Re-Präsentationen - PUB - Universität Bielefeld
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Postnationalsozialistische Gesellschaft<br />
Ausbeutungsvorstellungen<br />
Alle vier Muster thematisieren Ausbeutungsformen – in Form der<br />
Überwältigung durch übermächtige Täter, in Form der Unterwanderung<br />
durch alle Tarife unterlaufende Tagelöhner, in Form des Befalls<br />
durch ein gefräßiges Ungeziefer, das keine Verwandten kennt und sich<br />
nicht um nationale Interessen schert, und in Form der gewalttätigen<br />
Verletzung körperlicher Unversehrtheit durch „Fremde“. Mit allen drei<br />
Mustern kann man sich als nationales Kollektiv selbst als potenzielles<br />
Opfer sehen. Die Darstellungen legen nahe, dass die Deutschen unter<br />
einem besonderen Druck stehen und in materieller und moralischer<br />
Hinsicht bedroht sind. Diese Szenarien korrespondieren mit einer Geschichtssicht,<br />
die den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg<br />
als eine den Deutschen aufgebürdete Last erscheinen lässt, an der sie<br />
noch heute zu tragen hätten. Sie stehen in einem Kontrast zur Geschichte<br />
des nationalsozialistischen Raubzugs, an dem die Deutschen<br />
massenhaft beteiligt waren und ohne den sie niemals ihre ökonomische<br />
Größe so kurz nach 1945 wieder erreicht hätten. Götz Aly hat<br />
mit seinem Buch „Hitlers Volksstaat“ (Aly 2005) deshalb so aufgeregte<br />
Debatten ausgelöst, weil er ein unterbelichtetes Thema der historischen<br />
Forschung zum Nationalsozialismus angeht, ein Thema, das in<br />
der Gegenwart mit umgekehrten Vorzeichen wieder auftaucht, indem<br />
die nationale ökonomische Ordnung als bedroht von billigen Fremdarbeitern<br />
einerseits und von gefräßigen Großkonzernen andererseits<br />
vorgestellt wird. Aly zeigt die integrierende Seite des Nationalsozialismus,<br />
die Maßnahmen der Volkswohlfahrt, des sozialen Ausgleichs<br />
und der Vergünstigungen zur Sicherung einer bis heute immer wieder<br />
als unfassbar dargestellten Massenloyalität. Es lebte sich gut im nationalen<br />
Sozialismus, mit den Möbeln, der Bettwäsche, den Teppichen,<br />
dem Geschirr der früheren Nachbarn, mit dem Fleisch aus dem besetzten<br />
Frankreich, dem Getreide aus der Ukraine, den Heringen aus<br />
Norwegen etc. Die Ukraine, wo die deutschen Wehrmachtssoldaten<br />
Ramsch aus der Heimat gegen Öl, Speck, Schinken tauschten, bezeichnet<br />
Aly als den „Trödelmarkt des <strong>Re</strong>iches“ (Aly 2005, 132). Auf diesem<br />
Hintergrund ist es um so bemerkenswerter, wie in jüngster Zeit versucht<br />
wird, aus der Erinnerung an die NS-Geschichte eine Erzählung von Entbehrungen<br />
und eigenem Leiden zu machen. Das ist nicht neu.<br />
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Astrid Messerschmidt<br />
Opferidentifikationen<br />
Bereits die in den 1950er Jahren auf den Denkmälern des Zweiten<br />
Weltkrieges in Bronze gegossenen Bezeichnungen wie „nationalsozialistische<br />
Gewaltherrschaft“, „Schreckensherrschaft“ und die gängige<br />
<strong>Re</strong>de von den „Nazi-Schergen“ leiteten ein Geschichtsbild allgemeinen<br />
Opfertums ein. Das restaurative Muster der Opferprojektion kehrt<br />
aktuell wieder zurück. Mehr als sechzig Jahre nach 1945 realisiert sich<br />
Erinnerungspolitik insbesondere im Rückgriff auf das eigene Leiden<br />
der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Vertreibung und Bombenkrieg<br />
sind zu zentralen Erinnerungsthemen avanciert. Das bekannte Muster<br />
eines Pseudo-Tabubruchs ist zu beobachten. Das Sprechen über die<br />
eigenen Leiden wird zu einer Befreiungsgeste erklärt gegenüber der<br />
behaupteten Dominanz des Holocaustgedächtnisses. Unterschwellig<br />
will man durch die Selbststilisierung als lange zum Schweigen gebrachte<br />
Sprecher/innen die Belästigung durch die Überlebenden und<br />
ihre Nachkommen loswerden und sich von den Juden befreien, die<br />
einen durch ihre bloße Existenz an diese schreckliche Geschichte erinnern.<br />
Unter dem Deckmantel einer grundsätzlichen Verurteilung von<br />
Krieg wird das subjektive Leiden der Vertreibungs- und Bombenopfer<br />
ausgestellt, ihre Geschichten erzählt und ihre Biografien eingeordnet<br />
in das Opferkollektiv (vgl. Friedrich 2002). Es kommt hier das Bedürfnis<br />
zum Ausdruck, sich selbst als Opfer der NS-Herrschaft und des von ihr<br />
ausgelösten Krieges darzustellen. Das Opfergedächtnis macht sich zugleich<br />
moralisch unangreifbar, da kein Zweifel an der Verurteilung des<br />
Krieges gelassen wird. Der Opferbegriff franst aus. Sichtbar ist dies beispielsweise<br />
im Zentrum Berlins, wo nicht weit vom Holocaust-Denkmal<br />
die Neue Wache zu finden ist, jene Zentrale deutsche Gedenkstätte mit<br />
wechselvoller Geschichte.<br />
In der Mitte der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland<br />
sitzt eine Mutter, die für das „bessere Deutschland“ zu stehen<br />
beansprucht, das seine historischen Lektionen gelernt hat. Sie hält<br />
einen toten Mann im Arm, der die „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“<br />
repräsentieren soll, die nicht nach Tätern und Opfern, nicht<br />
nach Kriegsgefallenen und den Opfern des Holocaust unterschieden<br />
werden. Käthe Kollwitz hatte mit der 1937 geschaffenen Andachtsfigur<br />
der Trauer um ihren im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn Aus-<br />
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