29.01.2013 Aufrufe

Kescher - Abraham Geiger Kolleg

Kescher - Abraham Geiger Kolleg

Kescher - Abraham Geiger Kolleg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

zur unbedeutenden Folie vor der sich ein vermeintlich<br />

tragisches im schlimmsten Fall noch<br />

ein Täter-Einzelschicksal entfaltet.<br />

Es gibt auch eine weitere Variante der „Rein -<br />

waschung“ der NS-Verbrechen Die ausdrückliche<br />

oder angedeutete Gleichsetzung des Staates<br />

Israel mit den Nazis. Gegenwärtig ist diese be -<br />

sonders perfide Variante in vielen Kreisen, rechts<br />

wie links, besonders beliebt. Wenn die Juden<br />

sich wie die Nazis benehmen, so die Botschaft,<br />

dann war Auschwitz nur halb so schlimm.<br />

Begleitet wird die Diffamierung Israels und die<br />

Verneinung seines Existenzrechts durch eine<br />

zweckgebundene Sympathie mit den Palästinen -<br />

sern. Als „Opfer der Opfer“, so diese Konstruk -<br />

tion, haben die Palästinenser einen besonderen<br />

Anspruch auf deutsche Hilfe gegen den Juden -<br />

staat. Und auch hier will ich Missverständnissen<br />

gleich vorbeugen: Menschenrechtsverletzungen<br />

gegenüber Palästinensern dürfen nicht unter den<br />

Teppich gekehrt oder ignoriert werden.<br />

Mir ist bewusst, dass solche Diffamierung Israels<br />

ein auch in anderen Ländern verbreitetes antisemitisches<br />

Motiv ist. Allerdings dient es gerade in<br />

Deutschland auch dem Zweck, die NS-Geschichte<br />

zu verdrängen oder zu relativieren. Das macht<br />

ihn besonders pervers.<br />

Glücklicherweise gibt es in Deutschland auch<br />

andere Kräfte, die die Sicherung des israelischen<br />

Existenzrechts als eine der Lehren aus der Ge -<br />

schichte anerkennen. Das gilt auch für die Bun -<br />

desregierung, die Bundeskanzlerin persönlich<br />

und die überwiegende Mehrheit der demokratischen<br />

Parteien in Deutschland. Dafür gebührt<br />

ihnen Dank und Anerkennung.<br />

Unter dem Strich bleibt die Erkenntnis: Der Ge -<br />

schichtsrevisionismus, wie er in den Beteue run -<br />

gen kollektiver Unschuld und Identifizierung mit<br />

einer falsch verstandenen Opferidentität zum<br />

Ausdruck kommt, hat in Deutschland zwar kein<br />

Deutungsmonopol, wirkt aber zweifellos noch<br />

immer unterschwellig fort. Alle, die wir in diesem<br />

Geschichtsrevisionismus zu Recht eine Gefahr<br />

erkennen, sind aufgefordert, sich ihm in den Weg<br />

zu stellen. Nur so können wir den Ge -<br />

schichtsfälschern und Gegenwartsvergiftern das<br />

Handwerk legen.<br />

Und meine Damen und Herren, lassen Sie mich<br />

noch einen aktuellen Hinweis geben: Die Aus -<br />

einandersetzung mit der Vergangenheit ist nichts<br />

wert, wenn sie keine Konsequenzen im Hier und<br />

Heute hat. Wohlfeil verdrückte Tränen angesichts<br />

der Millionen Opfer sind ebenso wertlos wie der<br />

manchmal geradezu voyeuristische Blick auf die<br />

Nazitäter – nämlich dann, wenn wir dabei stehen<br />

bleiben. Wenn unser Wissen keine Konsequenzen<br />

<strong>Kescher</strong><br />

zeitigt, ob das ist, wenn Ausländerheime angezündet<br />

werden, Asylanten gejagt, Alleinerzie hen -<br />

de oder Hartz IV Empfänger stigmatisiert und<br />

verhöhnt werden, Juden angegriffen und Synago -<br />

gen geschändet werden – oder auch, dann wenn<br />

in Behörden, die die Aufgabe haben unsere<br />

Demo kratie zu schützen, weggeschaut wird, nicht<br />

hingeguckt wird und Akten geschreddert werden,<br />

wo eigentlich strukturiertes kompromissloses<br />

Vorgehen gegen die heutige Neonazibrut angezeigt<br />

wäre!<br />

Die aktuelle NSU-Debatte und weitere Enthüllun -<br />

gen machen mich wütend: Demokratisch gewählte<br />

Abgeordnete in Kontrollgremien des Parla -<br />

ments werden von der Regierung als Sicherheits -<br />

risiko betrachtet und wichtige Informationen<br />

werden ihnen vorenthalten. Was ist das für ein<br />

seltsames Rechtsstaats- und Demokratiever -<br />

ständnis? Die gegenseitige Blockade der Sicher -<br />

heitsdienste und Polizei in unserem Land ist<br />

nicht nur ein Armutszeugnis sondern ein beispielloser<br />

Skandal. Auch nach über einem Jahr<br />

gibt es keine schlüssigen Konzepte, geschweige<br />

denn überzeugende Ansätze, wie solche Fehler<br />

zukünftig verhindert und der Extremismus, egal<br />

ob von Rechts oder Links oder religiös motiviert<br />

wirksam bekämpft werden kann. Stattdessen<br />

wird weiter vertuscht, beschönigt und geschreddert!<br />

Das Vertrauen der BürgerInnen und Bürger<br />

in unseren Rechtsstaat ist nachhaltig gestört.<br />

Die Pogromnacht des 9. November 1938 jährt sich<br />

heute zum 74. Mal. Der 9. November ist sowohl in<br />

der deutschen, aber auch der jüdischen Ge -<br />

schichte ein schicksalsträchtiges Datum. In der<br />

jüdischen Geschichte wurden sowohl der Erste als<br />

auch der Zweite Tempel am 9. Tag des elften<br />

Monats jüdischer Zeitrechnung zerstört.<br />

Am 9. November 1918 wurde die Weimarer Repu -<br />

blik ausgerufen, am 9. November 1923 fand der<br />

Marsch der Nationalsozialisten auf die Feld -<br />

herren halle in München statt und damit der<br />

Versuch die Weimarer Republik zu stürzen.<br />

Schließlich der 9. November 1989, der Tag, an<br />

dem eine von eine stalinistischen System willkürlich<br />

errichtete Mauer durch das Volk friedlich<br />

eingerissen wurde. Der 9. November 1989 ist ein<br />

Tag der Freude, er darf aber niemals das Geden -<br />

ken an den 9. November 1938 verdrängen, schon<br />

gar nicht zu einem Feiertag 9. November führen.<br />

In der Nacht vom neunten auf den zehnten<br />

November 1938 wurden mehr als 1200 Synagogen<br />

und Betstuben angezündet, geschändet und vernichtet.<br />

In 48 Stunden wurden mehr als 100<br />

Jüdinnen und Juden ermordet und etwa 8.000<br />

Geschäfte jüdischer Besitzer wurden geplündert.<br />

Diese Pogromnacht war der gewalttätige Beginn<br />

des grausamen Weges zur Vernichtung des europäischen<br />

Judentums.<br />

Nach dem 9. November 1938 blieben von vielen<br />

Synagogen in Deutschland nur Ruinen und am<br />

Ende der nationalsozialistischen Gewaltherr -<br />

schaft nur Grabsteine und Asche übrig. Von millionenfach<br />

gemordeten jüdischen Frauen, Kindern<br />

und Männern ist nichts übrig geblieben als<br />

Namen in Archiven und noch nicht einmal alle<br />

Namen sind bekannt.<br />

Jedes Jahr zu dieser Zeit wird die Frage aufgeworfen,<br />

ob es nicht langsam an der Zeit sei, endlich<br />

mit dem ständigen Erinnern und Mahnen<br />

aufzuhören und im Zuge des sich neu formierenden<br />

Europas und Deutschlands die Vergangenheit<br />

als bewältigt anzusehen und nur noch in die Zu -<br />

kunft zu schauen.<br />

Die aktuelle Debatte um den braunen Terror der<br />

NSU und das totale Versagen unserer Sicherheits -<br />

ar chitektur, also der Sicherheitskräfte wie Poli -<br />

zei, Verfassungsschutz , aber auch Justiz und<br />

Politik, dürften diese Frage wohl hinreichend<br />

beantworten.<br />

“Uns geht es bei der Erinnerung und Mahnung<br />

nicht vordringlich um mehr Namen auf Gedenk -<br />

steinen, mehr Grabstätten oder falsche Schuld -<br />

gefühle, sondern um Warnung für die Zukunft vor<br />

dem Ungeist der Vergangenheit”, so hat es<br />

Ignatz Bubis treffend zusammengefasst.<br />

Nicht alle haben die nötigen Lehren aus der Ver -<br />

gangenheit gezogen, wie man leider angesichts<br />

des wachsenden Antisemitismus, Antiziganis -<br />

mus, Rassismus und Islamfeindlichkeit in unserem<br />

Land fast täglich sehen kann.<br />

Umso wichtiger sind Veranstaltungen wie diese<br />

Ausstellungseröffnung heute. Nur wer sich der<br />

Vergangenheit erinnert und sie kennt, kann die<br />

nötigen Lehren ziehen und gleiches in der<br />

Zukunft verhindern. Kämpfen wir gemeinsam<br />

gegen jede Form von Menschenfeindlichkeit !<br />

Weimar ist dereinst nicht an den zu vielen Nazis<br />

zugrunde gegangen, sondern an zu wenigen<br />

Demokraten, die die Demokratie und unsere<br />

Grundrechte, Freiheit, Gleichheit und Gerechtig -<br />

keit aktiv verteidigt haben. Das dürfen wir niemals<br />

vergessen!<br />

Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in<br />

Deutschland, Stephan J. Kramer, hielt den hier<br />

leicht gekürzten Vortrag anlässlich der Eröffnung<br />

der Ausstellung „Justiz im Nationalsozialismus“<br />

am 9. November 2012 in Weißenfels.<br />

7

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!