Lionel Bringuier - Münchner Philharmoniker
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Igor S t raw insky: „ Der Feuer vogel“<br />
Über mein Ballett „Der Feuervogel“<br />
Im Laufe des Winters 1908/09 wurden „Scherzo<br />
fantastique“ und „Feuerwerk“ in den Siloti-<br />
Konzerten zum erstenmal gespielt. Der Tag<br />
dieser Aufführung ist ein wichtiges Datum für<br />
die ganze Zukunft meiner musikalischen Laufbahn.<br />
An ihm begannen meine engen Beziehungen<br />
zu Diaghilew, die zwanzig Jahre hindurch<br />
bis zu seinem Tode dauern sollten. Aus<br />
der gegenseitigen Zuneigung entwickelte sich<br />
später eine Freundschaft, die so tief war, dass<br />
nichts sie erschüttern konnte, auch nicht Gegensätze<br />
des Geschmacks und der Ansichten,<br />
die unglücklicherweise während dieser langen<br />
Zeit manchmal zutage traten. Als Diaghilew<br />
die genannten Werke vom Orchester der Siloti-<br />
Konzerte gehört hatte, vertraute er mir, neben<br />
anderen russischen Komponisten, die Orchestrierung<br />
einiger Stücke von Chopin an, die für<br />
das Ballett „Die Sylphiden“ bestimmt waren,<br />
das im Frühjahr 1909 in Paris aufgeführt werden<br />
sollte: das „Nocturno“, mit dem das Ballett<br />
beginnt, und den „Valse brillante“, der den<br />
Tanz beschließt. Ich hatte in diesem Jahr nicht<br />
die Möglichkeit, ins Ausland zu fahren, und<br />
erst ein Jahr später habe ich meine Musik in<br />
Paris gehört.<br />
All diese Kompositionen ebenso wie der Tod<br />
von Rimskij-Korsakow hatten mich gehindert,<br />
mich mit dem ersten Akt der „Nachtigall“ weiter<br />
zu beschäftigen. Während des Sommers<br />
1909 begann ich von neuem mit der Arbeit,<br />
diesmal mit der festen Absicht, die Oper, die<br />
drei Akte haben sollte, zu Ende zu komponie-<br />
Igor Strawinsky<br />
– 2 9 –<br />
ren. Aber noch einmal entschieden die Umstände<br />
gegen mich. Gegen Ende des Sommers<br />
war die Orchesterpartitur des ersten Akts vollendet;<br />
ich kehrte aus den Ferien zurück und<br />
war entschlossen, an dem Werk weiter zu arbeiten.<br />
Da erhielt ich ein Telegramm, das alle<br />
meine Pläne umwarf. Diaghilew war soeben<br />
in St. Petersburg angekommen, und er schlug<br />
mir vor, die Musik zum „Feuervogel“ zu komponieren,<br />
der im Frühjahr 1910 an der Pariser<br />
Oper vom Russischen Ballett aufgeführt werden<br />
sollte. Obgleich ich zunächst entsetzt war,<br />
weil dieser Auftrag an eine bestimmte Frist<br />
gebunden war, und obgleich ich fürchtete, ich<br />
könne die Zeit nicht einhalten, denn ich kannte<br />
damals meine Kräfte noch nicht, nahm ich<br />
den Vorschlag an. Dieses Anerbieten war sehr<br />
schmeichelhaft für mich. Man hatte mich unter<br />
den Musikern meiner Generation ausgewählt,<br />
und ich sollte an einem wichtigen Unternehmen<br />
mitarbeiten, zusammen mit Persönlichkeiten,<br />
die man als Meister ihres Faches zu<br />
bezeichnen gewohnt war.<br />
Zu der Zeit, als ich meinen Auftrag von Diaghilew<br />
erhielt, vollzog sich eine große Wandlung<br />
des Balletts, dank dem Auftreten Fokins, eines<br />
jungen Ballettmeisters und eines ganzen Blütenstraußes<br />
junger Künstler, die voller Talent und<br />
Frische waren – der Pawlowa, der Karsawina<br />
und Nijinskijs. Trotz meiner Bewunderung<br />
für das klassische Ballett und seinen großen<br />
Meister Marius Petipa konnte ich dem Rausch<br />
nicht widerstehen, der mich beim Anblick