Kescher - Abraham Geiger Kolleg
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16<br />
<strong>Kescher</strong><br />
Der Legende nach soll der 14-jährige Moses<br />
Mendelssohn einst von seinem heimatlichen<br />
Dessau zu Fuß nach Berlin gekommen sein. 150<br />
Jahre später hatte ein anderer jüdischer Knabe<br />
das gleiche Ziel, doch einen weitaus längeren<br />
Weg. Jakob Dymont (1880–1956) wuchs in einem<br />
jüdisch-litauischen Dorf in der Nähe von Kaunas<br />
auf, er träumte aber von Berlin. Als er 15 wurde,<br />
baute er aus Baumstämmen ein Floß und ruderte<br />
dann entlang der Ostseeküste, auf Flüssen und<br />
Kanälen bis zur deutschen Hauptstadt. So zumindest<br />
die Familienüberlieferung.<br />
Bald fand Dymont Anschluss an die Berliner<br />
Musik szene, er wurde ein gefragter Sänger, gab<br />
Unterricht und begann sein Studium der Musik -<br />
theorie und Komposition bei dem deutschen<br />
Spätromantiker Hugo Kaun. „Er war ja so ein<br />
hübscher Junge mit seinem dunklen Lockenkopf,<br />
gut gekleidet und überaus höflich“, beschreibt<br />
Lily Dymont ein „Erfolgsgeheimnis“ ihres Vaters.<br />
Um 1908 bekam Jakob Dymont eine Anstellung<br />
als Chordirigent an der orthodoxen Berliner<br />
Gemeinde „Adass Jisroel“. In den 1920er Jahren<br />
ist er ein etablierter Musiker und ein glücklicher<br />
Familienvater. Die begabte Tochter Lily trat 1927<br />
im Alter von 16 Jahren als Klaviersolistin mit den<br />
Berliner Philharmonikern auf, später machte sie<br />
eine Konzertkarriere in den USA.<br />
Neben einigen anderen jüdischen Musikern<br />
Berlins spielte Dymont eine Schlüsselrolle bei der<br />
Neugestaltung des synagogalen Repertoires. Seit<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts bestand das liturgische<br />
Repertoire in Berlin zum großen Teil aus den<br />
Werken des großen Reformers der synagogalen<br />
Musik Louis Lewandowski. In den 1920er Jahren<br />
wurden Stimmen laut, die diese Dominanz in<br />
Frage stellten. Generell wurde das „bedenkliche<br />
Missverhältnis zwischen der Größe und Erha ben -<br />
heit der Texte und der Flachheit und Banalität<br />
der dazugehörigen Musik“ bemängelt (Jüdischliberale<br />
Zeitung, 1934). Weg von der oft oberflächlichen<br />
romantischen Sentimentalität und<br />
zurück zu den ursprünglichen Quellen der jüdi-<br />
10. Jahrgang | Ausgabe 1<br />
Hohes Ideal der religiösen<br />
Beseelung<br />
schen liturgischen Musik – das war die Formel<br />
dieser Erneuerung. Die in den Jahrzehnten zuvor<br />
vernachlässigten Traditionen sollten wiederbelebt<br />
und in einen zeitgemäßen Stil integriert<br />
werden. Die deutschen Juden, die bereits vor<br />
1933 mit wachsender Feindseligkeit ihrer Um -<br />
gebung konfrontiert waren, besannen sich zu -<br />
nehmend auf ihre eigenen kulturellen Wurzeln;<br />
die Assimilation in all ihren Formen – auch den<br />
musikalischen – erschien angesichts des wachsenden<br />
Antisemitismus als unwürdig. Jakob<br />
Dymonts Kompositionen – vor allem die Freitag -<br />
abendliturgie (1934) und die Sabbatmorgen -<br />
liturgie (1936) – waren ebenfalls ein Ergebnis<br />
dieser Suche nach einem authentisch jüdischen<br />
Stil in der Synagogenmusik. Sie wurden in der<br />
jüdischen Presse als wichtiger Schritt auf dem<br />
Weg zum „hohen Ideal der religiösen Beseelung“<br />
und als „sehr beachtlicher Faktor der zeitgenössischen<br />
jüdischen Musik“ gewürdigt.<br />
Die Premiere der Freitagabend-Liturgie für<br />
Kantor und Männerchor von Dymont fand am 16.<br />
Februar 1934 in der Synagoge Rykestraße statt.<br />
Die Komposition gründet auf Elementen der osteuropäischen<br />
jüdischen Musik. Die Harmonien<br />
basieren einerseits auf traditionellen jüdischen<br />
Modi, andererseits klingen sie durch die Abkehr<br />
vom europäischen Dur-Moll-System ungewöhnlich<br />
modern. „Diese musikalische Neufassung<br />
durch Dymont entspricht der Würde und der<br />
Heiligkeit des Gebetstextes“, betonte ein<br />
Kritiker.<br />
1936 wurde Dymont Lehrer für Synagogenmusik<br />
an der Privaten Jüdischen Musikschule der<br />
Familie Hollaender. Die enteigneten Inhaber des<br />
berühmten, nunmehr „arisierten“ Stern’schen<br />
Konservatoriums hatten mit dieser Musikschule<br />
eine Art jüdisches Konservatorium ins Leben<br />
gerufen. Zum ersten Mal in Deutschland und<br />
Europa wurde dort auch eine Abteilung für jüdische<br />
Kantoren – „Beth-Hachasanim“ – gegründet,<br />
deren Ausbildung somit auf eine streng professionelle<br />
Grundlage gestellt wurde. Neben syn-