Lionel Bringuier - Münchner Philharmoniker
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Volksmusik ohne Korsett<br />
Mit ihrer Form der Volksliedforschung reanimierten<br />
Béla Bartók und Zoltán Kodály nicht<br />
nur die ehemals ambitionierten Volkslied-<br />
Sammeltätigkeiten von Johann Gottfried Herder<br />
und seinen Nachfolgern, sondern schlugen<br />
auch einen neuen Weg ein – nicht zuletzt unterstützt<br />
durch die inzwischen zur Verfügung stehende<br />
Technik der Tonaufzeichnung. Es ging<br />
den modernen Volksliedforschern nicht mehr<br />
um eine nur ungefähre Aufzeichnung von Folklore<br />
bzw. Volksmusik, sondern um ihre genaue<br />
Fixierung und systematische Katalogisierung.<br />
Vor allem sollten die besonderen musikalischen<br />
Eigenheiten der Volksmusik zu ihrem Recht<br />
kommen, und nicht in das ästhetisierte und<br />
ästhetisierende Korsett der Kunstmusik gepresst<br />
werden: Da galt es, die feste Struktur<br />
des vorgegebenen Taktes aufzulösen, um etwa<br />
auch Melodien erfassen zu können, die sich<br />
nicht an das klassische achttaktige Schema<br />
hielten; den Tonvorrat auch um jene Töne zu<br />
erweitern, die in der üblichen chromatischen<br />
Skala nicht notierbar waren (zum Beispiel Vierteltöne);<br />
oder etwa die vielen Verzierungselemente<br />
der Musik zu berücksichtigen und sie<br />
nicht innerhalb einer schlichten Strophenform<br />
zu vernachlässigen.<br />
Die Volksmusik, derart akribisch aufgezeichnet,<br />
hielt für die jungen Komponisten genügend<br />
Materialien bereit, die ihnen halfen, aus der<br />
romantischen Tonsprache auszubrechen und<br />
neue, avantgardistische Wege einzuschlagen.<br />
Z olt á n Kodá ly: „Tä n ze aus Ga lá nt a“<br />
– 18 –<br />
Denn die unregelmäßigen Rhythmen, die „ungeschönten“<br />
Melodien und der archaische<br />
Eindruck der Harmonik durchbrachen das<br />
traditionelle kompositorische System und eröffneten<br />
so die Möglichkeit einer modernen<br />
Tonsprache, die sich alternativ zu den zeitgenössischen<br />
Tendenzen in der Musik, etwa<br />
der Schönberg’schen Dodekaphonie, etablieren<br />
konnte.<br />
Kindheitserinnerungen<br />
Mit den „Tänzen aus Galánta“, die Zoltán Kodály<br />
1933 komponierte, schuf der Komponist<br />
in gewisser Weise musikalische „Kindheitserinnerungen“:<br />
In Galánta, einem kleinen Ort im<br />
ungarisch-tschechischen Grenzgebiet, hatte er<br />
„die schönsten sieben Jahre meiner Kindheit“<br />
verbracht. Von dort stammen auch die ersten<br />
musikalischen Eindrücke des jungen Zoltán:<br />
die Kammermusikabende im Elternhaus ebenso<br />
wie die volkstümliche Alltagsmusik. Zu letzterer<br />
gehörte auch die Zigeunermusik. Im Vorwort<br />
zur Partitur der „Tänze aus Galánta“<br />
heißt es: „Galánta ist ein kleiner ungarischer<br />
Markt flecken an der alten Bahnstrecke Wien-<br />
Budapest. Damals wohnte dort eine berühmte,<br />
seither verschollene Zigeunerkapelle, die dem<br />
Kinde [dem jungen Zoltán Kodály] den ersten<br />
‚Orchesterklang‘ einprägte.“ Während Kodály<br />
sich für die Komposition der „Tänze aus Galánta“,<br />
in frühkindlichen Erinnerungen schwelgend,<br />
durch den spezifischen Klang der Zigeuner<br />
kapelle inspirieren ließ, griff er für das<br />
melodische Material auf eine historische<br />
Die Geschwister Zoltán, Paul und Emilia Kodály<br />
(um 1888 vermutlich in Galánta fotographiert)