OB-Wahl: Nur die Hälfte geht zur Urne - zfd-online.net
OB-Wahl: Nur die Hälfte geht zur Urne - zfd-online.net
OB-Wahl: Nur die Hälfte geht zur Urne - zfd-online.net
- TAGS
- urne
- www.zfd-online.net
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Darmstadt<br />
soll wiedererstehen<br />
Ein Stück Aufbau und der Entzug von Lebensmittelkarten<br />
Der Darmstädter Architekt Philipp Benz schildert<br />
Erlebnisse aus der Nachkriegszeit und seine<br />
Erfahrungen mit der fehlgelaufenen Entnazifizierung<br />
„Darmstadt soll wiedererstehen“, war der<br />
Wunsch aller Bürger der Stadt und der auf<br />
ihren Zuzug Wartenden in den Landgemeinden,<br />
am Kriegsende. <strong>Nur</strong> <strong>die</strong> Familien, <strong>die</strong><br />
eine Wohnung nachweisen konnten, durften<br />
in ihre Heimatstadt <strong>zur</strong>ückkehren. In der Innenstadt<br />
waren <strong>die</strong> ehemals breiten Straßen<br />
zu schwer begehbaren Trampelpfaden<br />
geschrumpft und nur notdürftig geräumte<br />
Häuser-Ruinen waren schwer zugänglich. Es<br />
war unmöglich, Instandsetzungsarbeiten,<br />
vor allem an weniger beschädigten Gebäuden,<br />
vorzuziehen. Die Bürgerausschüsse in<br />
der Stadt und den Vororten Arheilgen und<br />
Eberstadt vorwiegend Sozialdemokraten und<br />
Kommunisten waren sich mit dem damaligen<br />
Oberbürgermeister Ludwig Metzger<br />
einig, daß für den Neubeginn eine radikale<br />
und umfassende Aktion erforderlich sei.<br />
Das Ergebnis der gemeinsamen Beratungen<br />
war der Aufruf vom 6. Mai 1946: „Darmstadt<br />
soll wieder erstehen. Wir setzen alle Kräfte<br />
dafür ein, daß unsere Vaterstadt leben kann.<br />
Mancherlei ist bereits geschehen. Die ersten<br />
Trümmerhaufen in unserer Stadt sind zum<br />
Teil beseitigt. Leben kann wieder pulsieren.<br />
Aber es ist noch nicht genug geschehen.<br />
Jeder Arbeitsfähige muß helfen, daß wir weiterkommen.<br />
Die Bevölkerung wird aufgefordert,<br />
sich an dem Gemeinschaftswerk (…)<br />
mit aller Kraft zu beteiligen. Es ist eine Ehre,<br />
sich für unsere Stadt einzusetzen.“<br />
Entzug von Lebensmittelkarten<br />
Von den 8 Punkten des Aufrufes, ver<strong>die</strong>nen<br />
zwei besondere Beachtung: Punkt 1 verpflichtet<br />
„jeden Einwohner und jeden in der<br />
Stadt Beschäftigten männlichen Geschlechts<br />
im Alter von 16 bis einschließlich 60 Jahren“,<br />
Arbeit im Interesse des Wiederaufbaus der<br />
Stadt zu leisten. Es ist vorgesehen, daß jeder<br />
mindestens einen Tag pro Monat arbeitet.<br />
„Ausgenommen von der Arbeitspflicht sind<br />
Kriegsversehrte der Versehrtenstufe II und<br />
III und alle im Baugewerbe Tätigen. Im Zweifelsfalle<br />
entscheidet das städtische Tiefbauamt.“<br />
Unterlagen (für eine Freistellung) sind<br />
<strong>die</strong>sem Amt vorzulegen.<br />
Punkt 3 informiert unmißverständlich über<br />
<strong>die</strong> Folgen von Arbeitsverweigerung: „Bei der<br />
Ausgabe von Lebensmittelkarten ist <strong>die</strong> Kontrollkarte<br />
ohne Anfordern vorzulegen, und<br />
zwar erstmals bei der Ausgabe <strong>zur</strong> neunzigsten<br />
Zuteilungsperiode. Lebensmittelkarten<br />
werden an Arbeitsverpflichtete nur dann ausgegeben,<br />
wenn <strong>die</strong> Arbeitsleistung oder <strong>die</strong><br />
Befreiung von der Arbeitsverpflichtung in der<br />
Kontrollkarte vermerkt ist.“<br />
Der Aufruf findet <strong>die</strong> Zustimmung der Darmstädter<br />
Bevölkerung, auch <strong>die</strong> Drohung des<br />
Lebensmittelkarten-Entzugs wird billigend in<br />
Kauf genommen.<br />
Gezeich<strong>net</strong> war <strong>die</strong>ser Aufruf von dem Sozialdemokraten<br />
Zinnkann, von dem Christdemokraten<br />
von Brentano, für <strong>die</strong> kommunistische<br />
Partei unterschrieb Wörtge, <strong>die</strong> Industrie-<br />
und Handelskammer Darmstadt war<br />
vertreten von Dr. Hüfner, <strong>die</strong> Handwerkskammer<br />
von Gisbert und <strong>die</strong> Zentralgewerkschaft<br />
Darmstadt von A. Mayer, außerdem<br />
unterstützten <strong>die</strong> Pfarrer Weinberger und Dr.<br />
Michel den Aufruf.<br />
Der Wille aller Parteien<br />
Die Praxis der Räumaktion war jedoch nicht<br />
so, wie Ludwig Metzger sie in seinen Erinnerungen<br />
(Darmstädter Echo vom 17. März<br />
1992) beschrieb: „Ich entschloß mich, <strong>die</strong><br />
gesamte männliche Bevölkerung zwischen<br />
16 und 60 Jahren auf<strong>zur</strong>ufen, sich an der<br />
Räumung der Straßen der Stadt zu beteiligen.“<br />
Der oben zitierte Aufruf entsprach zwar<br />
dem öffentlich bekundeten Willen aller Parteien,<br />
doch <strong>die</strong> Praxis entwickelte sich<br />
anders.<br />
„Nicht jeder wollte sich <strong>die</strong> Finger<br />
schmutzig machen“<br />
Die spätere Weigerung von Verpflichteten an<br />
der Trümmerräumung hatte gewichtige<br />
Gründe, <strong>die</strong> auch Oberbürgermeister Ludwig<br />
Metzger mitzuverantworten hatte. Der Protest<br />
erhob sich nicht wegen schmutziger Finger<br />
oder ungewohnter körperlicher Arbeit,<br />
sondern weil Leute, <strong>die</strong> sich während der<br />
Naziherrschaft <strong>die</strong> Hände schmutzig gemacht<br />
hatten, sich durch fadenscheinige<br />
Freistellungsbescheide dem Arbeitseinsatz<br />
entzogen. Beziehungen und behördliche Duldung<br />
ermöglichten <strong>die</strong>se Drückebergerei.<br />
Ich war mit als erster aufgerufen, dem auch<br />
von mir gebilligten Arbeitseinsatz nachzukommen.<br />
Dabei fiel nicht nur mir, sondern<br />
auch dem Vater des heutigen Bürgermeisters,<br />
Peter Heinrich Benz, auf, daß nicht<br />
wenige ehemalige prominente Nazis, uns<br />
namentlich bekannt, abwesend waren. Nachfragen<br />
bestätigten den Verdacht, daß <strong>die</strong>se<br />
Leute als unabkömmlich oder mit den schon<br />
erwähnten Freistellungsbescheiden als entschuldigt<br />
galten.<br />
Bei dem ersten Einsatz beließen wir es bei<br />
einem Protest, den der Einsatzleiter vom<br />
Tiefbauamt ungerührt entgegennahm. Als<br />
aber beim zweiten Einsatz wieder <strong>die</strong> uns<br />
bekannten ehemaligen „Hoheitsträger“ fehl-<br />
ten, blieb es nicht nur bei einer nachdrücklichen<br />
Intervention, wir stellten außerdem in<br />
Aussicht, <strong>die</strong> Arbeit zu verweigern. Mittlerweile<br />
hatten sich unserem Protest auch<br />
andere Arbeitswillige angeschlossen. Offensichtlich<br />
gab es wieder Privilegierte und<br />
Begünstigte. Methoden, <strong>die</strong> nicht nur wir,<br />
sondern auch <strong>die</strong> Mehrzahl der Bevölkerung<br />
nach zwölfjähriger Naziherrschaft nicht mehr<br />
bereit waren hinzunehmen.<br />
Die Beweise<br />
Nach der ersten Kommunalwahl am 26. 5.<br />
1946 scheiterten <strong>die</strong> Kommunisten an der<br />
damals noch gültigen 15 %-Hürde, dennoch<br />
wurde ich als deren Vertreter mit Sitz und<br />
Stimme in den Bauausschuß der Stadtverord<strong>net</strong>en-Versammlung<br />
delegiert. Wir hatten<br />
<strong>die</strong> Aufgabe, Grundsatzfragen, <strong>die</strong> den Wiederaufbau<br />
berührten, wie Eigentum an Grund<br />
und Boden und <strong>die</strong> von der Verwaltung vorgelegten<br />
Bebauungs-Fluchtlinien, zu beraten.<br />
So war es mir möglich, <strong>die</strong> Listen des<br />
aufsichtsführenden Bauleiters des Tiefbauamtes<br />
einzusehen, um konkrete Beweise zu<br />
erhalten. Heinrich Benz war stellvertretender<br />
Betriebsratsvorsitzender bei Merck und<br />
gewann Kenntnisse über Freistellungen in<br />
seinem Umfeld, mit denen wir dann unsere<br />
Verweigerung für <strong>die</strong> Arbeitseinsätze<br />
begründeten.<br />
Entzug von Lebensmittelkarten<br />
Bei der nächsten Ausgabe von Lebensmittelkarten<br />
wurden wir und alle, <strong>die</strong> sich unserer<br />
Aktion angeschlossen hatten, gesperrt. Die<br />
Verantwortlichen, einschließlich des Oberbürgermeisters<br />
Ludwig Metzger, dachten<br />
nicht daran, unseren Vorwürfen nachzugehen<br />
gar für Abhilfe zu sorgen. Das zog Folgen<br />
nach sich, mit denen er nicht gerech<strong>net</strong><br />
hatte. Er glaubte sich im Recht, wenn er<br />
gleich das letzte Druckmittel einsetzte, um<br />
uns zu disziplinieren. Nun waren wir<br />
gezwungen, uns zu wehren. Der Öffentlichkeit<br />
mußten unsere Beweggründe erklärt<br />
werden, und rechtliche Schritte sollten <strong>die</strong><br />
Sachlage klären. Die Begleitumstände des<br />
Lebensmittelkartenentzugs hatten schon für<br />
genügend Aufsehen gesorgt, und <strong>die</strong><br />
Rechtslage konnte nur in Wiesbaden bei der<br />
Hessischen Landesregierung geklärt werden.<br />
Mit <strong>die</strong>ser Aufgabe wurden Friedrich<br />
Avemarie und ich beauftragt. Unser<br />
Ansprechpartner war Innenminister Zinnkann,<br />
dem wir unsere Beschwerden und <strong>die</strong><br />
Sachlage vortrugen. Wir schilderten <strong>die</strong><br />
Ursachen des Konflikts, der durch <strong>die</strong><br />
Ignoranz der Darmstädter Verwaltung<br />
einschließlich des Oberbürgermeisters entstanden<br />
war. Nachdrücklich forderten wir<br />
Gleichbehandlung, denn der Aufruf hatte alle<br />
Bürger, gleich welchen Standes oder Ranges,<br />
nicht nur Arbeiter und Arbeitslose, ein-<br />
bezogen. Nach langer Verhandlung erhielten<br />
wir ein vom Staatssekretär verfaßtes und<br />
vom Minister unterzeich<strong>net</strong>es Schreiben an<br />
Oberbürgermeister Metzger, in dem ihm mitgeteilt<br />
wurde, daß der Lebensmittelkartenentzug<br />
ungesetzlich und sofort rückgängig<br />
zu machen sei.<br />
Das Wohl der Stadt steht obenan<br />
Durch ihre Nazivergangenheit belastete Spitzenbeamte<br />
konnten in versteckten Büros,<br />
wie dem damaligen Holzhof in der Kasinostraße,<br />
auf ihre Rehabilitierung warten.<br />
Oberbürgermeister Metzger fand <strong>die</strong>se<br />
Methoden entschuldbar, wenn er von sich<br />
sagte: „... aber ich mache keinen Hehl daraus,<br />
daß ich bei Entscheidungen das Wohl<br />
der Stadt höher veranschlagte als Bestimmungen.”<br />
Es darf gefragt werden, wessen<br />
Wohl er förderte.<br />
Trotz <strong>die</strong>ser bekannten Sachlage engagierten<br />
sich viele der in der Naziherrschaft Verfolgten<br />
und Benachteiligten in Verwaltungen und<br />
Betrieben. In allen Bereichen arbeiteten Sozialdemokraten,<br />
Christen und Kommunisten<br />
gemeinsam in der ersten hessischen Regierung,<br />
in den Landkreisen und Kommunen,<br />
um <strong>die</strong> dringendsten Probleme zu bewältigen.<br />
Gegenseitiger Austausch von Grußadressen<br />
bei Veranstaltungen der beiden<br />
Arbeiterparteien gehörten zum Ritual und<br />
erweckten Erwartungen, <strong>die</strong> aber bald versandeten.<br />
Die Folge war eine langsam sich<br />
vollziehende Entfremdung, deren Ursachen<br />
auf einer höheren Ebene lagen.<br />
Die Führung der SPD unter Kurt Schuhmacher<br />
grenzte sich gegenüber den Kommuni-<br />
Bilder von links nach<br />
rechts:<br />
Darmstadts Altstadt nach<br />
der Bombar<strong>die</strong>rung 1944.<br />
Daneben der Aufruf der<br />
Parteien, Kammern,<br />
Gewerkschaften und Kirchen<br />
zum Wiederaufbau<br />
Bild rechts: Trümmerfrauen<br />
und -männer bei ihrer<br />
Arbeit.<br />
Alle Abbildungen sind<br />
entnommen aus „Darmstadts<br />
Geschichte“, Gesamtredaktion<br />
Eckhard G. Franz,<br />
Eduard Roether Verlag<br />
Darmstadt, 1984)<br />
Nummer 48 · 14.5.1993 · Seite 6<br />
sten ab und verweigerte mit Hilfe der westlichen<br />
Militärregierungen Kontakte mit ihren<br />
Genossen aus den Ostgebieten. Nach und<br />
nach verschwanden Kommunisten aus den<br />
Verwaltungen, manche gingen freiwillig,<br />
andere wurden gegangen; auch in Darmstadt<br />
war es nicht anders.<br />
Die Großen ließ man laufen<br />
In den Spruchkammern, <strong>die</strong> sich nach der<br />
Verkündung des Gesetzes <strong>zur</strong> Befreiung vom<br />
Nationalsozialismus konstituierten, waren<br />
KPD-Mitglieder, wie andere Parteiangehörige<br />
auch, Vorsitzende, Ankläger, Ermittler<br />
und Beisitzer. Die Beschuldigten waren nach<br />
fünf Kategorien einzuordnen: Hauptschuldige,<br />
Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und<br />
Nichtbetroffene. Daß mit Hilfe <strong>die</strong>ser Spruchkammern<br />
eine befriedigende Entnazifizierung<br />
möglich sei, stellte sich bald als Illusion<br />
heraus. Persilscheine, gefälschte Fragebögen<br />
und gekaufte Zeugen ließen Altnazis in<br />
der Regel ungeschoren. Die kleinen Rädchen<br />
im faschistischen Getriebe, wie Briefträger<br />
oder Schrankenwärter, erschienen meist<br />
ohne rechtlichen Beistand und kamen deshalb<br />
nicht so glimpflich davon. In aller Deutlichkeit<br />
konnte jeder sehen, wohin <strong>die</strong> Reise<br />
ging: Die Großen ließ man laufen, <strong>die</strong> Kleinen<br />
wurden bestraft. Aus <strong>die</strong>sem Grunde stellten<br />
<strong>die</strong> Kommunisten ihre Mitarbeit in den<br />
Spruchkammern ein, um nicht mitschuldig<br />
an einer Entwicklung zu werden, <strong>die</strong> nicht<br />
mehr aufzuhalten war.<br />
Philipp Benz