November 07 10ter Jahrgang - Archiv
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20 FREIeBÜRGER<br />
Als der Zug nach mehr als zehn Stunden über die Grenze fuhr und<br />
in Italien einrollte, hüpfte ich aufgeregt am Fenster herum. Nun<br />
war ich endlich auf fremdem Boden angekommen. Ich hatte aus<br />
dem Bauch heraus entschieden nach Italien zu fahren. Es gab<br />
keine spezifischen Gründe. Ich kannte niemand in Italien und<br />
wusste herzlich wenig über das Land. Ich hatte auch keine Reiseführer<br />
gelesen und hatte keine Ahnung, was mich dort erwartete.<br />
Ich sprach weder ein Wort italienisch, noch hatte ich mir Gedanken<br />
darüber gemacht.<br />
Vielleicht war der Winter in<br />
Berlin zu kalt gewesen und<br />
mich hatte Italiens Wärme angelockt,<br />
aber über eines war<br />
ich mir vollkommen klar: Es<br />
konnte eigentlich nur besser<br />
werden, weniger Reglementierung,<br />
weniger Disziplin und<br />
weniger Langeweile.<br />
Stationen einer Landstreicherin<br />
Ich war der Schwere, der Geradlinigkeit<br />
und der Härte meiner<br />
Heimat entkommen und<br />
Italien sprang mich an mit seiner<br />
prallen Lebenslust, seiner<br />
Spontanität, seinem Lachen<br />
und seiner Fähigkeit, sich<br />
auch über den Ernst des Lebens<br />
lustig zu machen. Die<br />
Farben berauschten mich, ich<br />
sah weiß gekalkte Wände in<br />
gleißendem Licht und überhaupt überall viel mehr Licht und Helligkeit<br />
als ich es je zuvor gesehen hatte, denn selbst mitten am Tag<br />
waren in den Cafés grelle Neon-Röhren ununterbrochen tätig und<br />
strahlten gnadenlos von den kahlen Wänden herunter. Kerzenschein,<br />
wie ich es von zu Hause kannte, war hier nicht angesagt.<br />
Auf den Märkten erschlug mich die glänzende Röte der Tomaten,<br />
das knallige Gelb der Zitronen, die samtige Verführung der Pfirsiche<br />
und die satte Verschwendung der Natur, die hierzulande soviel hergab.<br />
Ende der 70er Jahre waren solche Märkte, wie es sie ja heute<br />
auch bei uns gibt, in Deutschland noch kaum vorhanden und ich<br />
entdeckte in Italien zum ersten Mal eine solche Fülle und Auswahl<br />
an Früchten und verschiedenen Gemüsesorten. Ganz abgesehen<br />
vom Geschmack, der so intensiv und echt war, dass ich verstand,<br />
Teil 3 - Italien<br />
warum es manchmal nichts Besseres gibt, als einen Salat aus frischem,<br />
sonnen verwöhntem Gemüse. Auch die Gerüche warfen mich<br />
um. Ich hatte das Gefühl aus einer fast geruchsfreien Zone, nämlich<br />
Deutschland, in ein Meer von Düften und Aromen geworfen worden<br />
zu sein. In der Skala von köstlich bis widerwärtig war alles zu<br />
finden. Aus jedem Straßenwinkel stank einem das Leben in all seinen<br />
Zersetzungsprozessen an. Die frisch gefangenen Fische dampften<br />
unter der Morgensonne, der schöne herb-grüne Duft der Pinien,<br />
aus den Bäckereien strömten betörende Aromen und vermischten<br />
sich mit der üppigen Flora,<br />
aber andererseits auch der<br />
penetrante Geruch menschlicher<br />
Grundbedürfnisse, der<br />
einem schon im weiten Umkreis<br />
so genannter „stiller Örtchen“<br />
bedrängte. Die waren<br />
sowieso ein Kapitel für sich<br />
und anfangs etwas gewöhnungsbedürftig<br />
für mich.<br />
Ich entdeckte zu meinem Entsetzen,<br />
dass es sich dabei oft<br />
nur um ein Loch im Boden<br />
handelte. Später als ich mich<br />
noch viel weiter von Europa<br />
entfernte, erlebte ich noch<br />
ganz andere sanitäre Verhältnisse<br />
und lernte die „Bodenklos“<br />
zu schätzen, denn wenigstens<br />
kommt man dort mit<br />
nichts in Berührung.<br />
Als der Zug in Venedig angekommen war, stieg ich aus und wollte<br />
erstmal diese berühmte Stadt erkunden. Ich wollte in einer einfachen<br />
Herberge ein Quartier finden, aber das war gar nicht so einfach,<br />
denn mit einem hatte ich absolut nicht gerechnet. Und zwar<br />
mit den ungeheuren Massen an Touristen. Venedig war proppevoll<br />
und nicht etwa mit Italienern, sondern mit Touristen. Es wimmelte<br />
überall von ihnen, die Massen schoben sich durch die engen Gassen<br />
und ich war noch zusätzlich eine mehr. Es herrschte ein unglaubliches<br />
Sprachgewirr. Die Venezianer schienen ihre Stadt dem<br />
Ansturm gegenüber geräumt zu haben und tauchten nur noch als<br />
Hintergrundkulisse auf, in verschiedenen Rollen: als Gondolieri,<br />
Souvenirverkäufer, Kellner oder in der Nacht als „Latinlover“. Eigentlich<br />
ist es fast ein Wunder, dass es Venedig überhaupt noch<br />
gibt, denn die Stadt ist permanent extremen Menschenmassen,<br />
Industriegiften und dem stetigen Wasseranstieg ausgesetzt.<br />
Aber ich hatte damals von solchen Dingen keine Ahnung und war<br />
noch auf der Suche nach Authentizität, die mir dann auch bald über<br />
den Weg lief und zwar in der Gestalt von Enrico. Er saß jeden Tag<br />
auf dem San Marco-Platz und malte Portraits von den Menschen,<br />
die ein Bild von sich selber haben wollten, aber meistens porträtierte<br />
er entweder den verzogenen Nachwuchs genervter Eltern oder<br />
verliebte Pärchen aus aller Welt, je nach Nachfrage. Seine Bilder<br />
waren immer ähnlich mit einer bestimmten Technik, aber trotzdem<br />
konnte man ihm einen gewissen Individualismus nicht absprechen.<br />
Enrico hieß nicht wirklich Enrico, wie ich sehr schnell herausfand,<br />
da er, so wie ich, kaum ein Wort italienisch sprach. Er kam aus dem<br />
ehemaligen Jugoslawien, was zu der Zeit noch nicht ehemalig war<br />
und verdiente sein Geld damit, durch Italien zu tingeln und zu malen.<br />
Das gefiel mir, wir verstanden uns trotz oder vielleicht auch<br />
wegen unserer Sprachbarrieren gut und so beschloss ich, mich ihm<br />
anzuschließen. Da ich zu dieser Zeit noch sehr gelenkig war, probte