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Kescher - Abraham Geiger Kolleg

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Es ist starker Tobak, den die Autorin ihrem Publi -<br />

kum zumutet. Und das auf einem Feld, das in<br />

kurzer Zeit zu dem Kampfplatz geworden ist, auf<br />

dem Deutschland seinen Umgang mit Minder -<br />

heiten, Minderheitsreligionen und vielleicht mit<br />

dem Anderssein schlechthin ausficht. Die Ge -<br />

schichte der rituellen Beschnei dung, wie Antje<br />

Yael Deusel sie in ihrem informativen Buch aus<br />

den heiligen Texten des Judentums filtert, ist<br />

voll von patriarchaler Gewalt und Unterwerfung,<br />

voller drakonischer Strafen und Forderungen des<br />

Allmächtigen an sein Volk Israel. Der Talmud<br />

überliefert die Tragödie von vier Schwestern, von<br />

denen drei ihre Erstgeborenen durch die Be -<br />

schnei dung verloren und einer Mutter, der<br />

bereits zwei Söhne an Komplikationen starben<br />

und die nun den dritten beschneiden lassen will<br />

– der Rat eines verständigen Rabbiners, noch zu<br />

warten, rettet das Kind.<br />

Die „Brit Mila“ am achten Lebenstag des Säug -<br />

lings zu verweigern, ist nämlich ein Kapital -<br />

vergehen: „Und ein vorhäutiger Mann, der sich<br />

nicht beschneiden lässt am Gliede seiner Vor -<br />

haut, diese Seele werde ausgerottet aus ihrem<br />

Volke, meinen Bund hat er gebrochen“, heißt es<br />

in der Thora. Gleichzeitig verspricht Gott den<br />

Seinen Macht, wenn sie sich in den Bund, den<br />

Schnitt fügen. <strong>Abraham</strong>, dem ersten Beschnit -<br />

tenen der Heilsgeschichte, verheißt er: „Ich<br />

mache dich fruchtbar über die Maßen und lasse<br />

dich werden zu Völkern, und Könige sollen von<br />

dir herkommen.“<br />

Die Autorin ist nun aber keine Gegnerin der<br />

Zirkumzision, sondern eine entschiedene Befür -<br />

worterin. Und sie hat einige Kompetenz hinter<br />

sich. Antje Yael Deusel ist jüdische Theologin und<br />

seit diesem Sommer Gemeinde rabbinerin in<br />

Bamberg. Sie ist selbst rituelle Beschneiderin<br />

(Mohelet) und Urologin, die neben dem geistlichen<br />

Amt als Fachärztin in einer Klinik arbeitet.<br />

Als solche präsentiert sie auch nüchtern eine<br />

lange Liste möglicher Kom plikationen, von der<br />

<strong>Kescher</strong><br />

B Ü C H E R<br />

Der entscheidende Schnitt<br />

Eine Rabbinerin und Ärztin über die<br />

Geschichte der Beschneidung – und ihre<br />

Bedeutung bis heute / von Andrea Dernbach<br />

Verletzung der Eichel über Penisschaftverkrüm -<br />

mun gen bis zu Harn röhrenfisteln. Diese seien<br />

heute aber selten.<br />

Für die Theologin sind die medizinischen Aspekte<br />

ohnedies unbedeutend. Die Beschnei dung ist ein<br />

Gebot, das zwar nicht über die Zugehörigkeit des<br />

Sohnes einer jüdischen Mutter zum Judentum<br />

entscheide, wohl aber eines, über dessen enorme<br />

Bedeutung sich Orthodoxe, Konservative und<br />

Liberale einig seien.<br />

Dabei wollte sie der radikale Flügel des Reform -<br />

judentums einst abschaffen. Den Reformern,<br />

schreibt Deusel, sei sie reines Ritual gewesen.<br />

Die ethische Lebensführung schien ihnen<br />

wesentlicher, das alte Ritual lästig. Die Emanzi -<br />

pationsangebote der nichtjüdischen Mehrheit,<br />

die die Juden nach der Fran zösischen Revolution<br />

in eine Gesellschaft gleichberechtigter Citoyens<br />

aufnehmen wollte, stießen auf eine Praxis, die<br />

erklärtermaßen auf die Absonderung des auserwählten<br />

Volkes zielte – Deusel ist da ganz klar.<br />

Spätestens mit der Schoah, so die Autorin, erlebe<br />

die „Brit Mila“ aber wieder eine Renaissance.<br />

Will gerade Deutschland, fragt sich die Lese rin,<br />

dahinter zurück? Natürlich gibt es Menschen -<br />

rechtsargumente, den Kinderschutz. Aber Deusel<br />

erinnert daran, dass auch solche Argumente von<br />

Judenfeinden seit Jahrtau senden genutzt werden<br />

– die frühe christliche Polemik „Adversos<br />

Judaeos“ argumentierte sogar, die rituelle<br />

Initiation nur von Jungen verletze die Gleichheit<br />

der Geschlechter vor Gott.<br />

Ein kluger Kopf resümierte kürzlich: „Wer über<br />

seiner Steuererklärung sitzt und in aller Gründ -<br />

lichkeit Abschreibungen und Zuwen dungen<br />

addiert, bis er am Ende herausbekommt, dass er<br />

mit einer Rückzahlung in Höhe des Bundes haus -<br />

halts rechnen kann, der sieht sofort, dass das<br />

Ergebnis nicht stimmen kann.“ Will sagen: Wenn<br />

Menschenrechts argumente in der Konsequenz<br />

jüdisches Leben in Deutschland verhindern wür-<br />

den, stimmt etwas nicht. Es könnte also klug<br />

sein, dass der Gesetzentwurf der Bundesregie -<br />

rung die Beschneidung erlaubt. Und das Nach -<br />

denken ob sie noch nötig ist, Juden – und<br />

Muslimen – selbst überlässt.<br />

Der Beitrag von Andrea Dernbach erschien am<br />

15. Oktober 2012 in „Der Tagesspiegel“ (Berlin).<br />

Antje Yael Deusel: Mein Bund, den ihr bewahren<br />

sollt: Religionsgesetzliche und medizinische As -<br />

pekte der Beschneidung. Herder-Verlag, Freiburg<br />

2012. 170 Seiten, 19,95 Euro.<br />

33<br />

Vortrags- und Diskussionsveranstaltung<br />

„Rechtswidrigkeit der Beschneidung Minder -<br />

jähriger“, u.a. mit Rabbiner Prof. Dr. Walter<br />

Homolka am 14. Januar 2013 von 16 bis 20 Uhr<br />

an der Universität Potsdam<br />

European Law Students’ Association (ELSA)<br />

Potsdam e.V.<br />

Universität Potsdam, Juristische Fakultät<br />

August-Bebel-Straße 89, 14482 Potsdam<br />

http://www.elsa-potsdam.de

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