong>in</strong> Büro, Office for<br />

Metropolitan Architecture, wird 1975 gegründet. Diesem gehören auch an: se<strong>in</strong>e<br />

damalige Frau Madelon Vriesendorp und Elias und Zoe Zenghelis, mit denen er sich<br />

später aber völlig zerstreitet.<br />

[Bild 5: DNY Inhalt]<br />

AUFBAU DNY ist genauso wie SMLXL nicht nur e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> Buch, <strong>in</strong> dem sich die<br />

<strong>Theorie</strong> f<strong>in</strong>det, son<strong>der</strong>n das Buch und se<strong>in</strong>e Gestaltung, se<strong>in</strong> formaler Aufbau s<strong>in</strong>d<br />

selber auch Teil dieser <strong>Theorie</strong>.<br />

DNY ist wie die Stadt Manhattan, wie das Raster, folgen<strong>der</strong>maßen aufgebaut:<br />

Episodisch: es gibt Hauptkapitel, die wie e<strong>in</strong>zelne größere Episoden gelesen werden<br />

können (unabhängig von den an<strong>der</strong>en): über Coney Island, Rockefeller Center, über Le<br />

Corbusier und Salvador Dalí,<br />

Zusammenhängend ergeben sie vage e<strong>in</strong>e Geschichte von <strong>der</strong> K<strong>in</strong>dheit und den<br />

Traumata bzw. <strong>in</strong>fantilen Wünschen (Coney Island) bis zum Höhepunkt des<br />

Erwachsenenlebens (Rockefeller Center) und dem vorzeitigen Greisenzustand.<br />

Jedes Kapitel ist noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Blöcke e<strong>in</strong>geteilt, die ebenfalls kle<strong>in</strong>e Episoden,<br />

Themen, Aspekte des großen Kapitels aufnehmen.<br />

Diese Aufteilung entspricht dem Raster Manhattans.<br />

[Bild 6: Das Koord<strong>in</strong>atensystem Manhattans]<br />

Manhattan<br />

Manhattan ist <strong>der</strong> ideale theoretische Ausgangspunkt für <strong>Koolhaas</strong>, da dort alle<br />

(europäischen) humanistischen <strong>Theorie</strong>n über l<strong>in</strong>eare Ursache-Wirkung-Beziehungen,<br />

über Archetypen und Urgründe <strong>in</strong> phantastischer Weise konterkariert und überrannt<br />

werden. Manhattan ist “das Produkt e<strong>in</strong>er nie formulierten <strong>Theorie</strong>”, e<strong>in</strong>e sich ständig<br />

selbst perpetuierende Mo<strong>der</strong>nisierungsmasch<strong>in</strong>e, die Träume, Bedürfnisse und Lüste<br />

erfüllt, bevor man sich ihrer überhaupt bewusst ist, d.h. Manhattan produziert<br />

Ergebnisse und Beweise für nie erstellte Aufgaben und Hypothesen. Deshalb ist <strong>in</strong><br />

Manhattan das Neue immer präsent, und zwar <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er rohesten und unmittelbarsten<br />

Form. Zur gleichen Zeit etwa, da <strong>in</strong> Europa Le Corbusier se<strong>in</strong> Do-m<strong>in</strong>o-Modell<br />

vorschlägt, Malewitsch se<strong>in</strong> schwarzes Quadrat auf weißem Grund malt, de Stijl die<br />

‘Weltformel’ präsentiert, entsteht <strong>in</strong> New York, <strong>der</strong> “Arena für das Endstadium <strong>der</strong><br />

westlichen Zivilisation”, die eigentliche Mo<strong>der</strong>ne, ohne jede <strong>Theorie</strong>, ohne<br />

Vorankündigung, unbewusst. Bezeichnen<strong>der</strong>weise besorgt die Nachlieferung dieser<br />

<strong>Theorie</strong> nun e<strong>in</strong> Europäer, das “retroaktive Manifest für Manhattan”. Und tatsächlich<br />

sieht <strong>Koolhaas</strong> <strong>in</strong> Manhattan e<strong>in</strong>e Art Geheimformel o<strong>der</strong> -übere<strong>in</strong>kunft am Werk, <strong>der</strong> er<br />

den Namen “culture of congestion” gibt, die zwar e<strong>in</strong>e “schamlose” Architektur<br />

hervorbr<strong>in</strong>gt und oft verrückt ersche<strong>in</strong>t, aber dennoch rationalen Methoden gehorcht;<br />

und zwar nicht nur solche <strong>der</strong> amerikanischen Mo<strong>der</strong>nisierung, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong>


europäischen avantgardistischen Kultur <strong>der</strong> zwanziger und dreißiger Jahre. Die<br />

Entdeckung <strong>der</strong> Abstraktion <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst, das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Montage im Film und <strong>der</strong><br />

Surrealismus sche<strong>in</strong>en erst <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit Amerika ihr operationelles und<br />

experimentelles Potential entwickeln zu können.<br />

Abstraktion<br />

Das Potential <strong>der</strong> Leere ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> unmittelbarsten Deutung das Potential des abstrakten<br />

Plans o<strong>der</strong> Fläche, die den Code Manhattans und se<strong>in</strong>er Hochhäuser festlegen (‘typical<br />

plan’). Abstraktion bedeutet zweierlei: <strong>in</strong>härenter Prozess <strong>der</strong> kapitalistischen<br />

amerikanischen Gesellschaft, die zunehmend auf Rationalisierung und Ökonomisierung<br />

drängt, und (europäischer) künstlerischer Versuch, Grenzen zu überschreiten, um mehr<br />

Freiheit zu erlangen und unerforschte Potentiale freizulegen. In <strong>Koolhaas</strong>’ Interpretation<br />

von Manhattan verschmelzen beide Bewegungen, <strong>in</strong>dem er die amerikanische<br />

Ökonomisierung des architektonischen o<strong>der</strong> städtebaulichen Plans gleichstellt mit se<strong>in</strong>er<br />

eigenen methodischen Lesart <strong>der</strong> Stadt, die sich auf die manifestartigen<br />

Radikalisierungen <strong>der</strong> europäischen Architekten- und Künstleravantgarde bezieht. Le<br />

Corbusiers Dom<strong>in</strong>o-Modell und die Idee vom freien Grundriss, <strong>der</strong> freien Fassade und<br />

den zurückgesetzten ‘Pilotis’ war nicht e<strong>in</strong>fach nur e<strong>in</strong> konkreter konstruktiver Vorschlag<br />

für Wohnungsbau <strong>in</strong> Stahlbeton, es enthält auch die erste formulierte <strong>Theorie</strong>, die<br />

abstrakte Fläche als reales Potential (und nicht als geheimes geometrisches Schema)<br />

zu betrachten. Ob es sich um e<strong>in</strong> architektonisches Potential handelt, mag vorerst e<strong>in</strong>e<br />

offene Frage bleiben, <strong>in</strong> Manhattan jedenfalls handelt es sich zunächst um e<strong>in</strong><br />

programmatisches Potential. Erst die neutrale und nüchterne Rationalität <strong>der</strong> Pläne<br />

erlaubt die brodelnde Wildheit von Manhattan, wobei allerd<strong>in</strong>gs nur die e<strong>in</strong>fachste,<br />

unmittelbarste und roheste Form von Rationalität (die auch nur <strong>in</strong> dieser Form präzise<br />

ist) wirksam se<strong>in</strong> kann. Jede Differenzierung auf zweiter und dritter Ebene, jede<br />

bewusste Übertheoretisierung würde das Potential wie<strong>der</strong> zunichte machen, würde<br />

Aktionen kanalisieren und e<strong>in</strong>engen. Abstraktion bedeutet hier nicht ideelle Überhöhung,<br />

son<strong>der</strong>n das Zurückführen und Verallgeme<strong>in</strong>ern von Strukturen und Plänen auf<br />

e<strong>in</strong>fachste, neutrale Muster, die ungefähr dieselbe Funktion haben wie <strong>der</strong> iambische<br />

Trimeter für das griechische Epos o<strong>der</strong> <strong>der</strong> 4/4-Takt für die Musik – sie rhythmisieren<br />

das ‘Stück’ mit e<strong>in</strong>em simplen und durchgängigen Takt, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Trance versetzen kann<br />

und soll.<br />

Diese Muster s<strong>in</strong>d zum Teil aus den Plänen <strong>der</strong> Stadt direkt zu lesen, zum an<strong>der</strong>en<br />

‘erf<strong>in</strong>det’ sie <strong>Koolhaas</strong> <strong>in</strong> analytisch-hypothetischer Weise. Dabei geht er sogar weiter<br />

als Le Corbusier, <strong>in</strong>dem er re<strong>in</strong>e abstrakte Schnitte vor<strong>nimmt</strong>, die die konventionelle<br />

architektonische Bezeichnung Grundriss, Ansicht, Quer- und Längsschnitt nicht mehr<br />

benötigen, da diese immer noch zu viel ‘architektonische’ Information enthalten. Wie e<strong>in</strong><br />

Pathologe seziert er nach e<strong>in</strong>em simplen rationalistischen Verfahren den Körper<br />

Manhattans: jeweils zwei Horizontal- und Vertikalschnitte br<strong>in</strong>gen das<br />

‘Koord<strong>in</strong>atensystem’ Manhattans ans Licht. (zwei vorgegeben, zwei erfunden)<br />

Der erste Horizontalschnitt identifiziert das Raster Manhattans. Er ist noch sche<strong>in</strong>bar<br />

konventionell und wird gewöhnlich Grundriss o<strong>der</strong> Stadtplan genannt. Jedoch<br />

<strong>in</strong>teressiert sich <strong>Koolhaas</strong> nicht für dessen gestalterische Informationen, die<br />

Beziehungen zwischen Gebäudemassen und öffentlichen Räumen, son<strong>der</strong>n er lenkt<br />

den Blick auf das neutrale Flächenmuster des Rasters selbst, das lediglich aus e<strong>in</strong>er


episodischen Aufreihung von beliebigen Flächen mit jeweils unabhängigem Programm<br />

besteht.<br />

Den zweiten Horizontalschnitt nennt <strong>Koolhaas</strong> ‘Lobotomie’. Dieser Schnitt beschreibt<br />

die grundsätzliche, profane Trennung von <strong>in</strong>nen und außen, die jede herkömmliche<br />

humanistische Problematisierung dieses Verhältnisses ignoriert.<br />

Der erste Vertikalschnitt wie<strong>der</strong>um ist das ‘zon<strong>in</strong>g law’, das die möglichen Umrisse<br />

jedes e<strong>in</strong>zelnen Wolkenkratzers als ‘mathematische’ Verordnung festlegt, somit<br />

ausschließlich <strong>der</strong>en Ratio, aber nicht die Gestaltung def<strong>in</strong>iert. WOLKENKRATZER<br />

Der zweite Vertikalschnitt bekommt von <strong>Koolhaas</strong> ebenfalls e<strong>in</strong>en erfundenen Namen:<br />

‘Schisma’ identifiziert die reale Trennung <strong>der</strong> Funktionen auf den e<strong>in</strong>zelnen Geschossen<br />

<strong>der</strong> Wolkenkratzer, so als ob die an<strong>der</strong>en nicht existierten; Funktionsmischung als<br />

angeblich fundamentales Pr<strong>in</strong>zip städtischen Lebens wird ausgeschlossen.<br />

(WOLKENKRATZERTHEOREM Programm)<br />

All diese Schnitte haben nun e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>sam: sie identifizieren – mathematisch<br />

ausgedrückt – diskrete, geometrische Elemente: re<strong>in</strong>e Flächen, Volumen o<strong>der</strong> L<strong>in</strong>ien,<br />

die vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> getrennt und jeweils autonom s<strong>in</strong>d. Gälte dies auch für die Programme,<br />

die jeweils auf ihnen o<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihnen stattf<strong>in</strong>den, so könnte wohl kaum von e<strong>in</strong>er ‘culture of<br />

congestion’ die Rede se<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n vielmehr von dem braven europäischen Traum <strong>der</strong><br />

Funktionstrennung (o<strong>der</strong> -mischung). Dann gälte nur die naive Formel: Plan +<br />

Programm, und das alte Missverständnis, das ‘Leere’ mit stützenfreiem Raum übersetzt,<br />

auf dem das Leben und die bunten Ereignisse toben sollen, wäre erneut bekräftigt.<br />

Doch was für den Plan gelten kann (Neutralität), kann nicht für das Verhältnis zwischen<br />

Plan und Programm gelten. Es muss also noch etwas h<strong>in</strong>zu kommen, was das<br />

Verhältnis zwischen beiden dynamisiert: die Erzählstruktur, die Bewegung, die Zeit.<br />

OPERATION<br />

Drehbuch<br />

Der Fahrstuhl wird <strong>in</strong> ‘Delirious New York’ zum offenkundigen S<strong>in</strong>nbild <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Zivilisation: 80 o<strong>der</strong> mehr aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gestapelte Geschosse (die neutralen Flächen) –<br />

jedes mit e<strong>in</strong>em eigenen, von den an<strong>der</strong>en potentiell verschiedenen Programm –, durch<br />

die hoch und runter Lifte rasen, auf jedem Stockwerk Leute ausspuckend und wie<strong>der</strong><br />

aufnehmend. E<strong>in</strong>e reale Masch<strong>in</strong>e – die unsichtbare Hand? – und nicht e<strong>in</strong>e formale<br />

Masch<strong>in</strong>enmetapher hält den mo<strong>der</strong>nen Wolkenkratzer, die mo<strong>der</strong>ne Stadt, die<br />

mo<strong>der</strong>nen Geschäfte, die mo<strong>der</strong>nen Leute am Leben und <strong>in</strong> Bewegung, gleichzeitig ist<br />

sie nicht nur selber S<strong>in</strong>nbild für Bewegung, son<strong>der</strong>n produziert sie auch.<br />

[Bild 7: Culture of Congestion]<br />

Film Montage Wolkenkratzer<br />

Was aber erzeugt das Phantastische? Wie entsteht das Unvorhergesehene, das noch<br />

nie Gesehene? Wie erzeugt man Wünsche und Begierden?


<strong>Koolhaas</strong> ist von den unbewussten Kollektivkräften <strong>der</strong> „erschreckenden Schönheit des<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>ts“ überzeugt. Se<strong>in</strong>e THEORIE hat er <strong>in</strong> gewisser Weise selber e<strong>in</strong>mal so<br />

zusammengefasst: „Wie können so viele mittelmäßige Gebäude zusammen e<strong>in</strong> solch<br />

fantastisches architektonisches Spektakel ergeben? Wie kann so viel ‚Hässlichkeit’<br />

manchmal e<strong>in</strong>e Art von Schönheit o<strong>der</strong> Weisheit zur Folge haben?“ 2<br />

Die Methode ist komplizierter und <strong>Koolhaas</strong> f<strong>in</strong>det sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Paranoisch-Kritischen<br />

Methode von Salvador Dalì, und die <strong>Theorie</strong>, um diesen geheimnisvollen Kräften auf die<br />

Spur zu kommen, ist die Psychoanalyse. <strong>Koolhaas</strong> legt Manhattan auf die Couch, deutet<br />

die Symptome Manhattans als neurotisch, und analysiert diese als gleichbedeutend mit<br />

se<strong>in</strong>er künstlichen Lebensform: das Leben im Innern <strong>der</strong> Phantasie, im Land <strong>der</strong><br />

unbegrenzten Möglichkeiten.<br />

Höhepunkte: Downtown Athletic Club, Rockefeller Center, Waldorf Astoria<br />

[Bild 8: Corbu und Freud]<br />

Um den Unterschied zu gängigen <strong>Theorie</strong>n über die Erzeugung von Freiheit und<br />

Flexibilität zu verdeutlichen, vergleicht <strong>Koolhaas</strong> <strong>in</strong> Delirious New York Manhattan mit<br />

<strong>der</strong> klassischen Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> Gestalt von Le Corbusier. In Manhattan triumphiert das<br />

verdrängte Unbewusste als gebautes Manifest, genauer: als retroaktives Manifest. In<br />

Delirious New York konfrontiert Rem <strong>Koolhaas</strong> die puristische europäische Avantgarde,<br />

verkörpert durch Le Corbusier, mit <strong>der</strong> von ihm sogenannten „schamlosen“ und<br />

ornamentreichen Beaux-Art-Wolkenkratzerarchitektur Manhattans, die als „Sehnsüchte<br />

von Manhattans kollektivem Unterbewußtse<strong>in</strong>“ zwischen 1890 und 1940 Realität<br />

geworden s<strong>in</strong>d, während Corbusier immer noch auf <strong>der</strong> Suche nach Kundschaft für<br />

se<strong>in</strong>e cartesianischen Wolkenkratzer durch die Weltgeschichte reist. (Der Wahn von<br />

vielen und <strong>der</strong> Wahn e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen.) Die Architekten des Rockefeller Center vs. LC<br />

Was man zunächst für e<strong>in</strong>e Gegenüberstellung von anti-mo<strong>der</strong>n (Manhattan) und<br />

mo<strong>der</strong>n (La ville radieuse) halten könnte, erweist sich freilich bei genauerem H<strong>in</strong>sehen<br />

als e<strong>in</strong>e Gegenüberstellung von zwei Projekten des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, die dasselbe<br />

Problem bewältigen wollen, nämlich das wuchernde Wachstum <strong>der</strong> Städte und ihren<br />

drohenden Kollaps <strong>in</strong> den Griff zu bekommen, und sich dabei des gleichen<br />

Fortschrittsdenkens bedienen, nämlich „nordamerikanische Barbarei, die europäischer<br />

Kultiviertheit weicht“, nur dass sie die Sache jeweils von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite her<br />

aufziehen.<br />

Während <strong>in</strong> Manhattan das Problem <strong>der</strong> „congestion“, <strong>der</strong> Überfüllung, <strong>der</strong> Verstopfung,<br />

des Staus, durch Flucht nach vorn gelöst wird, <strong>in</strong>dem gegen die Enge und die Dichte nur<br />

noch mehr und immer höhere Wolkenkratzer gebaut werden, welche angeblich die<br />

Überfüllung kanalisieren sollen, <strong>in</strong> Wahrheit aber nur zu noch mehr Dichte führen und<br />

somit automatisch die von <strong>Koolhaas</strong> gefeierte „culture of congestion“ hervorbr<strong>in</strong>gen, das<br />

Leben „im Innern <strong>der</strong> Phantasie“, geht Corbusier natürlich den klassischen Weg des<br />

Schulmediz<strong>in</strong>ers: gegen Stau hilft nur Entstauung <strong>in</strong> Form von drastischen chirurgischen<br />

2 Rem <strong>Koolhaas</strong>, „F<strong>in</strong>d<strong>in</strong>g Freedoms“, Interview mit Alejandro Zaera Polo, <strong>in</strong>: El Croquis, März<br />

1990 (e<strong>in</strong>e deutsche Übersetzung f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong>: 117 ARCH + , S. 32)


E<strong>in</strong>griffen. Beide Strategien führen aber ke<strong>in</strong>en ideologischen Kampf gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>Koolhaas</strong>’ Beschreibung nur die Kehrseiten <strong>der</strong>selben Medaille, die<br />

Zivilisation heißt und unzweifelhaft manische Züge trägt, denn beide s<strong>in</strong>d Spiegelbil<strong>der</strong>.<br />

Im Namen von Freiheit und Fortschritt unterliegt Manhattan e<strong>in</strong>em Wie<strong>der</strong>holungszwang<br />

<strong>der</strong> permanenten Simulation se<strong>in</strong>es eigenen barbarischen Urzustands, <strong>der</strong> immer<br />

künstlicher und krisenhafter wird, während Le Corbusier e<strong>in</strong> größenwahns<strong>in</strong>niges Modell<br />

vorlegt, das <strong>in</strong> Barbarei umschlagen würde, falls es Realität würde.<br />

<strong>Koolhaas</strong> beschreibt <strong>in</strong> DNY offenbar e<strong>in</strong> dynamisches Modell, das an e<strong>in</strong>e hydraulische<br />

Masch<strong>in</strong>e er<strong>in</strong>nert: actio = reactio. Genau genommen hat diese Masch<strong>in</strong>e auch e<strong>in</strong>en<br />

Namen. Sie wird von Sigmund Freud Libido-Ökonomie genannt und ist eben jene duale<br />

Triebdynamik (Lust- vs. Realitätspr<strong>in</strong>zip), die er auf die Entstehung von Kultur als<br />

lustvolle Ersatzhandlung (die Verdrängung) für Triebverzicht anwendet. <strong>Koolhaas</strong><br />

sche<strong>in</strong>t also wie<strong>der</strong> auf den Ur-Freud zurückzugreifen.<br />

In diesem S<strong>in</strong>ne ist nämlich die Simulation von Freiheit <strong>in</strong> Manhattan das Ergebnis<br />

regressiver Triebe, die sich unbewusst durchsetzen, während Corbusier für die<br />

Erlangung von Freiheit den Preis des Triebverzichts zu zahlen bereit ist. Gewiss ist es<br />

ke<strong>in</strong> Zufall, dass dem Kapitel <strong>in</strong> Delirious New York, <strong>in</strong> dem Le Corbusier auf Manhattan<br />

trifft, e<strong>in</strong>e Abbildung als E<strong>in</strong>leitung vorausgeht, auf <strong>der</strong> <strong>der</strong> Name des Mannes ersche<strong>in</strong>t,<br />

<strong>der</strong> die wohl populärste <strong>Theorie</strong> des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts vorgelegt hat: Freud Unlimited. (><br />

Bild)<br />

Es sche<strong>in</strong>t also, als ob Delirious New York den Schlüssel zu <strong>Koolhaas</strong>’ kulturkritischer<br />

Haltung zur Mo<strong>der</strong>ne liefert: Als andauernd wi<strong>der</strong>streitende Bipolarität von Rationalem<br />

und Irrationalem ohne Aussicht auf Lösung, Synthese, Transzendenz, Harmonie o<strong>der</strong><br />

gar Fortschritt produziert sie Unbehagen, aber als andauernde Krise wird sie letztlich<br />

kreativ.<br />

Und das ist <strong>Koolhaas</strong>’ eigene Interpretation und auch anschleißend se<strong>in</strong>e<br />

Entwurfsmethode: Nicht dialektisch-marxistische Auswege wie z.B. Herbert Marcuse zu<br />

suchen (<strong>in</strong> dessen Buch Triebstruktur und Gesellschaft), son<strong>der</strong>n die Neurose positiv<br />

sehen. Dazu greift er auf den Surrealismus zurück, um die <strong>in</strong>neren Wi<strong>der</strong>sprüche nicht<br />

zu tilgen, son<strong>der</strong>n als Krise erst richtig zu provozieren.<br />

Häufig entwickelt er im Vorfeld des Entwurfs Szenarien, welche die <strong>in</strong>nere<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> Aufgabe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en möglichst <strong>in</strong>stabilen Zustand treiben, aus dem<br />

heraus <strong>der</strong> Entwurf wie bei e<strong>in</strong>em magischen Trick als verblüffend logische Antwort<br />

hervorgezaubert wird. Dabei greift er auf die „paranoisch-kritische Methode“ zurück, e<strong>in</strong>e<br />

Erf<strong>in</strong>dung von Salvador Dalí, die <strong>Koolhaas</strong> für die e<strong>in</strong>zig echte Erf<strong>in</strong>dung des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts hält, und nicht nur <strong>in</strong> Delirious New York ausführlich vorgestellt, son<strong>der</strong>n<br />

auch später mehrfach gewürdigt wird.<br />

[Bild 9: Dalí und Tragwerk Floirac]<br />

Die Anwendung <strong>der</strong> „paranoisch-kritischen Methode“, die von Dalí bereits <strong>in</strong> den<br />

zwanziger und dreißiger Jahren entwickelt wurde und explizit auf den Entdeckungen<br />

Freuds und Jacques Lacans zur Paranoia basiert, dass nämlich <strong>der</strong> wahnhafte Zustand<br />

des Paranoikers zwanghaft zur Erzeugung e<strong>in</strong>es systematischen Denksystems führt,


das <strong>in</strong> völliger Logik die e<strong>in</strong>gebildete Verfolgung andauernd bestätigt, somit die Neurose<br />

als aktiv und nicht als passiv def<strong>in</strong>iert wird. (Für Dalí wird damit <strong>der</strong> Kern künstlerischen<br />

Schaffens def<strong>in</strong>iert.) An<strong>der</strong>s ausgedrückt: <strong>der</strong> Paranoiker dreht die übliche Schrittfolge<br />

von A und B um, er schafft Beweise für unbeweisbare Hypothesen, die anschließend –<br />

und das macht es methodisch und kritisch – <strong>der</strong> Welt ungefragt aufgedrückt werden, die<br />

sie aber wegen <strong>der</strong> <strong>in</strong>newohnenden sophistischen Logik akzeptieren muss. (Auf diese<br />

Weise, wen wun<strong>der</strong>t es, kommt überhaupt Architektur zustande.) In den Worten<br />

<strong>Koolhaas</strong>’: „Der Paranoiker trifft den Nagel immer auf den Kopf, egal, woh<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Hammer schlägt.“ Als „Eroberung des Irrationalen“ ist die PKM für <strong>Koolhaas</strong> die letzte<br />

wirklich rationale Methode <strong>der</strong> Aufklärung, und zugleich <strong>der</strong>en Kritik, weil sie Analyse<br />

und Entwurf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s setzt.<br />

Der tautologische Mechanismus dieser Methode wird <strong>in</strong> Delirious New York durch e<strong>in</strong><br />

Diagramm erklärt, dessen Ähnlichkeit mit dem aufwändigen und komplizierten Tragwerk<br />

<strong>der</strong> Maison à Floirac mehr als nur <strong>in</strong> die Augen spr<strong>in</strong>gt. Tatsächlich bilden die e<strong>in</strong>zelnen<br />

Tragelemente – die auf nur e<strong>in</strong>em Balken gelagerten U-förmigen Wände des<br />

Obergeschosses, <strong>der</strong> asymmetrisch liegende Stahlträger, das Gegengewicht – e<strong>in</strong><br />

System von gegenseitigen „Begründungen“ und „Stabilisierungen“, bei dem ke<strong>in</strong>e<br />

<strong>Reihe</strong>nfolge von Anfang und Ende erkennbar ist und bei dem schon aus re<strong>in</strong><br />

physikalischen Gründen ke<strong>in</strong> Teil h<strong>in</strong>zugefügt, weggenommen o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>t werden<br />

könnte, ohne die Sache zum E<strong>in</strong>sturz zu br<strong>in</strong>gen: e<strong>in</strong>e völlig aberwitzige Konstruktion,<br />

die aber dennoch funktioniert – wie beim berühmten „Lügenbaron“ von Münchhausen,<br />

<strong>der</strong> auf Kanonenkugeln reitet o<strong>der</strong> sich selbst am Schopf aus dem Morast zieht.<br />

[Bild 10: Wohnraum Maison à Floirac]<br />

Die eigentliche Provokation dieser Luxusvilla auf e<strong>in</strong>em Hügel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe von<br />

Bordeaux liegt aber <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Programm: e<strong>in</strong> unterschwelliger Familienkonflikt,<br />

verursacht von dem als Haustyrann imag<strong>in</strong>ierten Familienvater, <strong>der</strong> im Rollstuhl sitzt,<br />

wird hypothetisch, also durch paranoisch-kritische Aktivität angenommen und im<br />

Worts<strong>in</strong>n als Drama, also als Theaterstück architektonisch aufgeführt. Deutlicher könnte<br />

die Abwehrhaltung gegenüber <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, gegenüber <strong>der</strong> „Architektur <strong>der</strong> guten<br />

Absichten“ (Col<strong>in</strong> Rowe), kaum ausfallen. Deren Wohnbaugrundrisslösungen basierten<br />

ausnahmslos auf <strong>der</strong> als heil angenommen Welt <strong>der</strong> bürgerlichen Kle<strong>in</strong>familie, <strong>der</strong>en<br />

<strong>in</strong>ternen Abläufe als klar und wun<strong>der</strong>sam harmonisch aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> abgestimmte<br />

Funktionen zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> dieser Idealprojektion identifiziert werden konnten (ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>e Tautologie), während doch bereits damals durch die <strong>Theorie</strong>n Freuds offenbar<br />

wurde, dass <strong>der</strong> Schoß <strong>der</strong> Familie e<strong>in</strong>e Brutstätte von Neurosen, unbewältigter<br />

Konflikte, Traumata und psychischer Ambivalenzen ist.<br />

Die im Haus dom<strong>in</strong>ante fahrbare Plattform ist se<strong>in</strong> Arbeitszimmer und se<strong>in</strong> Mittel, um<br />

Zugänge zu bestimmten Räumen im Haus zu kontrollieren, die nur über die Plattform<br />

erreichbar s<strong>in</strong>d. Das heißt, die Plattform fungiert als architektonisches Oxymoron <strong>der</strong><br />

ambivalenten Beziehungen <strong>der</strong> Familie zu ihrem Haupternährer. Überall wo die<br />

Plattform nicht ist, bleibt e<strong>in</strong> riesiges Loch im Boden, das die Anwesenheit <strong>der</strong><br />

Abwesenheit des Familienvaters unmittelbar vor Augen führt. Bildet sie umgekehrt e<strong>in</strong>e<br />

durchgehende Fläche mit dem Fußboden <strong>der</strong> restlichen Grundrissfläche, verschw<strong>in</strong>det<br />

<strong>der</strong> Vater gleichsam durch se<strong>in</strong>e reale Anwesenheit.


Man könnte also sagen, dass die Plattform als „Wohnmasch<strong>in</strong>e“ nicht nur die technische<br />

Rationalisierung <strong>der</strong> äußeren Bewegungen <strong>der</strong> Bewohner bewerkstelligt, son<strong>der</strong>n viel<br />

eher die Rationalisierung ihrer <strong>in</strong>neren psychischen Bewegungen – ganz gleich, was<br />

man davon hält.<br />

[Bild 11: SMLXL]<br />

SMLXL<br />

Das Paradoxe und die Methoden des Surrealismus <strong>in</strong>teressieren <strong>Koolhaas</strong>, nicht<br />

dessen Bild<strong>in</strong>halte, so s<strong>in</strong>ngemäß e<strong>in</strong> Zitat aus SMLXL.<br />

Tatsächlich ist dieses Buch basierend auf diesen Methoden entstanden.<br />

Zuerst die Fakten<br />

Mitte <strong>der</strong> neunziger Jahre bef<strong>in</strong>det sich das Büro <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise, dessen Anlass und<br />

Ausdruck das opus magnum, nämlich SMLXL ist (im selben Augenblick werden große<br />

Projekte wie das Karlsruher ZKM und die Bibliotheken Jussieu <strong>in</strong> Paris nicht gebaut.)<br />

Gewicht: ca. 2,5 Kilo<br />

1.376 Seiten<br />

Projekte und Texte alternierend, simpel geordnet nach Small. Medium, Large, Extralarge<br />

Das hybride Format:<br />

Offiziell e<strong>in</strong>e Architektenmonographie, preist es sich selbst auf dem Klappentext als<br />

„Roman über Architektur“ an, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> ganzen Welt handelt, um im nächsten Moment<br />

e<strong>in</strong> zeitgenössisches Epos anzukündigen, das „Glanz und Elend“ <strong>der</strong> Architektur im<br />

„maelstrom“ <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung bes<strong>in</strong>gt, und zum Schluss <strong>der</strong> freien Assoziation den<br />

Vorzug gibt: „Das Buch kann auf jede beliebige Weise gelesen werden.“ Der lapidare<br />

Automatismus <strong>der</strong> quantitativen Kategorien Small, Medium, Large und Extralarge, nach<br />

dem die Projekte und Texte platziert werden, sorgt für e<strong>in</strong>e aleatorische <strong>Reihe</strong>nfolge <strong>der</strong><br />

Projekte, welche das hybride Format zugleich bestätigt und erzeugt.<br />

Architektur und das Dase<strong>in</strong> als Architekt, so doziert Rem <strong>Koolhaas</strong> nicht zum ersten<br />

Mal, seien nun e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> aberwitziges Abenteuer, e<strong>in</strong>e ständige Berg- und Talfahrt<br />

zwischen „Allmacht und Ohnmacht“, basierend auf <strong>in</strong>kohärenten, ja willkürlichen<br />

Entscheidungen und Prozessen außerhalb ihrer selbst, deshalb muss auch das Buch<br />

diese Instabilität und Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit „e<strong>in</strong>er architektonischen Praxis ausdrücken<br />

und vorführen.“<br />

Gleichwohl wird es damit nicht zwangsläufig zum „offenen Kunstwerk“. Denn an<strong>der</strong>s als<br />

Umberto Ecos Il Nome della Rosa – das wohl prom<strong>in</strong>enteste Beispiel für die<br />

Hybridisierung <strong>der</strong> Genres –, o<strong>der</strong> Robert Venturis „Sowohl-als-auch“-Lösungen –<br />

Assemblagen von verschiedenen Architekturstilen –, welche er bereits <strong>in</strong> großer Zahl <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Architekturgeschichte gefunden hatte, und nicht zu <strong>der</strong>en Nachteil, verzichtet<br />

S,M,L,XL auf e<strong>in</strong>e Ordnungsstruktur, die „S<strong>in</strong>n“ erzeugt, die also auf <strong>der</strong> semantischen<br />

Ebene nachvollzogen werden könnte. An<strong>der</strong>s ausgedrückt: S,M,L,XL will die Inkohärenz<br />

nicht abbilden, son<strong>der</strong>n bewerkstelligen. Dabei greift se<strong>in</strong> Hauptautor auf se<strong>in</strong>e eigenen<br />

Methoden, Inkohärenz und Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit zu erzeugen, nämlich auf die Montage


o<strong>der</strong> Collage, welche nicht nur dem Buch, son<strong>der</strong>n so gut wie allen Projekten von<br />

<strong>Koolhaas</strong> bis heute als Grundlage dient.<br />

[Bild 12: Ne<strong>der</strong>lands Dans Theater Man Ray]<br />

Erlesene Leiche<br />

„So lange zwei Gebäude denselben Raum teilen o<strong>der</strong> unmittelbar benachbart s<strong>in</strong>d,<br />

werden sie e<strong>in</strong>e Beziehung haben, ganz gleich, ob vom Architekten gewünscht o<strong>der</strong><br />

nicht, ganz gleich, ob es irgendjemanden kümmert. Es ist e<strong>in</strong>e gewaltige Farce zu<br />

glauben, dass man e<strong>in</strong>e Beziehung nur dann herstellen könne, wenn e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g dem<br />

an<strong>der</strong>en ähnlich sei o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g dem an<strong>der</strong>en angepasst werden müsse. Wie je<strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong> die Welt mit an<strong>der</strong>en teilt, weiß ich, dass schon bloße Nähe – das e<strong>in</strong>fache<br />

Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>stellen von D<strong>in</strong>gen – e<strong>in</strong>e Beziehung erzeugt, <strong>der</strong>en Präsenz so gut wie<br />

unabhängig vom Willen <strong>der</strong> Leute ist, die diese Objekte geschaffen haben.“ 3 Diese<br />

Passage f<strong>in</strong>det sich auf Seite 1086 unter dem Stichwort „Proximity“ im sogenannten<br />

Glossar, das e<strong>in</strong>em privaten Zettelkasten gleicht und <strong>in</strong> unregelmäßigen Abständen das<br />

ganze Buch auf <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Seite <strong>in</strong> <strong>der</strong> Marg<strong>in</strong>alspalte begleitet. Es besteht aus offenbar<br />

subjektiv ausgewählten Stichworten, denen Zitate von unterschiedlichen Personen und<br />

aus unterschiedlichen Quellen zugeordnet s<strong>in</strong>d. Da e<strong>in</strong>ige Zitate – wie dieses – vom<br />

Autor selber stammen, s<strong>in</strong>d sie als selbstbezügliche Aussage leichter mit dem<br />

Buchkonzept <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung zu br<strong>in</strong>gen.<br />

Was hier beschrieben wird, ist mehr als nur die Charakterisierung e<strong>in</strong>es modus<br />

operandi, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachste Fall e<strong>in</strong>er Montage- o<strong>der</strong> Collagetechnik. <strong>Koolhaas</strong> artikuliert<br />

se<strong>in</strong>e „Ideologie“. Zum e<strong>in</strong>en grenzt er sich klar gegen jede Autonomiebestrebung <strong>der</strong><br />

Diszipl<strong>in</strong>en ab. Das „e<strong>in</strong>fache Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>stellen“ von unterschiedlichen D<strong>in</strong>gen –<br />

das zur Hybridisierung führen kann, aber nicht muss –, ist e<strong>in</strong> so allgeme<strong>in</strong>gültiges<br />

Verfahren, dass es zwischen allen kulturellen Fel<strong>der</strong>n und künstlerischen Diszipl<strong>in</strong>en<br />

angewendet werden kann. Ob es sich um Gegenstände o<strong>der</strong> Personen, ob es sich um<br />

Architektur- o<strong>der</strong> Buchprojekte handelt, spielt ke<strong>in</strong>e Rolle. Deshalb ist zu vermuten, dass<br />

sich auch <strong>in</strong> S,M,L,XL e<strong>in</strong>e Vielzahl von D<strong>in</strong>gen f<strong>in</strong>den lässt, die durch „e<strong>in</strong>faches<br />

Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>stellen“ e<strong>in</strong>e assoziationsreiche Beziehung e<strong>in</strong>gehen, „<strong>der</strong>en Präsenz so<br />

gut wie unabhängig vom Willen <strong>der</strong> Leute ist, die diese Objekte geschaffen haben.“ Zum<br />

an<strong>der</strong>en zeigt er sich als Architekt, <strong>der</strong> es theoretisch und praktisch nicht auf e<strong>in</strong>e neue<br />

geistige Ordnung, son<strong>der</strong>n auf den Bereich <strong>der</strong> unkontrollierbaren Affekte abgesehen<br />

hat, e<strong>in</strong> Bereich, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts bedeutsam ist, aber <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Architektur ignoriert wird. Insofern erweist er sich als recht treuer Nachfahre des<br />

Surrealismus, <strong>der</strong> auf die heimlichen (und unheimlichen) Beziehungen zwischen den<br />

D<strong>in</strong>gen vertraut.<br />

Dem Surrealismus viel mehr als irgendwelchen „postmo<strong>der</strong>nen“ Verfahren verdankt<br />

S,M,L,XL folglich se<strong>in</strong>e Struktur; Verweise f<strong>in</strong>den sich dort zuhauf. Natürlich fehlt nicht<br />

<strong>der</strong> Ur-Satz <strong>der</strong> Surrealisten, die „unvermutete Begegnung e<strong>in</strong>er Nähmasch<strong>in</strong>e mit<br />

e<strong>in</strong>em Regenschirm auf e<strong>in</strong>em Operationstisch“, den Comte du Lautréamont <strong>in</strong> Les<br />

Chants de Maldoror zur Charakterisierung <strong>der</strong> Schönheit e<strong>in</strong>es jungen Mannes<br />

3 Rem <strong>Koolhaas</strong>, Vortrag zum Rathaus-Projekt <strong>in</strong> Den Haag an <strong>der</strong> TU Delft, 1987; zitiert nach: S,M,L,XL,<br />

S. 1086


gebrauchte, und <strong>der</strong> für Max Ernst bereits e<strong>in</strong> „fast klassisch gewordenes Beispiel für<br />

das von den Surrealisten entdeckte Phänomen [ist], dass die Annäherung von zwei<br />

(o<strong>der</strong> mehr) sche<strong>in</strong>bar wesensfremden Elementen auf e<strong>in</strong>em ihnen wesensfremden<br />

Plan die stärksten poetischen Zündungen provoziert.“ 4 E<strong>in</strong>gebettet ist <strong>der</strong> Satz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

„Journalism“ betitelten Text von 1987 über die Stadt Atlanta, wo <strong>Koolhaas</strong> dasselbe<br />

Phänomen zweier „bloß“ benachbarter Gebäude beschreibt, diesmal als Replik auf den<br />

so genannten Kontextualismus <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne: „Zwei Wolkenkratzer, vis à vis gebaut,<br />

das e<strong>in</strong>e hypermo<strong>der</strong>n (d.h. <strong>in</strong> verspiegeltem Glas), das an<strong>der</strong>e be<strong>in</strong>ahe stal<strong>in</strong>istisch (mit<br />

vorgefertigtem Beton verkleidet). Sie wurden von <strong>der</strong>selben Firma für verschiedene<br />

Unternehmen errichtet, jedes nach eigenständiger Identität strebend. [...] E<strong>in</strong>e neue<br />

Ästhetik macht sich <strong>in</strong> Atlanta breit: die zufällige Gegenüberstellung von E<strong>in</strong>heiten die<br />

nichts außer ihre bloße Koexistenz geme<strong>in</strong>sam haben.“ 5<br />

Das Ergebnis e<strong>in</strong>er „Annäherung von wesensfremden Elementen“ nannten die<br />

Surrealisten „Erlesene Leiche“, wenn es nach dem Verfahren <strong>der</strong> écriture automatique<br />

(automatisches Schreiben) zum Aufdecken zuvor unbewusster Bil<strong>der</strong> entstanden ist,<br />

welches an das bekannte K<strong>in</strong><strong>der</strong>spiel er<strong>in</strong>nert und mit Worten o<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>n ausgeführt<br />

werden kann: „Die Technik <strong>der</strong> Ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong>reihung war schnell gefunden. Man faltete<br />

das Papier nach <strong>der</strong> ersten Zeichnung, wobei man noch drei o<strong>der</strong> vier L<strong>in</strong>ien stehen<br />

ließ. Der Folgende mußte sie fortsetzen, ihnen Form geben, ohne den Anfang gesehen<br />

zu haben. Also, es war e<strong>in</strong> Rausch. Den ganzen Abend über lieferten wir uns die<br />

Freude, über jeden Verdacht erhabene Kreaturen ersche<strong>in</strong>en zu sehen, die doch von<br />

uns geschaffen worden waren.“ 6 Es versteht sich von selbst, daß die „Erlesene Leiche“<br />

auch <strong>in</strong> S,M,L,XL zu f<strong>in</strong>den ist. „Cadavre exquis“ ist <strong>der</strong> Titel, den die Präsentation von<br />

Entwurf, Ausführung und Fertigstellung des ersten großen Projekts von OMA im Jahr<br />

1987, das Ne<strong>der</strong>lands Dans Theater <strong>in</strong> Den Haag, erhalten hat – als unmittelbare<br />

Kennzeichnung des collagenhaften Bauensembles und vor allem als Anspielung auf die<br />

ständige E<strong>in</strong>mischung von Auftraggebern, Baufirmen, Politikern, Geldgebern und<br />

„Kollegen“ auf den Bauprozeß, so dass – so muss gemutmaßt werden – durch diese<br />

„kollektive Schöpfung“ ebenfalls e<strong>in</strong>e „über jeden Verdacht erhabene Kreatur“<br />

entstanden ist.<br />

[Bild 13: erlesene Leiche Ulay]<br />

Natürlich gibt es noch an<strong>der</strong>e Beispiele, Le Corbusiers brutale Bildcollage im Plan Vois<strong>in</strong><br />

auf Seite 1103, das Stichwort „Surrealism“ im Glossar auf Seite 1190, <strong>in</strong> dem sich<br />

<strong>Koolhaas</strong> speziell zu den „paranoiden“ Methoden des Surrealismus bekennt, die er für<br />

„e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> echten Erf<strong>in</strong>dungen“ des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts hält und die se<strong>in</strong>e Projekte seit etwa<br />

Anfang <strong>der</strong> neunziger Jahre stärker bee<strong>in</strong>flusst haben, sowie e<strong>in</strong>zelne Bil<strong>der</strong> von Man<br />

Ray, Luis Buñuel, Salvador Dalí, und zuletzt noch auf Seite 920 die Photographie <strong>der</strong><br />

Performance Impon<strong>der</strong>able von Mar<strong>in</strong>a Abramovic und Ulay aus dem Jahr 1977, die<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich am deutlichsten zeigt, was sich <strong>Koolhaas</strong> unter den „unberechenbaren“<br />

Wirkungen des „bloßen Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>“ vorstellt (und selber „zufällig“ zwischen die<br />

4<br />

Max Ernst, „Was ist Surrealismus?“ (1934), <strong>in</strong>: Karlhe<strong>in</strong>z Barck (Hrsg.), Surrealismus <strong>in</strong> Paris 1919 –<br />

1939. E<strong>in</strong> Lesebuch, Leipzig 1986, S. 611<br />

5<br />

S,M,L,XL, S. 844<br />

6<br />

Simone Breton-Coll<strong>in</strong>et, „Die Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> ‚Erlesenen Leiche’, <strong>in</strong>: Karlhe<strong>in</strong>z Barck, ebd., S. 206


Seiten platziert ist, auf denen ausgerechnet <strong>der</strong> Entwurf für den Parc de la Villette<br />

vorgestellt wird).<br />

[Bild 14: La Villette]<br />

Dokumentiert wird ebenfalls, wenn surrealistische Techniken wie die écriture<br />

automatique <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Entwurfskonzept übersetzt werden. Der Entwurf für den Parc de la<br />

Villette <strong>in</strong> Paris, <strong>der</strong> beim Wettbewerb 1982 nur knapp h<strong>in</strong>ter dem von Bernard Tschumi<br />

platziert wurde, galt damals als bahnbrechend. Die Idee, völlig mechanisch die<br />

e<strong>in</strong>zelnen Bestandteile des Parks – Wege, Grün, Gebäude, Wasser, öffentliche<br />

E<strong>in</strong>richtungen usw. – jeweils e<strong>in</strong>zeln und unabhängig von den an<strong>der</strong>en zu lösen und sie<br />

zum Schluss als Entwurfsschichten – wie bei <strong>der</strong> „Erlesenen Leiche“ – übere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu<br />

legen, egal, ob es „passt“ o<strong>der</strong> nicht, hat <strong>in</strong> den achtziger Jahren erneut e<strong>in</strong>e Debatte<br />

über das Unvorhersehbare ausgelöst. Die Unzufriedenheit mit dem sich abzeichnenden<br />

Konservativismus des postmo<strong>der</strong>nen Stadtvokabulars fand ihre <strong>in</strong>tellektuelle Alternative<br />

<strong>in</strong> Entwürfen wie dem für den Parc de la Villette, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit und<br />

Wechselhaftigkeit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Metropole nicht e<strong>in</strong>fach ästhetisch Ausdruck verlieh,<br />

son<strong>der</strong>n sie selber mit Hilfe neuartiger Entwurfsstrategien herstellen wollte. Genauer: die<br />

Strategien waren nicht neu, denn sie entstammten den vielfältigen Techniken <strong>der</strong><br />

Surrealisten, jedoch wurden sie zum ersten Mal für die Architektur und die Stadtplanung<br />

explizit nutzbar gemacht. Lei<strong>der</strong> blieb e<strong>in</strong>e offene Frage, ob <strong>der</strong> Entwurf für diesen „Park<br />

des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts“ tatsächlich e<strong>in</strong>e „Kettenreaktion von neuen, unvorhersagbaren<br />

Ereignissen“ ausgelöst hätte, ob er, wie <strong>Koolhaas</strong> <strong>in</strong> Anspielung auf Constant me<strong>in</strong>te,<br />

e<strong>in</strong> „sozialer Kondensator“ geworden wäre. 7<br />

[Bild 15: Marshall Mc Luhan]<br />

Maelström<br />

Mit e<strong>in</strong>iger Berechtigung kann man <strong>Koolhaas</strong> unterstellen, dass Ungewißheit und<br />

Unvorhersehbarkeit se<strong>in</strong>e „Religion“ s<strong>in</strong>d. O<strong>der</strong>, wie man auf Seite 1269 nachlesen<br />

kann: „Ich glaube an die Unsicherheit“. Und die ist ke<strong>in</strong> masochistisches o<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>tellektuelles Spiel. Unsicherheit und Ungewissheit, so versucht <strong>Koolhaas</strong> fast schon<br />

auf komische Weise se<strong>in</strong>en Lesern immer wie<strong>der</strong> beizubr<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong>dem er ständig neue<br />

Metaphern für die „prisoners of architecture“ erf<strong>in</strong>det, s<strong>in</strong>d nicht e<strong>in</strong>fach nur<br />

bedauernswerte Realität, sie bereiten vielmehr Vergnügen. Und zwar e<strong>in</strong> ganz<br />

spezielles Vergnügen, welches sich aus <strong>der</strong> Spannung (suspense) e<strong>in</strong>er nach mehreren<br />

Seiten offenen Situation ergibt, <strong>der</strong>en verschiedenen Auswege alle zusammen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Augenblick erfasst und durchdacht werden müssen. Von diesem Augenblick, den man<br />

sich als so köstlich vorstellen muss, dass man wünschte, er hielte ewig, 8 berichtet<br />

<strong>Koolhaas</strong> bereits <strong>in</strong> Delirious New York. Dort heißt er „Interpretationsdelirium“. 9 Später<br />

7 S,M,L,XL, S. 921. Der gesamte Entwurf wird auf den Seiten 895-939 vorgestellt.<br />

8 Im Glossar von S,M,L,XL f<strong>in</strong>det sich zum Stichwort „Suspense“ auf Seite 1190 e<strong>in</strong> Zitat aus Oscar<br />

Wildes The Importance of Be<strong>in</strong>g Earnest (1895): „This suspense is terrible. I hope it will last.“ („Diese<br />

Ungewissheit ist entsetzlich. Hoffentlich hält sie an.“, aus: Oscar Wilde, „Ernst se<strong>in</strong> ist wichtig“ <strong>in</strong>: <strong>der</strong>s.,<br />

Sämtliche Theaterstücke, München 1971, S. 507)<br />

9 Rem <strong>Koolhaas</strong>, Delirious New York, Aachen 1999, S. 256 (engl. Delirious New York, New York 1994)


verknüpft er ihn mit dem Wort „maelstrom“, für das er e<strong>in</strong>e auffallende Vorliebe hat und<br />

als Synonym für die wirbelartigen Kräfte von Globalisierung und Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

verwendet. Statt Chaos o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fach nur Unübersichtlichkeit zu sagen, benutzt er e<strong>in</strong><br />

Wort, das biblisch anmutet, aber e<strong>in</strong> konkretes Phänomen, e<strong>in</strong>en starken Gezeitenstrom<br />

zwischen den norwegischen Lofot<strong>in</strong>seln bezeichnet, <strong>der</strong> weniger mit Vergnügen als<br />

vielmehr mit Todesangst identifiziert wird. Es existiert jedoch e<strong>in</strong>e Erzählung, welche die<br />

leibhaftige Erfahrung mit dem Maelström für e<strong>in</strong>en Augenblick mit Vergnügen o<strong>der</strong> sogar<br />

Lust verb<strong>in</strong>det, und zwar <strong>in</strong> dem Moment, da im menschlichen Gehirn Irrationales und<br />

Rationales e<strong>in</strong>e wi<strong>der</strong>spruchsfreie Beziehung e<strong>in</strong>gehen (und <strong>in</strong> diesem Fall sogar vor<br />

dem sicheren Tod retten). In <strong>der</strong> Kurzgeschichte „The Descent <strong>in</strong>to the Maelström“ von<br />

Edgar Allan Poe berichtet e<strong>in</strong> norwegischer Fischer von se<strong>in</strong>em Erlebnis, im<br />

trichterförmigen Strudel des Maelströms gefangen gewesen zu se<strong>in</strong>, und nur aufgrund<br />

e<strong>in</strong>er fast fiebrigen Klarheit – angesichts se<strong>in</strong>er aussichtslosen Lage im schwarzen<br />

Schlund <strong>der</strong> Wassermassen – e<strong>in</strong>e richtige Entscheidung getroffen und damit überlebt<br />

zu haben. Den fast absurden Höhepunkt se<strong>in</strong>er dramatischen Schil<strong>der</strong>ung bildet<br />

folgende Passage: „I must have been delirious, for I even sought amusement <strong>in</strong><br />

speculat<strong>in</strong>g upon the relative velocities of their several descents toward the foam<br />

below.“ 10<br />

Po<strong>in</strong>tiert gedeutet hat diese Stelle Marshall McLuhan, <strong>der</strong> sich gleich zwei Mal darauf<br />

bezieht. Nachdem er bereits 1951 im Vorwort zu se<strong>in</strong>er Aufsatzsammlung The<br />

Mechanical Bride den Passus zitiert hatte, über<strong>nimmt</strong> er ihn explizit <strong>in</strong> The Medium is<br />

the Massage, e<strong>in</strong>em 1967 zusammen mit Quent<strong>in</strong> Fiore herausgegebenen Kompendium<br />

aus Beobachtungen, Thesen und Illustrationen zum elektronischen „Whirlpool“ unserer<br />

Zeit. Das kle<strong>in</strong>e Buch hat ke<strong>in</strong>e Seitenzahlen, son<strong>der</strong>n besteht aus e<strong>in</strong>er wie zufällig<br />

ersche<strong>in</strong>enden Reihung von Bild-Text-Montagen, die wie Werbeanzeigen aufgebaut<br />

s<strong>in</strong>d. Relativ weit h<strong>in</strong>ten f<strong>in</strong>det sich besagtes Poe-Zitat mit folgen<strong>der</strong> Interpretation:<br />

„Indem er Vergnügen aus <strong>der</strong> rationalen Distanz zu se<strong>in</strong>er eigenen Lage zieht, sieht sich<br />

Poes Seemann <strong>in</strong> „The Descent <strong>in</strong>to the Maelström“ <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, <strong>der</strong> Katastrophe zu<br />

entgehen, weil er die Kräfte des Strudels versteht. Se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>sicht zeigt e<strong>in</strong>en<br />

strategischen Weg auf, unser [heutiges] Dilemma, unseren durch die Kräfte <strong>der</strong><br />

Elektrizität geformten Strudel zu verstehen.“ 11 Es ist kaum e<strong>in</strong> Schritt von dieser<br />

Aussage zu <strong>der</strong>jenigen, welche <strong>Koolhaas</strong> Ende <strong>der</strong> achtziger Jahre <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview<br />

mit <strong>der</strong> französischen Zeitschrift Techniques et Architecture gemacht hat, und die<br />

anschließend häufig zitiert wurde (und natürlich auch <strong>in</strong> S,M,L,XL aufgenommen wurde):<br />

„Wir s<strong>in</strong>d [beim Entwerfen] wie e<strong>in</strong> Surfer – er hat ke<strong>in</strong>e Kontrolle über die Wellen, aber<br />

er erkennt sie und weiß wie er sie nutzen o<strong>der</strong> auch bekämpfen kann.“ 12 Hält man sich<br />

zugleich vor Augen, dass die Aussage McLuhans mit e<strong>in</strong>er zweiseitigen Bildcollage<br />

unterlegt ist, auf <strong>der</strong> man e<strong>in</strong>en Geschäftsmann <strong>in</strong> Anzug, Hut und Büromappe auf<br />

e<strong>in</strong>em Surfbrett über die Meereswellen reiten sieht, möchte man annehmen, <strong>Koolhaas</strong><br />

10<br />

Edgar Allan Poe, „A Descent <strong>in</strong>to the Maelström“, <strong>in</strong>: <strong>der</strong>s., Selected Tales, London 1994 („Ich muss<br />

entschieden im Fieberwahn gewesen se<strong>in</strong>, denn ich fand sogar Freude daran, die relative<br />

Geschw<strong>in</strong>digkeit, mit welcher die e<strong>in</strong>zelnen D<strong>in</strong>ge dem Nebelstaub drunten zujagten, zu berechnen.“, <strong>in</strong>:<br />

Edgar Allan Poe, „H<strong>in</strong>ab <strong>in</strong> den Maelström“, <strong>in</strong>: <strong>der</strong>s., Meistererzählungen, Zürich 1989, S. 128)<br />

11<br />

Marshall McLuhan / Quent<strong>in</strong> Fiore, The Medium is the Massage. An Inventory of Effects, New<br />

York/London/Toronto 1967<br />

12<br />

Rem <strong>Koolhaas</strong>, Interview, <strong>in</strong>: Techniques et Architecture, Oktober 1988; zitiert nach: S,M,L,XL, S. 1286


sei erst durch diese Doppelseite auf se<strong>in</strong>e grundlegenden Ideen gekommen. Immerh<strong>in</strong><br />

vere<strong>in</strong>igt diese drei se<strong>in</strong>er wichtigen Begriffe: „delirious“, „maelstrom“ und den Surfer auf<br />

den Wellen.<br />

Nun wird man schnell e<strong>in</strong>wenden, dass sich kaum e<strong>in</strong> Leser beim Schmökern <strong>in</strong><br />

S,M,L,XL wie <strong>der</strong> Poe’sche Seemann fühlen wird, <strong>der</strong> im Strudel des Maelströms kreist,<br />

noch nicht e<strong>in</strong>mal wie e<strong>in</strong> Surfer auf den Wellen, auch wenn sich die Macher des<br />

Buches viel Mühe gegeben haben, durch das konsequente Anwenden von Montage-<br />

Techniken e<strong>in</strong>e Vielzahl von unvermuteten Assoziationen und Affekten hervorzurufen.<br />

Doch ab welchem Punkt erschauern wir, was braucht es, um uns <strong>in</strong> Verwirrung zu<br />

stürzen, ab wann empf<strong>in</strong>den wir Vergnügen o<strong>der</strong> Spannung? S<strong>in</strong>d die Techniken <strong>der</strong><br />

Montage und <strong>der</strong> Collage zu abgenutzt, zu formal? Schockiert <strong>der</strong> Schock nicht mehr?<br />

Braucht es vielmehr e<strong>in</strong>e story, e<strong>in</strong>en content, wie zum Beispiel e<strong>in</strong>e schön-schaurige<br />

Krim<strong>in</strong>algeschichte, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em mittelalterlichen Kloster spielt, mit vielen Leichen und<br />

e<strong>in</strong>em mysteriösen, weil angeblich verschollenen antiken Text? In diesem Fall sollte<br />

man ke<strong>in</strong> Architekturbuch kaufen, weil die immer zur Fadheit tendieren. Gleichwohl ist<br />

diese Frage wichtig, weil es <strong>Koolhaas</strong> wie kaum e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Architekt auf die<br />

psychischen Dispositionen abgesehen hat. Immer wie<strong>der</strong> hat er betont, daß er das<br />

Unvorhersehbare entwerfen will. Se<strong>in</strong> Credo spielt sich deshalb aber nicht zwischen<br />

Form und Inhalt, son<strong>der</strong>n zwischen Operation und Affekt ab.<br />

Milchschwe<strong>in</strong>e<br />

Art und Mechanismus des Unvorhersehbaren unterscheiden sich bei <strong>Koolhaas</strong> zu <strong>der</strong><br />

maßgebenden Def<strong>in</strong>ition von Eco. „Das Problem“, so schreibt dieser, für „offene<br />

Kunstwerke“ sei das „e<strong>in</strong>er Dialektik zwischen Form und Offenheit“, selbstverständlich<br />

umgekehrt proportional: „Wenn man e<strong>in</strong> Maximum an Unvorhersehbarkeit anstrebt, muß<br />

man e<strong>in</strong> Maximum an Unordnung anstreben, bei dem nicht alle<strong>in</strong> die gewöhnlichsten,<br />

son<strong>der</strong>n alle möglichen Bedeutungen sich als unorganisierbar erweisen.“ 13 An<strong>der</strong>s<br />

ausgedrückt: je weniger „Form“, desto größer die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit von nicht<br />

vorhersehbaren Ereignissen. Das ist die gängige Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> sechziger Jahre, gegen<br />

die <strong>Koolhaas</strong> ja schon als Student rebelliert hat.<br />

Wie wir wissen, verfügt S,M,L,XL über e<strong>in</strong>e Ordnungsstruktur, sogar e<strong>in</strong>e ziemlich rigide.<br />

Sie ist aber nicht mit <strong>der</strong> semantischen Ebene gekoppelt, zwischen Ersche<strong>in</strong>ung und<br />

Performance, zwischen Form und Inhalt gibt es ke<strong>in</strong>e dialektische Beziehung, ja, es gibt<br />

überhaupt ke<strong>in</strong>e logische o<strong>der</strong> materielle Beziehung. Tatsächlich sche<strong>in</strong>t erst die<br />

größtmögliche Autonomie <strong>der</strong> beiden Sphären die Voraussetzung für Freiheiten sowohl<br />

für Gestaltung als auch für Ereignis zu se<strong>in</strong>.<br />

Die Beziehung zwischen Form und Inhalt ist vielmehr e<strong>in</strong>e mittelbare: Der Movens für<br />

die unvorhersehbaren Ereignisse liegt nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> formalen Organisationsstruktur selbst<br />

begründet, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> dem, was diese als Bed<strong>in</strong>gung ermöglicht. Sie muss nur – wie<br />

zum Beispiel bei Projekten wie Parc de la Villette, Melun-Sénart, das Rathaus Den<br />

Haag, ZKM, die beiden großen Bibliotheken <strong>in</strong> Paris o<strong>der</strong> auch S,M,L,XL – von so<br />

allgeme<strong>in</strong>er Art se<strong>in</strong> (von so generischer Art se<strong>in</strong>), wie es Muster o<strong>der</strong> Diagramme s<strong>in</strong>d,<br />

dass sie auch numerisch wie<strong>der</strong>gegeben werden könnte, sich <strong>in</strong>sofern für die<br />

13 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, S. 128, 129


Ausführung e<strong>in</strong>er Operation eignet. Die e<strong>in</strong>fachste aller Operationen ist das Plazieren<br />

von D<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> unmittelbarer Nähe, e<strong>in</strong>e Nähe, die plötzlich nicht nur e<strong>in</strong>e räumliche,<br />

son<strong>der</strong>n zugleich e<strong>in</strong>e soziale Grenze (<strong>der</strong> Scham, <strong>der</strong> Etikette, <strong>der</strong> Hygiene, <strong>der</strong> Moral<br />

usw.) berührt o<strong>der</strong> sogar durchbricht. Erst <strong>in</strong> diesem Augenblick entstehen<br />

„unvorhersehbare Ereignisse“, nämlich Affekte des Schockiert-Se<strong>in</strong>s, <strong>der</strong><br />

Verunsicherung, m<strong>in</strong>destens <strong>der</strong> Überraschung, welche wie<strong>der</strong>um bestimmte<br />

Begehrlichkeiten wecken, zum Beispiel das Unerhörte, das ja schon angedeutet ist,<br />

tatsächlich zu denken (zu visionieren), um es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nächsten Schritt vielleicht sogar<br />

umzusetzen. Das von <strong>Koolhaas</strong> selbst immer wie<strong>der</strong> als Vorbild für alle se<strong>in</strong>e Projekte<br />

gepriesene neutrale Raster von Manhattan hat zum Beispiel e<strong>in</strong>e „schamlose<br />

Architektur“ möglich gemacht, aber sie steht <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er kausalen Beziehung zur „Form“<br />

des Rasters selbst: diese könnte leicht auch e<strong>in</strong>er Schrebergartenkolonie o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Militärlager zugeordnet werden. Genauso mündete die e<strong>in</strong>fache Anordnung von D<strong>in</strong>gen<br />

nach Größen o<strong>der</strong> Buchstaben gewöhnlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Enzyklopädie, es könnte aber auch<br />

e<strong>in</strong> „schamloses Architekturbuch“ dabei heraus kommen.<br />

Was sich <strong>Koolhaas</strong> also unter unvorhersehbaren Ereignissen vorstellt, s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e<br />

beliebigen, son<strong>der</strong>n „schamlose“ Ereignisse, das heißt, Ereignisse, die bestimmte<br />

Grenzen überschreiten. Dazu bedarf es nun, wie bereits festgestellt, e<strong>in</strong>er Anregung<br />

durch e<strong>in</strong>e neutrale, überpersönliche Struktur, die die Operation des Sich-<br />

Näherkommens von verschiedenen D<strong>in</strong>gen ermöglicht.<br />

[Bild 16: Rockefeller Center]<br />

Berg<br />

„Zum ersten Mal arbeitet Hood an e<strong>in</strong>em Mehrzweckgebäude. Ohne Rücksicht auf e<strong>in</strong>e<br />

programmatische Hierarchie weist er bestimmten Teilen des Berges die notwendigen<br />

Funktionen e<strong>in</strong>fach zu. Sich selbst beim Wort nehmend und ohne mit <strong>der</strong> Wimper zu<br />

zucken, entwirft er zwei Stockwerke – die Kathedrale und die Parkgarage, bloß durch<br />

wenige Zentimeter Beton vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> getrennt –, die se<strong>in</strong>e vollmundigen<br />

Versprechungen Wirklichkeit werden lassen und gleichzeitig die endgültige<br />

Manifestation <strong>der</strong> unerläßlichen Ergänzung <strong>der</strong> großen Lobotomie repräsentieren: das<br />

vertikale Schisma, das die Freiheit erzeugt, <strong>der</strong>maßen disparate Aktivitäten unmittelbar<br />

übere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu schichten – ohne Rücksicht auf ihre symbolische Kompatibilität.“ Diese<br />

Passage über e<strong>in</strong>en Auftrag für e<strong>in</strong> Hochhaus, <strong>der</strong> Raymond Hood offeriert wurde, f<strong>in</strong>det<br />

sich auf Seite 928 <strong>in</strong> S,M,L,XL unter dem Stichwort „Mounta<strong>in</strong>“ im Glossar und stammt<br />

aus Delirious New York. 14 Erneut wird das Pr<strong>in</strong>zip des lapidaren Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>s von<br />

sche<strong>in</strong>bar unpassenden Systemen o<strong>der</strong> Elementen gewürdigt, das bisher als unmöglich<br />

o<strong>der</strong> undenkbar angesehene Lösungen <strong>in</strong> geradezu handstreichartiger Manier umsetzt.<br />

Sie illustriert auch gut, wie sich <strong>Koolhaas</strong> den Mechanismus <strong>der</strong> Affekterzeugung<br />

vorstellt: durch das unmittelbare Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, möglich gemacht durch das Raster<br />

und durch die neutralen Geschoßpläne, entsteht überhaupt erst <strong>der</strong> Wunsch, bestimmte<br />

D<strong>in</strong>ge, die nicht zusammen gehören, unmittelbar nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und vere<strong>in</strong>igt zu sehen.<br />

In diesem Fall handelt es sich um e<strong>in</strong>en ödipalen Wunsch, nämlich um die Verb<strong>in</strong>dung<br />

des verme<strong>in</strong>tlich Höchsten, <strong>der</strong> Kirche (das Über-Ich), mit dem verme<strong>in</strong>tlich Niedrigsten,<br />

<strong>der</strong> Parkgarage (Es). Die Passage ist aber nur die Vorbereitung für den Dreh- und<br />

14 Delirious New York, S. 178


Angelpunkt aller Wünsche <strong>in</strong> Delirious New York, welcher zugleich das „lebende“ Vorbild<br />

für S,M,L,XL ist: das Rockefeller Center, dessen Planung und Bau im Kapitel „How<br />

Perfect Perfection Can Be: The Creation of Rockefeller Center“ ausführlich gewürdigt<br />

werden. 15<br />

Ebenfalls e<strong>in</strong> Mammutprojekt, ebenfalls mit unzähligen Köpfen, die an se<strong>in</strong>er<br />

Entstehung beteiligt waren, ist das Rockefeller Center mit se<strong>in</strong>er Mischung aus Beaux-<br />

Art-Architekturen und kaltblütigem Rendite-Denken für viele nichts weiter als „e<strong>in</strong>e<br />

Zwangsehe aus Kunst und Kapital“, die bestenfalls e<strong>in</strong>en „raff<strong>in</strong>ierten Kompromiß“<br />

hervorgebracht hat, für <strong>Koolhaas</strong> dagegen ist es „die Erfüllung von Manhattans<br />

Versprechen. Alle Paradoxien s<strong>in</strong>d aufgelöst worden.“ 16 (Man könnte auch sagen: alle<br />

Wünsche s<strong>in</strong>d erfüllt worden.) Diese Zwangsehe, so konstatiert er, sei nämlich <strong>in</strong><br />

Wahrheit „begierig vollzogen worden“.<br />

Das Rockefeller Center ist <strong>in</strong> <strong>Koolhaas</strong>’ retroaktiver Verklärung aus e<strong>in</strong>er<br />

„Kollektivmatrix“ entstanden. Darunter versteht er e<strong>in</strong> abstraktes Diagramm – e<strong>in</strong><br />

Muster, e<strong>in</strong> Umriss, e<strong>in</strong> Schema – des Gesamtkomplexes, welches schrittweise durch<br />

zahllose E<strong>in</strong>zelentwürfe, die tagtäglich entstehen, diskutiert und wi<strong>der</strong>rufen werden,<br />

konkretisiert wird. Nicht nur D<strong>in</strong>ge, die sich nahe kommen, son<strong>der</strong>n auch Personen, die<br />

dieser Tatsache nicht entgehen können, werden als Arbeitstiere durch e<strong>in</strong> abstraktes<br />

Modell organisiert. Dabei ist es entscheidend, daß die Ausarbeitung so lange wie<br />

möglich h<strong>in</strong>ausgezögert wird, „damit das Konzept des Center e<strong>in</strong>e offene Matrix bleibt,<br />

die jede Idee zur Qualitätssteigerung aufnehmen kann.“ 17 Diese Vorgehensweise nennt<br />

<strong>Koolhaas</strong> „Campaign of Specification“, und man kann vermuten, daß auf nicht<br />

unähnliche Weise sukzessive auch S,M,L,XL entstanden ist, deshalb häufen sich dort<br />

so viele Fragmente und E<strong>in</strong>zellösungen, <strong>der</strong>en Herkunft o<strong>der</strong> Bedeutung unterschiedlich<br />

und unzusammenhängend se<strong>in</strong> können, die aber zusammen sehr wohl e<strong>in</strong> artistisches<br />

Ganzes bilden, weil die „Kollektivmatrix“ als virtuelle Struktur noch wirksam ist: „Jedes ...<br />

Element verlangt nach e<strong>in</strong>er Konkretisierung <strong>in</strong> Bezug auf Nutzung, Form, Material,<br />

Versorgung, Struktur, Dekoration, Symbolik, F<strong>in</strong>anzierung.<br />

Der Berg muß Architektur werden.“ 18<br />

[Bild 17: Zeebrugge]<br />

Das Kapitel über das Rockefeller Center enthält noch e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e <strong>Theorie</strong> von<br />

<strong>Koolhaas</strong>: BIGNESS<br />

So lautet <strong>der</strong> Titel e<strong>in</strong>es Textes, <strong>der</strong> zusammen mit „What Ever Happened to<br />

Urbanism?“ und „The Generic City“ die Triade se<strong>in</strong>er Klageschriften über den<br />

Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> Stellung des Urbanismus e<strong>in</strong>leitet.<br />

Zunächst ist Bigness e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> quantitatives Phänomen: e<strong>in</strong> sehr großes Gebäude.<br />

15 Ebd., „Vollkommene Vollkommenheit: Die Erschaffung des Rockefeller Center“, S. 165ff<br />

16 Ebd., S. 187 und 208<br />

17 Ebd., S. 202<br />

18 Ebd., S. 195


„Bei Erreichen e<strong>in</strong>er bestimmten kritischen Masse wird e<strong>in</strong> Gebäude zu e<strong>in</strong>em großen<br />

Gebäude“ Mit an<strong>der</strong>en Worten: es ist Urbanismus und nicht Architektur! Aber e<strong>in</strong><br />

Urbanismus, <strong>der</strong> sich selbst genügt, se<strong>in</strong>e eigene <strong>Theorie</strong> ist. NICHT von FORM,<br />

SONDERN von ORGANISATION handelt.<br />

„Fuck context!“<br />

Bigness ist re<strong>in</strong>e Infrastruktur (!ZEEBRUGGE!)<br />

[Bild 18: Seattle]<br />

In <strong>der</strong> Fortsetzung: PROGRAMM BESTIMMT STRUKTUR (Seattle)<br />

Hyperarchitektur, aber ke<strong>in</strong>e traditionelle Architektur<br />

Es kann nicht mehr von e<strong>in</strong>er architektonischen Handschrift bestimmt werden (nutzlos),<br />

und Innen und Außen haben nichts mehr mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu tun bzw. können jeweils<br />

unabhängig vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gelöst werden.<br />

Aber <strong>in</strong>zwischen ist Bigness nicht mehr das Resultat e<strong>in</strong>es Kollektivs und dessen<br />

Unbewusstem, die globale Urbanisierung verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t das.<br />

Dass große Gebäude <strong>in</strong> den 70er und 80er Jahren diskreditiert waren, beklagt <strong>Koolhaas</strong><br />

ausdrücklich <strong>in</strong> diesem Text. Er sieht die Architektenschaft dafür verantwortlich, die <strong>in</strong><br />

falscher Bescheidenheit sich zu eigener Bedeutungslosigkeit verdammt hat.<br />

Davon handelt dann „What Ever Happened to Urbanism?“<br />

Wo Architektur ist, geht nichts mehr. Architektur ist Ordnung (früher: die<br />

„Zwill<strong>in</strong>gsphantasien: Ordnung und Omnipotenz“)<br />

Aber die totalitäre Planung wurde durch die Postmo<strong>der</strong>ne diskreditiert, deshalb sche<strong>in</strong>t<br />

Urbanismus völlig out (nur Städtebau, <strong>der</strong> ja Architektur ist, darf se<strong>in</strong>, als Rekonstruktion<br />

<strong>der</strong> Tradition)<br />

Heute muss <strong>der</strong> Urbanismus „Unsicherheit stiften“, er muss das Hybride und<br />

Fragmentierte zulassen,<br />

> schwache Planung<br />

dieser Text ist durchaus noch optimistisch, wahrsche<strong>in</strong>lich noch vor 1989 geschrieben,<br />

obschon erst später veröffentlicht<br />

e<strong>in</strong>ige Jahre später ersche<strong>in</strong>t aber e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> bekanntesten Texte von <strong>Koolhaas</strong>:<br />

[Bild 19: generic City]<br />

GENERIC CITY<br />

DIE STADT OHNE EIGENSCHAFTEN


Dieser Text trägt, wie oft bemerkt wurde, zynische Merkmale. Er sche<strong>in</strong>t auf <strong>der</strong> Grenze<br />

zwischen Ablehnung und Bewun<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> eigenschaftslosen Stadt zu stehen. Die<br />

eigenschaftslose Stadt ist das, was je<strong>der</strong> unter Suburbanisierung kennt: städtische<br />

Agglomerationen, die <strong>in</strong>zwischen mehr als 50% <strong>der</strong> Weltbevölkerung aufnehmen und<br />

beson<strong>der</strong>s oft <strong>in</strong> Asien vorkommen. Die eigenschaftslose Stadt sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Angriff auf<br />

die IDENTITÄT, die sich ohneh<strong>in</strong> rasend schnell verbraucht. Die eigenschaftslose Stadt<br />

ist aber nicht dicht – trotz Wolkenkratzer –, deshalb erzeugt sie ke<strong>in</strong>e städtische Kultur<br />

wie Manhattan.<br />

Der Text ist geschrieben wie e<strong>in</strong> Report, ohne Absätze, nur durch Nummerierungen<br />

getrennt bzw. <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelsegmente und –aspekte aufgeteilt.<br />

Das Homogene, ohne Unterbrechungen dah<strong>in</strong> Gleitende wird dadurch betont, zugleich<br />

das Statistische als e<strong>in</strong>ziges Kennzeichen dieser Stadt.<br />

„Generic City“ ist also etwas an<strong>der</strong>es als DNY: nicht die Feier e<strong>in</strong>er Kultur, son<strong>der</strong>n ihre<br />

leidenschaftslose Akzeptanz.<br />

Die eigenschaftslose Stadt basiert zwar wie Manhattan auf pur rationalen,<br />

wirtschaftlichen Erwägungen, aber ist nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, das Phantastische, Sublime und<br />

Subtile damit zu verb<strong>in</strong>den.<br />

[Bild 20: CONTENT <strong>in</strong> <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er Nationalgalerie]<br />

Der Pessimismus von „Generic City“ zeigt sich dann ganz <strong>in</strong> JUNK SPACE, e<strong>in</strong>em Text,<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong> CONTENT erschienen ist.<br />

Irgendwo auf diesem Weg hat <strong>Koolhaas</strong> beschlossen, se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tellektuelle Tätigkeit, mit<br />

<strong>der</strong> er die Vorbed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>en Ort, für e<strong>in</strong>en Auftrag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr allgeme<strong>in</strong>en<br />

Kontext scharfs<strong>in</strong>nig analysiert und zuspitzt, um e<strong>in</strong>en Entwurf, e<strong>in</strong> Szenario abzuleiten,<br />

nicht mehr nur beiläufig o<strong>der</strong> als Gratisangebot für e<strong>in</strong>en Auftraggeber durchzuführen,<br />

son<strong>der</strong>n selber wirtschaftlich auszubeuten und organisatorisch deutlicher zu trennen.<br />

Das Büro spaltet sich <strong>in</strong> OMA und AMO: Während OMA (Office for Metropolitan<br />

Architecture) nach wie vor für die klassischen Architektenaufgaben zuständig ist, soll<br />

AMO konzeptuelle Vorarbeit leisten: Forschung, Recherche, Mediales, Advice,<br />

Adm<strong>in</strong>istration, Ökonomie usw.: e<strong>in</strong>e Art th<strong>in</strong>k tank.<br />

Zugleich soll aber AMO auch e<strong>in</strong>e Art self fulfill<strong>in</strong>g prophecy se<strong>in</strong>: es soll Aufgaben<br />

kreieren, nach denen bisher noch ke<strong>in</strong>er gefragt hat, also e<strong>in</strong> Angebot schaffen, für das<br />

nachfolgend e<strong>in</strong>e Nachfrage entsteht, und natürlich ist se<strong>in</strong> Zwill<strong>in</strong>g OMA <strong>der</strong> geeignete<br />

Auftragnehmer.<br />

In diesem S<strong>in</strong>ne stellt es se<strong>in</strong> Material zur Verfügung: als Wissen, als Daten, als<br />

Modelle, als Arbeitsschritte, als Fragmente usw. davon handelte die Ausstellung <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong>

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