Lionel Bringuier - Münchner Philharmoniker
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der „Tänze des Prinzen Igor“ und des „Karneval“<br />
erfasste; das waren die beiden Ballettaufführungen<br />
Fokins, die ich bis dahin gesehen<br />
hatte. Mich überkam die Sehnsucht, dem engen<br />
Kreise zu entweichen, in den ich bis dahin eingeschlossen<br />
war; mit Begierde ergriff ich die<br />
Gelegenheit, die sich mir bot. Ich wünschte<br />
mich dieser Gruppe fortschrittlicher und tatkräftiger<br />
Künstler anzuschließen, deren Seele<br />
Diaghilew war, zu dem ich mich seit langem<br />
hingezogen fühlte.<br />
Während des ganzen Winters schrieb ich eifrig<br />
an meiner Musik, und durch diese Arbeit kam<br />
ich in ständige Berührung mit Diaghilew und<br />
seinen Mitarbeitern. Sobald ich Teile der Partitur<br />
ablieferte, legte Fokin die Choreographie<br />
fest, und ich war bei jeder Probe der Truppe<br />
zugegen. Hinterher war ich dann mit Diaghilew<br />
und Nijinskij zusammen – der übrigens in<br />
diesem Ballett nicht auftrat – und wir beendeten<br />
den Tag jedes Mal mit einem ausgewählten<br />
Essen, zu dem wir einen guten Bordeaux<br />
tranken.<br />
Die Partitur zum „Feuervogel“ lieferte ich nach<br />
hartnäckiger Arbeit zum vorgesehenen Termin<br />
ab. Dann hatte ich das Bedürfnis, mich einige<br />
Zeit auf dem Lande auszuruhen, bevor ich –<br />
zum erstenmal – nach Paris fuhr.<br />
Diaghilew war mit seiner Truppe und seinen<br />
Mitarbeitern vorausgefahren, und als ich eintraf,<br />
war die Arbeit schon in vollem Gange.<br />
Fokin hatte seine Choreographie mit viel Eifer<br />
Igor S t raw insky: „ Der Feuer vogel“<br />
– 3 0 –<br />
und Liebe durchgearbeitet, denn er war verliebt<br />
in das russische Märchen, und das Szenarium<br />
stammte von ihm. Ich hatte gedacht,<br />
dass die schlanke und gebrechliche Figur der<br />
Pawlowa viel besser zu der Märchengestalt des<br />
Feuervogels passen würde als der weibliche<br />
Charme der Karsawina, der ich gerne die Rolle<br />
der gefangenen Prinzessin anvertraut hätte.<br />
Aber die Umstände ließen dies nicht zu, und<br />
ich brauchte es nicht zu bedauern, denn die<br />
Karsawina war vollkommen in der Rolle des<br />
Vogels. Die schöne und graziöse Tänzerin<br />
hatte einen großen Erfolg.<br />
Die Aufführung wurde vom Pariser Publikum<br />
sehr warm aufgenommen. Ich möchte, dass<br />
man mich nicht missversteht, ich schreibe dies<br />
keineswegs nur meiner Partitur zu. Das lag<br />
ebenso sehr an der szenischen Wiedergabe,<br />
der prächtigen Ausstattung, die der Maler<br />
Golowin entworfen hatte, den wundervollen<br />
Leistungen der Truppe Diaghilews und dem<br />
Können des Regisseurs. Aber ich muss doch<br />
sagen, dass die Choreographie dieses Balletts<br />
mir immer zu kompliziert erschienen ist, zu<br />
überladen mit bildhaften Einzelheiten. Das Ergebnis<br />
war, dass es den Künstlern zu viel Mühe<br />
machte und heute noch macht, ihre Gesten<br />
und Schritte mit der Musik in Übereinstimmung<br />
zu bringen. Und so entsteht häufig ein<br />
ärgerlicher Missklang zwischen den Bewegungen<br />
der Tänzer und den gebietenden Forderungen<br />
der Musik.<br />
Natalia Gontscharowa: Figurine zum „Feuervogel“ (1910)