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hier - Schlüsselwege deutscher Geschichte

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Titelblatt:<br />

Friedrich Wilhelm Feldhaus<br />

<strong>Schlüsselwege</strong> <strong>deutscher</strong> <strong>Geschichte</strong><br />

Verläufe, Personen und Strukturen<br />

6 Aufsätze<br />

1


VORWORT<br />

Es handelt sich um fünf Aufsätze deutsch-europäischer <strong>Geschichte</strong> aus jeweils<br />

besonderer Perspektive, die eine entsprechende Anschaulichkeit vermitteln kann,<br />

gewonnen aus Anlässen jüngster Jahrestage: Schiller, Bonhoeffer, europäische<br />

Einigung, Freiherr vom Stein, Wallenstein und Bismarck.<br />

Was zunächst sehr disparat aussieht, hat eine deutliche Beziehung.<br />

Die Themen lauten:<br />

1. Über Schiller, Montesquieu und was man für Europa tun könnte<br />

2. Dietrich Bonhoeffer – Vom Kirchenkampf zum politischen Widerstand<br />

(1933-1945) Bemerkungen zu einem bemerkenswerten Leben<br />

3. Banalität des Bösen – Ohnmacht des Widerstands/ Speers „Erinnerungen“<br />

als Protokoll des Schreckens<br />

4. 1813 und 1944 Widerstände gegen Untergänge – Entwicklung <strong>deutscher</strong><br />

Politik in der Mitte Europas<br />

5. Wallenstein und Bismarck – Kaiserliche Paladine und die Entwicklung vom<br />

ersten zum zweiten Kaiserreich<br />

Angehängt wird eine lokalgeschichtliche Arbeit, die den Versuch unternimmt, eine<br />

Verbindung von Lokal- und Großgeschichte herzustellen und ihre<br />

Wirkungszusammen-hänge durchscheinen zu lassen.<br />

6. <strong>Geschichte</strong> des Hofes Steveling in der Herrschaft Volmarstein (an der<br />

Ruhr)<br />

2


Wetter-Volmarstein, im Januar 2009<br />

3


Über Schiller, Montesquieu und was man für Europa tun könnte !<br />

Ein Nachtrag zum Schiller – Jahr<br />

Es war schließlich Schiller-Jahr. Der beflissene Mensch hat zu seiner Schiller<br />

-Ausgabe gegriffen und geblättert. Wenn er nur alt genug ist, ist er bei etlichen<br />

Balladen wie „Die Bürgschaft“ und „Die Kraniche des Ibykus“ oder der „Glocke“<br />

hängen geblieben. Aber auch wenn er jung ist, hat er sich erinnert an „Kabale und<br />

Liebe“ und „Don Carlos“, denn Beides wird in der Schule (längst wieder) gelesen.<br />

Dem Lesen des „Don Carlos“ möchte ich in etwas hinterlistiger Absicht das Wort<br />

reden – wohl wissend, dass das gar nicht so einfach ist. Schiller selbst-und das ehrt<br />

ihn- hat ja auf die Kalamität aufmerksam gemacht, wenn er in seinen“ Briefen zu Don<br />

Carlos“ von Überladung seines Stückes spricht. In der Tat ist das Werk sperrig und<br />

dreimal so dick wie ein bühnenreifes Theaterstück. Er nannte es deshalb zunächst auch<br />

„Handelnder Dialog“. Es lohnt sich in mindestens drei Hinsichten, sich neu auf diese<br />

Lektüre einzulassen.<br />

1. Man erlebt <strong>hier</strong> in zelebrierter Form die Entstehung des republikanischen<br />

Verfassungsgedankens, der sich im Stück als Versuch darstellt, auf<br />

exemplarische Weise das absolutistische System abzulösen. Die Art und<br />

Weise wird uns zu beschäftigen haben.<br />

2. In diesem Stück wird die „ klassische“ Position – ebenfalls in ihrer<br />

Entstehung- sichtbar. Sie hatte vielfach verzeichnet in jüngerer Zeit wenig<br />

Chancen auf Verständnis. (Edel sei der Mensch...!?) Wir werden sehen,<br />

dass diese „Weltsicht“ in ihrem Pragmatismus und ihrer Bescheidenheit<br />

uns Heutigen wahrscheinlich mehr zu sagen hat, als wir annehmen.<br />

3. Es soll um die wieder zu entdeckende Tatsache gehen, dass Schillers<br />

Drama „Don Carlos“ eine Ehrenbezeugung für einen großen Politologen<br />

seines Jahrhunderts ist, der für die moderne Verfassungsentwicklung<br />

unentbehrlich war. Es soll die Rede sein von dem französischen<br />

Staatsphilosophen Montesquieu ( 1689-1755). Weil das so ist, können wir<br />

uns auch von ihm kluge Ratschläge holen, die nichts von ihrer Richtigkeit<br />

eingebüßt haben.<br />

Bleiben wir noch einen Augenblick bei dem eingangs erwähnten Vorwurf der<br />

„Überladung“. Schiller entschuldigt diese in seinen „Briefen“ (s.o.) höchst interessant<br />

auf zweifache Weise. Zunächst liege es daran, dass die Schreibzeit, begonnen schon in<br />

Mannheim auf Empfehlung des Intendanten v. Dalberg (1784), beendet in Dresden<br />

beim Freund Körner (1786), zu lang gewesen sei. Er, Schiller, habe sich verändert und<br />

mit ihm sein Jahrzehnt (s.u.) . Am Ende dominiert Marquis Posa das Stück. Zweitens<br />

habe er seine „Hauptidee“ wahren müssen. Zum Lesen des Stückes sei „Mehr ruhiges<br />

Nachdenken erfordert..., als sich mit der Eilfertigkeit verträgt, womit man gewohnt ist,<br />

dergleichen Schriften zu durchlaufen.“ (!)<br />

Zu 1.Führen wir nun den oben genannten ersten Punkt näher aus.<br />

Marquis Posa ist die fleischgewordene Idee Schillers, das Ideal des „glücklichsten<br />

(politischen) Zustandes“ herbeizuführen. Man sollte meinen, dass dieser „Durch und<br />

4


durch“-Republikaner nichts Eiligeres zu tun hat, als seine Idee umzusetzen.<br />

Stattdessen erleben wir einen Zauderer, der gerade von einer langen Reise<br />

zurückgekehrt und maßlos erstaunt ist, dass er ins Zentrum der Macht zu seinem<br />

König gerufen wird. Er fragt Herzog Alba: „Mich will er haben?...Das kann nicht sein.<br />

Sie irren sich im Namen.“ Er fasst die Begegnung mit dem König nun als eine<br />

zufällige Chance, etwas für seine Idee zu tun. Immerhin zeigt er von Anfang an<br />

gleiche Augenhöhe mit dem König („lässt sich auf ein Knie nieder, steht auf und bleibt<br />

ohne ein Zeichen der Verwirrung vor ihm stehen.“). Es ist nun für die Rolle Posas im<br />

Stück konstitutiv, dass er -vor Selbstbewusstsein strotzend- seinem König die Leviten<br />

liest. So stellt er fest: „Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten. Des langen<br />

Schlummers Bande wird er brechen.“ Und nachdem er sich in Rage geredet hat,<br />

schleudert er ihm sein: „Geben Sie Gedankenfreiheit !“ entgegen. Hiermit ist ja nichts<br />

weniger als das Kantsche „sapere aude“, die Aufforderung an den Menschen gemeint:<br />

Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen – mit allen politischen Konsequenzen.<br />

Dass er solches dem „Despoten“ zumutet, zeigt, wie er sich die Entwicklung zu einem<br />

republikanischen System vorstellt. Der mächtigste Fürst Europas, der spanische König,<br />

soll <strong>hier</strong> die Vorreiterrolle übernehmen. Diese Auffassung Schillers entspricht der<br />

anderen, wonach er Posa sagen lässt: „Ich bin gefährlich, weil ich über mich gedacht.<br />

Ich bin es nicht, mein König.“ Und weiter: „Die lächerliche Wut der Erneuerung, die<br />

nur der Kettenlast vergrößert, wird mein Blut nie erhitzen.“ Man muss feststellen,<br />

dass diese Sätze drei Jahre vor der Französischen Revolution und sechs Jahre vor der<br />

Jakobinerherrschaft geschrieben worden sind. Posa schwört allem Revoluzzertum ab,<br />

er sucht eine „weichere“ Lösung. Schiller lässt ihn (natürlich sehr „schillerisch“)<br />

sagen: „Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif !“ Nach der Französischen<br />

Revolution wird Schiller diesen Gedanken ausbauen, wenn er sein Stück „Wilhelm<br />

Tell“ schreibt und <strong>hier</strong> eine nach seiner Vorstellung legitime Revolution ablaufen lässt,<br />

die es nicht bei einer abstrakt menschenrechtlichen Begründung für Widerstand<br />

belässt, sondern diesen eng an eine konkrete tyrannische Situation (Vogt Gessler)<br />

bindet.<br />

Zu 2. Der zweite Aspekt kann sich nun nahtlos anschließen. Der „klassische“ Ansatz<br />

Schillers wird in seinem Stück „Don Carlos“ unmittelbar greifbar und ich denke, man<br />

kann sich seiner sympathischen Seite nicht entziehen. Nicht die weinerliche Sturm und<br />

Drang-Figur, Prinz Carlos, wird die Hauptfigur, sondern im Verlauf des Stückes macht<br />

ihm Marquis Posa diese Rolle streitig. Der „erwachsene“ Posa versucht den<br />

„kindlichen“ Carlos in den für Spanien „glücklichsten Zustand“ zu führen, was aber<br />

bekanntlich (auch mit Schuld Posas) misslingt. Schicksals- und Zufallskonstellationen<br />

bis hin zu bloßen Missverständnissen verhindern Posas Vision. Blanke „Realität“<br />

obsiegt. Die Kenntnis von der Konfrontation des Idealen und des Realen macht die<br />

Qualität humanen Denkens und Handelns aus. Schiller macht interessanterweise die<br />

Bevorzugung solch künstlerischer Darstellung zeitlich fest, indem er vom<br />

„Lieblingsgegenstand unseres Jahrzehnts – über Verbreitung reinerer sanfterer<br />

Humanität“ in seinem achten Brief (über Don Carlos) redet. Der „klassische“ Virus<br />

der achtziger Jahre zeitigte ja auch Goethes Iphigenie, Tasso, Egmont und die<br />

italienische Reise. Schillers Abstand zu seinem „Fiesko“ (1782) ist groß geworden,<br />

obwohl auch <strong>hier</strong> Tyrannis und Widerstand aus republikanischem Geist abgehandelt<br />

werden. Nur Fiesko ist eben der Renaissance-Mensch, der begabte Bösewicht, der der<br />

5


Versuchung, sich selbst zum Herzog zu machen, nicht widerstehen kann.<br />

Zu 3. Schiller erklärt auf fast rührende Weise, wie ihm - für sein Stück notwendig –<br />

die Kunstfigur Marquis Posa zugewachsen ist, der an Stelle des dafür untauglichen<br />

jungen Prinzen Carlos die neue republikanische Freiheit besorgen soll. „Das Schicksal<br />

schenkte ihm (Carlos) einen Freund ..., über dessen Bildung ein günstiger Stern<br />

gewacht...und den irgend ein verborgener Weise seines Jahrhunderts diesem schönen<br />

Geschäfte zugebildet hat.“ (achter Brief) Diese Beziehung Posas zu einem anderen,<br />

dem Weisen, dem er seine „Zubildung“ zu verdanken hat, entlehnt Schiller (neunter<br />

Brief) in der Art eines Bekenntnisses aus seinem eigenen Leben. Sein „Weiser“ war<br />

eben besagter Montesquieu, Zitat: „...einige nicht ganz unwichtige Ideen, die <strong>hier</strong><br />

niedergelegt sind, für den redlichen Finder nicht ganz verborgen, den es vielleicht<br />

nicht unangenehm überraschen wird, Bemerkungen, deren er sich aus seinem<br />

Montesquieu erinnert, in einem Trauerspiel angewandt und bestätigt zu sehen.“ - Posa<br />

soll, wenn auch anachronistisch, denn er „lebt“ ja im 17. Jahrhundert, montesquieuisch<br />

reden und denken! Auch für Posa gilt: „Es gibt also eine ursprüngliche Vernunft...,<br />

das Gesetz ist die menschliche Vernunft.“ (Vom Geist der Gesetze) So sagt er zum<br />

König: „Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten.“ Natürlich kann König<br />

Philipp nur pessimistisch antworten: „Nichts mehr von diesem Inhalt, junger Mann.<br />

Ich weiß, Ihr werdet anders denken, kennt Ihr den Mensch erst wie ich.“ Der 25<br />

jährige Schiller wird auch <strong>hier</strong> eine kleine Anleihe bei der großen aufgeklärten<br />

Staatsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts gemacht haben, etwa bei Hobbes: Der<br />

Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Es ist aber nicht so, als habe Montesquieu, der<br />

sich um eine erstaunliche Vertiefung des Problems Staat und Regierung bemüht hat,<br />

nur eine rosarote Brille. Er weiß sehr wohl um die Grenzen des vernunftbegabten<br />

Wesens: „Das liegt daran, dass die vernünftigen Einzelwesen von Natur aus<br />

beschränkt und damit dem Irrtum unterlegen sind.“.Und was sagt Schiller zu dem<br />

schwächelnden Posa, dem das Steuer seines kunstvollen Planes entglitten ist: „Ich<br />

erkläre mir diese Erscheinung aus dem Bedürfnis der beschränkten Vernunft, sich<br />

ihren Weg abzukürzen.“ Hier ist gemeint, dass Posa den schwierigen Carlos nicht<br />

mehr in seine Planung einweiht und überzeugt ist, es alleine machen zu können und zu<br />

müssen. Auch in diesem für das Drama wichtigen Punkt scheint Schiller seinen<br />

Montesquieu gut gelesen zu haben.<br />

Die größte Leistung Montesquieus finden wir in seinen Darlegungen zu den<br />

Regierungsformen., wo wir sein System der Gewaltenteilung und der Repräsentation<br />

(Parlamentarismus) begründet sehen, abgeleitet von der politischen Entwicklung, wie<br />

er sie in England vorzufinden meinte. Hier seien nur drei Aspekte herausgegriffen, die<br />

uns die Attraktivität Montesquieus vor Augen führen soll. Er kennt drei<br />

Regierungsformen und ihre jeweiligen Mittel zu ihrer Erhaltung: Die republikanische<br />

(demokratisch oder aristo-kratisch) mit dem Mittel der Tugend bzw. der Mäßigung,<br />

die monarchische mit dem Mittel der Ehre und die despotische mit dem Mittel der<br />

Furcht. Zur ersten Regierungsform sagt er: „Die Tugend in einer (demokratischen)<br />

Republik ist etwas sehr Einfaches , nämlich Liebe zur Republik.“ Die Liebe zur<br />

Republik nennt er auch Vaterlandsliebe. Diese erzeuge gute Sitten, und gute Sitten<br />

führten wieder zu Vaterlandsliebe. Er fährt fort: „Die griechischen Staatsmänner<br />

erkannten als einzige Stütze die Tugend an. Unsere heutigen dagegen reden uns nur<br />

von Handel und Gewerbe, Finanzen, Reichtum und gar von Luxus.“....(?) Flankiert<br />

6


wird dieser Gedanke der Vaterlandsliebe bei Montesquieu überraschenderweise von<br />

der Forderung nach „Parteien“, damals gemeint gesellschaftliche Gruppen. Es heißt:<br />

„Für die Republik ist es ein Unglück, wenn es keine Parteien mehr gibt, und das ist der<br />

Fall, wenn man das Volk mit Geld bestochen hat...Dann liebt es nur noch das Geld und<br />

nicht mehr den Dienst für den Staat, ohne sich um Regierung und ihre Pläne zu<br />

kümmern.“ Der moderne Gedanke der Partizipation, der Meinungsbildung, des<br />

kontrollierenden Wettbewerbs wird artikuliert, wie ihn James Madison in den<br />

Federalist-Papers für die amerikanische Verfassung so überzeugend mobilisierte.<br />

Der Verfasser dieser Zeilen stellt nun fest:<br />

Aus kleinem gedanklichen Anfang ist sehr schnell ein „Spaziergang“ entstanden, der<br />

notwendig ein europäischer werden musste – durch eine Landschaft, die uns nur zu<br />

vertraut ist, wenn wir richtig hinschauen. Dieses Europa kann uns reichlich Identität<br />

liefern. Um den letzten Gedanken Montesquieus von Vaterland und Vaterlandsliebe<br />

aufzugreifen: Es ist ein Verbund europäischer „Vaterländer“, der sich nur bewähren<br />

kann, wenn der wohlmeinende Blick seiner Bürger auf die Teile und das Ganze<br />

ungetrübt ist. Erst dieser klare Blick kann die Grundlage zum operativen Gelingen des<br />

politischen Europa schaffen - und im Übrigen auch die Begrenzung. Wir brauchen<br />

solche „Spaziergänge“!<br />

7


Dietrich Bonhoeffer - Kirchenkampf und Widerstand 1933-1945 / Bemerkungen<br />

zu einem bemerkenswerten Leben<br />

Jahrestage haben ihren eigenen Reiz, sie können Erinnerungen, aber auch zeitlose<br />

Botschaften zu Tage fördern. Am 4. Februar dieses Jahres wäre Dietrich Bonhoeffer,<br />

der Theologe, Christ und Zeitgenosse, wie sein Biograph Eberhard Bethge mit<br />

Bedacht sagt, 100 Jahre alt geworden - Gelegenheit also, Erinnerungen an einen<br />

bemerkenswerten Menschen und dessen Botschaft aus schwerer Zeit wachzurufen.<br />

Eine Botschaft, die im unerbittlichen Verlauf der Zeit versunken scheint, bei genauem<br />

Hinsehen aber mit ihrer Sorge um den Erhalt bzw. um die Wiedergewinnung einer<br />

lebenswerten, vernünftigen, "mündigen", wie er gerne sagte, Welt eine nie versiegende<br />

Aktualität aufweist. Das Bild von der "Versunkenheit" , aber doch heimlichen<br />

Aktualität kann sich unmittelbar einstellen, wenn man im heutigen Berlin vom<br />

Potsdamer Platz hinüberspaziert zum neuen Kunstforum und dabei die kleine<br />

Matthäuskirche unscheinbar im Ensemble der neuen überproportionierten Bauten<br />

liegen sieht. Nähert man sich der Kirche, merkt man, dass sie gar nicht so klein ist. In<br />

dieser Kirche wurde am 15.11.1931 - also vor 75 Jahren - der 25jährige Theologe<br />

Dietrich Bonhoeffer ordiniert, also in sein geistliches Amt eingesetzt. Ein Relief an der<br />

Kirchenwand hält diesen Moment öffentlich sichtbar fest! Ihr mag, wie wir noch<br />

sehen werden, eine symbolische Bedeutung zukommen.<br />

In Breslau geboren, war Bonhoeffers Heimatstadt dennoch Berlin. Er wuchs als 6.<br />

Kind unter 8 Geschwistern im großbürgerlichen akademischen Hause des Vaters Karl<br />

Bonhoeffer auf. Karl Bonhoeffer war Professor und Chefarzt an der Charite für<br />

Psychiatrie und Neurologie, wohnhaft im Professorenviertel des Stadtteils Grunewald.<br />

Dem Sohn blieb die liberal-demokratische Grundeinstellung immer erhalten. Seine<br />

Weltoffenheit zeigte sich schon früh an Aufenthalten in Barcelona und New York.<br />

Interessanterweise hatte er ein Gemeindepfarramt nur knapp zwei Jahre von 1933 bis<br />

1935 inne, und das auch nicht in Deutschland, sondern in London unter ganz<br />

bestimmten Bedingungen, wie wir noch sehen werden. Im Stillen hat er sich wohl<br />

manchmal nach einem Pfarramt gesehnt, es war aber doch nicht seine Sache, er<br />

brauchte die geistige Auseinandersetzung in Theologie und Kampf gegen die neue<br />

"Häresie" der Deutschen Christen, wie er deren Treiben hart und kompromisslos<br />

nannte. Es war sein Weg bis 1941, in dieser Kompromisslosigkeit bis zu dem Risiko,<br />

Mitkämpfer zu verstören, den Einbruch des Nationalsozialismus in kirchliche<br />

Angelegenheiten zu bekämpfen. Ab 1941 trat noch eine Steigerung ein, als er aktiver<br />

Widerständler einer politischen Verschwörung wurde.<br />

Mit Entsetzen hatte Bonhoeffer schon 1930 festgestellt, dass die Mehrzahl der<br />

evangelischen Theologiestudenten zur Partei Hitlers tendierte. Die so genannte<br />

"Glaubensbewegung Deutsche Christen" hatte sich schon 1932 konstituiert. Im Hause<br />

Bonhoeffer im Grunewald war schon am 30. Januar 1933 bei der Ernennung Hitlers<br />

zum Reichskanzler klar: "Das bedeutet Krieg!" Man hegte tiefe Abneigung und<br />

Misstrauen gegen Hitler, gegen seine Autofahrten durchs Land mit der Reitpeitsche in<br />

der Hand, gegen die Auswahl seiner Mitarbeiter, gegen das, was an psychopathischen<br />

Eigenschaften von Hitler im Kreise der Fachkollegen kursierte, wie der Vater<br />

8


Bonhoeffer feststellte. Es gab schon SA-Geistliche in braunen Uniformen, Goebbels<br />

heiratete mit der Hakenkreuzfahne auf dem Altar. Schon 1931 kommt Dietrich<br />

Bonhoeffer die für ihn richtungsweisende Ahnung:" Ob bei solchen Hütern des<br />

christlichen Glaubens unsere Kirche noch eine Katastrophe übersteht, wenn wir nicht<br />

ganz anders werden, ganz anders reden, ganz anders leben?" Ihm schwebte zu dieser<br />

Zeit noch der indische Widerstand Gandhis vor Augen, den zu besuchen ihm aber<br />

nicht gelingen sollte. In den Jahren .1933 und 1934 tobten sich die Deutschen Christen<br />

mit Unterstützung der NSDAP und der staatlichen Stellen aus, nur manchmal aus<br />

taktischen Gründen wegen des Bildes im Ausland von Hitler gebremst. Dass große<br />

Teile der Pfarrerschaft und der Kirchen<strong>hier</strong>archie in diesen Jahren braun infiziert<br />

waren, wird ein Trauma der evangelischen Kirche bleiben müssen. Für Bonhoeffer<br />

war es eine Schuld der Kirche, in die er sich einbezog. Die Deutschen Christen wollten<br />

die Gleichschaltung in Form der Reichskirche mit dem Prinzip der Führerschaft und<br />

der Artgemäßheit, der zufolge auch der Arierparagraph für Pfarrer und Kirchenbeamte<br />

einzuführen sei. Viele Pfarrer erleichterten sich die Zustimmung, indem sie in der<br />

"Artgemäßheit" volksmissionarische Vorteile nutzen wollten. Für solche taktischen<br />

Spiel-chen war Bonhoeffer gar nicht zu haben. Er griff demonstrativ auf die alte<br />

Kirchenvokabel "Häresie" zurück.<br />

Im Juli 1933 kam es zur neuen zentralisierten Kirchenverfassung, der Reichskirche mit<br />

28 Landeskirchen. Zugleich wurden von Hitler für den 23. Juli Kirchenwahlen<br />

angesetzt. Hitler wollte beruhigend wirken, indem er schon eingesetzte<br />

Staatskommissare wieder zurücknahm. Die Wahlen waren verheerend: 70 % der<br />

abgegebenen Stimmen für die Deutschen Christen, wobei natürlich auch Leute in die<br />

Wahllokale geschleppt wurden, die noch nie eine Kirche von innen gesehen hatten.<br />

Bonhoeffer verschlug es die Sprache und er kommentierte pathetisch, wie es sonst<br />

nicht seine Art war: "..es wird uns nichts abgenommen, es heißt Entscheidung, es heißt<br />

Scheidung der Geister...Kommt ihr Alleingelassenen, die ihr die Kirche verloren habt,<br />

wir wollen wieder zurück zur Heiligen Schrift, wir wollen zusammen die Kirche<br />

suchen gehen...Kirche bleibe Kirche!...Bekenne, bekenne, bekenne!" Die Wahlen<br />

waren das Signal für Bonhoeffers Gleichgesinnte, die sich Jungreformatoren nannten,<br />

ein Gegenbekenntnis zu formulieren. Bonhoeffer und Hermann Sasse wurden<br />

beauftragt, in Bethel gewissermaßen im Schatten der Autorität Bodelschwinghs einen<br />

Text zu entwerfen. Es sollte noch schlimmer kommen. Am 24. August 1933 tagte die<br />

Generalsynode der Altpreußischen Union, die unter dem Namen braune Synode<br />

bekannt wurde. Die Mehrheit der Deutschen Christen erschien in der braunen Uniform<br />

der SA. Die preußische Kirche wurde umgebaut, Führer-Landesbischof wurde Pfarrer<br />

Ludwig Müller, der sich schon als Wehrkreispfarrer in Ostpreußen hervorgetan hatte.<br />

Der Arierparagraph wurde eingeführt. Die Jungreformatoren schlossen sich enger im<br />

Pfarrernotbund zusammen. Bonhoeffer und Niemöller entwarfen eine Selbstverpflichtung<br />

des Bundes, mit der man Mitglieder werben wollte. Der Text enthielt<br />

vier Punkte: 1. Bindung an Bibel und Bekenntnis 2. Widerstand gegen seine<br />

Verletzung 3. Finanzielles Hilfsversprechen für betroffene Brüder 4. Ablehnung des<br />

Arierparagraphen! Für den 27. September wurde von der Reichskirche eine<br />

Nationalsynode nach Wittenberg einberufen. Das Echo des Aufrufs des<br />

Pfarrernotbundes war über alles Erwarten gut. Es gab bis Wittenberg 2000<br />

Unterschriften, bis Ende 1933 sogar 6000 Unterschriften. Hitler hatte die verheerende<br />

9


Auswirkung der Braunen Synode im Ausland erkannt und verbot für Wittenberg die<br />

Behandlung des Arierparagraphen. Faktisch wurde aber von deren Ergebnissen nichts<br />

zurückgenommen. Reichsbischof wurde Ludwig Müller, der später spöttisch Reibi<br />

genannt wurde. Es kam in der Schlosskirche in Wittenberg zur folgenden peinlichen<br />

Szene. Hossenfelder (Deutsche Christen ) rief in der Kirche über Luthers Grab<br />

hinweg: "Mein Reichsbischof, ich grüße Sie!" Wie sehr - zum Kummer von<br />

Bonhoeffer - die Front der Kirchenopposition aber auch immer wieder wackeln<br />

konnte, zeigt Niemöllers Verhalten zu Hitlers demonstrativem Austritt aus dem<br />

Völkerbund. Niemöller telegrap<strong>hier</strong>te dem "Führer" im Namen des Bundes seinen<br />

"Dank". Hitlers geschickte Propaganda der "Revision von Versailles" zeigte immer<br />

wieder Wirkung.<br />

Bonhoeffer ist dann bis 1935 nur noch sporadisch in Deutschland, weil er ein<br />

Pfarramt der deutschen Gemeinde in London angenommen hat. Er hat nun<br />

Gelegenheit, beste Kontakte zur Oekumene zu knüpfen, die später noch wichtig<br />

werden, wenn es um Einflussnahmen des Widerstands auf ausländische<br />

Regierungsstellen geht. Hier ist besonders die beeindruckende Tätigkeit des Bischofs<br />

von Chichester, George Bell, zu nennen, zu dem Bonhoeffer sehr enge Beziehungen<br />

unterhalten kann. Bonhoeffer bezieht in dieser Zeit viel Kraft aus seinem intensiven<br />

Nachdenken über "Nachfolge Christi" und die "Bergpredigt". Es macht ihn immun<br />

gegen Vorhaltungen, er sei "unbelehrbar radikal", was Kompromisse gegenüber der<br />

Reichskirche (DEK) angehe. Am Ende des Jahres 1933 gibt es noch eine<br />

Großkundgebung der Deutschen Christen im Berliner Sportpalast (11.11.33). Im<br />

Mittelpunkt steht der Arierparagraph und die so genannte Befreiung vom Alten<br />

Testament, "diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten" - Originalton Sportpalast.<br />

Nach einem enttäuschenden Empfang der Kirchenopposition bei Hitler (25.1.34)<br />

nehmen Pfarrersuspendierungen zu, andererseits auch die Aktivitäten des<br />

Pfarrernotbundes. Es kommt am 7.3.34 zur "Freien Synode Berlin-Brandenburg" und<br />

Neukonstituierung der aufgelösten "westfälischen Synode" unter Karl Koch als<br />

"Bekenntnissynode", zur " Bekenntnisfront" in Ulm (22.4.34), dann zur<br />

gesamtdeutschen Bekenntnissynode in Barmen (29.5.34) unter Karl Koch und zur<br />

"Barmer Erklärung" von der einen bekennenden Kirche. Bonhoeffer war von London<br />

aus an der Vorbereitung beteiligt. Seine alten Forderungen nach Häresie und Schisma<br />

haben sich durchgesetzt. Im Oktober 1934 geht es noch einen Schritt weiter zur<br />

"Dahlemer Bekenntnissynode". Reichsbischof Müller wird wegen Verfassungsbruchs<br />

angeklagt, ausführende Notorgane werden gebildet, um eine legale Kirche in<br />

Deutschland zu sein. Hitler hält sich zurück. Der Dahlemer Beschluss vom 20.1.34 ist<br />

erstaunlich: "Wir fordern die christlichen Gemeinden auf, von der bisherigen<br />

Reichskirchenregierung keine Weisungen entgegenzunehmen und sich von der<br />

Zusammenarbeit mit denen zurückzuziehen, die diesem Kirchenregiment weiterhin<br />

gehorsam sein wollen." Die Bekennend Kirche gab sich eine Vorläufige Leitung (VL)<br />

unter Karl Koch. Es kommt nun vermehrt zu Einzelverboten, Suspendierungen und<br />

auch Verhaftungen durch die Gestapo. Unter den Verhafteten ist seit 1937 auch<br />

Niemöller, der bis 1945 in Haft bleibt. Im Juli 1935 richtet Hitler das<br />

Kirchenministerium unter der Leitung von Hanns Kerrl ein, um die Kirchenpolitik<br />

besser bestimmen zu können.<br />

10


Bonhoeffer in London und die Bekennende Kirche kommen immer wieder in<br />

Legitimitätsschwierigkeiten durch Hitlers populäre "Revision von Versailles" bzw.<br />

auch durch die englische "Appeasement-Politik", deren Höhepunkt das Deutsch-<br />

Britische Flottenabkommen vom 18.6.35 ist. Ribbentrop bemüht sich als<br />

Sonderbeauftragter Hitlers in London sogar um Bischof Bell. Das kirchliche<br />

Außenamt des DEK pflegt die Konkurrenz mit der Bekennenden Kirche in Sachen<br />

Ökumene. Dessen Leiter Bischof Heckel arbeitet gegen Bonhoeffer. Heckels rechte<br />

Hand, Eugen Gerstenmaier, spielt noch eine unklare Rolle. Er sucht eigene<br />

Möglichkeiten und gehört später zum Kreisauer Kreis. Zu allem Überfluss drängen die<br />

süddeutschen Landeskirchen Bayern und Württemberg auf einen eigenen Weg und<br />

bilden den "Lutherischen Rat", der ein Gegengewicht zu den "Dahlemiten" sein will.<br />

Bonhoeffer klagt über solche Zersplitterungen.<br />

Für seine Tätigkeiten bringt das Jahr 1935 einen Einschnitt. Die Bekennende Kirche<br />

bzw. ihr altpreußischer Bruderrat hat fünf eigene Predigerseminare aufgemacht, die es<br />

auch zu unterhalten gilt: Das Elberfelder, das Bielefelder, das ostpreußische, das<br />

schlesische und das pommersche. Die Seminare haben in Berlin ein Verwaltungsbüro,<br />

welches zeitweise von Hermann Ehlers geführt wurde. Dietrich Bonhoeffer wird<br />

Direktor des pommerschen Seminars, welches sich nach kurzer Anlaufzeit in<br />

Finkenwalde östlich von Stettin bildet. Für Bonhoeffer wird diese Seminartätigkeit<br />

eine nicht zu missende Kraftquelle bis zur Verhaftung April 1943. Ihm liegt daran,<br />

Luthers sola fide und sola gratia wieder zeitgemäß zur Geltung zu bringen. Er sagt:<br />

"Glaube musste einmal heißen, das Kloster zu verlassen (was er auf Luther bezieht ),<br />

Glaube kann wiederum heißen, Klöster aufzumachen (womit er sein geliebtes<br />

Finkenwalde meint), Glaube kann auch heißen, in die Politik zu gehen." Interessant,<br />

wie <strong>hier</strong> schon etwas anklingt, das ihm für seine spätere Tätigkeit und Theologie so<br />

wichtig wird. Als Leiter eines Predigerseminars, in dem er wichtige Kontakte knüpfte,<br />

war er nicht unempfindlich für den Vorwurf, ob er viele Mitstreiter nicht durch seine<br />

konsequente Haltung überfordere. Bethge, der Seminarist war, schreibt: "Erschrocken<br />

merkte er, wie viel Bindung, wie viel Macht und Einfluss von ihm ausging."<br />

Je erfolgreicher Hitler wurde, desto anspruchsvoller wurde er. So passiert nach dem<br />

"Anschluss" Oesterreichs die üble Sache, dass die Pfarrer einen Treueid auf Hitler<br />

leisten müssen: "Wer sich weigert...,ist zu entlassen." Es lastet auf den Pfarrern ein<br />

enormer Druck, ihr Verhalten wird zur Existenzfrage. Die Bekennende Kirche<br />

konzediert ihren Pfarrern einen gewissen Ausweg, indem sie ihnen eine Auslegung des<br />

Eidtextes gewährt. Der kompromisslose Bonhoeffer sah darin eine "Schande". Er hatte<br />

es insofern leichter, als er ja keine DEK-Anstellung hatte. Natürlich hatte seine<br />

Bruderrat-Anstellung ihr tägliches Risiko.<br />

Bonhoeffers Lage wird kompliziert, als er immer mehr ab 1937 in die Mitwisserschaft<br />

bezüglich einer Verschwörung gegen Hitler gerät. Er hat für einen Pfarrer<br />

ungewöhnliche Verbindungen, z.T. schon über seine Eltern, die mit erbitterten<br />

Gegnern Hitlers verkehren, so z.B. mit dem Vetter der Mutter, dem 1944<br />

hingerichteten Paul von Hase, Stadtkommandant von Berlin. Besondere Verbindungen<br />

hat er auch über seinen älteren Bruder Klaus, der Syndikus der Lufthansa ist, über<br />

seine Schwäger Rüdiger Schleicher, (Luftfahrtministerium) und zu Hans von<br />

11


Dohnanyi ! Dieser war Angehöriger des Justizministeriums seit 1929. Er gehörte zu<br />

den bedeutendsten Widerständlern, er konnte für seine Sache besten Fachverstand<br />

(Jurist) und beste Intelligenz einsetzen. Er legte schon früh eine "Skandalchronik" des<br />

Dritten Reiches an, um einer eventuellen Dolchstoßlegende zu wehren. Er war der<br />

führende Organisator des Widerstandes bis 1943 und operierte aus dem nur schwer<br />

angreifbaren Zentrum der Spionage-Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht<br />

(OKW), wohin der Leiter der "Abwehr", Wilhelm Canaris, ihn im August 1939 geholt<br />

hatte. Hier konnte er in bester Verbindung mit Canaris, Oster (Leiter der<br />

Zentralabteilung), mit Beck, Goerdeler und Hassell kooperieren. Er war tief von dem<br />

verbrecherischen Wesen Hitlers und der NS-Herrschaft überzeugt. Bonhoeffer kannte<br />

also die Pläne der Gruppe, die mit der einzig noch gebliebenen Autorität der<br />

Wehrmachtsführung, insbesondere des Generalstabschefs Ludwig Beck, günstige<br />

Momente zur Beseitigung Hitlers suchte. Erwähnt werden sollen <strong>hier</strong> drei frühe<br />

"Momente", deren Legitimität noch zu den englischen Interessen zu dieser Zeit passte.<br />

Gemeint sind die Fritsch-Krise im Frühjahr 1938 und die Sudeten-Krise im Herbst.<br />

Becks Initiative, mit Wehrmachtsführern einen Umsturz herbeizuführen, wurde<br />

ausgerechnet durch politische Ereignisse vereitelt. Hitler gelang im März 38 der<br />

"Anschluss" Österreichs, im September 38 kam es nicht schon zu Hitlers Krieg,<br />

sondern zur italienisch/englischen Vermittlung, zum Münchner Abkommen. Zur<br />

erfolgreichen Verhaftung und Absetzung Hitlers sollte auch ein psychiatrisches<br />

Gutachten des Dr. Karl Bonhoeffer beitragen. Eine dritte Gelegenheit sah man nach<br />

dem Polenfeldzug im Oktober 39 bis März 1940 gegeben. Hitler hatte bereits den<br />

Befehl des Durchmarsches durch Holland und Belgien ausgesprochen, was vielen<br />

Offizieren Probleme bereitete. Man hörte auch von Greueltaten an Polen und an<br />

polnischen Juden. Der militärische Oberbefehlshaber Blaskowitz protestierte: "Was<br />

die Auslandssender bisher gebracht haben, ist nur ein winziger Bruchteil von dem, was<br />

in Wirklichkeit geschehen ist. Die einzige Möglichkeit, sich dieser Seuche zu<br />

erwehren, besteht darin, die Schuldigen schleunigst der militärischen Gerichtsbarkeit<br />

zu unterstellen." Blaskowitz wurde von Hitler abberufen. Kontakte Josef Müllers,<br />

Angehöriger der Zweigstelle der "Abwehr" in München, mit englischen Regierungsstellen<br />

(über den Vatikan) hatten laut seinem Bericht (der so genannte X-Bericht)<br />

ergeben, dass England v o r einem Westangriff Hitlers und n a c h Beseitigung Hitlers<br />

einem Waffenstillstand zustimmen würde! Generalstabschef Halder, Nachfolger<br />

Becks, konnte den Oberbefehlshaber des Heeres, von Brauchitsch, nicht überzeugen,<br />

so dass im April 1940 Hitlers Angriff im Westen stattfand.<br />

Bonhoeffer wurde sich seiner schon weit reichenden Mitwisserschaft als Problem<br />

bewusst, als ihm Dohnanyi mitteilte, dass Oster Hitlers Angriffstermin den Holländern<br />

mitteilen würde, um Hitlers Erfolge zu stoppen. Vaterlandsliebe musste <strong>hier</strong> "Verrat"<br />

bedeuten. Bethge kommentiert diesen Einschnitt: "Die Möglichkeit eines<br />

gemeinsamen Lebens (in klosterähnlicher "Finkenwalder" Gemeinschaft) ging im<br />

Frühjahr 1940 für immer zu Ende und die Nachfolge-Theologie bedurfte der Revision,<br />

ihr Rahmen war gesprengt...Die irdische, bürgerliche und nationale Zukunft wollte<br />

politisch verantwortet werden." Ende 1940 verdichteten sich die Umstände um<br />

Bonhoeffer. Der immer wieder agierende Kirchenkampf-Mann erhielt Redeverbot und<br />

Meldepflicht. Alles drängt zu einer existenziellen Entscheidung für ihn. Er findet noch<br />

Zeit für seine illegale Predigerausbildung in Hinterpommern in Fortsetzung der<br />

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Finkenwalder Tätigkeit. Sein Schwager Dohnanyi kommt auf die Idee, ihn als<br />

Mitarbeiter in die "Abwehr" von Canaris hineinzuziehen, auch um damit für den<br />

Gefährdeten eine UK-Stellung zu erreichen. Diese UK-Stellung wird bei dem späteren<br />

Kriegsgerichtsprozess gegen ihn noch eine Rolle spielen. Eine Bezahlung kann er<br />

nicht erwarten, so dass für ihn jetzt der Lebensunterhalt und eine gesicherte Unterkunft<br />

die Probleme sind. Finanzielle Zuwendung wird er von seinem dritten Schwager, dem<br />

bedeutenden Juristen Gerhard Leibholz, bekommen, der sich wegen jüdischer<br />

Abstammung früh nach London abgesetzt hatte. Als Unterkunft für den Protestanten<br />

Bonhoeffer fand man auf Initiative des katholischen "Abwehr"-Kollegen Josef Müller<br />

(s.o.) Kloster Ettal in Bayern! Bonhoeffer wurde der Münchner "Abwehr"-Stelle<br />

zugeordnet. Somit war für den "Nachfolge"-Theologen die groteske Situation<br />

entstanden, wie Bethge feststellt, dass er ein V-Mann der Abwehr geworden war, der<br />

nun dort sein Doppelspiel für den Widerstand um Dohnanyi spielte. Ende Februar<br />

1941 bekam Bonhoeffer seinen ersten Auftrag, in die Schweiz zu reisen.<br />

Zunächst kam er um die Wende 40/41 in Ettal noch zu einer längeren theologischen<br />

Arbeitsphase unter für ihn eben ganz neuen Umständen. Er will seine jetzige Tätigkeit<br />

theologisch-ethisch untermauern. Er arbeitet mit den Begriffen des Letzten und<br />

Vorletzten. Es heißt: "Christus lässt, die Struktur des Letzten und Vorletzten<br />

repräsentierend, die menschliche Wirklichkeit, ohne sie zu verselbständigen und ohne<br />

sie zu zerstören, als Vorletztes bestehen...Das Kreuz ist das Letzte, ist Gericht und<br />

Begnadigung des Vorletzten." Menschliche Wirklichkeit erhält also ihre natürliche<br />

Autonomie und unterliegt der Verantwortung des Menschen. Von <strong>hier</strong> erhalten<br />

Aufklärung und Menschenrechte ihre positive Bedeutung. Der Pastor ist politischer<br />

Widerständler geworden!<br />

Der politische Widerstand musste sich 1941 auf neue Gegebenheiten einstellen, die die<br />

Hoffnung auf Umsturz und Waffenstillstand einerseits verschlechterten, aber<br />

andererseits auch eine Möglichkeit bargen. Mit Hitlers Angriff auf Russland (Juni<br />

1941) entstanden die Annäherungsbestrebungen der Gegner z.B. in Form eines<br />

Beistandspaktes zwischen Stalin und Churchill (12. Juli 41) und der Atlantik-Charta<br />

zwischen Roosevelt und Churchill (14. August 41). Andererseits gab es den<br />

berüchtigten "Kommissarbefehl" Hitlers (Mai 41), wonach die Armee alle gefangenen<br />

politischen Kommissare der Sowjetarmee zu erschießen hatte und wonach die<br />

Kriegsgerichtsbarkeit gegenüber deutschen Soldaten, die sich an russischen Zivilisten<br />

vergriffen, praktisch aufgehoben war. Hier sahen die Widerständler die berechtigte<br />

Hoffnung, weitere Offiziere nachdenklich machen zu können. Der Druck auf<br />

Brauchitsch wurde groß. Im Frühjahr 1941 wurde auch der V-Mann Dietrich<br />

Bonhoeffer auf seine Reise in die Schweiz geschickt, um die Kontakte mit dem<br />

Weltkirchenrat und seinem Bonhoeffer sehr zugetanen Sekretär Visser`t Hooft zu<br />

pflegen. Die prekäre Lage als Widerständler zeigte sich für Bonhoeffer natürlich auch<br />

beim zunächst schnellen Vorrücken der deutschen Armeen in Russland 1941. Visser`t<br />

Hooft berichtet, wie Bonhoeffer das Vorrücken mit den Worten kommentiert: "Nun ist<br />

es aus, nicht wahr?" Er fährt dann fort, wie er es meine: "Ich meine, dass wir beim<br />

Anfang vom Ende stehen. Denn da kommt Hitler niemals mehr heraus."<br />

Im Winter 1941/42 vermehren sich die Tätigkeiten des Widerstandes und es kommt zu<br />

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ersten Berührungen und Querverbindungen der Gruppe der Abwehr mit dem jüngeren<br />

Kreisauer Kreis um Moltke, York und Trott. Diese Gruppe, mehr christlichsozialistisch<br />

geprägt, hat gewisse Vorbehalte gegen den konservativen Goerdeler. Man<br />

kann sich aber gut einigen auf die politische Führungsrolle Becks. Bonhoeffer versteht<br />

sich (gemeinsame Reise nach Norwegen) gut mit Moltke, ohne dass es zu einer<br />

Vertiefung des Verhältnisses kommt. Interessanterweise lehnte Moltke zu diesem<br />

Zeitpunkt- anders als Bonhoeffer - die gewaltsame Beseitigung Hitlers noch ab.<br />

Wichtige Reisen gab es für Bonhoeffer in die Schweiz, nach Schweden, Italien und<br />

Norwegen. Initiativen aus der Abwehr (Dohnanyi), aus dem Auswärtigen Amt (Trott)<br />

und aus dem kirchlichen Außenamt des DEK (Schönfeld, Gerstenmaier ) konnten sich<br />

überschneiden. Bonhoeffers Einflussnahme auf George Bell, Bischof von Chichester,<br />

zeigte sich am 10.3.1943, als dieser im Oberhaus in London eine Rede, gemünzt auf<br />

Churchill, hielt, in der er die Unterscheidung zwischen Nazis und anderen Deutschen<br />

empfiehlt und fortfährt: "I can only hope that I have given some evidence of the reality<br />

of an oppostion in Germany and of the necessity for encouragement and assistance..."<br />

Der Regierungssprecher antwortet gewunden, dass man Stalin zustimme, dass Hitlers<br />

Staat zerstört werden müsse und dass damit aber nicht das ganze deutsche Volk zum<br />

Untergang verdammt sei. Die Forderung der unconditional surrender war am 24.<br />

Januar 43 in Casablanca ausgesprochen worden.<br />

In dieser Zeit, März 43, sollte auch der Attentatsversuch der „Abwehr"-Gruppe in<br />

Verbindung mit der Führung der Heeresgruppe Mitte erfolgen. Bethke schildert die<br />

Dramatik folgendermaßen: "Drei Tage nach der Rede Bells hatte Hitlers Flugzeug auf<br />

dem Flug von Smolensk nach Ostpreußen die Zeitbombe an Bord, die Schlabrendorff<br />

mit Tresckow im Hauptquartier des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe Mitte, des<br />

Generals von Kluge, hineinmanövriert hatte. In Berlin warteten Dohnanyi und<br />

Bonhoeffer gespannt auf die Nachricht vom Absturz der Maschine... Die Bombe<br />

explodierte aber nicht." Der Attentatsversuch war nicht entdeckt worden. Man war<br />

wild entschlossen, es eine Woche später noch einmal zu versuchen. Als Gelegenheit<br />

sah man den "Heldengedenktag" vom 21.3. 1943 im Berliner Zeughaus. Major von<br />

Gersdorf, Abwehr-Offizier der Heeresgruppe Mitte, war entschlossen, mit zwei<br />

Bomben in den Manteltaschen in die Nähe Hitlers zu kommen und den Anschlag<br />

auszuführen. Hitler brachte kurzfristig den Zeitplan seines Auftritts völlig<br />

durcheinander, so dass auch dieser Versuch fehlschlug. Auch dieser Versuch wurde<br />

nicht öffentlich. Zu erwähnen ist, dass bereits El Alamein (Oktober 42), und Stalingrad<br />

(31.1.43) geschehen waren und der Widerstand der Weißen Rose aufgedeckt war.<br />

Auch jetzt galt schon, dass ein Umsturz an der hoffnungslosen politischen und<br />

militärischen Lage nichts mehr ändern konnte, wie Stauffenberg kurz vor dem 20.Juli-<br />

Attentat sagte.<br />

Am 5. April, zwei Wochen nach dem Zeughausversuch, wurden Dohnanyi,<br />

Bonhoeffer und Josef Müller verhaftet und Oster aus der "Abwehr" entfernt. Es ging<br />

um Devisenfragen bei einer Aktion der Abwehr, als Juden, gedeckt durch den<br />

Abwehrauftrag, in die Schweiz ausreisen konnten. Die Abwehr konnte sich ja aller<br />

Personen bedienen, die sie für "nützlich" hielt. Canaris konnte zunächst das<br />

Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Kaltenbrunners daraus halten. Bis Mitte 44<br />

verstand es Dohnanyi mit viel Geschick, die an sich kleine Anklage des<br />

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Reichskriegsgerichts abzuwehren. Bei Bonhoeffers Anklage spielte bis zuletzt die UK-<br />

Stellung (s.o.) eine Rolle mit der Frage, warum die Abwehr ausgerechnet den<br />

Geistlichen unabkömmlich gemacht und ihn damit vom Soldatendienst freigestellt<br />

habe. Der Sturz von Canaris und der Wechsel der Abwehr vom OKW zum<br />

Reichssicherheitshauptamt im Februar 1944 und der 20. Juli 1944 brachten<br />

entscheidende Änderungen. Dohnanyi kam ins KZ-Sachsenhausen, Bonhoeffer im<br />

Oktober 44 vom Untersuchungsgefängnis in Tegel in das Kellergefängnis des RSHA<br />

in der Prinz-Albrecht-Straße.<br />

Die Konspiration einschließlich der Haftzeit forderte noch einmal den Theologen<br />

Bonhoeffer heraus, dessen Situation auch dadurch prägend wurde, weil sie ihn in die<br />

unmittelbare Nähe verantwortungsvoller Männer brachte, die nicht nur aus kirchlichen<br />

Kreisen kamen. Er sagte selbst dazu, er fühle sich als ein moderner Theologe, der noch<br />

das Erbe der liberalen Theologie in sich trage, verpflichtet, diese Fragen<br />

anzuschneiden. Von diesen Überlegungen gibt es nur Andeutungen in Briefen und<br />

Entwürfen. Bonhoeffer fasziniert nun der Gedanke einer "religionslosen"<br />

Interpretation der Welt. Man versteht es, wenn man sich klar macht, dass er von der<br />

menschlichen Fähigkeit und zugleich der Pflicht zur unbedingten Verantwortung für<br />

diese Welt ausgeht. Er knüpft an Kants großartiger Aufklärungsdefinition an, die da<br />

lautet: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten<br />

Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne<br />

Leitung eines Anderen zu bedienen." Hieraus resultiert der Auftrag zur Schaffung der,<br />

wie Bonhoeffer sagt, "mündigen Welt". Dieser Auftrag wird durch einen<br />

verbrecherischen Tyrannen herausgefordert. Bonhoeffer rechtfertigt diese Diesseitsbezogenheit<br />

theologisch-christlich als Mündigkeit im Namen des gekreuzigten und<br />

auferstandenen Christus. Er meine "nicht die platte und banale Diesseitigkeit der<br />

Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen und Lasziven (<strong>hier</strong> höre man gut zu!),<br />

sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist und in der die Erkenntnis des<br />

Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist." In dieser Weise will er vor Gott<br />

und der Welt sprechen - ohne "Religion", d.h. „eben ohne die zeitbedingten<br />

Voraussetzungen der Metaphysik, der Innerlichkeit usw." (!) Und noch ein wenig<br />

kompromissloser, ja radikaler klingt es: "Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben<br />

müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns<br />

ist, ist Gott, der uns verlässt (Markus 15, 34 : Mein Gott, mein Gott, warum hast Du<br />

mich verlassen)...Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz. Gott ist<br />

ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft<br />

uns." Nach Bonhoeffer kann der "religionslose" Christ mit den "Religionslosen" der<br />

Welt Verantwortung für diese Welt übernehmen. Eine wichtige Ergänzung Bethges<br />

darf <strong>hier</strong> nicht unterschlagen werden: "Bonhoeffer wäre gründlich missverstanden,<br />

wenn man meinte, im Vollzug weltlicher Interpretation sollte es die im Gottesdienst<br />

versammelte Gemeinde nicht mehr geben." Verlust kirchlicher Identität sei nicht<br />

gemeint, diese solle gerade neu gemäß der Theologie des Kreuzes gewonnen werden.<br />

In dieser Welt- und Glaubensgewissheit erleben wir den Häftling Dietrich Bonhoeffer<br />

bis zum Schluss. Die Haftbedingungen haben sich in der Prinz-Albrecht-Straße sehr<br />

verschlechtert. Sein Schwager Hans von Dohnanyi, der die Hauptlast der Verteidigung<br />

trug, tat dieses bravourös, konnte aber am Ende nicht verhindern, dass die Gestapo<br />

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Aufzeichnungen fand. Er litt stark unter Scharlach und Diphterie, die er sich z.T.<br />

absichtlich zuzog, um den Prozess zu verlängern. Der Februar 1945 wurde für die<br />

Familie Bonhoeffer sehr schwer. Dietrichs älterer Bruder Klaus und sein Schwager<br />

Rüdiger Schleicher wurden vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, Schwager<br />

Hans von Dohnanyi kam schwerkrank ins Kellergefängnis des RSHA, Dietrich wurde<br />

mit unbekanntem Ziel abtransportiert. Es hat sich herausgestellt, dass er in einem<br />

unsäglichen Transport ( mit einem vollgeladenen Holzvergaser-Lastwagen) vieler<br />

prominenter Häftlinge wie General von Falkenhausen, Dr. Pünder, Canaris, Halder,<br />

Hjalmar Schacht und Schuschnigg, ehemaliger österreichischer Bundeskanzler, nach<br />

Buchenwald geschafft wurde. Am 3. April ging die Reise weiter von Thüringen in die<br />

Oberpfalz und für Bonhoeffer irrtümlicherweise noch weiter über Regensburg nach<br />

Schönberg im Bayerischen Wald. Wegen des absurden Irrtums wurde Bonhoeffer<br />

wieder zurück in die Oberpfalz ins KZ-Flossenbürg transportiert. Im Morgengrauen<br />

des 9. April starben die Widerstandskämpfer aus der ehemaligen Abwehr des OKW,<br />

Canaris, Oster und Bonhoeffer, den Tod durch Erhängen. Nach Befehl aus Berlin hat<br />

ein Standgericht, bestehend aus dem SS-Richter Dr. Thorbeck aus Nürnberg,<br />

Huppenkothen vom RSHA als Anklagevertreter und der Lagerkommandant Kögl als<br />

Beisitzer das Urteil gesprochen. Man rühmte sich, ausführlich getagt, jeden Einzelnen<br />

vernommen und einander gegenübergestellt zu haben. Prinz Philipp von Hessen,<br />

Häftling in Flossenbürg, fand am Morgen in der Wachstube einen Band Goethe mit<br />

Kupferstichen, gezeichnet mit Bonhoeffers Namen. Das Buch wurde dem Finder<br />

abgenommen, verbliebene Habe wurde mit dem Leichnam verbrannt. Der<br />

schwerkranke Dohnanyi war einen Tag früher im KZ-Sachsenhausen ermordet<br />

worden.<br />

Hier schließt sich der Kreis unserer Darstellung. Wir erwähnten anfangs die mögliche<br />

symbolische Bedeutung der doch nicht so kleinen Matthäuskirche nähe Potsdamer<br />

Platz Wie könnte "mündige Entschiedenheit" Bonhoefferscher Prägung uns Heutigen<br />

eine klarere Sicht verschaffen? Spaß pur und eine mediale Totalerfassung von<br />

Menschen, verbunden mit erschreckendem Verlust von Moral, hätten vor ihm keinen<br />

Bestand. Ein Islam, der nicht durch die "Aufklärung" gegangen ist, fordert Mut und<br />

Entschiedenheit der Christen, in mündiger, d.h. "religionslos" verstandener Weise<br />

Menschenrechte einzufordern, was wiederum hieße, die Absolutheitsansprüche von<br />

Religionen nicht gegeneinander auszuspielen. Die Öffentlichkeit scheint wieder mehr<br />

auf Bonhoeffer zu schauen.<br />

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Banalität des Bösen - Ohnmacht des Widerstandes! Speers „Erinnerungen“ als<br />

Protokoll des Schreckens<br />

Manchmal ist eine besondere Perspektive nützlich, eine altbekannte Sache in neuer<br />

Anschaulichkeit zu sehen. Hier hieße es, die Selbstzerstörung <strong>deutscher</strong> Politik in der ersten<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts einmal mehr mit Bestürzung wahrzunehmen, um so mehr ihre<br />

Heilung zu registrieren und dieser im Zeichen des 50 jährigen Bestehens europäischer<br />

Gemeinschaft Dauer zu verleihen.<br />

Liest man die Erinnerungen Speers und hat dabei das Schicksal des deutschen Widerstandes<br />

im Kopf, so sträuben sich einem beim Lesen die Haare. Speers Blick in die Hexenküche<br />

Hitlers bietet die kompakte Gegenwelt zur Welt des Widerstandes, der sich mit deren<br />

Existenz nicht abfinden mochte. Zwei Welten, so unterschiedlich und doch in so fataler Weise<br />

zeitgleich und ineinander verwoben. Beim Lesen von Speers Erinnerungen drängt sich die alte<br />

Frage auf, wie konnte ein Hitler die Akzeptanz seiner Zeitgenossen erwerben? Die Frage wird<br />

ja noch drängender, wenn man sie an den Schreiber Speer richtet, der letztlich in seinem Buch<br />

die Antwort für sich schuldig bleibt. Es macht die besondere Irritation des Buches aus, wenn<br />

man die Frage noch erweitert, warum Speer sich bis zum bitteren Ende nie konsequent hat<br />

von Hitler lösen können. Welch eine nüchterne Klarheit gegenüber Hitler auch möglich war,<br />

zeigt das Beispiel der großbürgerlichen Familie des Widerständlers Dietrich Bonhoeffer,<br />

ausgesprochen am 30. Januar 1933 in Berlin: „ Hitlers Ernennung zum Reichskanzler - das<br />

bedeutet Krieg!“ Wie selbstverständlich konnte <strong>hier</strong> eine tiefe Aversion gegenüber diesem<br />

„wild gewordenen Kleinbürger“ (J. Fest) entstehen, die man in der Familie Bonhoeffer hegte,<br />

wenn man von Hitlers Autofahrten durchs Land mit der Reitpeitsche in der Hand, von dessen<br />

Auswahl seiner Mitarbeiter, von dessen psychopathischen Eigenschaften sprach. Ein<br />

Durchblick, der sich zwar auch aus der geübten Sicht des Psychiatrie-Professors (Vater<br />

Bonhoeffer) ergab, aber sich insgesamt doch aus verlässlicher humanitärer Haltung und<br />

politischer Verantwortung entwickelte. Man kann im Nachhinein über jede Manifestation<br />

eines solchen Geistes gegenüber dem braunen Ungeist dankbar sein. Dieser Blickwinkel<br />

macht auch die ganze Banalität dieses Ungeistes klar. Die Geschichtsforschung hat uns längst<br />

ein Bild der mutigen Gegnerschaft liefern können, wie es am Ende verzweifelte<br />

Widerstandskämpfer wie Stauffenberg erstrebten, als sie sich über die begrenzte Wirksamkeit<br />

ihres Tuns klar wurden. Sie wollten der Nachwelt ein Zeugnis der Gegenwehr liefern - aus der<br />

tiefen Scham heraus, dass Deutschland einem verbrecherischen Regime mit allen<br />

Konsequenzen erlegen war. Anlass für diese Scham bietet die Lektüre der Erinnerungen<br />

Speers im Übermaß.<br />

Speers Erinnerungen bleiben eine der wichtigsten Quellen für die N.S.-Zeit, aus der die<br />

Darstellungen über Hitler geschöpft haben. Der stärkste Eindruck, so scheint es mir, den die<br />

Lektüre des Buches hinterlässt, ist der, dass das Deutschland der 30er Jahre einer ungeheueren<br />

Trivialität in Form der herrschenden Personen und der politischen Verhältnisse aufgesessen<br />

ist. Eine Trivialität, die mit einer höchst möglichen Brutalität und Rechtlosigkeit einher ging,<br />

die ermöglicht wurde durch den unglücklichen Verlauf am Ende der Weimarer Republik.<br />

Weit und breit war keine charismatische Figur zu entdecken, die dem „Trommler“ Hitler in<br />

der damaligen Politszene Paroli hätte bieten können. Die Hindenburgs, Brünings, Papens und<br />

Schleichers waren da nur traurige Beispiele. Die traumtänzerische Unsolidität eines Hitler, die<br />

dann zur Grundlage des Dritten Reiches wurde, trifft Joachim Fest in seinem Hitler-Buch (5.<br />

927): „Seine Entscheidungsschwäche und Lethargie verlangte nach grandios konstruierten<br />

Scheinwelten. . . Der Zug fantastischer Überspanntheit hat in dieser gestörten<br />

Realitätsbeziehung die Ursache.“ In der Tat: Sollte es <strong>hier</strong> und da bei Hitler nach schnellen<br />

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Entschlüssen aussehen, so sind es nur solche des hemmungslosen Glücksspielers, der in<br />

einem Überraschungscoup einen vermeintlichen Vorteil ausnutzen wollte. Es ist sehr<br />

glaubhaft, dass dem hoch spezialisierten Speer (mit vorbildlicher Architekturausbildung) der<br />

Dilettantismus Hitlers stört. „Er hatte nie einen Beruf erlernt und war im Grunde immer ein<br />

Außenseiter geblieben“, schreibt Speer. Einen zweiten Grundzug Hitlers bemerkt Speer in<br />

dessen Misstrauen. Dieses Misstrauen kann sich an Nichtigkeiten entzünden und zu großen<br />

Aktionen auswachsen. Speer hatte ihm von Russland und von singenden deutschen Landsern<br />

erzählt, in dessen Kreis er sich wohl gefühlt habe. Hitler stutzt und will Näheres über die<br />

Liedtexte wissen. Es sind schwermütige Lieder, deren Texte Speer noch in der Tasche hat.<br />

Hitler glaubt an Defätismus böswilliger Gegner. Speer erfährt viel später, dass Hitler gegen<br />

die für den Druck Verantwortlichen ein Kriegsgerichtsverfahren angeordnet hatte. Hitlers<br />

Charakter und Denken entsprechend ist seine Lebensweise. Nachdem er schon im Februar<br />

1933 seinen Beamten abgewöhnt hatte, seinen Schreibtisch mit Akten voll zu legen, kommt er<br />

auf seinen alten bohemehaften Lebensstil zurück. Diszipliniertes regelmäßiges Arbeiten ist<br />

nicht seine Sache. Er fühlt sich nach wie vor als Künstler. Ob Obersalzberg, Berlin oder<br />

Hauptquartier Rastenburg (Ostpreußen): Hitlers Tag beginnt am späten Vormittag und endet<br />

nachts gegen drei bis vier Uhr. Dazwischen gibt es neben Besprechungen ausgiebige<br />

Mahlzeiten am Mittag, Nachmittag und Abend, kombiniert mit Teestunden. Dabei ist Hitler<br />

als magenkranker Vegetarier und Abstinenzler kein starker Esser und Trinker. Seine Wiener<br />

Diätköchin hat er immer dabei. Natürlich verlangt er zu den Geselligkeiten die Anwesenheit<br />

seines inneren Zirkels, die dann Opfer seiner endlosen Monologe sind. Sie können Minister,<br />

Reichs- und Gauleiter sein, die sich ihres Zuspruchs versichern wollen, immer sind es<br />

Sekretärinnen, Pilot, Fahrer, Adjutanten, Pressechef Dietrich, Fotograf Hoffmann und „sein“<br />

Architekt Speer, wenn er am Ort ist. Nachts sind Spielfilme, auch in der Wiederholung, fällig<br />

mit ermüdenden Gesprächen über Schauspieler usw. Speer leidet offenbar unter solchen<br />

Tages- und Nachtzeiten und nennt den Zustand seine „Bergkrankheit“ (Obersalzberg).<br />

Goebbels, Göring und Himmler trifft man kaum, weil sie nach dem Beispiel des Meisters<br />

ihren eigenen Kreis zur Selbstdarstellung pflegen. Besonders anstrengend sind Hitlers Fahrten<br />

nach München, weil er sich dort seinen alten Künstlergewohnheiten ausgiebig widmet. Hitlers<br />

Tischgespräche nahmen in der Regel abstruse Ausmaße an. In einem „Monolog“ beschäftigte<br />

sich Hitler mit dem Thema Germanen und Islam. Die Araber seien ja bis Tour und Poitier in<br />

Frankreich gekommen und dann erst von den Franken geschlagen worden. Aber die Araber<br />

hätten ruhig gewinnen können. Volkstumsmäßig seien sie auf Dauer den Franken unterlegen<br />

gewesen. Die Franken wären dann eben Mohammedaner geworden, eine Religion, die wegen<br />

ihres Kampfcharakters auch viel besser zu den Germanen gepasst hätte. Zum bohemehaften<br />

Stil Hitlers passt wenig, wie er mit Eva Braun umgeht. Speer, der Mitleid für sie aufbringt,<br />

schreibt dazu (S, 59): „Mich überraschte, dass Hitler alles vermied, was auf eine intime<br />

Freundschaft hinwies, um dann spät abends doch in die oberen Schlafräume zu gehen.“ Speer<br />

wundert sich über diese „unnütze verkrampfte Abstandshaltung“. Hanebüchen sind Hitlers<br />

Aussagen zu Ehe und Kindern. Speer gibt wieder: „Sehr intelligente Menschen sollen sich<br />

eine primitive und dumme Frau nehmen... Heiraten könnte ich nie. Wenn ich Kinder hätte,<br />

welche Probleme! Jemand wie ich hat keine Aussicht einen tüchtigen Sohn zu bekommen.<br />

Sehen Sie, Goethes Sohn, ein ganz unbrauchbarer Mensch... Viele Frauen hängen an mir, weil<br />

ich unverheiratet bin.“ (S.106) In diesem Stil kann Hitler stundenlang zur Qual seiner Zuhörer<br />

dahinreden. Es versteht sich von selbst, dass diese Art des Diktators sich stilbildend auf das<br />

Gehabe seiner Paladine auswirkt, besonders unangenehm im Bereich der Rhetorik, wenn sie<br />

sich derb in schreiender Weise produzieren wollen. Peinlich wird es‚ wenn die Paladine ihrem<br />

Meister nach dem Munde reden. sich dabei aber den Rang streitig machen. Hitler erzählte viel<br />

von seiner strengen Jugend. „Ich habe oft schwere Schläge von meinem Vater bekommen. Ich<br />

glaube aber auch, dass das notwendig war.“ Speer fährt fort: „Frick, Innenminister, rief<br />

dazwischen: Wie man sieht, ist Ihnen das, mein Führer, ja auch gut bekommen. Lähmendes<br />

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Entsetzen. Frick: Ich meine, deswegen, mein Führer, haben Sie es soweit gebracht. Goebbels<br />

kommentierte sarkastisch: Ich schätz, dass Sie, lieber Frick, in Ihrer Jugend keine Schläge<br />

bekommen haben.“ Der eifrigste und erfolgreichste Buhler um Hitlers Gunst war bekanntlich<br />

Bormann, der sich am Ende „Sekretär des Führers“ nennen durfte. Er verstand es, sich bei<br />

Hitler unverzichtbar zu machen, indem er alle kleineren Aufgaben‚ die Hitler lästig waren<br />

-und Hitler war sehr viel lästig- übernahm. Alle Anmeldungen und Vorlagen für Hitler liefen<br />

über den Sekretär -und in der Tat nicht nur Parteiangelegenheiten. Bormann kümmerte sich<br />

um alles. Er war die Spinne im Netz der ständigen Intrigen, die in wechselnden<br />

Konstellationen anstanden. Dazu gehörte es auch, dass er für alle möglichen Aktionen Hitlers,<br />

ob privat oder politisch, der zuverlässige Finanzbeschaffer war. Millionen hat er der Industrie<br />

abgepresst für einen „Adolf-Hitler-Fonds“. Zum Schmieden von Intrigen konnte natürlich<br />

Göring ein wichtiger Mann sein. Goebbels und Speer wollten ihn gegen den Einfluss von<br />

Bormann verwenden. Am längeren Hebel saß aber die Gestapo, die Näheres über den<br />

Morphinisten Göring wusste, ihn das ebenfalls wissen ließ. Außerdem hatte, wie aus einem<br />

Nürnberger Gerichtsdokument hervorgeht, Bormann den wegen seines luxuriösen<br />

Lebenswandels immer geldbedürftigen Göring ein Sechs-Millionen-Geschenk aus dem<br />

besagten Fonds gemacht. Damit war Göring als Mittel gegen Bormann entfallen. Ein<br />

besonders schlimmer Zug Hitlers und seiner Leute war die Wirklichkeitsverleugnung, die sich<br />

nach 1942 immer verhängnisvoller für Deutschland auswirkte. Hitler verbat sich etwa in den<br />

Lagebesprechungen der Wolfsschanze auf gröbste Weise entsprechende Hinweise zum<br />

Beispiel von Guderian oder Zeitzler. Halder, Generalstabschef des OKH, hatte er damit schon<br />

1942 zur Aufgabe getrieben. Ein besonderes Beispiel bietet Speer für den Wirklichkeitsverlust<br />

Görings. Es gab einen erregten Disput zwischen Göring und dem Jagdflieger Galland.<br />

Galland hatte berichtet, dass alliierte Jagdflieger in Begleitung ihrer Bomberflotten schon bis<br />

Aachen gekommen seien. Es sei zu vermuten, dass sie demnächst noch tiefer ins Reich<br />

eindringen könnten. Göring stritt einfach ab, das könne nicht wahr sein, es sei unmöglich. Das<br />

Gespräch wurde absurd und endete mit Görings Befehl: „Ich befehle Ihnen dienstlich, dass<br />

die amerikanischen Jäger nicht bis Aachen kamen.“ Görings Generalstabschef Jeschonnek<br />

hatte wegen ständiger Querelen Selbstmord begangen, auf seinem Tisch fand man den Zettel,<br />

Göring dürfe nicht an seiner Beerdigung teilnehmen. Ein Charakterzug maßloser<br />

Selbstüberschätzung zeigt sich in dem Bereich, für den Speer als Hitlers Architekt besonders<br />

zuständig war, im Bauwesen des Führers. Was <strong>hier</strong> schon zwischen 1935 und 1940 geplant<br />

wurde, sprengt alle Vorstellungen und Maßstäbe und zeigt einen Gigantomanen Hitler, der<br />

mit kindlichem Entzücken gewaltige Prachtbauten, Straßen und Plätze in Berlin, Nürnberg<br />

oder Linz vorsah, aber auch in München oder Hamburg und anderen Gau-Städten, wo die<br />

Gauleiter mitwirken durften. Als Fertigstellungsdatum taucht oft 1950 auf. Ein<br />

Gänsehautgefühl überkommt einen, wenn man sich das real vorstellt. Kernstück der<br />

Planungen ist die 7 km lange und 120 m breite Nord-Süd-Achse in Berlin. Kunstschreiner<br />

hatten schon riesige Modelle auf Geheiß von Speer in den Räumen der Berliner Akademie am<br />

Pariser Platz erstellt. Das Modell der Prachtstraße hatte ein Ausmaß von 30 m. Hitler kniete<br />

oft davor, um schon mal einen perspektivischen Eindruck davon zu haben. Besonders<br />

verrückt, dass Hitler angeblich schon eigene Planungsskizzen von 1926 besaß. Die<br />

Gesamtkosten sollten sich auf 4 bis 6 Milliarden Reichsmark belaufen, jedes Jahr sollten 500<br />

Millionen verbaut werden. Die Kosten sollten geheim bleiben und in viele Ministerien- und<br />

Behördenetats versteckt werden. (S.155) Im Mittelpunkt auf halber Distanz war ein<br />

Kuppelbau als größte Versammlungshalle der Welt vorgesehen. Er sollte Raum haben für 180<br />

tausend stehende Menschen! Vorbild war das Pantheon in Rom. Allein die Lichtöffnung in<br />

der Kuppel sollte 46 m im Durchmesser haben. Peterskirche in Rom oder Capitol in<br />

Washington wären viele Male in diesem Bau versunken. An der gesamten Prachtstraße sollten<br />

in Prachtbauten 25 Millionen cbm umbaut werden. Außerdem sollte die Große Straße auch<br />

ein bedrohliches martialisches Aussehen erhalten. Auf dringenden Wunsch Hitlers hatten<br />

19


unzählige Panzer und Geschütze auf Marmorsockeln die Straße zu zieren. Als der Kabarettist<br />

Werner Finck sich über diese Gigantomanie lustig machte, fand er sich im<br />

Konzentrationslager wieder. Hitler in Frage zu stellen war zu gefährlich. Fast nicht zu glauben<br />

ist die Tatsache, dass 1941, also schon zur Zeit der Kriegswirtschaft, Aufträge an<br />

norwegische, finnische, italienische, belgische, schwedische Firmen zur Lieferung von Granit<br />

im Umfang von 30 Milliarden RM ergingen und eine eigene Transportflotte dafür aufgestellt<br />

wurde. Hitlers Kommentar: „Ich werde noch während des Krieges mit dem Bauen beginnen,<br />

durch den Krieg lasse ich mich nicht abhalten.“ Noch ein anderes Beispiel für N.S.-<br />

Renommier-Sucht mit Kunst: Nach dem Beispiel seines Herrn und Meisters ging auch Göring<br />

auf Beute-Kunst aus. In Karinhall hingen wertvolle Gemälde in Viererreihen übereinander,<br />

selbst die Decke des Empfangsraums musste herhalten. „Überflüssige“ Bilder soll er an<br />

Gauleiter verkauft haben mit einem Göring-Zuschlag, versteht sich, weil sie schließlich aus<br />

dessen Sammlung stammten. Bezeichnend für die „kunstliebenden“ Gauleiter war es, dass sie<br />

in von Luftangriffen zerstörten Städten für den Wiederaufbau nach dem Motto vorgehen<br />

wollten: „Weg mit den Schlössern und Kirchen!“ Ein dunkles Kapitel der N.S.-Herrschaft ist<br />

ihre chaotische Befehlsstruktur, die nicht nur zu Hitlers Absicherung aus dessen „Genie“<br />

entsprungen ist, sondern teilweise ganz einfach das Ergebnis der Überforderung Hitlers und<br />

seiner Paladine war. Es ist der kühle Rechner Speer, der eine zentrale Planung vermisste und<br />

immer wieder mündlich und in Denkschriften einforderte. Grundlage des Anordnungswustes<br />

war die Rechts- und Gesetzesmisere des Dritten Reiches, die ihren Ursprung schon 1933 in<br />

der „Brandverordnung“ (Reichstagsbrand 27.2.) und dem „Ermächtigungsgesetz“ (23.3.)<br />

fand. Ersteres bedeutete die Aufhebung der Grundrechte, also des Rechtsstaates, letzteres<br />

bedeutete die Aufhebung der „Gewaltenteilung“, was heißt, dass Hitler die legislative und<br />

exekutive Gewalt in der Hand hatte, also seine Verordnungen dubiose Gesetzeskraft besaßen.<br />

Hitler war somit die Anordnungsquelle des Systems. Die Anordnungen konnten zu allen<br />

Zeiten in allen Situationen entstehen. Es war die Stunde des fast immer anwesenden<br />

Bormann, der mit Merkzetteln solche Vorgänge festhielt. (S. 109) Es kam zu der absurden<br />

Situation, dass alle, die etwas vom Führer wollten, sich eine Unterschrift Hitlers zur<br />

Bestätigung erbaten, die sie bekamen oder auch nicht. Im Jargon nannte man diese<br />

Anordnungen „Deckungsbefehle“. Sie waren gefürchtet, wenn sie sich als widersprüchlich<br />

herausstellten — und das kam oft vor. Zum Problem wurde diese Struktur auch, weil es im<br />

System keine scharfen Kompetenzabgrenzungen gab, was zu Überschneidungen führte. Speer<br />

schließt daraus eine negative Auslese, da Hitler in der Regel die „aufsässigen“ Mitarbeiter<br />

schnell austauschte durch willfährige. Mit solchen Überschneidungen und<br />

Kompetenzunschärfen standen seit Kriegsbeginn Staat, Partei, Militärführung,<br />

Rüstungsbewirtschaftung und SS nebeneinander. Es macht einen großen Teil des Buches von<br />

Speer aus, dieses Gerangel mit seinen Reibungsverlusten darzustellen. In nachvollziehbarer<br />

Weise -und <strong>hier</strong> sehe ich ein Verdienst des Buches- entlarvt Speer den Handlungsnimbus<br />

eines Diktators, der oft in seiner angeblichen Handlungsschnelligkeit und Effektivität gesehen<br />

wird. Speer kommt zu einem erstaunlichen Urteil (S. 229): „Es bleibt eine der verblüffenden<br />

Erfahrungen dieses Krieges, dass Hitler dem eigenen Volk jene Belastungen ersparen wollte,<br />

die Churchill oder Roosevelt ihren Völkern ohne Bedenken auferlegten. Die Diskrepanz<br />

zwischen der totalen Mobilisierung der Arbeitskräfte im demokratischen England und der<br />

lässigen Behandlung dieser Frage im autoritären Deutschland charakterisiert die Sorge des<br />

Regimes vor einem Wechsel der Volksgunst. Um jeder Unzufriedenheit (Hitlers Erfahrung<br />

von 1918) vorzubauen, wurde für die Konsumgüter-Versorgung, für Kriegsrenten oder für die<br />

Entschädigung der Frauen für den Verdienstausfall ihrer im Felde stehenden Männer mehr<br />

aufgewandt als in den demokratisch regierten Ländern.“ Es ist eine Absicht des<br />

Buchschreibers Speer, gerade die fehlende Effektivität in der Ausnutzung der Ressourcen und<br />

die Leichtfertigkeit der Parteileute wie auch ihre ideologische Verbohrtheit zu kritisieren. So<br />

stellt er z.B. bei Göring und vielen Reichs- und Gauleitern den nie erlahmenden Hang zum<br />

20


süßen Leben fest. Was ist die Konsequenz der Klagen, die Speer auch immer wieder Hitler<br />

vorträgt? Ausnutzung der Ressourcen heißt mehr Menschen, mehr Material für die<br />

Rüstungsindustrie. Und das bedeutet, dass noch mehr Zwangsarbeiter und Gefangene zum<br />

Arbeitseinsatz kommen müssen. Es ist dann Hitlers Idee, den Gauleiter von Thüringen,<br />

Sauckel, in dieser Sache zum „Generalbevollmächtigten“ zu ernennen. Damit beginnt<br />

natürlich das Dilemma des Rüstungsministers Speer, welches er im Nachhinein durchaus<br />

erkennt. Er kommentiert es so: „Damit begann ein verhängnisvoller Abschnitt meiner<br />

Tätigkeit. Denn ich drängte Sauckel in den nächsten zweieinhalb Jahren immerfort darauf,<br />

mir ausländische Arbeitskräfte zwangsweise in die Rüstungsproduktion zu senden (S. 233).<br />

Somit kann es zu folgender Anfrage Hitlers an Sauckel für das Jahr 1934 kommen: “Können<br />

Sie vier Millionen Arbeiter beschaffen, ja oder nein?“ Es versteht sich, dass <strong>hier</strong> die Anklage<br />

gegen Speer bei den Nürnberger Prozessen ansetzte. Besonders problematisch wurde nach<br />

1942 zunächst weniger die Rüstungsproduktion als vielmehr die Kriegsführung selbst. Dem<br />

selbsternannten Oberbefehlshaber Hitler unterliefen bei mangelhafter Führungsstruktur immer<br />

mehr strategische Fehler. Seine Durchhalte-Starre nahm ständig zu. Kritische Generäle, die<br />

nach 1942 überhaupt noch verfügbar waren, wie Guderian oder Zeitzler, drangen nicht mehr<br />

durch, mussten damit rechnen beschimpft zu werden. Die Lage im Führerhauptquartier muss<br />

albdruckartig gewesen sein, wie Speer als Zeuge schreibt. Der Verbunkerungstrend Hitlers ist<br />

wörtlich wie bildlich zu nehmen. Obwohl Speer die Mängel sah, wie eben auch die Offiziere<br />

des Widerstands, blieb ihm schon der Gedanke daran völlig fremd, zu anders war seine Kritik<br />

gelagert. Sie war eben funktional begründet und nicht ethisch. Die persönliche Bindung an<br />

Hitler fiel angeblich erst mit dessen Tod von ihm ab. Das Ende des Reiches zog sich dahin<br />

und gleicht bekanntlich einem Inferno. Momentaufnahmen werden bei Speer sichtbar:<br />

1) Im Januar 1945. Kaltenbrunner (Reichssicherheitshauptamt) taucht bei den Lagebesprechungen<br />

im Hauptquartier auf.<br />

2) Hitler befiehlt (18.3.45) die Hinrichtung von vier Offizieren, die dafür verant-wortlich sein<br />

sollen, dass die Rheinbrücke bei Remagen nicht gesprengt wurde.<br />

3) Ruhrgebietsgauleiter (März 45) Florian, Hoffmann, Schlesmann sitzen mit Speer in<br />

Rummenohl (bei Hagen) wegen Hitlers Erlass zusammen, dass alle Gebiete, die nicht zu<br />

halten seien, geräumt werden müssten und zur Zerstörung ihrer Grundlagen anstünden. Speer<br />

hält sich zugute, etwas gegen die Zerstörungsbefehle getan zu haben.<br />

4) Ende April 1945 Originalton Himmler: „Göring wird ja nun sein (Hitlers) Nachfolger. Ich<br />

habe vereinbart, dass ich sein Ministerpräsident werde. . .Ohne mich kommt auch Europa in<br />

Zukunft nicht aus. Es braucht mich als Polizeiminister. Eine Stunde mit Eisenhower, und er<br />

wird gleicher Überzeugung sein!“ Himmler bezog sich auf ein angebliches Gespräch mit Graf<br />

Bernadotte, wonach er dem Internationalen Roten Kreuz die Konzentrationslager übergeben<br />

habe.<br />

5) Anfang Mai 1945. In der Marineschule Mürvik (bei Flensburg) sitzt eine Regierung Dönitz<br />

und räsoniert über ein Kirchenministerium, welches man Niemöller anbieten möchte!! Sie<br />

saßen dort und die Weltgeschichte ging woanders weiter.<br />

Zu Speer muss noch Folgendes gesagt werden. Die Sache eines solchen Mannes, sich zu<br />

erklären, war dringlich. Er tat es auch. Letztlich muss aber vieles offen bleiben, obwohl er<br />

keinen Zweifel daran lässt, einer pervertierten Welt angehört zu haben, was er auch bedauert.<br />

Es bleibt sein Geheimnis, warum er zum Fortbestehen des Regimes noch entscheidend<br />

beigetragen und unermessliches Leid über Zwangsarbeiter gebracht hat, die er eben nicht den<br />

Fängen der SS entziehen konnte. Es mag seine technische Intelligenz gewesen sein, die ihn<br />

verführte. „Es berauschte mich, reine Macht auszuüben, Menschen einzusetzen, über wichtige<br />

Fragen zu entscheiden, über Milliarden zu verfügen.“ (S.353) Eine gewisse moralische<br />

Kompensation mag er sich in seiner Empörung darüber geholt haben,(Zitat)“dass die N.S.-<br />

Führungsschicht keineswegs bereit war, sich selbst die Entbehrungen ‚ die sie dem Volk<br />

zumutete, abzuverlangen,... ihren banalen Intrigen nachging und damit ihre moralische<br />

21


Verwerflichkeit aufdeckte.“ (S.356) Natürlich versäumt Speer es nicht, darauf hinzu-weisen,<br />

wie sehr er sich in das konservative Gedankengut um 1930 eingebunden sah. Er schreibt dazu:<br />

„Hitlers Partei wandte sich gerade an den Idealismus dieser aufgeregten Generation.“ Er fährt<br />

fort, indem er seinen Architektur-professor zitiert: „Es wird wohl einer kommen müssen, der<br />

ganz einfach denkt. Das Denken heute ist zu kompliziert geworden. Ein ungebildeter Mann,<br />

gewissermaßen ein Bauer, würde alles viel leichter lösen, weil er eben noch viel<br />

unverdorbener ist. Der hätte auch die Kraft, seine einfachen Gedanke zu verwirklichen.“ Dazu<br />

dann Speer: „Uns schien diese hintergründig wirkende Bemerkung auf Hitler anwendbar zu<br />

sein.“ Es kam natürlich hinzu, dass Hitlers Partei dem jungen Architekten Speer den ersten<br />

Bauauftrag verschaffte (Parteigebäude in Berlin).<br />

Es gibt eine verblüffende Duplizität der Ereignisse, die erwähnenswert ist. Es gehörte zur<br />

banalen Identität Hitlers, dass er sich gerne in der Öffentlichkeit martialisch mit<br />

Hundepeitsche zeigte. Gerade das war ja für die bürgerliche Denkungsart der Familie<br />

Bonhoeffer besonders abstoßend, wie wir am Anfang bemerkten. Genau dieses Bild vom<br />

Peitsche schwingenden Hitler zeichnet auch Speer in seinem Buch und sagt, dass es ihn<br />

zunächst sehr irritiert habe. Es ist nur seine Fatalität, dass diese Irritation nicht die dauerhafte<br />

Abscheu erwecken konnte, wie sie das bei anderen tat. Alles in allem müssen wir feststellen,<br />

dass ein unmenschliches System mit eben solchen zweifelhaften Gestalten einen alten<br />

Kulturstaat zugrunde richtete, politische Verhältnisse in Europa umstürzte. Umso tragischer<br />

ist es, dass auch der Widerstand aus der Mitte der politisch und militärisch Verantwortlichen<br />

erfolglos war. Sie waren in der Lage den unheilvollen Machtapparat zu durchschauen, um<br />

einen Putschversuch zu wagen, vor allem waren sie es, die nachher eine in Unordnung<br />

geratene Lage vielleicht hätten organisieren und stabilisieren können. Nach dem 20. Juli 1944<br />

waren es Hunderte von Offizieren, Politikern und Diplomaten, die noch hingerichtet wurden,<br />

als alliierte Truppen schon wenige Kilometer vor den Gefängnissen standen. Dieser<br />

effektivste Widerstand hatte sich in fluktuierenden Konstellationen seit 1937/38 in den<br />

staatlichen Institutionen entwickelt. Seine Führungspersonen, die nach einem Putsch die<br />

Regierung übernehmen sollten, blieben bis zum Schluss Generaloberst Ludwig Beck, der<br />

ehemalige Oberbürgermeister von Leipzig Carl Gördeler und der ehemalige Botschafter<br />

Ulrich von Hassell.<br />

Besondere Schlupfwinkel der Widerständler waren geeignete Organisationen<br />

unterschiedlicher Art, vornehmlich zwei: Die Spionage-Abwehr im OKW unter Admiral<br />

Canaris und die Führung des Ersatzheeres mit dessen Stabschef Oberst Stauffenberg, der den<br />

dortigen Operationsplan „Walküre“ benutzen wollte. Stauffenberg gehörte seinerseits zum<br />

Kreisauer Kreis des Grafen Moltke. Gerade auf dem Hintergrund der vergeblichen<br />

Bemühungen sollte man um des zu bewahrenden Gedächtnisses willen der knappen<br />

Handlungsmöglichkeiten zu vier Zeitpunkten gedenken:<br />

1938 auf dem Hintergrund der Sudeten-Krise, die aber dann durch Vermittlung zum Ärger<br />

von Hitler politisch gelöst werden konnte. Der Zeitpunkt wäre günstig gewesen, weil England<br />

noch gesprächsbereit war.<br />

Das Jahr 1940 vor der Westoffensive konnte nicht genutzt werden durch Zögern von<br />

Brauchitsch.<br />

Aktionen aus der Abwehr in Verbindung mit der Heeresgruppe Mitte im Osten. (Dohnanyi,<br />

Treskow, Schlabrendorf). Schon später Zeitpunkt Frühjahr 1943 (nach der Erklärung der<br />

bedingungslosen Kapitulation und nach Stalingrad).<br />

Der sehr späte Zeitpunkt 20. Juli 1944 (nach der alliierten Landung in der Normandie), Dies<br />

war schon der Zeitpunkt, als Stauffenberg demonstrativ die Scham, nichts gegen Hitler<br />

unternommen zu haben‚ überwinden wollte.<br />

Auch der 20. Juli erfährt volle Rechtfertigung in der erschütternden Tatsache, dass es nach<br />

diesem Datum noch einmal so viele Kriegstote wie im Verlauf vor dem 20. Juli 1944 gab.<br />

22


Man möchte vor allem junge Leute aufmerksam machen und ihnen empfehlen, in diesen ums<br />

Ganze gehenden Versuchen und in dem sehr geglückten Versuch von 1949 (!)‚ einen<br />

freiheitlich demokratischen Staat, eben den Staat Bundesrepublik Deutschland zu gründen,<br />

eine Einladung zu sehen, sich mit diesen positiven Vorgängen zu identifizieren, um der<br />

Existenz unseres Staates einen festen Grund zu geben.<br />

23


1813 und 1944 Widerstände gegen Untergänge – Entfaltung <strong>deutscher</strong> Politik<br />

in der Mitte Europas<br />

„In der Gegnerschaft zwischen Metternich und dem Freiherrn vom Stein hat die Antithese<br />

des nationalen und des europäischen Gedanken einen historisch denkwürdigen<br />

Ausdruck gefunden. Stein wollte die Beseitigung der napoleonischen Weltmacht, weil<br />

er die Freiheit der Nationen wollte, Metternich erkannte, dass die nationale Bewegung,<br />

weil sie über die alten Staaten hinwegstrebte, eine Epoche blutiger Kriege und eine<br />

Desorganisierung Europas heraufführen musste.“ (Franz Schnabel: Deutsche <strong>Geschichte</strong><br />

im 19. Jahrhundert, 3. Auflage 1947)<br />

Jahrestage sind häufig Geburts- oder Todestage erinnerungstauglicher Männer und<br />

Frauen. Im letzten Jahr wurde wegen seines 250. Geburtstages, geboren 1757, der<br />

Freiherr vom Stein gefeiert .Hält man sich seine geschichtliche Bedeutung für<br />

Deutschland vor Augen, war das Gedenken bescheiden. Er soll uns die Tür aufschließen<br />

und zu einem Wesenszug <strong>deutscher</strong> <strong>Geschichte</strong> in einem europäischen Umfeld<br />

führen. Der Freiherr vom Stein lebte und wirkte in einer Zeit, als sich Europa in einem<br />

besonderen Erregungszustand befand. Die Französische Revolution hatte die Gemüter<br />

erhitzt, Napoleon anschließend Europa mit seinem 15 jährigen Eroberungskrieg überzogen.<br />

Deutschland war in die Auseinandersetzungen hinein-gestolpert und suchte am<br />

Ende vergeblich eine neue Rolle im Konzert der 1815 etablierten europäischen „Pentarchie“<br />

von England, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland. Deutschland<br />

blieb eine kulturelle Fiktion, wie es sich im 18. Jahrhundert darbot, politisch war es ja<br />

nur das als „Monstrum“ apostrop<strong>hier</strong>te alte deutsche „Reich“ mit seinen 250 Territorien<br />

und dem machtlosen Kaiser an der Spitze. Auch der Wiener Kongress 1815 schaffte<br />

da keine Änderung, wenn er als Nachfolger des Reiches den lockeren Staatenbund des<br />

Deutschen Bundes mit Sitz in Frankfurt schuf.<br />

Es gibt nun in Steins Leben ein brennpunktartiges Datum, den November 1808, ein<br />

folgenreiches Datum. Ist doch damit die erst eineinhalb jährige Karriere des preußischen<br />

Chef-Ministers vom Stein beendet, weil er vor Napoleons Häschern .fliehen<br />

musste. Worin besteht dann seine Leistung? Woher kommt seine Popularität, dass er<br />

fünf Jahre später der heimliche König von Deutschland genannt wird? Stein ist der<br />

rastlose Impulsgeber von Tendenzen, die in der Zeit halb verordnet halb „nachgefragt“<br />

werden und seinem Werdegang und seiner Mentalität entsprechen. Die bittere preußische<br />

Niederlage von Jena und Auerstedt 1806 erweist die ganze Schwäche des<br />

spätabsolutistischen Staates Preußen. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. beruft<br />

Stein und mit ihm kommen die „Reformer „ zum Zuge, die wie er längst den leidenden<br />

Zustand des Staates erkannt hatten. Das Belebungsmittel soll die Beteiligung<br />

der Bürger sein. Man „reformiert “von oben“ und kommt damit den Bestrebungen des<br />

Bürgertums nach Teilnahme und Selbständigkeit (Freiheit) entgegen. Ständische Beschränkungen<br />

fallen. Im Widerstand gegen Napoleon entwickelt sich der nationale Gedanke.<br />

Die liberale Doppelforderung von Freiheit und nationaler Einheit kommt auf<br />

den Weg. .Die historischen Ereignisse verdichten sich und reichern eine explosive<br />

Spannung im Jahre 1813 an, als der „Freiheitskrieg“ gegen Napoleon endlich anläuft<br />

und mit der Völkerschlacht bei Leipzig zunächst siegreich beendet wird. Es ist ein<br />

24


Phänomen eigener Art, welch ein zeitgenössischer Glanz diese Vorgänge umgibt. Es<br />

handelt sich nicht mehr um einen Kabinettskrieg zur Durchsetzung politische Ziele. Es<br />

ist der Verteidigungskrieg eines „Volkes“, das nach dem Motto handelt: „Tua res agitur.“<br />

(Deine Sache wird verhandelt.) Der Frust von Jahrhunderten eines Deutschlands,<br />

welches zum Spielball seiner Nachbarn geworden war, scheint sich <strong>hier</strong> auszudrücken.<br />

Die Entdeckung, ein Volk zu sein, war noch sehr frisch. Dazu beigetragen hatten u.a.<br />

Herders Ideen und ganz einfach die Botschaft der Französischen Revolution, die dem<br />

Bürgertum ja auch die „soziologische“ Erkenntnis des Dritten Standes und seiner Identität<br />

der Nation gebracht hatte. Aufklärung und Klassik trugen dazu bei, den sittlichen<br />

„inneren Adel“ zu proklamieren, unabhängig vom „Geburtsadel“, im Übrigen eine<br />

Kategorie des Menschen als weltbürgerliches Gattungswesen, unabhängig von nationaler<br />

Spezialität. Weltbürgerlich und national schließen sich um 1800 noch nicht aus.<br />

Es ist zunächst nicht verwunderlich, dass die Bezeichnungen in der eigentümlichen<br />

Lage Deutschlands vornehmlich kulturell und nicht politisch gemeint sind. Hierfür<br />

steht kein Geringerer als Friedrich Schiller. Der Zeitgeist der Romantik, einsetzend<br />

kurz vor 1800, steuert noch eine ganz besondere Würze zu dem Gemisch bei. Nicht die<br />

rationale Erkenntnis, sondern das gefühlte und begeisternde Erleben ist die wahre Orientierung<br />

des Menschen. Er lebt nicht in einer zufälligen zahlenmäßigen Menge, sondern<br />

in einer durch <strong>Geschichte</strong> und Abstam-mung gekennzeichneten Gemeinschaft,<br />

der er sich nun nicht nur kulturell verpflichtet fühlt, sondern auch zur tatkräftigen Hilfe<br />

in bedrohlichen Zeiten. Es erklärt sich der heroische Drang, der Akademiker und Studenten<br />

1813 zu den Waffen des „Freiheitskrieges“ zieht.<br />

In dieser ersten nationalen Aufregung und in der „Erniedrigung“ durch Napoleon sehen<br />

wir nun den Freiherrn vom Stein in voller Wirkung. Ihm, Arndt, Görres, Scharnhorst<br />

und Gneisenau gelingt es nun, die Bereitschaft des zögerlichen preußischen Königs,<br />

des russischen Zaren und von Metternichs Österreich herbeizuführen, die Waffen<br />

gegen Napoleon zu erheben. Stein ist mittlerweile der wichtige Berater des Zaren<br />

Alexander. Es zeigt sich allerdings schon früh, dass seine hochpopuläre Stellung durch<br />

die politischen Gegebenheiten untergraben wird. Der Freiherr vom Stein kommt bei<br />

der Besiegung Napoleons und den Verhandlungen des Wiener Kongresses nicht aus<br />

der Rolle des Beraters in Diensten der auswärtigen Macht Russland heraus. Der ehemals<br />

hohe Beamte und Minister in Preußen kann dort kein Amt mehr erlangen. Sein<br />

Nachfolger Staatskanzler Hardenberg zieht die Fäden, da ist für den energischen Visionär<br />

zukünftiger <strong>deutscher</strong> Verhältnisse kein Platz mehr. Aber gerade die deutschen<br />

Verhältnisse sind das Problem. Sie sind dermaßen, dass die Reformer es aufgrund<br />

machtstaatlicher Gegebenheiten nicht lösen können. Ihre Forderungen nach nationaler<br />

Repräsentativverfassung prallen am von Metternich initiierten System der „Restauration“<br />

und des europäischen Gleichgewichts der fünf Mächte ab. Unter diesen sind eben<br />

nach wie vor Österreich und Preußen und nicht eine politische Großmacht wie<br />

„Deutschland“. Für dieses bleibt nur der oben schon angesprochene lockere Deutsche<br />

Bund als Nachfolgeorganisation des „Reiches“. Der gordische Knoten alter <strong>deutscher</strong><br />

Verstrickungen wird erst ein halbes Jahrhundert später mit den ganz anderen Mitteln<br />

des Realpolitikers Bismarck durchschlagen. Stein bastelt in Denkschriften an den Wiener<br />

Kongress an nationalen Lösungen, ohne eine reale Kraft im Rücken zu haben. Hardenberg<br />

und das „restaurative“ Preußen stehen ihm nicht mehr zur Verfügung. Damit<br />

sind wir unversehens auf die Gegenseite der Medaille gestoßen, der Glanz des „Zeital-<br />

25


ters der Erhebung“ hat sich in sein Elend gewandelt, Der Freiherr vom Stein, der als<br />

ehemaliger Reichsritter den alten Reichspatriotismus weiterentwickeln konnte zur Idee<br />

der moderneren Form der Nationalstaatlichkeit und der damals noch gemäßigten Partizipation<br />

der Bürger, gebunden an Besitz und Bildung, zog sich resigniert ins westfälische<br />

Cappenberg im Norden Dortmunds zurück. Immerhin war er noch bis zu seinem<br />

Tod (1831) Präsident der westfälischen Provinzialstände in Münster, parallel zur Verwaltung<br />

seines „Schülers“ Ludwig von Vincke, der Oberpräsident der Provinz war.<br />

Das harte Faktum steht, dass die nationalen Träume, die im Widerstand gegen Napoleon<br />

und in dessen Besiegung entstanden waren, wie Seifenblasen zerplatzten und sich<br />

stießen an der Wirklichkeit des „Vormärz“, die durch die so genannte Demagogenverfolgung<br />

des Deutschen Bundes 1819 gekennzeichnet war. Beides, Sieg über Napoleon<br />

und Niederlage des nationalen Gedanken, führte bereits zu ersten pathologischen<br />

Erscheinungen eines grenzenlosen Hasses gegenüber Napoleon und Frankreich, gegen<br />

Dänen und Polen an den umstrittenen Grenzen. Hierzu gehören auch das Attentat des<br />

fanatischen Studenten Sand an dem Dichter Kotzebue und die Tiraden des „Turnvaters“<br />

Jahn, der ja auch Mitbegründer der „Burschenschaften“ war. Dabei war doch die<br />

nationale Idee zuerst gekoppelt an die weltbürgerliche sittliche Emanzipation des Menschen.<br />

Bekanntlich liefen die Ereignisse des Vormärz auf den März des Jahres 1848 zu, als<br />

es, ausgehend von Paris, revolutionäre Erhebungen im deutschen Südwesten und in<br />

den Metropolen Wien und Berlin gab, die dann zu einer ersten parlamentarischen Repräsentation<br />

in der Frankfurter Paulskirche führten. Die dort anwesenden Vertreter<br />

aus dem ganzen Gebiet des Deutschen Bundes mussten eine für sie bittere Überraschung<br />

erleben, als ihnen klar wurde, dass sie gar nicht eine einzige liberale „Partei“<br />

waren, sondern sich mindestens fünf liberale Schattierungen herausstellten, die sich in<br />

fünf Fraktionen des Parlaments etablierten. Da sie noch gar keine Namen hatten, nannten<br />

sie sich nach ihren Versammlungsorten, Cafes und Gaststätten Frankfurts. In der<br />

Paulskirche bildete sich auch die Sitzordnung von links nach rechts, von radikal zu gemäßigt<br />

liberal. Ganz links gab es die gewissermaßen „jakobinische“ Position: Strikt<br />

national und parlamentarisch, die Regierung sollte dem Parlament verantwortlich sein,<br />

republikanisch (kein Monarch) mit zentralistischem Staatsaufbau. Die rechte Position<br />

war: National und gemäßigt parlamentarisch, Regierung blieb dem Monarchen verantwortlich,<br />

föderativer Staatsaufbau. Interessanterweise hielt sich dieses liberale Muster<br />

in einer Zweier-Formation von „Fortschrittspartei“ und „nationalliberaler Partei“ im<br />

späteren Bismarck-Reich und darüber hinaus. Der Richtungsstreit entzündete sich an<br />

der Frage der Gewichtung: Zuerst Freiheit (Parlamentarismus) und dann nationale Einheit<br />

oder umgekehrt. Dass von daher die Linksliberalen immer ein sehr gespanntes<br />

Verhältnis zum Reichskanzler Bismarck hatten, versteht sich von selbst.<br />

Nun sind wir schon weit in die Problematik des Liberalismus vorgedrungen, der ja die<br />

Anschauung des wachsenden Bürgertums war. Dieser Liberalismus erfährt nach der<br />

Metternichschen Demagogenverfolgung im Vormärz eine zweite Niederlage, indem<br />

die Paulskirchenversammlung an den deutschen Verwicklungen scheitert. Lässt sich<br />

die Struktur des alten „Reiches“ bzw. die des Deutschen Bundes von 1815, lässt sich<br />

der Dualismus von Preußen und Österreich auflösen? Wer soll den neuen Staat reprä-<br />

26


sentieren, ein Staatspräsident oder welcher Monarch? Mit Mühe kommt man auf die<br />

kleindeutsche Lösung (also ohne Österreich). Die Frage der Staatsrepräsentanz kann<br />

nicht beantwortet werden, da der preußische König die dargebotene neue Krone mit<br />

beleidigenden Worten ablehnt. Eine Verschärfung bzw. Resignation liberaler Positionen<br />

kann nicht ausbleiben.<br />

Die „deutsche Frage“ bleibt auf der Tagesordnung und wird so gelöst, dass die deutschen<br />

Verwicklungen mit dem damals noch akzeptierten Mittel des regional begrenzten<br />

Krieges überwunden werden nach dem bekannten Satz eines der preußischen Reformer<br />

von 1813, Clausewitz: Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen<br />

Mitteln. Über den dänischen (1864), den österreichischen (1866) und den französischen<br />

Krieg (1870/71) stellt Bismarck den kleindeutschen Nationalstaat her, das neue<br />

„Reich“ von 1871. Bismarck ist klug genug, dem Reich eine gemäßigt liberale (konstitutionelle)<br />

Verfassung zu geben, z.B. mit einem Wahlrecht, das allgemein und gleich<br />

ist (noch ohne das Frauenwahlrecht) und damit das fortschrittlichste in Europa. Die<br />

durchaus kalkulierte Folge der Reichseinheit ist die Versöhnung Bismarcks mit den<br />

rechten Liberalen, die sich nun Nationalliberale nennen. Im Nachhinein betrachtet enthält<br />

diese Reichsgründung eine fast tragisch zu nennende Hypothek. Sie ist mit ausgesprochen<br />

machtstaatlichen, vielleicht sogar machiavellistischen Mitteln zustande gekommen,<br />

mit denen Bismarck im Sinne Preußens die aussichtslos verwickelten Zustände<br />

in Deutschland überwand. Er war sich des Gewaltaktes sehr wohl bewusst, weshalb<br />

er alles tat, um dem neuen, mächtigen Staat in der Mitte Europas einen defensiven<br />

und konstruktiven Charakter zu geben. Dass er den Berliner Kongress 1878 als „Makler“<br />

in schwierigen Fragen des östlichen Mittelmeerraumes leiten konnte, zeigt sein erfolgreiches<br />

Bemühen. Nach innen wirkte die Reichsgründung durchaus als Verführung<br />

der öffentlichen Meinung, in machtstaatlichen nationalen Kategorien zu denken. Dieses<br />

Denken ist allerdings ganz und gar nicht auf Deutschland beschränkt. Grundlage<br />

dieses europäischen „Materialismus“ ist der Bedeutungszuwachs der Naturwissenschaften<br />

und Technik, der Industrialisierung mit dem Bevölkerungswachstum und der<br />

„sozialen Frage“. Es entstehen neue Bevölkerungsschichten mit ihren neuen sozialen<br />

Existenzen und Bedürfnissen wie Unternehmer, Arbeiter, Angestellte. Das öffentliche<br />

Klima wird rau. Die Interessenverbände betreten die Walstatt. Ein besonderer Unterschied<br />

wird zwischen den nationalen (Bürgertum) und den sozialen Kräften (Arbeiter)<br />

sichtbar, der sich zum „Klassenkampf“ auswächst.<br />

Der Zeitgeist der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der Sozialdarwinismus, der den<br />

Darwinschen struggle for life auf die menschlichen Verhältnisse überträgt. Er bringt<br />

den Rassismus und Antisemitismus mit sich, seine Prediger sind Gobineau und Chamberlain<br />

(Schwiegersohn von Richard Wagner), interessanterweise keine Deutschen.<br />

Auch sozial denkende konservative Kreise, wie zum Beispiel der christlich soziale<br />

Verein des Berliner Hofpredigers Stöcker, vertreten strammen Antisemitismus. Stöcker<br />

will das Nationale mit dem Sozialen verbinden, was nach ihm auch die linksliberale<br />

Gruppe, der national soziale Verein Friedrich Naumanns will. In dieselbe Richtung<br />

zielt schon recht radikal die Angestelltenvertretung, der deutschnationale Handlungsgehilfenverband.<br />

Auch in der Studentenschaft rührt sich in den achtziger Jahren<br />

der Verein Deutscher Studenten (VDSt) in ähnlicher Ausrichtung. Der Versuch, das<br />

Nationale mit dem Sozialen zu verbinden, scheint zukunftsträchtig zu sein. Die ganze<br />

Wucht des europäischen Nationalismus äußert sich um die Jahrhundertwende im Im-<br />

27


perialismus und Kolonialismus der europäischen Großmächte., wobei im Vergleich<br />

das deutsche Reich ein ausgesprochener „Spätkommer“ ist. Bismarck ist kaum dafür<br />

zu haben, mag sich aber auch nicht dagegen wehren, später immer populärer werdend,<br />

sich den „eisernen Kanzler“ nennen zu lassen. Erst die „wilhelminische Zeit“ mit ihrer<br />

unsäglichen Großmannsucht des Kaisers zeitigt den vollen Imperialismus, der dann<br />

bekanntlich zur deutschen Isolierung vor dem 1. Weltkrieg führt. Unrühmlichstes und<br />

leider auch dümmstes Beispiel war der Alldeutsche Verband, der die offizielle deutsche<br />

Außenpolitik, die ja den „Platz an der Sonne“ gar nicht für sich allein beanspruchte,<br />

sondern ihn mit den anderen Großmächten teilen wollte, weit übertraf.<br />

Spätestens an dieser Stelle müssen wir darauf zurückkommen, was wir mit unserem<br />

Gang durch das 19. Jahrhundert bezweckten. Innere und äußere Komplikationen sollten<br />

sichtbar werden, die diese <strong>Geschichte</strong> schwierig machten. Wir hatten erkannt, dass<br />

die Mitte des Jahrhunderts eine Cäsur aufzeigt für das, was wir die „nationale Frage“<br />

nennen, Sie war entstanden aus den aufklärerischen und romantischen Gedanken im<br />

Zusammenhang mit dem „Freiheitskrieg“ gegen Napoleon, Sie hatte schon nach 1815<br />

ihre erste Enttäuschung erfahren, ergänzt durch die große Enttäuschung von 1848/49.<br />

Die 2. Hälfte des Jahrhunderts steht dann im Zeichen Bismarckscher Macht- bzw. Realpolitik.<br />

Durch Klassenkampf, Materialismus und Imperialismus werden die Auseinandersetzungen<br />

rauer. Hinzu kommt der Zeitgeist des Sozialdarwinismus, der die nationale<br />

Frage gewissermaßen biologisch sieht und ihr ein gut Stück der Sittlichkeit<br />

entzieht. Erster Weltkrieg und Versailler Vertrag machen die Lage für Deutschland nur<br />

schwieriger. Der nationale Gedanke hat seine Unschuld verloren. Intolerante, vermeintlich<br />

existenzielle Bedürfnisse haben ihn längst in Nationalismus umgewandelt.<br />

Das englische right or wrong my country war zum allgemeinen Gesetz geworden.<br />

Durch die Weimarer Republik zieht sich ein Faden der Ratlosigkeit, die treffend zum<br />

Ausdruck kommt, wenn der Historiker Friedrich Meinecke von sich sagt, er sei in der<br />

Weimarer Republik „Vernunftrepublikaner“, aber „Herzensmonarchist“ gewesen. Der<br />

laute Nationalismus der wilhelminischen Zeit schweigt, aber der schleichende Nationalismus<br />

entzieht der Republik die Grundlage, macht sie am Ende regierungsunfähig.<br />

Zwei Nationalismen spielen sich in die Hände, wobei der zweite es ganz bewusst und<br />

konsequent tut. Dieser zweite Nationalismus ist die „völkische“ Dummheit, die den<br />

Nationalsozialismus prägt. Er greift den Rassismus und Antisemitismus der Alldeutschen<br />

auf. Ihr Anführer steuert das schauspielerische Charisma bei. Es kommt die<br />

schlaue Idee hinzu, die großen Tendenzen der Zeit, das Nationale und das Soziale, ein<br />

für alle mal miteinander zu verbinden. Der Boden dazu ist von dem anderen Nationalismus<br />

mitbereitet worden, dem Rechtsintellektualismus des frühen 20. Jahrhunderts,<br />

für den der Begriff „konservative Revolution“ bereitstand. Er wurde begleitet von der<br />

bündischen Jugendbewegung, die in besonderer Weise auch eine Reaktion auf die zunehmende<br />

Großstadtentwicklung war. Diese ganze Bewegung war heroisch und elitär<br />

und wies viele Spielarten auf. Man verachtete den Liberalismus, der das materialistische<br />

Massenzeitalter mit seiner kulturlosen Zivilisation herbeigeführt habe. .Individualismus<br />

sei durch Gleichmacherei ersetzt worden. Die Wiederbelebung von Volk und<br />

Herrschaft sei nur durch einen charismatischen Führer zu leisten. Diese Haltung ist<br />

28


nicht nur philosophisch, sondern auch literarisch-künstlerisch belegt. Ihre Vorgänger<br />

hat sie schon im 19. Jahrhundert. Prägende Kräfte umfassendster Art sind <strong>hier</strong> Schopenhauer<br />

und Nietzsche. Schopenhauer bekommt mit seinem Heroismus, sich indigniert<br />

gegen jede triebhafte und naturgesetzte Abhängigkeit zu wehren, eine Idolwirkung.<br />

Nietzsches Wirkung ist noch größer, jedenfalls unheilvoller, weil seine Fiktion<br />

des amoralischen und antireligiösen „Übermenschen“ auch real und politisch aufgefasst<br />

wurde. Seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche tat nach dem Tode ihres<br />

Bruders alles, um dieses Missverständnis zu fördern. Spötter nannten sie Frau Oberförster<br />

Nietzsche.<br />

Es gilt nun festzuhalten, dass rechte Intellektuelle mehr oder weniger Hitlers Machtergreifung<br />

begrüßten und jenem Missverständnis aufsaßen, als könne Hitler am Ende der<br />

Weimarer Republik der erwartete charismatische Führer eines glänzenden Reiches<br />

sein, welches eben nicht mehr parlamentarisch westlich, sondern alternativ in irgendeiner<br />

„ständischen“ Verfassung regiert werden würde. Natürlich spielen für diese Menschen<br />

auch das „Kriegserlebnis“ bzw. der verlorene 1.Weltkrieg eine entscheidende<br />

Rolle. Für sie können Namen stehen wie Ernst Jünger, Carl Schmitt, Gottfried Benn<br />

oder Martin Heidegger, allen gemeinsam ist, dass sie sich in den nächsten Jahren nach<br />

der Machtergreifung Hitlers enttäuscht von den Nazis zurückziehen. Ihr antidemokratisches<br />

Denken hatte es auch an sich, dass sie der westeuropäischen Kultur- und Politiktradition<br />

skeptisch, ja feindlich gegenüberstanden. Niemand anderes als der „frühe“<br />

Thomas Mann hat das in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ am Ende des<br />

1.Weltkriegs bejahend zum Ausdruck gebracht. Die deutschen „Ideen von 1914“ wurden<br />

gegen die französischen „Ideen von1789“ gesetzt, was bedeutete: Charismatische<br />

Führerschaft, organische Volksgemeinschaft gegen mechanisch organisierte Volksmenge,<br />

Inhalt gegen Form, Kultur gegen Zivilisation und politischen Betrieb. Auch<br />

<strong>hier</strong> spielte die konservative Revolution den Nazis in die Hände, wenn auch ihr elitärer<br />

Charakter und ihre Bildung dauerhaft die Komplizenschaft mit den „primitiven“ Nazis,<br />

die mehr und mehr ihre kriminelle Energie zeigten, nicht aushielt.<br />

Der Abschluss dieser deutschen Entwicklung , die am Ende in einen Widerstand mündet,<br />

wollen wir beispielhaft aufzeigen. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik. Wir<br />

schließen damit auch den Kreis, indem wir wieder zurückkommen an den Ausgang,<br />

dem dort abgehandelten „Zeitalter der deutschen Erhebung“. Wir konzedierten ihm<br />

Glanz und Elend. Der Glanz ist einer Erinnerung natürlich gemäßer, lädt auch dazu<br />

ein, in Wehmut die Wahrheit verschwimmen zu lassen. Besonders heroische Geister<br />

der Rechtsintellektuellen bezogen ihre Tradition aus den „Helden“ des Widerstandes<br />

gegen Napoleon, den Stein, Scharnhorst und Gneisenau, aber auch aus den Dichtern<br />

des so empfundenen Niedergangs des deutschen Reiches, den Hölderlin und Kleist, die<br />

das Leiden daran existenziell mit Verstummen oder Freitod bezahlten. Man sah sich in<br />

ähnlicher Situation wie damals. Die politische Abhängigkeit von Frankreich nach den<br />

1.Weltkries war erheblich. Diese Tradition findet sich bei Stefan George und seinem<br />

Kreis in ganz besonderer Weise. Der Kreis pflegt eine elitäre Denk- und Dichtungsweise<br />

in hermetischer Abgeschlossenheit. George ist der charismatische Mentor<br />

(„Meister“). Die Männer handhabten den Kreis wie einen geheimen Orden mit dem<br />

Wissen um ein wahres Deutschland, was ihr „geheimes“ Deutschland war. Es war<br />

nicht das reale Deutschland, welches der schäbigen Wirklichkeit angehörte. Zu dem<br />

29


Kreis gehörte als tragendes Glied auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg mit seinen<br />

Brüdern Berthold und Alexander. Für den Offizier Stauffenberg ist die glänzende Erscheinung<br />

des gebildeten „Reformers“, des Generals Gneisenau die Leitfigur. Gneisenau<br />

war als Nachfolger Scharnhorsts Stabschef bei Blücher. Er gilt sogar als Vorfahre<br />

der Stauffenberg-Brüder. Es ist bezeichnend, dass Claus von Stauffenberg den<br />

volksnahen Reformer und genialen militärischen Widersacher Napoleons in der Person<br />

Gneisenau kennt, aber weniger den „gleichmacherischen“, für Volksvertretung<br />

sich einsetzenden Bürger in Gneisenau sieht. Diese „kleine „ Ungenauigkeit gebietet<br />

wohl die Perspektive vom Anfang des 20.Jahrhunderts. Die Traditionslinie, die für<br />

Stauffenberg wichtig ist, führt weiter zu Friedrich II., dem Staufer-Kaiser und viel bewunderten<br />

König von Sizilien., womit <strong>hier</strong> etwas spürbar wird vom alten Reichs-Mythos.<br />

Auch die dortigen Staufer unterlagen bekanntlich französischem Druck der Anjous.<br />

Es trifft sich aber auch, dass Stauffenberg beste „Beziehungen“ zur griechischen<br />

und römischen <strong>Geschichte</strong> unterhält. Hölderlin war ein Idol des George-Kreises. Stauffenberg<br />

ist der gebildete Rechtsintellektuelle, der Hitler zu keinem Zeitpunkt bewundert<br />

hat, der aber Hitlers Machtübernahme 1933 durchaus begrüßt. Erst die Erfahrungen<br />

mit dem laienhaften und verbrecherischen Feldherrn Adolf Hitler machen aus dem<br />

Major Stauffenberg ab 1942 den Widerstandskämpfer und unglücklichen Attentäter<br />

Hitlers 1944. Das anfangs unsägliche Verhältnis der Rechtsintellektuellen zur Person<br />

Hitlers wird deutlich. Es unterlief das folgenschwere Missverständnis, wenn man sich<br />

von Hitler den „Führer“ erwartete. Was man bekam, war der gerissene „wild gewordene<br />

Kleinbürger“(J. Fest) und eine braune Bewegung, die dumpfen „germanischen<br />

„ Rassismus pflegte und dessen Traditionslinie nicht nach Italien und Griechenland<br />

führte, sondern ins Pathos einer germanischen Mythologie, gestaltet von verwirrten<br />

Geistern wie Rosenberg und Himmler. Es ist bezeichnend, dass Hitler in „Mein<br />

Kampf“ den „historischen deutschen Drang nach Süden“, nach Italien also, kritisierte,<br />

den die Staufer gepflegt hätten. Besser wäre der Zug nach Osten (!) gewesen, für den<br />

er den sächsischen Herzog Heinrich den Löwen beanspruchte. (Wiederholung einen<br />

Debatte aus dem 19. Jahrhundert!)<br />

Für Stauffenberg wurde die bittere Erkenntnis eines verhängnisvollen Irrtums zur festen<br />

Grundlage eines tödlichen Widerstandes , um am Ende von Deutschland zumindest<br />

die Scham zu nehmen, keinen angemessenen Widerstand gegen den Hitlerschen Untergang<br />

Deutschlands unternommen zu haben. Ein eben doch falsch verstandener<br />

Glanz, herüberstrahlend aus dem „deutschen Zeitalter der Erhebung“ gegen den Untergang<br />

durch Napoleon, hatte beste Teile einer ganzen Generation verführt, Untergang<br />

an der falschen Stelle als Bedrohung des eigenen Wesens zu suchen und mit den<br />

falschen Mitteln und Freunden zu bekämpfen. Statt am aufgeklärten klassischen Menschenbild<br />

festzuhalten, setzte man auf autark charismatische Fiktionen. Hat nicht auch<br />

Biedermann die Brandstifter unterstützt?<br />

Kommen wir am Ende noch einmal auf Stauffenberg zurück. Wie seine politische Orientierung<br />

nach einem erfolgreichen Attentat gewesen wäre, ist eine unhistorische Frage.<br />

Wie sehr er noch befangen war in seiner alten Perspektive, zeigt er bei seiner Hinrichtung<br />

am Abend des 20. Juli. Bevor die Schüsse fallen, verabschiedet er sich mit<br />

den Worten: Es lebe das geheiligte Deutschland! ( Die wahrscheinliche Version. Daneben<br />

noch: Heiliges D., Geheimes D., nur D.- Peter Hoffmann: Stauffenberg, S. 638 )<br />

Ganz sicher wäre eine Neu- Orientierung von seinen ausgewiesenen Eigenschaften der<br />

30


Willensstärke und des Pragmatismus getragen gewesen, Eigenschaften, die andere –<br />

allerdings unter den etwas späteren Bedingungen der Kapitulation- zum westlich-parlamentarischen<br />

Beginn der Bundesrepublik Deutschland gebracht haben. Es ist bemerkenswert<br />

und heilsam zu sehen, wie der neu geordnete deutsche Staat „Bundesrepublik“<br />

wie ein Phönix aus der Asche steigen konnte.<br />

31


Wallenstein und Bismarck – Kaiserliche Paladine und die Entwicklung vom<br />

ersten zum zweiten deutschen Kaiserreich<br />

„Brandenburg, seit Neuestem von stärkerer Hand regiert, hatte den Prager Vertrag<br />

schon 1641 gebrochen, auf eigene Faust seine Neutralität proklamiert und verteidigt,<br />

was vom Aufstieg Brandenburg-Preußens der Anfang war.“ ( Golo Mann:<br />

Wallenstein, 1970 )<br />

Ein spontaner Charaktervergleich von Wallenstein und Bismarck würde Verblüffendes<br />

zu Tage fördern: Beide Sanguiniker, Wutausbrüche zelebrierend; Egozentriker,<br />

Unabhängigkeit pflegend; aber auch scharfe Analytiker, die Praxis vor die Theorie<br />

setzend. Ihre Spuren in <strong>deutscher</strong> und europäischer <strong>Geschichte</strong> sind tief. Man stellt<br />

natürlich auch fest, dass 250 Jahre zwischen ihren Tätigkeiten liegen, die jedoch<br />

-zugleich verursacht und bewirkend- ihre Beziehung haben und historische Linien<br />

aufzeigen können. Unsere bisherige Praxis, Jahrestage die geschichtliche Erinnerung<br />

aufschließen zu lassen, mag auch <strong>hier</strong> ihre Anwendung finden. Für Wallenstein könnte<br />

es heißen: 1628 = 390 Jahre Sieg über den König Christian von Dänemark(im<br />

30jährigrn Krieg). Für Bismarck: 1868 = 140 Jahre Nord<strong>deutscher</strong> Bund./ Reichsgründung.<br />

Gehen wir den Ereignissen nach und setzen sie in die größeren Zusammenhänge<br />

der deutschen Reichsgeschichte. Diese sind von einer deutsch-europäischen Relevanz,<br />

wie sie es stärker nicht sein könnten. Es kommt hinzu, dass sie in der deutschen<br />

<strong>Geschichte</strong> zeitweise eine mythische Rezeption erhielten, die von desorientierender<br />

Wirkung war.<br />

Im Falle Wallensteins haben wir es also mit dem ersten Kaiserreich zu tun, dem<br />

Deutschen Reich von 962 n. Chr. bis 1806, welches aus dem ostfränkischen<br />

Nachfolge-Reich Karls d. Gr, entstanden war, indem Otto d. Gr. die römische<br />

Reichserneuerung (renovatio imperii) proklamiert hatte. Seine Legitimation war die<br />

christliche Schutzherrschaft auf lehnsrechtlicher Basis, die einer europäischen<br />

Vormachtstellung gleichkam. Der Kaiser war nach der Zwei-Schwerter-Lehre das<br />

weltliche Oberhaupt, der Papst das geistliche. Man zögert, von einem Staat zu<br />

sprechen, wenn – dann von einem „Personenverbandsstaat“ im Gegensatz zum<br />

modernen „Flächenstaat“. Die lehnrechtliche Grundlage war so christlich<br />

verinnerlicht, dass Christus als der Lehnsherr des wehrhaften Adels gesehen werden<br />

konnte, der sich anschickte, die Kreuzzüge zu führen. So sieht es Papst Urban, der<br />

1098 in Clermont-Ferrand den ersten Kreuzzug vorbereitete. Der Lehnsmann stand in<br />

einem Treue- und Dienstverhältnis zum Lehnsherrn und empfing dessen Schutz und<br />

Benevolentien wie Güter oder /und Ämter. Diese Hierarchie verstand sich von oben<br />

nach unten vom König/Kaiser als Lehnsherr zum Kronvasallen als Lehnsmann, der<br />

wiederum Lehnsherr seiner niedrigeren Adelsvasallen war. Ganz unten standen die<br />

„unfreien“ Bauern in ihrer „Hörigkeit“ zum adeligen Grundherren. Diese nur<br />

skizzenhafte Darstellung macht deutlich, was der Begriff „Personenverbandsstaat“<br />

sagen will. Es ergibt sich ein <strong>hier</strong>archisches Personengeflecht, mit dem politische und<br />

private Daseinsfürsorge betrieben wurde. Land, Staatsvolk, Regierung und Verwaltung<br />

gab es zunächst nicht. Die „staatlichen“ Verhältnisse waren privatrechtlicher Natur.<br />

Lehnsrechtliche Beziehungen existierten sogar über den „thiutisc“ (deutsch = zum<br />

32


Volk gehörig) besiedelten Raum hinaus. Polnische, böhmische, ungarische Könige<br />

konnten Lehnsmänner des deutschen Königs sein. Der große Investiturstreit des 11.<br />

Jahrhunderts zeigt etwas von dem Spannungsfeld des deutschen Königs in seinem<br />

religiösen und feudalen (lehnsrechtlichen) Verständnis. Papst Gregor VII. bestreitet<br />

des Kaisers „christliche“ Kompetenz der Bischofseinsetzung (Strafe des Kirchenbannes),<br />

des Königs Kronvasallen setzen diesem Bedingungen, unter denen sie ihm<br />

die Vasallentreue halten können, sie fordern die Befreiung vom Kirchenbann. Man<br />

spürt <strong>hier</strong> schon die aus dem Lande kommende Kraft des Hochadels, der sich quasi<br />

durch Erpressung des Königs/Kaisers dessen ursprünglich königlichen Rechte<br />

(Regalien) wie Zollrechte, Geleitrechte, Stadtrechte, Heeresbann bei flächenmäßigem<br />

Ausbau dieser Hoheitsrechte aneignet. Schwächere Adelsschaften des niederen Adels<br />

(Ritter) werden der sich bildenden „Landeshoheit“ einverleibt .und des direkten<br />

Bezugs zum König beraubt. Andererseits werden Kronvasallitäten, wenn sie durch<br />

Tod des Trägers erledigt sind, in der Regel durch den König neu ausgegeben. Sie<br />

fallen nicht dem König anheim – wie in Frankreich oder in England. Aus diesen<br />

Tendenzen bilden sich im späteren Mittelalter die „Landesherren“ (domini terrae), die<br />

Fürsten eines festumrissenen Gebietes geworden sind. Sie können auch geistliche<br />

Fürsten sein. Die andere Seite der Medaille ist die, dass die Stellung des Königs sinkt,<br />

so sehr, dass ihm ausländische Mächte gegen aufsässige Fürsten helfen müssen. So<br />

war es bereits 1215 der Fall, als der französische König dem staufischen Erben,<br />

Friedrich II., bei Bouvines gegen seinen Rivalen, den Welfen Otto IV., und seinen<br />

Helfer, den englischen König, erfolgreich helfen konnte. Friedrich II. war es auch, der<br />

den geistlichen und weltlichen Fürsten in Deutschland fern von <strong>hier</strong> als bewunderter<br />

König von Unteritalien (beide Sizilien) Regalien zusprach. Es nimmt nicht wunder,<br />

dass während des staufischen Untergangs in Italien nach 1250 Deutschland im<br />

„Interregnum“ versank. Inzwischen hatten sich statt der Kronvasallen die<br />

„Reichsstände“ etabliert, die Landesherren, die auf Reichstagen einerseits den König<br />

für die Reichsverteidigung in Anspruch nahmen, andererseits aber ein königliches<br />

Übergewicht abwehren wollten. Für dieses Interesse standen besonders die 7<br />

Kurfürsten zur Verfügung: Die drei geistlichen von Mainz, Köln und Trier, die vier<br />

weltlichen von Sachsen, Brandenburg, Pfalz und Böhmen. Mit der Goldenen Bulle<br />

(1356) hatte Karl IV. diesen Zustand der Königswähler festgeschrieben. Als erbliche<br />

Landesherren sahen sie sich besser legitimiert als der König in seinem Wahl-<br />

Königtum. Die Zeit war gekommen, dass die alte Formel „Kaiser und Reich“ neu<br />

verstanden wurde. Sie meinte nicht mehr die Identität von Kaiser und Reich<br />

(lehnsrechtlich), sondern den Gegensatz (territorial bzw. ständisch). Der Weg in die<br />

Moderne war das Territoriale (Spanien, Frankreich, England), Ziel war der moderne<br />

Flächenstaat, national orientiert und absolutistisch bzw. national und parlamentarisch<br />

wie in England.<br />

Es ist für die deutsche Entwicklung nun typisch, dass sich das immer ideeller<br />

werdende universale Kaisertum eine Kompensation für seine machtlose Stellung<br />

verschaffen kann, indem es die Reichsfürsten mit deren eigenen Waffen schlagen will.<br />

Es baut seine eigenen fürstlichen Erblande als politische und wirtschaftliche<br />

Machtbasis aus. Es ist die Stunde der Habsburger, die ihre Lektion gelernt haben, als<br />

ihre Vertreter seit der Mitte des 15.Jahrhunderts bis 1806 den deutschen Kaiser stellen.<br />

Ab Kaiser Maximilian holen sie sich auch nicht mehr den päpstlichen Segen für ihre<br />

33


Universalität in Rom, ihre Legitimation ist „realistischer“ geworden. Heiratspolitik ist<br />

angesagt, um die Erblande als „Hausmacht“ gegen die Reichsstände auszuspielen.<br />

Eine gewisse Chance erhält das Verhältnis zwischen Kaiser und Reich durch die auf<br />

beiden Seiten wachsende Erkenntnis, dass Reichsreformen wohl her müssen, um in der<br />

deutschen Mitte Europas ein Machtvakuum zwischen Frankreich im Westen und der<br />

türkischen Gefahr im Südosten zu vermeiden. „Reichsreförmchen“ kamen ab 1500<br />

heraus, welche die Reichsjustiz zur Unterstützung des „Landfriedens“ gegen die<br />

Fehden (Reichskammergericht) und die Schlagkräftigkeit des Reiches (Reichsregiment,<br />

Reichskreise) bedienen sollten. Ganz und gar erschwerend kam dann die<br />

Sache der Reformation hinzu, die die Neigung zu katholischen bzw. evangelischen<br />

Bündnissen der Reichsstände schuf. Voll zur Geltung kam diese Situation, als Karl V.<br />

als katholischer Kaiser meinte, endlich Zeit und Gelegenheit zu haben, das ungelöste<br />

Problem der Reformation zu lösen. Man kann sich fast an fünf Fingern abzählen, wie<br />

das ablaufen bzw. am Ende doch scheitern könnte. Die Spaltung und Bündnisbildung<br />

der Reichsstände in katholisch und evangelisch würde dem Kaiser Vorteile bringen,<br />

die er kriegerisch umsetzen könnte. Das würde seine Macht gegenüber den<br />

Reichsständen überhaupt erheblich stärken. Reaktion könnte sein, dass sich<br />

katholische und evangelische Reichsstände in diesem Punkt zusammenfänden und<br />

dem Kaiser Grenzen zeigten. Nicht anders lief es ab 1546, als Kaiser Karl V. gegen<br />

den evangelischen Schmalkaldischen Bund erfolgreich war, diese Machtstellung ihm<br />

aber durch die gesammelte Kraft der Reichsstände wieder genommen wurde. Ein<br />

gewisser Reichsstand, Herzog Moritz von Sachsen, zeigte <strong>hier</strong> an Flexibilität, was<br />

möglich war, und errang nach schamlosen Frontwechseln und auswärtigen Bündnissen<br />

(Frankreich) die Kurfürstenwürde. Einschneidendes Ergebnis war, dass sich Kaiser<br />

Karl V. deprimiert zurückzog, sein Bruder Ferdinand <strong>deutscher</strong> König und sein Sohn<br />

Philipp König von Spanien und den Niederlanden wurde. Letztere waren noch<br />

deutsches Reichsland. Beim Augsburger Reichstag 1555 kam es zu der bekannten<br />

Einigung zwischen Katholischen und Lutheranern auf der Basis von „cuius regio, eius<br />

religio“. Man entschied, wie man es damals empfand, dass die Obrigkeit über die<br />

Bekenntniszugehörigkeit der Landeskinder bestimmte. Es war eine Einigung aus<br />

Erschöpfung. Die brisante Frage, was mit den evangelisch gewordenen Gütern,<br />

Klöstern, Bistümern sein würde, wurde nur halb beantwortet. Wer sein Bistum<br />

behalten wollte, musste katholisch bleiben („Geistlicher Vorbehalt“). Der Kölner Streit<br />

von 1585 eben darum musste kriegerisch gelöst werden. Zu Anfang des 17.<br />

Jahrhunderts häuften sich die Streitfälle und es ist nicht mehr sehr weit zum<br />

böhmischen Krieg, dessen Verhängnis es war, dass er den 30jährigen Krieg eröffnete.<br />

Verblüffend zu sehen, wie prinzipiell ähnlich er zu dem ablief, was zwischen 1546 und<br />

1555 passierte. Als wenn die <strong>Geschichte</strong> den Menschen einen Spiegel vorhalten<br />

wollte. Begriffen haben die Verantwortlichen nichts. Oder war da doch einer, der<br />

vielleicht eine Ahnung hatte?<br />

Damit wären wir bei unserem kaiserlichen Paladin, Albrecht von Wallenstein oder<br />

Waldstein, aus dem Ostböhmischen. Mit Wallenstein tritt uns eine der schillerndsten<br />

Figuren der deutschen <strong>Geschichte</strong> entgegen. Es ist zu sagen „der deutschen<br />

<strong>Geschichte</strong>“, lässt er doch das Tschechische seiner Abstammung zurücktreten.<br />

Böhmen war seit 1526 habsburgisches Erbland, die böhmischen Könige waren seit<br />

langem auf den kaiserlichen Lehnsherrn bezogen und waren Kurfürsten. Die<br />

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Ausgangslage zum Verständnis des Deutschen Reichs im 30jährigen Krieg ist die<br />

Frage nach Wallensteins Rolle als kommandierender General im politischen Kraftfeld<br />

der Zeit. Das führt zu der Frage nach der Entwicklung seiner Motivation. In seiner<br />

umfassenden Biografie versucht Golo Mann ihn vom Vorwurf des kaiserlichen Verrats<br />

reinzuwaschen. Seine Kontakte mit Schweden (Bernhard von Weimar) und mit<br />

Sachsen (General von Arnim) seien aus seiner näheren Umgebung forciert worden<br />

(Kinsky), aber immer auch zu verstehen als Friedenssuche in einem chaotischen Krieg,<br />

der seine Intention mehr und mehr verlor.<br />

Der 30jährige Krieg zeigte sein Verhängnis in der Tatsache, dass er sich in zwei<br />

langen Teilen dahinschleppte, wovon der zweite Teil sein wahres Gesicht zeigte. In<br />

den ersten 15 Jahren war er Religions- bzw. Ständekrieg, in den zweiten 15 Jahren war<br />

er europäischer Staatenkrieg. Die Staatenkonstellation wird sichtbar beim<br />

Westfälischen Friedens 1648: In Münster verhandelte der Kaiser samt seinen<br />

Verbündeten mit Frankreich, in Osnabrück mit Schweden. Spanien (habsburgisch) und<br />

Holland, jeweils stark involviert, fanden erst später zu einem Frieden zu Lasten<br />

Spaniens. Was <strong>hier</strong> deutlich wird, ist, wie sehr der Krieg darauf angelegt war, unter<br />

ausländischen Einfluss zu geraten. Das Deutsche Reich wurde zum Spielball von<br />

Interessen, am Ende ein Objekt zur Gewährung von „Satisfaktion“ mit Geld und<br />

Gebietsabtretungen, abgesehen vom Machtverlust des Kaisers und Machtgewinnen der<br />

Reichsstände (ius foederis = eigene Außenpolitik, Bündnisfähigkeit).<br />

Es ist davon auszugehen, dass dem scharf analysierenden Wallenstein, der nicht nur<br />

ein militärischer, sondern auch ein politischer Kopf war, diese Tendenzen nicht<br />

verborgen blieben. Eigentümlich, wie seine Karriere im böhmisch-mährischen Raum<br />

beginnt, nachdem in der Schlacht am Weißen Berge die evangelischen böhmischen<br />

Landstände eine vernichtende Niederlage erlitten hatten und Böhmen habsburgisch<br />

geblieben war. Wallenstein, vor Jahren schon katholisch geworden, war nur indirekt<br />

als kaiserlicher Offizier involviert. Seine besonders effektive Tätigkeit wird 1622/23<br />

sichtbar, als er sehr günstig konfiszierte Güter evangelischer Landstände erwirbt und<br />

nach einer entsprechenden Heirat einer der reichsten Männer Böhmens wird. Seine<br />

Gebiete konzentrieren sich zunächst im nordöstlichen Bereich Reichenberg-Friedland.<br />

Schon bald darf er sich Herzog von Friedland nennen. Das Besondere nun ist, dass er<br />

nicht einfach ein „Raffzahn“ ist, sondern er größten Wert auf eine mustergültige<br />

Wirtschaft in seinem Ländchen legt. Herzogtum Friedland soll eine vom Frieden<br />

profitierende terra felix sein, auch später, als sich Heereszüge durch Deutschland<br />

wälzen. Da hat jemand ein sehr positives Bild von einem verantwortlich handelnden<br />

Landesherrn. Wallenstein hatte immer einen spöttischen Blick für die „geborenen“<br />

Landesherren. In aufregendsten Zeiten konnte er immer noch besorgte<br />

Einzelanweisungen an seinen Landesverwalter senden. 1625 trug Kaiser Ferdinand II.<br />

Wallenstein das erste Generalat an (bis 1630). Wallenstein war oberster Truppenführer<br />

– welches Herrn? Das ist eine entscheidende Frage. Es bieten sich drei Herren an, zwei<br />

in der Person des Kaisers Ferdinand, der in der Tradition des Kaisertums Schutzherr<br />

und oberster Wahrer des Reiches ist, der aber längst Landesherr seiner<br />

oesterreichischen Erblande einschließlich Böhmens, Mährens, Schlesiens, Ungarns<br />

und Vorderoesterreichs (Breisgau, Elsass) geworden war. Der dritte Herr ist<br />

Wallenstein selbst, der eine solche Machtfülle angesammelt hatte, dass die<br />

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Verschwörungstheorien in Wien ins Kraut schossen, da wolle jemand den Kaiser<br />

verjagen und neuer Herr von Deutschland werden. Wallensteins Karriere beginnt, wie<br />

gesagt, nach der Erledigung des Aufstands des evangelischen böhmischen Adels, auch<br />

der neue evangelische König, Pfalzgraf Friedrich, muss nach Holland bzw. nach<br />

England fliehen, seine Kurwürde – und das war ein spektakulärer Fall – wurde vom<br />

Kaiser an den bayerischen Herzog Maximilian, den Anführer der katholischen Liga<br />

verfügt. Unheilvoll war nun die Einmischung des evangelischen Königs Christian von<br />

Dänemark, der um seine norddeutsche Stellung bangte. Er war in Personalunion auch<br />

Herzog von Schleswig und Holstein, wobei Holstein Reichsgebiet, Christian also auch<br />

Reichsfürst war. Der katholische Druck wurde aufgebaut durch zwei große Heere, die<br />

an Weser, Elbe und Oder sich gen Norden bewegten. Das eine war das Liga-Heer<br />

unter bayerischer Führung des Generals Tilly, das andere das kaiserliche unter dem<br />

weitreichenden Kommando Albrecht von Wallensteins. Dieses Nebeneinander der<br />

Heere lässt schnell erkennen, dass das kaiserliche Heer ein „oesterreichisches“ war<br />

und kein Reichsheer. Wallenstein war also de facto ein oesterreichischer General mit<br />

politischen Befugnissen, etwa in Verhandlungen einzutreten .Genau diese Tatsache<br />

brachte dem Kaiser nach der siegreichen Vertreibung der dänischen Truppen aus<br />

Norddeutschland und Jütland das starke Übergewicht. Wallenstein setzte beim Kaiser<br />

durch, dass er Herzog von Mecklenburg wurde. Wallenstein war also Reichsstand<br />

geworden – bei der offenen Frage, ob der Kaiser überhaupt soweit in reichsständische<br />

Belange eingreifen könne. Den Präzedenzfall hatte es ja in der pfälzischen Frage<br />

gegeben. Wallenstein war wieder der fürsorgliche Organisator seines neuen Landes,<br />

obwohl ihm das nur ein gutes Jahr gegönnt war. Dann kam es zu der typischen<br />

Reaktion katholischer und evangelischer Reichsfürsten beim Regensburger<br />

Kurfürstentag 1630. Die Machtfülle Wallensteins, besonders sein Geschick, Truppen<br />

zu organisieren und mit eigenem Kapital, Konfiszierungen und Kontributionen zu<br />

finanzieren, sorgte für Angst und Misstrauen, so dass es zu seiner spektakulären<br />

Absetzung kam. Wallenstein zog sich zurück und hatte bis 1632 viel Zeit zu<br />

beobachten und nachzudenken. Seine Korrespondenz muss immens gewesen sein und<br />

ging immer großzügig über konfessionelle Grenzen hinweg. Bei aller Härte muss ihm<br />

die Erbärmlichkeit dieses Krieges bewusst gewesen sein. Seine Anstrengungen, mit<br />

vielen Partnern ins Gespräch zu kommen, waren groß. Bekanntlich hat Kaiser<br />

Ferdinand seinen General schon bald wieder zurückgeholt, als der Druck der<br />

Schweden zu groß wurde. Seine Kompetenz war noch umfangreicher, seine<br />

Heereszüge allerdings zögerlicher, was man ihm in Wien auch vorwarf. Erkenntlich ist<br />

die Bevorzugung kursächsischer Kontakte, und da ist es besonders der<br />

kommandierende General von Arnim, den er gut kennt, weil der mal Offizier unter<br />

ihm war. Sachsen und Brandenburg waren zurückhaltende evangelische Verbündete<br />

Schwedens. Wallenstein verachtete beide Fürsten wegen ihrer „Faulheit“. Überhaupt<br />

hatte er ein sehr schlechtes Bild von den traditionellen Reichsfürsten, aber auch vom<br />

kaiserlichen Wien, vor seinen gewaltigen Schimpfkanonaden waren sie nie sicher. Der<br />

für Sachsen Dienst tuende General von Arnim war offenbar interessant für<br />

Wallenstein, weil es den kriegsverlängernden Effekt der ausländischen Einmischungen<br />

in einer frühpatriotischen Gesinnung wohl erkannte. Am Ende hat Wallenstein gerade<br />

auf Arnim zwecks Absprache gewartet – in der Hoffnung, die gar nicht so weit<br />

entfernten Heere zu vereinigen. Am Ende war aber auch ihr gegenseitiges Misstrauen<br />

zu groß. Die Biografen Wallensteins sind sich klar, dass Wallensteins Absichten nur<br />

36


spekulativ zu erfassen seien. Eine Konstante ist wohl seine Loyalität zum Kaiser, aber<br />

auch seine Resignation, die einen wirklich revolutionären Schritt seinerseits verhindert<br />

haben. Dass Wallenstein im Schatten des Krieges reich und mächtig geworden war, ist<br />

das eine, das andere aber auch, dass er die Misere des Reiches sah, vor allem ein Bild<br />

von einem tüchtigen Landesherrn hatte, der in konsequenter Weise das Wohl seines<br />

Landes im Auge hat. Es ist unwahrscheinlich, dass er daran dachte, ein Usurpator des<br />

Deutschen Reiches zu sein, der es zentralistisch führen würde. Dass er König von<br />

Böhmen werden wollte, ist sicher ebenso unwahrscheinlich. Die Wahrheit mag in der<br />

Mitte liegen – eine gewollte Verstärkung der Reichsexekutive auf jeden Fall, um eine<br />

Regierung nach innen und außen zu garantieren. Ob das vielleicht auch bedeutet hätte,<br />

dass diese „Reichsregierung“ sich verstärkt beim Kaiser in Wien angesiedelt hätte mit<br />

der Folge, dass das Reich in Oesterreich aufginge, ist sicher eine falsche Frage,<br />

einerseits zu modern und geschichtlich verfrüht, andererseits obsolet, weil Wallenstein<br />

den Wiener Hof zu gut kannte. Ob er an eine Hegemonisierung Deutschlands als im<br />

Norden und Osten ganz groß gewordener eigener Reichsstand hätte denken können,<br />

bleibt natürlich auch offen. Wallenstein ist am Ende ein kaiserlicher Paladin des 17.<br />

Jahrhunderts – immerhin anders als ein Kondottiere der Renaissance , der einer<br />

Verschwörung am kaiserlichen Hof zum Opfer fällt.<br />

Das eingangs stehende Motto, zitiert nach Golo Mann, zeigt brennpunktartig den Gang<br />

der Reichsgeschichte, herkommend aus dem ersten Reich, im 30jährigen Krieg in<br />

ihren Tiefpunkt der Erschöpfung fallend, der in sich aber schon den Keim einer<br />

bestimmten Weiterentwicklung signalisiert. Zum Austrag kommt diese<br />

Reichsentwicklung, wie es eben bei Inkubationen sein kann, 200 Jahre später. Gemeint<br />

ist der oesterreichisch-preußische Dualismus, der dann dazu führt, dass tatsächlich am<br />

Ende ein Reichsstand, nicht der kaiserlich-oesterreichische, sondern der New-Comer<br />

Brandenburg-Preußen eine neue, zukunftsweisende Reichseinheit herbeiführt.<br />

Preußens Weg zu einer europäischen Großmacht aus der Schwäche des Reiches heraus<br />

ist ihm keineswegs an der Wiege gesungen. Der erste Hohenzoller, Burggraf Friedrich<br />

von Nürnberg, bekam die Markgrafschaft Brandenburg, auch des Reiches<br />

Streusandbüchse genannt, gewissermaßen am Biertisch, wie es heißt, von seinem<br />

Kaiser Sigismund 1412. Die bescheidene Lage scheint die Dynastie herausgefordert<br />

zu haben.Die erste Erhöhung gelingt 1526, als man sich im säkularisierten Ordensstaat<br />

Preußen - zunächst noch als polnisches Lehen – Herzog nennen darf. Schon 1660<br />

kann der Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm I., die polnische Lehenshoheit abstreifen.<br />

Er löste 1640 seinen von Wallenstein sehr kritisierten Vorgänger Georg Wilhelm ab<br />

und trat aus dem Prager Vertrag von 1635 aus (s.o.). Preußen macht ab 1641 eine<br />

eigene „neutrale“ Politik. Die Länderbasis hat sich 1614 bzw.1648 erweitert durch<br />

Kleve, Mark und Ravensberg im Westen (Erbfall) und Hinterpommern als östliche<br />

Bindung neben Brandenburg und Ostpreußen. Das 18.Jahrhundert brachte ja dann in<br />

Aufsehen erregender Weise Schlesien und später Westpreußen und Posen aus den<br />

polnischen Teilungen (bis 1918). Damit ist Brandenburg-Preußen im Reich voll im<br />

Spiel und hat das territoriale Problem der fehlenden Verbindung seiner beiden<br />

Gebietsblöcke im Osten und Westen. Oesterreich dagegen wandert nach Süden und<br />

Südosten immer mehr aus dem Reich hinaus. Das Haus Brandenburg hatte das Glück,<br />

mit dem Großen Kurfürsten, mit Friedrich I , der sich in Königsberg zum König<br />

krönen lassen konnte (1701), mit Friedrich Wilhelm I., dem Soldatenkönig, und mit<br />

37


Friedrich dem Großen engagierte Fürsten zu haben, die territorial, kulturell und<br />

machtpolitisch einen Grund legen konnten. Ein besonderer Fixpunkt unter diesen war<br />

natürlich Friedrich der Große, der – viel bewundert – seinen Staat unter die Großen<br />

Europas einreihen konnte. Der 7jährige Krieg brachte es an den Tag: Von Frankreich<br />

scheel angesehener östlicher Nachbar in Deutschland war nicht mehr Oesterreich,<br />

sondern eben das Preußen Friedrichs des Großen. Seine erfolgreiche Politik der<br />

kühnen Staatsräson hatte den revolutionären Wechsel der üblichen Koalitionen herbei<br />

geführt. Frankreich koalierte mit Oesterreich gegen Preußen!<br />

Bevor nun unser zweiter kaiserlicher Paladin ans Werk gehen konnte, ging das<br />

morsche Reich durch Napoleon in Trümmer. Kaiser Franz II. legte 1806 die<br />

Reichskrone nieder und fungierte nur noch als Kaiser von Oesterreich. Deutschland<br />

war kein politischer Begriff mehr, sondern nur noch ein kultureller. Politisch gab es<br />

nur noch die Einzelstaaten, die bei der Flurbereinigung durch Napoleon<br />

(Reichsdeputationshauptschluss 1803) die Säkularisierung und die Mediatisierung<br />

überstanden hatten. Bekanntlich ging daraus 1815 auf dem Wiener Kongress der<br />

Deutsche Bund hervor, der vertraglich als ein lockerer Staatenbund von 39<br />

Einzelstaaten mit einem Bundestag organisiert war. Dieser war aber kein Parlament,<br />

sondern eine Delegiertenversammlung der Staaten .Von der alten oesterreichischen<br />

Kaiserfunktion war nur der Vorsitz in dieser Versammlung übrig geblieben. Preußen<br />

hatte sich erst nach langem Zögern und katastrophaler Niederlage bei Jena und<br />

Auerstädt 1806 zu <strong>deutscher</strong> Bedeutung aufgeschwungen, als Patriotismus und<br />

Reformbewegung (Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Gneisenau u.a.) die<br />

„Freiheitskriege“ 1813/ 15 mitverantwortlich organisierten. Preußen hatte sich mit den<br />

Provinzen Rheinland und Westfalen (Wiener Kongress) noch fester im industriell<br />

entwickelten Westen festgesetzt. Der Liberalismus des zunehmenden deutschen<br />

Bürgertums hatte seit den Freiheitskriegen sein Thema: Einheit und Freiheit. Das hieß,<br />

endlich den Nationalstaat zu schaffen und die parlamentarischen Errungenschaften<br />

Westeuropas umzusetzen. Dieses nationale Problem lastete auf dem Deutschen Bund.<br />

Es war die Hinterlassenschaft des alten Reiches. Es war das alte Unvermögen, das<br />

Machtvakuun mit <strong>deutscher</strong> Kompetenz anzufüllen, um den 30jährigen Krieg zu<br />

stoppen. Ein Bestreben, das wir zumindest als Überlegung weitsichtiger Männer, zu<br />

denen wir gerade Wallenstein zählen wollten, weiter oben schon identifizierten. Dieses<br />

territoriale Problem hatten andere europäische Nationen, Italien nicht, längst gelöst.<br />

Der mythische Ruhm des deutschen Mittelalters, der Kaiser-und-Reich-Gedanke hatte<br />

wohl eine Emanzipierung blockiert, stattdessen zum Partikularismus beigetragen.<br />

Unser langer Weg durch die <strong>Geschichte</strong> ist spürbar dem Ende näher gekommen. Die<br />

Rolle des zweiten so bezeichneten „kaiserlichen Paladins“ wird greifbar. Bismarck<br />

findet den Weg vom knallharten Unterstützer des preußischen Königtums<br />

(Verfassungskrise 1862 , Berufung Bismarcks) zum Reichsgründer von 1867/1871.<br />

Mit dieser nationalen Lösung (kleindeutsch) hat er die Rechtsliberalen mit ihrer<br />

Formel Einheit und Freiheit (in der Reihenfolge) auf seiner Seite. Die Reichsgründung<br />

geschieht „von oben“ auf der Basis der konstitutionellen Monarchie, mit drei<br />

(begrenzten) Kriegen teuer erkauft.<br />

Bei einer Schlussbetrachtung können uns die eingangs genannten Jahrestage helfen.<br />

38


Wir hatten als Erinnerungsdatum den Sieg Wallensteins über den dänischen König<br />

Christian vor 390 Jahren angegeben, der die Grundlage für die folgende<br />

Vormachtstellung des Kaisers Ferdinand und Wallensteins schuf. Eine Parallelität der<br />

Geschehnisse lässt an ein Spiel der <strong>Geschichte</strong> denken. Auch Bismarcks Weg zur<br />

Überwindung der mangelhaften Reichsstruktur zum Nutzen Preußens führt über einen<br />

dänischen Krieg (1864). Bismarck hatte es mit Christian IX. zu tun, Wallenstein noch<br />

mit dem IV. Christian.<br />

Der andere Jahrestag, Bismarck betreffend, bezog sich auf 1868 (vor 140 Jahren).<br />

Nachdem der unglückliche Deutsche Bund nach dem preußischen Sieg über<br />

Oesterreich (1866) zu Gunsten des neuen Norddeutschen Bundes aufgehoben worden<br />

war, wusste Bismarck, dass der Schlüssel zur Erweiterung des Norddeutschen Bundes<br />

auf Süddeutschland in Paris lag. Es folgte Bismarcks Coup der „Emser Depesche“<br />

(1870), womit Napoleon III. zum Krieg provoziert wurde, den Bismarck dann zur<br />

Reichsgründung am 18.1.1871 nutzte, zur Gründung also des 2. deutschen Reiches! Zu<br />

Wallensteins Zeiten war es mindestens so klar, dass eine Verstärkung <strong>deutscher</strong><br />

Reichseinheit nur über Frankreich, das Frankreich Richelieus führte. Für Richelieu<br />

spielte die Konfessionsfrage keine Rolle, er stützte evangelische Bündnisse zur<br />

Schwächung seines östlichen Nachbarn, zur Schwächung von Kaiser und Reich.<br />

Das mitteleuropäische Deutschland sah seine Handlungsschwäche im lang angelegten<br />

Partikularismus. Seine Handlungsstärke und Einheit konnte offenbar nur von einem<br />

Teil des Ganzen ausgehen. So schlüpfte Preußen in 200jähriger Entwicklung (s.<br />

7jähriger Krieg und Friedrich d. Gr.) in die Rolle Oesterreichs und schaffte den<br />

modernen handlungsfähigen Bundesstaat, als Bismarck 1871 erklären konnte, das<br />

Reich sei saturiert. Dass die mitteleuropäische Lage schwierig blieb und eine spätere<br />

Generation mit Bismarcks Pfund nicht wirtschaften konnte, ist zunächst mal nicht sein<br />

Problem. Ein bleibendes Erbe der Reichsgeschichte ist natürlich der starke<br />

Föderalismus unseres Bundesstaates, der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Für Wallenstein waren die Bedingungen noch zu diffus, sein Handeln konnte nur ein<br />

dunkler Drang sein, der sich auch in seinem Bild in der <strong>Geschichte</strong> widerspiegelt. Man<br />

war ihm gegenüber ratlos, schon sein klösterliches Begräbnis in der Nähe Prags war<br />

flüchtig. Es dauerte mehr als 100 Jahre, ehe sich ein Familienzweig der Wallensteins<br />

besann, ihm eine angemessene Begräbnisstätte in der Annenkapelle des Schlosses<br />

Münchengrätz in der Mitte Böhmens zu verschaffen.<br />

Wallenstein und Bismarck, Paladine ihrer Kaiser, des Habsburgers und des<br />

Hohenzollern, beide eingebunden in eine typische Reichskonstellation, an die<br />

Lesbarkeit von <strong>Geschichte</strong> glaubend, hatten ihre erheblichen Probleme mit ihren<br />

Herren, entfernten sich auch mit kühnen eigenen Konzepten von ihnen, taten aber nie<br />

den loslösenden revolutionären Schritt. Sie hatten in Politik und Charakter durchaus<br />

ihre Ähnlichkeiten, wobei Bismarck als der Erfolgreiche mit den Mitteln seiner Zeit<br />

und auf seine Art die staatenbündische Misere des Reiches beheben konnte.<br />

39


Der Hof Steveling<br />

(Foto 1959)<br />

auf dem Bilde noch zu sehen: Im Vordergrund die Eisenbahnschienen, zwischen<br />

Mauer und Haus verlief die Straße.<br />

GESCHICHTE eines Hofes der ehemaligen Bauernschaft Grundschöttel in der<br />

Herrschaft Volmarstein<br />

Inhaltsverzeichnis zum sechsten Aufsatz<br />

1. Kapitel: Köln, Mark, Preußen - und der Hof Steveling<br />

2. Kapitel: Handel und Wandel um 1800 - Der erste Feldhaus auf Steveling, Caspar<br />

Diedrich<br />

3. Kapitel: Friedrich Peter Feldhaus und die Erben - Alltag auf Steveling - Steveling<br />

und die Reichsgründung<br />

4. Kapitel: Der "Kaufmann" Gustav Adolf Feldhaus - Kapital und Gewerbe zwischen<br />

Loh und Schmandbruch<br />

40


Mit dieser Darstellung soll das Familieninteresse des Stevelinger Hofes wie auch die<br />

interessierte Allgemeinheit bedient werden, indem beispielhaft ein Beitrag für die<br />

bäuerliche und gewerbliche Entwicklung unseres heimischen Bereiches geliefert<br />

werden soll. Es versteht sich, dass vornehmlich die vorliegenden Stevelinger<br />

Dokumente zu Wort kommen.<br />

Über unseren Hof Steveling haben in mehr oder weniger ausführlicher Weise Lehrer<br />

Ernst Lindscheidt (in "Use laiwe Häime"Nr. 1,1925) und Friedrich Thörner ("Alte<br />

Schätze-neu entdeckt", 1989) geschrieben, wobei sich Thörner wohl im Wesentlichen<br />

auf Lindscheidt stützt. Diesem haben ja die Stevelinger Dokumente vorgelegen, so<br />

dass es jetzt darum gehen könnte, das Eine oder Andere zu verdeutlichen,<br />

hervorzuheben oder in einem weiteren Schritt besondere Aspekte unter Hinzuziehung<br />

anderer Arbeiten zu beleuchten. Anbieten würden sich Themen wie die verkehrliche<br />

Verbindung von Ruhr und Ennepe (Chausseebau Loh-Vogelsang), die Schlebusch-<br />

Harkorter Kohlenbahn, die Förderung gewerblicher Erschließung durch Stevelinger<br />

Land und Geld. Die Darstellung versteht sich nicht streng wissenschaftlich, sondern<br />

unterhaltsam informativ, aber der Wirklichkeit unbedingt verbunden. Bibliographische<br />

Angaben erscheinen in Klammern, aber auch am Ende zusammengefasst mit einem<br />

kurzen Inhaltsverzeichnis.<br />

1. Kapitel: Köln, Mark, Preußen - und der Hof Steveling<br />

Die 12 Einzelhöfe der Grundschöttler Bauernschaft, später Gemeinde Grundschöttel,<br />

wie sie im Schatzbuch der Grafschaft Mark 1486 genannt werden, reichen<br />

wahrscheinlich in die karolingische Zeit zurück. Struktur der Ansiedlung und Art der<br />

Gebäude von Bauernhöfen haben ein langes Gedächtnis. Eine gewisse<br />

Verteilungssystematik der Einzelhöfe, geordnet nach Bauern-schaften, ist nicht zu<br />

verkennen. Der Heimatforscher Karl Siepmann führt die Ordnung auf germanische<br />

Hundertschaften bzw. Sippenverbände zurück (Siepmann a.a.O.) und betont die<br />

Eigenart der Hofanlagen u.a. ihre Lage an Quellen und Teichen, auch das<br />

Vorhandensein von Kellerbrunnen in den Bauernhäusern, was auch für Steveling<br />

zutrifft. Das einschneidende Geschichtsereignis wird die Eroberung Sachsens durch<br />

Karl d. Großen gewesen sein, der sich 775 <strong>hier</strong> in unserem Gebiet , einem fränkisch<br />

-sächsischen Grenzgebiet, befand und die Sigiburg (Hohensyburg) eroberte. Er mag<br />

dabei die uralte Straße Köln, Wupper, Ennepe gezogen sein(die weiter über Herdecke<br />

oder Schwerte nach Soest führte). Die kirchliche und lehnsrechtliche Hoheit der<br />

Kölner Erzbischöfe mit der typischen Entwicklungsrichtung nach Nordosten entstand.<br />

Mit der Errichtung eines kölnischen "Oberhofes" sei in Volmarstein zu rechnen.<br />

Dieser muss dann um 1100 in eine Burg umgewandelt worden sein (Kindlinger<br />

a.a.O.), Anzeichen dafür, dass Volmarstein die Nachbar-Oberhöfe in Hagen und<br />

Schwelm (noch heute dort die Bezeichnung "Fronhof") überholt hatte. Die Herren<br />

von Volmarstein begannen als Mannen des Erzbischofs ihren Dienst. Ihre Bedeutung<br />

wird sichtbar, indem deren Familienangehörige Äbte in Werden und Domherren am<br />

Kölner Dom werden. Mit der Politik der Kölner Erzbischöfe bekam Volmarstein bis<br />

zum Ende des 13. Jahrhunderts eine besondere strategische Bedeutung. Wohl im<br />

Nachklang dessen zählte Volmarstein im Jahre 1307 zu den "oppida" des kölnischen<br />

Westfalens (Ernst Dossmann: Auf den Spuren der Grafen von der Mark a.a.O.,<br />

41


S.190). Oppidum war eigentlich die Bezeichnung für eine befestigte Stadt.<br />

Interessantes Licht auf unsere heimischen Höfe wirft ein Freiheitsbrief von 1342,<br />

wenn auch in seiner Echtheit umstritten. Allerdings sind die Burgherren längst die<br />

ehrgeizigen Nachbarn, die Grafen von der Mark, geworden, die 1288 und endgültig<br />

1324 die Volmarsteiner Burg eroberten. Sie hatten schon 1288 (nach der Schlacht von<br />

Worringen) die feudale Oberherrschaft des Kölner Erzbischofs abgestreift, um den<br />

begehrten Status als wirkliche Landesherren (dominus terrae) anzustreben. Der o.g.<br />

Freiheitsbrief fällt in die Zeit der Bedeutungsumkehrung der beiden Burgen<br />

Volmarstein und Wetter. Schon 1324 war Wetter Amtssitz eines märkischen Drosten<br />

und Mittelpunkt eines Gerichtsbezirkes. Der Brief bestätigt den Bewohnern der<br />

Freiheit Volmarstein die alten Rechte u.a. auch das Huderecht in der Hülsberger Mark.<br />

Zu dieser Hülsberger Mark gehörte auch der südliche Teil (ab Loh) der Grundschöttler<br />

Bauernschaft, somit der Hof Steveling. Die Mark war das um den waldfreien Hof<br />

(Gehegede) gelegene gemeinsame Waldgebiet, das ein Bauer für sich und sein Vieh<br />

(Holz, Gras, Eicheln, Bucheckern) nutzen konnte. Die Nutzung war streng geregelt<br />

und kontrolliert (Markordnung, Hudebezirke) durch die Markgenossenschaft. Man<br />

kann sich vorstellen, dass die Benutzung der Mark viel Streit verursachte, wie wir<br />

noch sehen werden.<br />

Die Bedeutung unseres Volmarsteiner Raumes sank nach 1324 beträchtlich, Taten<br />

sich die märkischen Grafen doch hervor, eifrig Städte zu gründen und zu fördern (wie<br />

Hamm, Unna, Lünen, Schwerte, Iserlohn, Lüdenscheid, Bochum, Hattingen), Handel<br />

und die typische Eisenverarbeitung zu pflegen. Hinzu kam noch, dass die aktiven und<br />

streitbaren Grafen von der Mark ihren Regierungssitz von Altena bzw. Hamm nach<br />

Kleve verlegten. Graf Adolf, jüngerer Bruder des besonders tüchtigen, aber<br />

kinderlosen Engelbert III., der übrigens pestkrank 1391 in der Burg Wetter verstarb,<br />

hatte erfolgreich - und das als gewesener Bischof von Münster und Erzbischof von<br />

Köln - ins klevische Grafengeschlecht eingeheiratet. Graf Adolf regierte in Kleve ab<br />

1391 auch die Grafschaft Mark. Er wurde noch dazu 1417 durch den Kaiser zum<br />

Herzog von Kleve erhöht.<br />

Volmarstein bezog inzwischen eine gewisse Attraktivität aus nostalgischen<br />

Gegebenheiten. Das kostbare Wasser "hilges Püttgen" (gegenüber dem Bahnhof), in<br />

dem angeblich schon die heidnischen Sachsen getauft worden waren (s.o.), wurde für<br />

fähig zur Heilung aller möglichen Gebrechen gehalten. Die Krücken der Geheilten, die<br />

nun nicht mehr gebraucht wurden, sollen die Kirche gefüllt haben. Eine Hostie mit<br />

einem Blutwunder soll die Wallfahrer angezogen haben. Das Femegericht, ein Relikt<br />

aus karolingischer Zeit, zog Recht Suchende aus dem ganzen Reich an.<br />

Unsere Bauern oberhalb der nun verfallenden Burg (bis ca. 1400 genutzt) werden<br />

wohl für Proviant gesorgt haben. Zum ersten Mal tauchen sie namentlich 1486 im<br />

Schatzbuch der Grafschaft Mark aus dem Dunkel der <strong>Geschichte</strong> auf, einem<br />

Finanzverzeichnis zur Erfassung von Steuerzahlern. Da steht, dass Ermgart to<br />

Stevenynck sechs Gulden Steuer an den Landesherrn in Kleve zahlte, der diese<br />

offenbar auch dringend benötigte. Der Herr ist Johann II., der "Barmherzige", der sich<br />

offensichtlich auch der Frauen erbarmte, hinterließ er doch, wie es heißt, 63<br />

"illegitime" Kinder. Die märkisch klevischen Herren sind nicht mehr das, was sie mal<br />

42


waren. Sie haben beste Verbindungen zum luxuriösen burgundischen Hof in Gent, an<br />

dem auch der spätere Habsburger Kaiser Karl V. aufwuchs. Es war dort der letzte<br />

Schrei, Schuhe mit Glöckchen zu tragen. Die Sitten waren lockerer geworden, der<br />

Geldbedarf der Herzöge war beträchtlich gestiegen. Man residierte inzwischen in<br />

Düsseldorf (seit 1511), weil eine geschickte Heiratspolitik das Herzogtum Jülich und<br />

Berg eingebracht hatte.<br />

Interessant und kurios zugleich für unsere Lokalgeschichte ist in dieser Zeit der so<br />

genannte "25 jährige Schweinekrieg" von 1561 -1586, in dem unser Stevelinger Bauer<br />

Borrius von Steveling eine besondere Rolle spielte! Er war schon 23 Jahre Holzrichter<br />

der Hülsberger Mark und somit Sprecher der Markgenossen in heikler Mission. Die<br />

Gebrüder Mallinckrodt hatten statt vier Schweine, wie es ihnen wohl zustand, sechs<br />

Schweine in die Hülsberger Mark getrieben, so dass zwei Schweine von den<br />

Geschworenen der Mark beschlagnahmt wurden. Die Mallinckrodter strengten nun<br />

einen Prozess an, der 25 Jahre über fünf Instanzen lief, von Volmarstein über Hagen,<br />

Hochgericht Lüdenscheid, klevisch herzogliche Ratskammer bis zum Reichskammergericht<br />

in Wetzlar! Nur Lüdenscheid gab den Mallinckrodtern Recht. Das<br />

Ende des Prozesses stimmt wieder heiter: Kaiser Maximilian II. ließ die<br />

Mallinckrodter wissen, dass ihr Anwalt in Wetzlar gestorben sei, und forderte sie zum<br />

letzten Termin (26.4.1586) auf. Die Brüder erklärten <strong>hier</strong>auf, sie seien des<br />

Prozessierens müde und wollten in Frieden mit den Hülsberger Markgenossen leben<br />

(Paul Schulte: <strong>Geschichte</strong> der Hülsberger Mark a.a.o. S.34). Borrius von Steveling<br />

hatte aber schon 1561 als Sprecher seinen großen Auftritt in der Sache: "Die<br />

Mallinckrodter besitzen nur 20 Schar (Anteile) an der Hülsberger Mark und sind nur<br />

mit vier Schweinen berechtigt. Auf die Aussagen der Zeugen gebe ich nichts, sind<br />

doch beide Zeugen Mallinckrodts Pächter und -Wes Brot ich esse, des Lied ich singe!<br />

Der Herr von Mallinckrodt beruft sich immer auf alte Urkunden, hält es aber nicht der<br />

Mühe wert, sie dem Gericht zu unterbreiten. Heraus mit denselben, damit wir sehen<br />

können, ob was Wahres an seinen Angaben ist. Ich beantrage Abweisung der Klage!"-<br />

Und die Markgenossen Adolf Grueter zu Werdringen, Johann zu Hülsbergen, Gerhardt<br />

Schonnefelt (Schönfeld), Elbert zu Eynriche (Enerke), Johann von der Burg, Hermann<br />

zu Harkotten, Ebert zu Kesenberg (Käsberg-Westerbauer), Johann zu Wyttynck<br />

(Twitting-Westerbauer) und andere werden ihm Beifall gespendet haben.<br />

Mit dem Beginn dieses Markenstreites befinden wir uns auch in den aufgeregten<br />

Zeiten der Reformation, als speziell in Volmarstein der Wechsel von der katholischen<br />

zur protestantischen Konfession stattfand (1564). Vikar Anton Schluck, neuer Pfarrer<br />

in Volmarstein, hatte das lutherische Bekenntnis von Wengern (schon 1543)<br />

mitgebracht. Man wird sich in Volmarstein also sehr stark mit sich selbst beschäftigt<br />

haben, wobei unser Holzrichter und tatkräftiger Redner Borrius zu Steveling sicher<br />

entsprechend mitgemischt hat.<br />

Namentlich tauchen unsere Höfe ein halbes Jahrhundert später in sehr schweren Zeiten<br />

wieder auf. Der 30 jährige Krieg hat seine Spuren hinterlassen. Westfalen ist als<br />

Durchzugsgebiet schwer getroffen. Eine Werdringer Akte zeigt für 1645 den<br />

schlimmen Zustand der Grundschöttler Höfe. Von Steveling heißt es u.a.: Verfallenes<br />

Haus, etwas repariert, verkommene Felder und Wiesen (13 Malterscheid = ca. 20 ha =<br />

80 Morgen, Maße s.u.), ein lahmes Pferdchen, zwei eigene und zwei geliehene Kühe,<br />

43


vier Schweine, eine Sau mit vier Ferkeln. Aus dem Schuldenverzeichnis des Gerichts<br />

Volmarstein (1645) geht hervor, dass Steveling etliche 100 Taler Schulden (bis zu<br />

10.000 Euro? Zur Umrechnung s.u.) zu bezahlen hat, die "sein Vater" gemacht habe.<br />

Ob der Raubbau am Wald der Hülsberger Mark, wie er in den Versammlungsprotokollen<br />

der Markgenossen nach dem 30 jährigen Krieg sichtbar wird, mit dem<br />

Wiederaufbau der Bauernhöfe zu tun hat, weiß man nicht, könnte aber sehr wohl sein.<br />

Jedenfalls hatte Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst von Brandenburg-Preußen,<br />

1666 eine Kollektivstrafe wegen unangemessenen Holzschlags gegen die<br />

Markgenossen verhängt. Stäbelinck (Steveling) musste einen Reichstaler, vier Stüber<br />

und viereinhalb Pfennige bezahlen. Das könnten vergleichsweise bis zu 130 Euro<br />

gewesen sein (siehe unten).<br />

Wie man merkt, sind wir damit schon in der preußischen Zeit unserer Heimat<br />

angelangt, die ja 1609/1614 wegen Erbfalls beginnt. Kleve, Mark und Ravensberg<br />

fallen an Brandenburg, Jülich und Berg an Pfalz-Neuburg. Sitz der zuständigen<br />

Regierung (Kriegs- und Domänenkammer) ist wieder die ehemalige Residenz der<br />

Grafen von der Mark, Hamm, in Wetter sitzt die zuständige Rentei. Preußen macht<br />

sich auf, ins Reich "hineinzuwachsen" und seinen westlichen Brückenkopf<br />

einzunehmen.<br />

Es ist nun nötig, einen Blick auf den Status unserer Höfe um die Volmarsteiner Burg<br />

zu werfen. Wie nicht anders zu erwarten, handelt es sich mehr oder weniger (später<br />

eine bunte Entwicklung) um einen Verbund lehensrechtlicher Abhängigkeit von dem<br />

Eigentümer der Volmarsteiner Burg. Was die Abhängigkeit betrifft, gilt die<br />

Feststellung: "Die Lage der Bauern in den westlichen Territorien Preußens war<br />

wesentlich günstiger" (als im Osten). Es war das Besitzrecht des "Erbzinsbauern", der<br />

Lehnsherr konnte nur eine Art "Obereigentum" beanspruchen, wofür er eine<br />

Zinszahlung des Bauern verlangte. Das Besitzrecht des Bauern war erblich. ( Preußen-<br />

Zur Sozialgeschichte eines Staates a.a.O., S. 29) Nun überrascht es, dass in<br />

Hofdokumenten vor 1800 von Steveling als von einem Domänengut (Fürsten-bzw.<br />

Staatsgut) und von seinem Besitzer als von einem Domänenpächter die Rede ist. Das<br />

erste diesbezügliche Dokument ist von 1663 mit Bezug auf 1659! Wie der<br />

Domänenstatus zu erklären ist bzw. wie es zu ihm gekommen ist, bleibt ungewiss. Die<br />

Domänen dienten dem unmittelbaren Staats-einkommen, "die Domänenpächter waren<br />

die wichtigsten Träger des wirtschaftlichen Fortschritts." (Preußen- Zur<br />

Sozialgeschichte a.a.O.). Die Aufsicht oblag der Domänenkammer, der Pachteinzug<br />

im Falle Steveling der Rentei in Wetter. Ob <strong>hier</strong> als Ursache für den Status die<br />

Verschuldung aus dem 30jährigen Krieg heranzuziehen ist? Jedenfalls ist<br />

Lindscheidts Vermutung, der Domänenstatus sei nach 1700 geschehen, wahrscheinlich<br />

zu korrigieren. In dem Dokument von 1663 (s.o.) ist von der entsprechenden<br />

preußischen Bezugsbehörde "Regierungs-Cammer" die Rede. Es erscheint auch die<br />

Bemerkung "wüst gestanden", was ja zu der schweren Zeit im Umkreis des 30jährigen<br />

Krieges passen würde. Der Hof Steveling wird im zeitnahen Scharzettel der<br />

Hülsberger Mark von 1659 erwähnt. Lindscheidt kommentiert den Stevelinger Hof<br />

folgendermaßen (Lindscheidt a.a.o.): "Von den Grundschöttler Höfen verdient der<br />

Stevelinger Hof besonders hervorgehoben zu werden, nicht allein seiner Größe wegen,<br />

sondern auch, weil er innerhalb der Grundschöttler Gemeinde eine bevorzugte<br />

44


Stellung eingenommen hat."<br />

Einen Modernisierungsschub erfuhr die Landwirtschaft in Preußen durch das<br />

Bestreben Friedrichs d. Großen, die Marken aufzuteilen und zu privatisieren. Dazu<br />

kam es in der Hülsberger Mark 1775 nach jahrzehntelangem schwierigen Vorlauf<br />

(1770 in der Weniger Mark = Nordteil Grundschöttels, Wengern, Esborn, Berge). Die<br />

Höfe konnten ihren Markenanteil kaufen. Für Steveling waren es 23 Malterscheid für<br />

864 Reichstaler! (Hülsberger Mark a.a.O. S. 18) Nach Umrechnung in unsere<br />

Flächenmaße (s.u.) ergäben sich ca. 34 ha (135 Morgen). Hat man auch die Kühnheit,<br />

den Preis von 864 Talern umzurechnen, um von den Zahlen eine Vorstellung zu<br />

bekommen, so käme man auf 86.000 Euro!? Hier hätte Steveling eine sehr<br />

beachtliche Summe zahlen müssen. Über die Zahlungsmodalität wissen wir nichts aus<br />

den Dokumenten. Rekonstruieren wir einmal die Größenverhältnisse des Hofes und<br />

fügen die ca. 80 Morgen aus der Angabe von 1645 (s.o.) hinzu, so haben wir für 1775<br />

eine Hofgröße von ca. 215 Morgen. Im Kataster der kontribuablen Güter der<br />

Grafschaft Mark 1705 sind für Stevelings Hof sogar 20 Malter angegeben (= 112<br />

Morgen). Das ergäbe für 1775 eine Hofgröße von ca. 250 Morgen. Angaben aus<br />

späterer Zeit lauten auf 180 Morgen. Aus den Scharzetteln der Hülsberger Mark (s.o.)<br />

-Größe der Markenanteile- kann man zur Größe unserer Höfe ebenfalls etwas<br />

entnehmen. Steveling hat 50 Scharrechte und liegt damit im oberen Fünftel, die<br />

größten Güter sind Elverfeld zu Werdringen, Grueters Haus zu Werdringen mit je 205<br />

Scharrechten und Niederste Hülsberg mit 104!<br />

Es hat eine lange Ahnenreihe der Stevelinger gegeben. Es ist damit zu rechnen, dass<br />

nicht immer, wie man es erwartete, eine Vererbung im Mannesstamm gelang. So ist<br />

beispielsweise für 1725 festzustellen, dass "die Eheleute Stefeling, nachdem uns (also<br />

ihnen) der liebe Gott mit keinem leiblichen Erben bisher begnädigt unser<br />

unterhabendes zu der königlichen Majestät bei Wetter gehöriges Pachtgut der<br />

Stevelinger Hofgut mit allem Zubehör ...unserm Schwager Konradt Brenden und<br />

seiner Hausfrau Anna Catharina <strong>hier</strong>mit übergelassen und codiert haben." Es war eine<br />

notarielle gerichtliche Übergabe, zu der die "staatliche" Genehmigung sicher vorlag,<br />

ist doch an einer Stelle auch die Rede von der Rentei in Wetter. Die Eigenständigkeit<br />

des Domänenpächters bei dieser Übertragung kann dennoch überraschen, weil die<br />

Domänenerblichkeit zumindest im östlichen Preußen nicht die Regel war (Preußen<br />

-Zur Sozialgeschichte eines Staates a.a.o.). Diese Domänenerblichkeit könnte ein<br />

Hinweis darauf sein, dass sie <strong>hier</strong> in einem Sonderfall entstanden ist (30jähriger Krieg/<br />

Verschuldung s.o.).<br />

Sehen wir uns jetzt nach weiteren Stevelinger Ereignissen um, welche die Dokumente<br />

für das 18. Jahrhundert hergeben. Sie haben z.T. den Vorzug, dass sie noch den<br />

Luftzug der größeren <strong>Geschichte</strong> spüren lassen.<br />

Das markante politische Großereignis in der Mitte des 18. Jahrhunderts war der 7<br />

jährige Krieg (1756-1763), der bekanntlich eine europäische und eine überseeische<br />

Dimension (besonders Nordamerika) hatte. Preußen, Oesterreich, England und<br />

Frankreich mischten die Karten neu. Was hat nun unser Steveling damit zu tun?<br />

Es liegen <strong>hier</strong> Pachtzahlungslisten von 1745 bis 1764 vor. Die Pacht scheint während<br />

der ganzen Zeit jährlich 85 Reichstaler und 8,5 Stüber betragen zu haben. Daran hatten<br />

wohl auch die für Preußen so aufwändigen beiden schlesischen Kriege wie auch der 7<br />

45


jährige Krieg nichts verändert. Die Listen sind peinlich genau von der Rentei in Wetter<br />

geführt worden und enthalten auch Verrechnungen. Eine Verrechnung scheint<br />

besonders interessant zu sein. Es heißt dort: "1763 d. 17. November wegen erlittener<br />

Fouragierung ...voll gutgeschrieben worden." Hier ist offenbar von einer erzwungenen<br />

Truppenverpflegung die Rede. Diese Fouragierung könnte in Beziehung stehen zu<br />

einem Stevelinger Ereignis, welches in einem anderen Dokument folgendermaßen<br />

vorkommt: "Da des Stevelings Garten von französischen Truppen fast gänzlich<br />

fouragieret, so ist auf dessen Verlangen von uns Endesunterschriebenen genannter<br />

Garten in Augenschein genommen und der Schaden nach Befinden pflichtmäßig nebst<br />

ein Viertel Erbsen ins Feld gesät auf neun Taler 45 Silbergroschen ästimieret (also<br />

geschätzt) worden, wie Unterschriften attestieren. 12.August 1761 Wollenweber,<br />

Niederste Borgmann." Letzterer war wohl Vorsteher der Bauernschaft.<br />

Der überörtliche Zusammenhang ist: Neben Böhmen und Schlesien war auch<br />

Westfalen Schauplatz des 7jährigen Krieges. Es lag auf dem Weg der französischen<br />

Truppen, die in Richtung Hannover unterwegs waren. Hannover befand sich in<br />

Personalunion mit England und kämpfte auf preußischer Seite. Solche französischen<br />

Truppen müssen es 1761 gewesen sein, die sich "Fouragierung" auf Steveling geholt<br />

und dabei den Garten verwüstet hatten. Französische Truppen trafen dann bei<br />

Vellinghausen (Kreis Soest) am 15. und 16.7.1761 mit insgesamt 110.000 Mann auf<br />

das englisch-hannoversche Heer des Herzogs Ferdinand von Braunschweig mit 70.000<br />

Mann. Die Franzosen wurden dort entscheidend geschlagen. Man war in Westfalen<br />

dem Herzog von Braunschweig sehr dankbar, weil er den marodierenden<br />

französischen Truppen Einhalt geboten hatte. Ob die oben genannte Gutschrift wegen<br />

der Fouragierung unter dem Datum Nov.1763 direkt etwas mit der Stevelinger<br />

Gartenzerstörung von 1761 zu tun hat, bleibt die Frage. Auch war der 7jährige Krieg<br />

im Februar 1763 mit dem Frieden zu Hubertusburg beendet worden. Aber man weiß<br />

ja, dass bürokratische Uhren zuweilen sehr langsam gehen. Immerhin sind <strong>hier</strong> die<br />

Zusammenhänge mit den politischen Großereignissen nicht von der Hand zu weisen.<br />

Es gab für unseren Stevelinger Hof aber nicht nur Schwierigkeiten, die von ganz oben<br />

aus Politik und Krieg kamen. Häufigen Ärger gab es bei der Nutzung der Mark, als die<br />

Grenzen der Hude-Bezirke nicht beachtet wurden. Nachweislich war Steveling dreimal<br />

betroffen (1727, 1733, 1773). Die Kötter der Freiheit Volmarstein nahmen es wohl<br />

nicht immer so genau und ließen ihr Vieh ungehütet in Stevelings Hude laufen,<br />

offenbar im Bereich Tinsberg, wo die Interessen aufeinander stießen. Als<br />

Beschwerdeführer ist 1733 besagter Conradt Steveling verbürgt, der 1725 als<br />

Schwager des Jürgen Steveling als Erbe eingesetzt worden war (s.o.) und sich<br />

Steveling nannte. Dieser Conradt hatte sich beim preußischen Forstamt in Wetter<br />

beschwert. Die Antworten des Forstamtes lauten immer ähnlich. Man bezieht sich auf<br />

die Markenordnung, "dass in den Domänenholzungen kein Groß- und Kleinvieh<br />

ungehütet gehen soll, sondern im Übertretungsfall...Strafe gegeben werde, die Ziegen<br />

aber sofort totgeschossen und konfiszieret sein sollen." Die Ziegen hatten es also<br />

wegen ihres radikalen Fressdranges besonders schwer. Mit der Bekanntgabe dieser<br />

Verfügung werden die Pfarrer beauftragt, die dieses im sonntäglichen Gottesdienst zu<br />

verkünden haben. Für 1733 wird Pastor Revelmann genannt, für 1773 Pastor Ising.<br />

Nicht zuletzt wegen dieser Hudestreitigkeiten drang der preußische Staat auf<br />

Abschaffung der Marken, was bekanntlich für die <strong>hier</strong> betroffene Hülsberger Mark<br />

1775 geschah (s.o.). Die Vorbereitungen dieser "Privatisierung" liefen schon seit 1730.<br />

46


Man konnte sich aber innerhalb der Markengenossenschaft nur schwer einigen. Allein<br />

die Vermessung zog sich über Jahrzehnte hin. Es gab bittere Beschwerden des armen<br />

Landvermessers Peter Andreas Meyer wegen schlechter oder fehlender Bezahlung und<br />

darüber, dass man ihm die Messpfähle wieder herausriss!<br />

In einem Protokoll der Markenversammlung vom 18.3.1738 gibt Conradt Steveling<br />

bezüglich seiner Hude an : "Steveling zeiget zum Protokoll an, dass seine Hude sich<br />

erstrecke ...vom Tinsberg ...den Stemkes Siepen hinauf ...bis vor den Enerker Hof...bis<br />

nach seinem Hof, über den zwischen Schölling und Oberberge hinabgehenden Siepen<br />

bis an die Heide,...<strong>hier</strong>auf unter dem Brocke (Bruch) nach dem Loh hinüber bis an<br />

Borgmanns Gehegede (Rüping)." (s. Paul Schulte a.a.O.) Die Lage dieser Hude ist<br />

recht gut nachvollziehbar und gibt Anlass zu einer exkursartigen Überlegung zum<br />

Namen Steveling.<br />

Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache (Duden) in der Ausgabe von 1981 gibt<br />

an: "Steven- niederd. Stock, Stütze , dann ein Schiff nach vorn und hinten<br />

begrenzendes Bauteil, das den Kiel nach oben fortsetzt." Es macht keine Mühe, aus<br />

unserem Steveling das Wort "Steven" herauszulesen, gibt es doch Namensvarianten<br />

wie Stevenynck (1486 !) , Stefeling, Stäbling. Das -ing bedeutet bekanntlich eine<br />

sippenmäßige Zugehörigkeit. Das gute alte "Etymologische Wörterbuch der deutschen<br />

Sprache " von Friedrich Kluge gibt in seiner Ausgabe von 1960 ganz Ähnliches zu<br />

Steven an (u.a. Vor- und Achtersteven beim Schiff). Man erschließt eine germanische<br />

Wortwurzel stabna und ein indogermanisches stebh, stabh = Pfosten. Mit ein wenig<br />

Phantasie kann man sich , gewissermaßen von Vorhalle aus gesehen, unter dem<br />

Stevelinger Hof einschließlich seiner oben genannten lang gestreckten Hude einen<br />

nach oben gebogenen Stab (Steven) vorstellen, der in sehr gerader Linie in<br />

südwestlicher Richtung (von der Senke des Tinsbergs zur hinteren Heide bei<br />

entsprechendem Höhenanstieg) verläuft. Man weiß, dass man zu früheren Zeiten<br />

schon aus existenziellen Gründen einen erstaunlichen Blick für Landschaftsformen<br />

besaß. Was hindert uns, dass Wort Steveling, das amtlich 1486 auftaucht und auch<br />

heute noch amtlich in Stevelinger Straße begegnet, versuchsweise so zu erklären?<br />

Kehren wir zurück zu den Begebenheiten auf Steveling. Da gibt es nämlich ein<br />

weiteres genealogisches Problem. Wir hatten zuletzt gehört, dass Conradt Brenden<br />

genannt Steveling, Schwager des Jürgen Steveling, 1725 als Erbe eingesetzt worden<br />

war. Für 1759 erfahren wir nun aus den Dokumenten, dass es auf Steveling eine große<br />

Hochzeit gab, und zwar von einem Johann Jürgen Becker und seiner Frau Julia<br />

Margeretha geb. Brenne. Wir wissen, dass Johann Jürgen Becker aus Herbede<br />

stammte. Wer war Julia Margaretha Brenne? Was spielte sich auf Steveling familiär<br />

zwischen 1725 und 1759 ab? Für einen Teil können wir die Antwort geben, die<br />

wiederum etwas mit einem politischen Mega-Ereignis zu tun hat. 1741 flattert ein<br />

Brief eines preußischen Offiziers aus Magdeburg auf Steveling ein mit der Nachricht,<br />

dass Johann Henrich Steveling am 11.4.1741 "nach Soldatenmanier" bestattet worden<br />

sei. Hier müsste es sich um den Sohn Conradts handeln. Johann Henrich Steveling<br />

gehört damit zu den ganz frühen Toten der schlesischen Kriege Friedrichs d. Großen.<br />

Dieser hatte ja die Schwierigkeit seiner jungen oesterreichischen Rivalin Maria<br />

Theresia, als Frau das Königs- bzw. Kaisererbe des Deutschen Reiches anzutreten,<br />

ausgenutzt, indem er Schlesien für sich beanspruchte. Sein Einmarsch in Schlesien<br />

begann am 16.12.1740, zur ersten Schlacht kam es am 10.4.1741 bei Mollwitz, was<br />

47


dann auch der Zeitpunkt war für die Aktivitäten des bayerischen Kurfürsten Karl<br />

Albrecht, die Kaiserwürde mit Hilfe Frankreichs anzustreben. Eine interessante Frage<br />

ist auch, wie Johann Henrich Soldat wurde. Für die Erfassung und Aushebung von<br />

Soldaten gab es offiziell schon seit 1733 (Friedrich Wilhelm I.) die so genannte<br />

Kantonsverfassung. Preußen war in Kantone für eine jeweilige Regimentsaufstellung<br />

eingeteilt. Das bedeutete, dass die Söhne bei der Geburt registriert wurden und i.d.R.<br />

nach dem 20. Lebensjahr zur Aushebung zu Verfügung standen. Ausnahmen waren:<br />

Söhne von Edelleuten (andere militärische Laufbahn), von Pfarrern und Beamten<br />

sowie Theologiestudenten und erste Söhne. Wie weit es daneben noch das wilde<br />

Werbe-System gab, bleibt im Dunklen. Ist es etwa Johann Henrich so gegangen wie<br />

1724 seinem märkischen Landsmann Johann Matthias Funcke, wie Frau Liselotte<br />

Funcke in ihrem "Familienalbum "(Hagen 2002) erzählt? Dieser wurde von Werbern<br />

aufgegriffen und trotz vieler Eingaben bis 1730 in Potsdam bei den „Langen Kerls“<br />

festgehalten.<br />

Kommen wir zur Stevelinger Genealogie zurück. Von Geschwistern Johann Henrichs<br />

ist nirgendwo die Rede. Welcher verwandtschaftliche Grad also zum Hochzeitspaar<br />

auf Steveling 1759, Johann Jürgen Becker und Julia Margaretha Brenne, bestand,<br />

bleibt unklar. Es sei denn, wir nehmen an, dass die Julia Margaretha doch eine<br />

Schwester des verstorbenen Johann Henrich ist, die ja genau genommen von ihrem<br />

Vater Conradt mit Familiennamen Brenden heißen müsste. Dass da eine Komplikation<br />

mit Brenden und Brenne in der Überlieferung vorliegt, ist immerhin möglich. Es gibt<br />

eine Angabe, dass diese Julia Margaretha 1724- 1798 gelebt hat. Sie hätte demnach 35<br />

jährig den 29 jährigen Johann Jürgen Becker geheiratet. Der Stevelinger Akteur von<br />

1761 (Zerstörung des Stevelinger Gartens s.o.) und von 1773/75 (Hude-Streit/<br />

Markenteilung) dürfte demnach dieser junge Domänenpächter Johann Jürgen Becker<br />

genannt Steveling (1730 bis 1798) gewesen sein. Es muss eine beachtliche<br />

Hochzeitsfeier gewesen sein, erwähnt doch die Hochzeitsgebeliste vom 13.11.1759<br />

73 Geber mit insgesamt 62 Talern und 45 Silbergroschen und 6 Pfennigen. Das dürfte<br />

einem heutigen Wert von bis zu 6000 Euro entsprechen (Umrechnung s.u.). Am<br />

Anfang solcher Listen stehen gewöhnlich die Eltern des Brautpaares als möglichst<br />

großzügige Geber. Hier ist nur die "Bräutigam Mutter und Sohn" verzeichnet. Gemeint<br />

sind damit Johann Jürgens Mutter und Bruder aus Herbede. Die Eltern der Julia<br />

Margaretha gibt es offenbar nicht mehr. Mindestens drei Geber aus Herbede sind<br />

aufgeführt: Friedrich Brinkmann zu Herbede, Goßmann zu Herbede und Blankennagel<br />

zu Herbede. Im Übrigen zeigt die Gebeliste viele Namen aus der unmittelbaren<br />

Nachbarschaft (Loh, Schölling, Lumbeck, Grundschöttel), aber auch darüber hinaus<br />

aus Wengern (Potthof) oder Vorhalle (Niederste Hülsberg, Ähringhausen,<br />

Oestermann). Erwähnenswert für diesen Johann Jürgen Becker genannt Steveling ist<br />

noch, dass er sich 1777 in offensichtlich beträchtliche Arbeiten am Hause gestürzt hat.<br />

Eine Rechnung von F.D. Diergarten aus Wetter liegt vor: "...vor Jürgen Becker zu<br />

Steveling nach Wochen und Tagen gearbeitet an seinem Bauernhause." Diergarten ist<br />

von Juli bis Dezember 1777 beschäftigt und kommt bei 140 Tagen auf 21 Taler (ca.<br />

2000 Euro). Man wüsste gerne, was da am Hause gearbeitet worden ist. Interessant ist<br />

bei dieser Rechnung auch, dass auf ihr der so genannte Konventionstaler benannt ist.<br />

Das soll uns Gelegenheit geben, in einem Exkurs kurz auf die Vergleichbarkeit von<br />

Geld- und Flächenangaben einzugehen, um mindestens die Größenordnung der<br />

48


früheren Angaben nachvollziehen zu können.<br />

Die mittelalterliche Währung (soweit Geldwirtschaft) bis ins 14. Jahrhundert ist der<br />

karolingische Denar: 12 Denar=1 Schilling. 20 Schilling= 1 Pfund. Die englische<br />

Währung lässt grüßen. Bis zum 16. Jahrhundert spricht man von Groschen- und<br />

Guldenwährung, vom 16. bis 18. Jahrhundert von der Reichstaler-Währung, ab 1750<br />

auch von dem so genannten Konventionstaler. Der Stüber kommt im 18. Jahrhundert<br />

aus Holland: 15 Stüber= 1 Reichstaler. Nichts ist komplizierter als die <strong>Geschichte</strong> des<br />

Geldes mit seinen Wertvergleichen. Eine Vorstellung bekommt man, wenn man<br />

innerhalb eines Geldsystems Verdienste und Preise zur Verfügung hat und feststellen<br />

kann, wie lange jemand arbeiten muss zum Erwerb einer bestimmten Ware. Uns soll<br />

jetzt die Kaufkraft zu einer groben Veranschaulichung des damaligen Talerwertes<br />

dienen, indem wir heutige Leistungen oder Güter in Euro mit solchen früheren<br />

Leistungen oder Gütern in Reichstaler in Beziehung setzen. Das ergibt einen<br />

-zugegeben- groben Maßstab, den man bei vielerlei Vergleichen mit -sagen wir- eins<br />

zu hundert angeben könnte: 1 Reichstaler= 100 Euro!? Ich habe einen prominenten<br />

Vergleich, der mir besonders gefällt, auch wenn er aus Sachsen - Weimar und nicht<br />

aus Preußen stammt (so groß war der Unterschied in der Sache nicht). Der Herzog<br />

Karl August von Sachsen-Weimar hatte das schöne Haus am Frauenplan für 6.000<br />

Reichstaler um 1790 gekauft. Drückt man den Preis nach obigem Maßstab aus, so<br />

kommt man auf 600.000 Euro! Ein Makler könnte es akzeptieren, natürlich nur, wenn<br />

er nicht berücksichtigte, dass später ein gewisser Herr von Goethe dort gewohnt hat.<br />

Übrigens hat der Herzog seinem Freund Goethe das Haus für 1800 Reichstaler<br />

vermacht! - Die Jahrespacht der Stevelinger Domänen-pächter (s.o.) hätte sich somit<br />

auf 8.500 Euro= 85 Reichstaler belaufen, pro Monat 700 Euro. Andere<br />

Vergleichswerte haben wir oben schon benannt.<br />

Bei der Umrechnug der Längen- und Flächenmaße ist es einfacher.<br />

Längenmaße: Preußische Meile=7532 m, Preußische Ruthe (= 12 Fuß)= 3,77 m,<br />

Preußischer Fuß (= 12 Zoll) = 31 cm.<br />

Flächenmaße: Quadratruthe = 14,18 Quadratmeter, Hufe = 30 Morgen, Morgen =<br />

0,25 ha, Malterscheid (= 12 Scheffel) = 1,4 ha<br />

(Auf den Spuren der Grafen von der Mark a,a,o. S. 135/137).-<br />

Wir haben das Ehepaar Johann Jürgen Becker genannt Steveling bei seinen<br />

Bauaktivitäten Juli bis Dezember 1777 verlassen. Bis dahin sind dem Ehepaar zwei<br />

Töchter geboren, von denen uns eine besonders interessiert, Johanna Elisabeth<br />

(1766-1807). Sie war sehr daran beteiligt, dass es einen Namenswechsel auf Steveling<br />

gab. Sie heiratete nämlich 1796 einen Jungbauern aus der Nachbarschaft von der<br />

unteren Burg, den Caspar Dietrich Feldhaus (1760-1840). Mit dieser Heirat beginnt in<br />

einem doppelten Sinne eine neue Ära auf Steveling. Ab jetzt werden sechs<br />

Generationen Feldhaus den Stevelinger Hof betreiben, Steveling ist die<br />

Hofbezeichnung, der Familienname ist Feldhaus. Zum Anderen treten wir mit dem 19.<br />

Jahrhundert in eine neue Zeit ein, die sich verabschiedet von der alten<br />

Ständegesellschaft und dominiert wird durch wirtschaftliches Denken in Handel,<br />

Gewerbe und Verkehr. Auch auf Steveling wird es deutlich und trägt zu einer<br />

interessanten Verquickung von Landwirtschaft und Handel bei, wobei unsere<br />

heimische Kohle eine große Rolle spielt.<br />

Bleiben wir zum Abschluss unseres ersten Teiles der <strong>Geschichte</strong> noch bei den Becker-<br />

49


Stevelings. 1798 starb Johann Jürgen 68 jährig zwei Jahre nach der Hochzeit seiner<br />

Tochter Johanna Elisabeth. Wir haben ihn in reger Tätigkeit kennen gelernt. 1799 trat<br />

sein Schwiegersohn Caspar Dietrich Feldhaus, wie wir später sehen werden, das<br />

Domänenpachterbe an. Interessanterweise gab es am 1.Mai 1809 (!) eine Aufforderung<br />

des Arondissements Hagen (ab 1806 französisch) an C.D. Feldhaus, unverzüglich eine<br />

Gebühr hinsichtlich des Todes seines Schwiegervaters (1798) zu entrichten, und zwar<br />

auf der Grundlage eines Erlasses vom März 1807. Es bleibt unklar, was es damit auf<br />

sich hatte. Napoleon brauchte unablässig Geld für seine Feldzüge.<br />

Kehren wir noch einmal zu Johann Jürgen Becker-Steveling zurück. Dieser hatte, wie<br />

gesagt zwei Töchter. Den Verbleib der Johanna Elisabeth kennen wir. Mit der zweiten<br />

Tochter hatte er Kummer. Sie heiratete Peter Caspar Oestermann zu Brockhausen<br />

(Kaisberg, Vorhalle), starb aber schon früh und hinterließ eine kleine Tochter, offenbar<br />

benannt nach ihrer Tante (s.o.), Johanna Elisabeth. Die Verhältnisse auf Brockhausen<br />

waren wohl schwierig. Peter Caspar, Musketier, und seine verwitwete Mutter nahmen<br />

1791 den Schwiegervater Johann Jürgen auf Steveling als Vormund in Anspruch,<br />

wobei der Musketier bereit war, wegen einer zu leistenden Erbsicherheit den<br />

Offenbarungseid zu leisten, den sein Schwiegervater aber nicht wollte. Wir erfahren<br />

dann, dass Peter Caspar 1793 (Revolutionskriege?) "als gestorben aufgeführt" wurde.<br />

Da auch Johann Jürgen Becker, der Vormund, 1798 gestorben war, stand die<br />

Großmutter Oestermann mit dem Mädchen alleine da. Sie wandte sich wieder an<br />

Steveling um Hilfe und bat um eine gerichtliche Bestellung eines neuen Vormundes.<br />

Und da machen wir die Entdeckung, dass es auf Steveling offensichtlich noch einen<br />

unverheirateten Bruder des Johann Jürgen gab, einen Öhmen! Es sollte nämlich ein<br />

"Georg Becker zu Steveling" zum Vormund bestellt werden, was dann wahrscheinlich<br />

auch 1801 geschah. Johanna Elisabeth und Caspar Dietrich Feldhaus waren als<br />

Verwandte unmittelbare Zeugen dieser Vorgänge. Sie gründeten 1801 selbst ihre<br />

Familie mit der Geburt ihres ersten Sohnes namens Friedrich Peter. (Ende des ersten<br />

Teils)<br />

50


2. Kapitel: Handel und Wandel um 1800 - Der erste Feldhaus auf Steveling<br />

Wir beendeten den ersten Teil mit der Feststellung, dass Johann Caspar Diedrich, der<br />

Jungbauer von der Unteren Burg, Johanna Elisabeth Becker auf Steveling geheiratet<br />

hatte und die Beiden mit der Geburt des Sohnes Friedrich Peter 1801 ihre eigene<br />

Familie gründeten. Genau genommen müsste man sagen, dass die Familie mit der<br />

Geburt eines kleinen Heinrich, der allerdings nach 11 Monaten verstarb, schon im<br />

Jahre 1798 gegründet war.<br />

Kehren wir zu Johann Caspar Diedrich Feldhaus, dem Namensgeber und Bauern auf<br />

Steveling, zurück. Er stammt vom Hof Untere Burg. Von diesem Hof ist heute nichts<br />

mehr zu sehen, er lag direkt neben dem Rüpingschen Hof von der Oberen Burg an der<br />

Von-der-Recke-Straße Abzweig Osthausstraße. Sein Land ist weitestgehend in die<br />

orthopädischen Anstalten aufgegangen. Für viele Höfe der Bauernschaft Grundschöttel<br />

gibt es Mitte des 18.Jahrhunderts ein einschneidendes Datum, weil da zwei<br />

unternehmungslustige Brüder Feldhaus aus dem ziemlichen Dunkel ihrer Herkunft<br />

auftauchten und durch Einheirat Bauern wurden auf Hof Enerke (nahe der heutigen<br />

Autobahnbrücke) und auf dem besagten Hof Untere Burg. Der Eine hieß Adolf<br />

Heinrich (1728-1795), 1761 verheiratet mit Anna Catharina Enerke, und der Andere<br />

Johann Peter (1726-1789), verheiratet mit Anna Margaretha Rüping 1750. Es ist wohl<br />

anzunehmen, dass die beiden Brüder aus Feldhausen, Waldbauer bei Zurstraße<br />

(zwischen Hagen und Breckerfeld), stammen. Es ist dann erstaunlich, wie schnell sich<br />

der Name Feldhaus auf hiesigen Höfen ausbreitete. Zur ersten Generation nach den<br />

beiden Gründern gehörte unser Johann Caspar Diedrich, der nach Steveling heiratete,<br />

dessen Eltern also Johann Peter Feldhaus und Anna Margaretha Rüping auf dem Hof<br />

der Unteren Burg waren, der dann auch zur Verbreitung des Namens beitrug. Ganz<br />

oder zeitweise "feldhausisch" wurden neben der Unteren Burg, Enerke und Steveling<br />

nun die Höfe Lumbeck, Twitting, Große Berkenberg (heute Golfzentrum Berge),<br />

Ähringhausen, Schölling, Oberberge. Nehmen wir die Töchterheiraten hinzu, lässt<br />

sich viel hochzeitliches Hin und Her zwischen Loh, Haspe und Vorhalle feststellen.<br />

Für die nötige Variabilität sorgen "auswärtige" Heiraten wie Dunker-Röllinghoff<br />

(Hiddinghausen), Quambusch (Silschede), Reschop (Oberwengern), Wefer<br />

(Gevelsberg),Wehberg (Berge), Schulte, Lindemann, Hartmann, Ziel, Böving,<br />

Langenscheid (alle Wetter), Golte (Bommern), Schröder, Nettmann, Vorberg (alle<br />

Volmarstein), Hillert (Ohligs), Rosendahl (Haspe-Käsberg), Rosenkranz (Voerde) oder<br />

Becker (Barmen). Es fällt auf, dass es nicht nur bäuerliche Verbindungen sind,<br />

sondern auch bürgerlich gewerbliche. Die Nähe zu Handel und Gewerbe haben auch<br />

unsere Stevelinger "Ökonomen", was noch zu zeigen sein wird.<br />

Das Erste, was Johann Caspar Diedrich auf Steveling bewirkte, war die Veränderung<br />

des Hofstatus von der Domäne zu einem "Erbgut". Darüber gibt es ein interessantes<br />

Dokument von 1799, das uns auch Einblick verschafft in damalige preußische<br />

Staatstätigkeit. Vom Berliner Generaldirektorium geht eine Behördenanweisung an die<br />

märkische Kammer in Hamm, die ihrerseits das Schreiben offenbar an die Rentei in<br />

Wetter schickt, von wo es auch nach Steveling gelangt. Der Text spricht aus sich<br />

selbst:"...Wir finden uns (bereit) mit Vorbehalt unserer unmittelbaren Genehmigung<br />

die angetragene Erbverpachtung des Stevelings Gutes in Wetter auf die runde Summe<br />

von 120 Talern ...gegen Erlegung eines Erbstandsgeldes Kapitals von 400 Talern zu<br />

51


genehmigen, diesem zufolge habt Ihr die Erbpacht...mit dem Steveling zu entwerfen.<br />

Berlin d. 21. Febr. 1799." Es handelt sich also um die Absichtserklärung, den<br />

Schwiegersohn des letzten Domänenpächters als Erbpächter einzusetzen. Gemäß der<br />

Absicht der Berliner Behörde hat es dann 1799 den Erbvertrag gegeben: "...übergibt<br />

Seine königliche Majestät, die königliche Domänenkammer dem Caspar Diedrich<br />

Feldhaus genannt Steveling das bis hiehin von ihm und seinen Vorfahren ...im Gericht<br />

Volmarstein belegene Domänengut der Stevelinger Hof benannt nebst den dazu<br />

gehörigen beiden Kotten Eggemann und Schmandbruch..." 1801 wird von Berlin aus<br />

die fällige Bestätigung gegeben: "Seine königliche Majestät von Preußen<br />

...konfirmieren den unter dem 4. Dezember 1799 geschlossenen Erbpachtkontrakt....und<br />

dann jährlich den Erbpächter Canon in quartalis Rulis 120 Taler zur<br />

Rentei-Casse zu bezahlen." (also vierteljährlich 30 Taler !) Es ist festzustellen, dass<br />

die Kotten Egge und Schmandbruch zum Hof gehören. Sie müssen im Laufe des 18.<br />

Jahrhunderts zur Domäne gekommen sein, denn sie tauchen in den<br />

Hudebeschreibungen der Hülsberger Mark für Steveling nicht auf (siehe Teil 1).<br />

Beide Kotten werden später für die Industrieansiedlung noch ihre gebührende Rolle<br />

spielen. Der Erbvertrag wird in beiderseitigem Interesse gelegen haben. Für Caspar<br />

Diedrich bedeutet er die Vorstufe des Eigentums, für Preußen mehr Geld, die alte<br />

Jahreszahlung belief sich ja nur auf 87 Taler. Preußen befand sich in außerordentlich<br />

unruhigen Zeiten (Französische Revolution) und man brauchte Geld. Man hatte sich<br />

gerade an den Revolutionskriegen beteiligt (ab 1792), war aber in vermeintlich<br />

schlauer Weise 1795 (Friede von Basel) wieder ausgestiegen. Die Zeiten blieben<br />

natürlich prekär und Napoleons Aufstieg zeichnete sich ab.<br />

Caspar Diedrich Feldhaus begann seine Tätigkeit auf Steveling in noch anderer<br />

Hinsicht bemerkenswert. Er nahm eine Hauserweiterung vor, und zwar am<br />

Wirtschaftsteil des Hauses. Er verlängerte das Haus nach vorne, indem er die<br />

Deelengiebelseite um einige Meter vorzog. Er gewann damit Arbeits- , Boden- und<br />

Stallraum. Bemerkenswert ist es auch, wie er es tat. Es gelang ihm ein schmuckes<br />

Deelentor mit einem besonderen Widmungsspruch darüber. Dieser entpuppt sich bei<br />

näherem Hinsehen als kunstvolles kleines Gedicht, bei dem Inhalt und Form<br />

gleichermaßen schön sind. Das Gedicht besteht aus drei Langversen, deren jeweilige<br />

erste Hälfte vier Versfüße nach Art des Jambus (Wechsel unbetonte und betonte<br />

Silbe) aufweist. Die jeweilige zweite Hälfte in Vers 1 und 2 sind dreifüßige Jamben,<br />

die zweite Hälfte des 3.Verses vierfüßig, wodurch das Gedicht seinen Abschluss<br />

erhält. Als Reim erkennt man zur Hälfte von Vers 1 und 2 den Paarreim "Wiesen" und<br />

"gepriesen". Im 3. Vers reimen sich Vershälfte und Versschluss "Zeit" und "erfreut".<br />

Der kunstvolle Spruch lautet:<br />

Was <strong>hier</strong> nur geht durch diese Tür vom Felde und aus Wiesen<br />

Bringt Gottes Segen all herfür sein Name sei gepriesen<br />

Und hoch gelobet alle Zeit der uns mit steter Frucht erfreut<br />

Die Widmung schließt mit der alten Benediktinerregel ora et labora und der Preisung<br />

Soli Deo Gloria (= Gott allein die Ehre). Hier ist ein kleines Malheur passiert. Caspar<br />

Diedrich und sein Holzschnitzer waren keine Lateiner. So heißt es auf dem Balken:<br />

Sili Dea Gloria, <strong>hier</strong> war die Vorlage sicher schlecht lesbar. Es zählt allein der gute<br />

52


Wille. Links und rechts schließen die Anfangsbuchstaben von Johann Caspar Diedrich<br />

und Johanna Elisabeth und die Jahreszahl 17. Juli 1804 das schöne Werk ab. Man<br />

wüsste gerne, woher der Spruch stammt. Es passt dazu, dass der Hauskamin (aus<br />

derselben Zeit) links und rechts mit den Anfangsbuchstaben der Beiden, schön in Stein<br />

gesetzt, verziert ist.<br />

Kehren wir zu den Zeitläufen zurück. Napoleon führte weiter seine Kriege und nahm<br />

nach dem preußischen Fiasko von Jena und Auerstedt 1806 Preußen ein. Caspar<br />

Diedrich Feldhaus wird die Geldnot der Franzosen nutzen, ganz Eigentümer des<br />

Hofes zu werden. Preußens Westgrenze war nach dem Tilsiter Frieden 1807 die Elbe<br />

geworden, zwischen Elbe und Rhein wurden die Verhältnisse zu Gunsten der Familie<br />

Bonaparte neu geordnet. Ein Königreich Westfalen mit der Hauptstadt Kassel<br />

entstand, die alte Grafschaft Mark - und somit der Hof Steveling- fand sich im<br />

Großherzogtum Berg wieder. Bekanntlich hatte Napoleon einige Errungenschaften der<br />

Französischen Revolution mit sich gebracht, so den Code Napoleon, Vorläufer unseres<br />

Bürgerlichen Gesetzbuches, und die Abschaffung jeder Art bäuerlicher Hörigkeit,<br />

noch vor der preußischen "Bauernbefreiung" von 1810. Mit solcher Bauernbefreiung<br />

war der Bauer noch nicht Eigentümer seines Landes geworden. Er musste es vom<br />

Eigentümer ablösen bzw. kaufen. Dazu hat es beispielsweise in Preußen nach 1810<br />

einige "Regulierungen" gegeben, die es natürlich beiden Seiten, den Bauern und dem<br />

Adel, nicht recht machen konnten. Man kann sich vorstellen, dass <strong>hier</strong> ein erhebliches<br />

Problem steckte, das für viele Bauern eine unüberwindliche Hürde bedeutete. Caspar<br />

Diedrich Feldhaus fand nun im französischen Staat einen verkaufswilligen Eigentümer<br />

des Hofes und kaufte noch kurz vor Schluss der napoleonischen Vorstellung in Europa<br />

am 5. Oktober 1812 für 8922 Francs den Stevelinger Hof. Napoleon hatte seinen Zenit<br />

überschritten. Er stand im Russlandfeldzug, Moskau brannte (20.bis 25. September<br />

1812), Napoleons große Armee, darunter sehr viele unter Zwang geworbene Deutsche,<br />

musste fünf Wochen später im beginnenden russischen Winter den verhängnisvollen<br />

Rückzug antreten, den nur ca. 10% der Soldaten überlebten. Steveling ist also recht<br />

früh ein bäuerliches Eigentum geworden, ohne etwas von seiner Größe, wie sie sich<br />

1799 zeigte, zu verlieren. D.h., es reichte vom Tinsberg bis zur Hintersten Heide und<br />

vom Loh bis zum Schmandbruch.<br />

Die Erwähnung der napoleonischen Kriege gibt Anlass, auf ihren hiesigen Bezug<br />

einzugehen. Von Kriegsschauplätzen war Westfalen verschont, nicht aber von der<br />

Aushebung von Soldaten. Da war natürlich auch der Bereich Volmarstein betroffen,<br />

wie uns Berichte Friedrich Harkorts, vor allem auch des Volmarsteiner Bürgermeisters<br />

dieser Zeit (Maire der Mairie Volmarstein), Constanz Hueck auf Steinhausen,<br />

mitteilen (siehe Karl Schwerter - Verzeichnis s.u.). Von 1806 bis 1812 gibt es von<br />

französischen Ämtern hart erzwungene Aushebungen, die auch oft dazu führten, dass<br />

betroffene junge Männer flüchtig waren und die Familien Stellvertretungen erkaufen<br />

sollten. Französische Häscher suchten die Flüchtigen. Aus den 7 Bauernschaften des<br />

Bezirks Volmarstein und aus der Freiheit Volmarstein wurden solchermaßen 37<br />

Männer ausgehoben, wovon wahrscheinlich 11 flüchtig waren. Die "Freiheitskriege",<br />

die dann nach Napoleons Russlandfeldzug 1813 auf besondere Initiative Preußens<br />

einsetzten und in ganz Deutschland nationale Begeisterung auslösten, zeigen ein<br />

anderes Bild. In der Mairie Volmarstein gibt es ab 1813 56 Freiwillige, die<br />

53


überwiegend im Westfälischen Landwehr-Infantrie-Regiment Dienst tun. Der<br />

Stevelinger Hof war nicht betroffen, war doch Caspar Diedrich 1813 51 Jahre alt und<br />

sein ältester Sohn, Friedrich Peter, mal gerade 12. Aber die nächste Verwandtschaft<br />

war dabei, z.B. Caspar Heinrich Feldhaus von der Unteren Burg (geb. 1796), jüngerer<br />

Bruder des dortigen Hoferben und als solcher Neffe seines Onkels Caspar Diedrich auf<br />

Steveling. Er trat am 8.5.1815 als Freiwilliger ein, um mitzuhelfen den<br />

zurückgekehrten Napoleon endgültig zu schlagen. Ebenso trieb es den Schwager der<br />

Caroline Feldhaus, verh. Rüping, Tochter Caspar Diedrichs, den Johann Friedrich<br />

Rüping (geb. 1795) von der Oberen Burg im Mai 1815 zu den Waffen. Einen<br />

besonderen Fall gab es in der Nachbarschaft, der sehr bezeichnend ist. Ein Wilhelm<br />

Holtschmidt (Kotten Holtschmiede?, heutiger Reitplatz des Volmarsteiner Reitvereins)<br />

drückte in einem Brief am 8.11.1815 an Bürgermeister Hueck die Bitte aus, seinen<br />

Sohn als Soldat frühzeitig zu entlassen, da er ihn als "Fabrikant" seiner<br />

Schlossschmiede dringend brauche. Der Sohn war schon 1810 für Napoleons Armee<br />

ausgehoben worden, sollte sich 1811 in Hagen wegen des Abmarsches nach<br />

Düsseldorf zum "Bergischen Regiment" melden. Es ist anzunehmen, dass sich dieser<br />

durch Flucht entzogen hat. Er wäre sonst wohl auch ein Teilnehmer des<br />

Russlandfeldzuges geworden. Im Januar 1813 tritt er als Freiwilliger ins Westfälische<br />

Landwehr-Regiment ein und 1815 noch einmal. Er wird ein sehr typischer Fall unserer<br />

Region in dieser Zeit gewesen sein. Jedenfalls wird auch auf Steveling Napoleon für<br />

einige Jahre für Diskussionsstoff gesorgt haben und man wird die nationale<br />

Begeisterung gegen ihn geteilt haben, eine Begeisterung, die eben nicht nur in der<br />

Politik "ganz oben" bei den Steins, Arndts, Gneisenaus, Scharnhorsts, Blüchers, bei<br />

den Studenten, angefacht durch die Reden Fichtes in Berlin oder in den literarischen<br />

Zirkeln und Salons existent war, sondern auch bei den Volmarsteiner Bauern und<br />

"Fabrikanten", wie sich die noch bescheiden produzierenden Schlossschmiede<br />

nannten.<br />

Bleiben wir bei diesen Fabrikanten. Die Eisenverarbeitung war aus den nahen<br />

Sauerlandtälern (Wasserkraft, Holz) und dem Ennepe-Tal einerseits und aus dem<br />

Bergischen Land andererseits zu uns gekommen und hatte bei uns einen bestimmten<br />

Schwerpunkt ausgebildet, die Schlossherstellung und -etwas später- die Eisengießerei.<br />

Wir werden darauf noch kommen. Da traf es sich wunderbar, dass man südlich der<br />

Ruhr in unserem Raum die "schwarze Erde" fand und deren Brennwert schätzen lernte.<br />

Im 18. Jahrhundert löste diese magere Steinkohle die von Köhlern hergestellte<br />

Holzkohle ab. Sie konnte noch ziemlich an der Erdoberfläche abgebaut werden, ehe<br />

man im 19. Jahrhundert ab 1840 nördlich der Ruhr zum Tiefbau übergehen musste, um<br />

an die nach Nordosten abstreichenden Flöze zu kommen. Die Zeche Trappe im<br />

Schlebuscher Kohlefeld war noch um 1800 eine der bedeutendsten Zechen überhaupt.<br />

Sie existierte bis 1925. Diese Einleitung soll genügen, damit die Rolle des Stevelinger<br />

Hofes im beginnenden Kohlegeschäft verständlich wird. Es wird auch der Hintergrund<br />

dazu sein, dass Caspar Diedrich Feldhaus von den Franzosen den Stevelinger Hof so<br />

früh und offenbar finanziell problemlos erwerben konnte, wie andere Bauern in anders<br />

strukturierten Gegenden es nicht konnten (s.o.). Angebot und Nachfrage kamen in<br />

idealer Weise zusammen, es bedurfte nur des Handels, um die Kohle zu verteilen. Da<br />

die Wege der so genannten "Kohlentreiber" (Kohlendriewer) - Männer mit Kohlensäcken<br />

beladenen Pferdchen oder mit Pferd und Karre - Richtung Ennepe-Tal an<br />

54


Steveling vorbeiführten, lag es nahe, <strong>hier</strong> für den Bereich Volmarstein eine<br />

Kohlenverkaufsstelle einzurichten. Diese muss schon um 1800 von Caspar Diedrich<br />

eingerichtet worden sein. Anders könnte man die vorhandenen Kohlerechnungen der<br />

Jahre 1800, 1801 und 1802 nicht verstehen. Die Zeche (vielleicht Peter, schlecht zu<br />

lesen) führte allein für 1801 an 55 Tagen Lieferungen für 391 Taler an, das wären im<br />

Durchschnitt mehr als eine Lieferung pro Woche. Auch ist festzustellen, dass im<br />

Sommer auffallend viele Lieferungen erfolgten. Die Kohle war also weder nur für<br />

Steveling privat gedacht noch für Hausbrand überhaupt, sie kann nur überwiegend an<br />

die "Schmitten" der Umgebung gegangen sein. Solche Kohlelieferungen müssen im<br />

19. Jahrhundert ihren Fortgang genommen haben, liegen doch für die 50- er Jahre<br />

vorgedruckte Lieferscheine vor mit bestätigtem Erhalt, unterschrieben von Friedrich<br />

Peter, Sohn des Caspar Diedrich, so für 1859: "32 Scheffel Kohlen habe ich heute von<br />

der Schlebusch-Harkorter Eisenbahn erhalten." Das wären ca. 3 Kubikmeter Kohlen,<br />

eine beträchtliche Menge.<br />

Bevor wir Weiteres zum Thema Steveling und Kohlengeschäft berichten, gilt es ein<br />

Augenmerk zu legen auf die verkehrsmäßige Lage, die ja wegen der Zunahme von<br />

Handel und Gewerbe immer wichtiger wurde. Auch da sehen wir Steveling in einer<br />

besonderen Rolle. Es waren bedeutende Männer in unserem Raum, die das Problem<br />

klar erkannt hatten und zum Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts<br />

Initiative ergriffen. Zu nennen wären <strong>hier</strong> in zeitlicher Reihenfolge der Freiherr vom<br />

und zum Stein, der ja ab 1784 bis 1793 als Direktor der westfälischen Bergämter in<br />

Wetter war, der preußische Finanzrat und Zolldirektor Liebrecht auf Haus Sundern,<br />

Asbeck, der Unternehmer Johann Caspar Harkort, der Vater des Industriepioniers<br />

Friedrich Harkort, der Kammerbeamte und spätere Oberpräsident der Provinz Westfalen,<br />

Freiherr Ludwig von Vincke. Es heißt für Liebrecht, dass er verantwortlich sei<br />

für 120 km Straßenbau im heimischen Raum. Was hieß damals Straßenbau? Grundlos<br />

gewordene Wege mit tiefen "Geleisen" (Radspuren) wurden ausgekoffert, mit<br />

Steinschotter befestigt und links und rechts mit Gräben versehen, auch mit Bäumen.<br />

Sie konnten eine Breite bis zu 12 m haben (36 Fuß). Diese schon recht stattlichen<br />

"Straßen" wurden Chaussee genannt, <strong>hier</strong> bei uns, wen wundert es, schlicht und<br />

einfach Kohlenstraßen (Karl Schwerter: Kohlenstraßen s.u.). Zwischen 1794 und 1806<br />

wurden drei sehr wichtige Kohlenstraßen gebaut: 1. Die Wittener Kohlenstraße<br />

(Witten, Bommern, Hiddinghausen, Haßlinghausen, Barmen, Elberfeld), 2. Die<br />

Schlebusch Nirgenaer Kohlenstraße (Ruhr-Fähre, Haus Hove, Grundschöttel, Loh,<br />

Silschede, Gevelsberg), 3.Vogelsanger Kohlenstraße (Vogelsang, Schmandbruch,<br />

Loh). Die Vogelsanger Kohlenstraße hat nun unser besonderes Interesse. Sie war die<br />

Verbindung von Ennepe- und Ruhrtal, speziell zwischen dem Schlebuscher<br />

Kohlerevier und den Hammerwerken des Ennepe-Tals. Deswegen hatte auch ein<br />

bedeutender Inhaber eines Unternehmens, das schon sehr lange einen Sensen- und<br />

Sichelvertrieb bis Lübeck und Russland unterhielt, eben der oben bereits genannte<br />

Johann Caspar Harkort besonderes Interesse an dem Ausbau der Vogelsanger Straße.<br />

Die Straße über Enerke nach Haspe gab es ja noch nicht. Neben Harkort war es<br />

Liebrecht, der besonders aktiv wurde. Es hat 1801 einen Briefwechsel zwischen<br />

Caspar Diedrich Feldhaus und diesen beiden Initiatoren gegeben. Worum geht es da?<br />

Es liegt seit 1797 ein "Kosten Anschlag" aus dem Hause Liebrecht vor, Verfasser ein<br />

gewisser Lausberg, der sich auf 4132 Taler für den Ausbau der Vogelsanger Straße<br />

55


eläuft. Berechnet werden das Planieren (und Aushub) , das Brechen, Fahren,<br />

Zerschlagen der Steine und sonstige Arbeiten. Harkort bezieht sich in seinem Brief an<br />

Feldhaus auf dieses Zahlenwerk und will seinem Partner einen Finanzierungsplan<br />

schmackhaft machen. Er will Institutionen bzw. Interessenten an der Finanzierung<br />

beteiligen. Er zeigt es am Beispiel des Kostenanteils der Straße, auf Gebiet der<br />

Bauernschaft Grundschöttel gelegen = 1811 Taler. Heranziehen will er die Kohlengewerke,<br />

also die Zechenteilhaber, das staatliche Bergamt und bestimmte<br />

Dienstleister. Dann blieben 1000 Taler zu finanzieren übrig. Diese will er über Kredit<br />

finanzieren zu 10 Stück a 100 Taler oder zu 20 Stück a 50 Taler. Er wolle gerne etwas<br />

übernehmen, andere "Vermögende" sicher auch. Hier wird er wohl den Caspar<br />

Diedrich Feldhaus angesprochen haben, der ja auch mit dem meisten Land Anlieger<br />

und Nutznießer der Straße war. Der Brief schließt warmherzig: "Dies ist nur so meine<br />

ohnmaßgebliche Meinung, prüfen Sie sie gefällig näher mit Ihren Bekannten und<br />

lassen uns jetzt suchen, die Sache in Richtigkeit zu bringen, weil sie einmal ernsthaft<br />

in Bewegung ist. Höflich grüße ich Sie Johann Caspar Harkort." Finanzrat Liebrecht<br />

lässt Feldhaus 1802 eine Notiz zukommen mit dem interessanten Hinweis, er<br />

(Feldhaus) habe sich " bei der Wegbesichtigung vom Loh nach Vogelsang bereits<br />

mündlich dazu willig erklärt, dass er es zu erleiden habe, wenn dieser Weg durch<br />

seinen Hof und über sein Feld verlegt würde". Er solle das aber bei einem Termin auf<br />

Sundern auch schriftlich zu Protokoll geben. Wann die Straße fertig war, wird nicht so<br />

ganz klar. Wir sehen bei diesem Projekt eine sich ergänzende Tätigkeit von Privat- und<br />

Staatsinitiative. Planung und Genehmigung werden vom Staat dominiert,<br />

Durchführung und Finanzierung von privater Hand, Unterhaltung dann wieder vom<br />

Staat, der sich Geld verschafft, indem er eine Maut nimmt. Also setzte der Staat einen<br />

"königlich preußischen Wegegeldempfänger" 1815 ein, der einen entsprechenden Eid<br />

leisten musste: "Ich schwöre...bei Gott dem Allmächtigen, dass ich Seiner Majestät<br />

dem Könige von Preußen, Friedrich Wilhelm dem III, meinem allergnädigsten<br />

Herrn, ...alle mir obliegenden Pflichten erfüllen will..." Der dazu ausersehene Wegegeldempfänger<br />

war kein anderer als Caspar Diedrich Feldhaus, der ja als Anlieger das<br />

größte Interesse hatte, dass die Straße mit dem eingenommenen Geld betrieben werden<br />

konnte. Natürlich lief der Vorgang über den Oberpräsidenten der neuen Provinz<br />

Westfalen (1815) in Münster, der eine Ausfertigung des Eides bekam. Die neue Straße<br />

war also eine Provinzialstraße. Zur Ausübung seiner Pflicht bekam Caspar Diedrich<br />

eine Schranke vor das Haus gesetzt, an der jemand den Wegezoll einzuziehen hatte.<br />

Der preußische Staat behandelte die Sache so ernst, dass der Wegegeldempfänger zur<br />

Sicherung dieses Geschäfts eine Kaution von 100 Talern als Schuld ins Grundbuch<br />

eintragen lassen musste.<br />

Dazu passt die <strong>Geschichte</strong>, die Lindscheidt erzählt, dass eines Tages der Oberpräsident<br />

Vincke, im Blaukittel verkleidet, in die Stevelinger Gasthofstube kam, die es dort gab,<br />

und den alten Feldhaus in ein Gespräch über den Wegegeldempfang verwickelte.<br />

Caspar Diedrich beklagte sich über das geringe Wegegeld von 2 Pfg Der Fremde<br />

versprach ihm für 5Pfg zu sorgen, weswegen ihn Feldhaus auslachte, weil er ihn für<br />

einen Bauern hielt. Die Bestätigung aus Münster zeigte, dass er mit dem<br />

Oberpräsidenten gesprochen hatte. Ludwig von Vincke liebte solche Begegnungen mit<br />

seinen Westfalen. Er soll noch verschiedene Male, diesmal nicht verkleidet, auf<br />

Steveling gewesen sein. Nun ist noch die Frage interessant, wie kommt Steveling zu<br />

einem Gasthof, dessen Zimmer mit ihren Durchreichen heute noch zu identifizieren<br />

56


sind? Wir können uns diese Kohlenstraßen gar nicht betriebsam genug vorstellen.<br />

Karl Schwerter zitiert einen Bericht des Bergamtes Dortmund, wonach die Wittener<br />

Kohlenstraße 1826 "die befahrenste Straße im ganzen preußischen Staate" gewesen<br />

sei. Die Folge sei gewesen, dass sie (um 1840) 20 Wirtshäuser aufgewiesen habe, also<br />

pro Kilometer ein Wirtshaus! Vor allem die Kohlentreiber seien geübte Schnapstrinker<br />

gewesen. Ihr Ruf war nicht der beste. Schauen wir zur Vogelsanger Straße. Es war<br />

nicht anders. Wir registrieren fünf Gasthöfe zu der Zeit: Loh, Steveling,<br />

Schmandbruch (heute Schuster), Delle, Vogelsang, und das auf 4 bis 5 Kilometer. Da<br />

sage jemand, <strong>hier</strong> sei nichts los gewesen. Vielleicht hat ja auch in seinen Anfängen das<br />

"schwarze Gold" einen Hauch von Goldgräberstimmung in unser Gebiet gebracht. Ich<br />

sage das schon einmal, weil später ein mysteriöser Kriminalfall (Mord) zu registrieren<br />

ist, der ein Familienmitglied der Feldhaus als Opfer sieht. Bleiben wir noch einen<br />

Moment bei Johann Caspar Diedrich Feldhaus und werfen einen Blick auf seine<br />

Familie, entdecken wir <strong>hier</strong> doch auch viel Zeittypisches.<br />

Caspar Diedrich hatte mit zwei Frauen zehn Kinder. Mit seiner ersten Frau, Johanna<br />

Elisabeth Becker, die wir schon kennen, hatte er von 1798 bis 1806 sechs Kinder<br />

bekommen, drei Jungen und drei Mädchen. Das erste und das sechste Kind, zwei<br />

Jungen, starben nach wenigen Monaten. Es scheint so gewesen zu sein, dass Johanna<br />

Elisabeth, die Mutter, an den Folgen der sechsten Geburt im Jahre 1807 gestorben ist.<br />

Sie war 36 Jahre alt. Caspar Diedrich verheiratete sich im Jahr 1808 wieder, und zwar<br />

mit Louise Philippine Nase aus Hagen-Holthausen. Ein Junge wurde 1809 geboren,<br />

den sie auch Johann Caspar Diedrich nannten, der aber nach zehn Monaten starb. Bis<br />

1815, ihrem Sterbedatum, schenkte Louise noch zwei Jungen und einem Mädchen das<br />

Leben. auch sie scheint an den Folgen der letzten Geburt im selben Jahr gestorben zu<br />

sein. Sie war 29 Jahre. Die sieben lebenden Kinder blieben in der Nähe und waren alle<br />

verheiratet. Der schon erwähnte Friedrich Peter übernahm 26 jährig im Jahre 1827<br />

den Hof. Die vier Mädchen heirateten zur Oberen Burg (Rüping), nach<br />

Schülinghausen (Hedtmann), zum Schölling (Peddinghaus), nach Voerde (Rosenkranz,<br />

Metzger). Die beiden Söhne heirateten (Uhrmacher und Wirt) zum Loh und auf die<br />

Berkenberg (Bauer). Nach dem Tod seiner Frau Louise (1815) stand der 53 jährige<br />

Caspar Diedrich mit seinen noch minderjährigen Kindern allein. Er blieb aber auch in<br />

seiner Familie der nach vorne blickende und in diesem Falle fürsorgliche<br />

Familienvater. Es ist ein Brief vorhanden, in dem sich der Vater energisch für die<br />

schulischen Belange seines Sohnes Friedrich Peter einsetzte. Friedrich war somit wohl<br />

in der letzten Klasse der Schule in Volmarstein Dorf. Lehrer Holthaus hatte seinen<br />

Sohn, so schreibt Caspar Diedrich in seiner Beschwerde an den Schulvorstand, des<br />

Unterrichts verwiesen, was nun die ganze Empörung des Vaters auslöste. Es ging ihm<br />

nicht darum, das offenbar heftige Gerangel zwischen seinem Sohn und einem<br />

Mitschüler zu bezweifeln bzw. zu beschönigen oder die Androhung der Prügel durch<br />

den Lehrer zu kritisieren. Er bemängelt den Unterrichtsausschluss, der auch die Folge<br />

habe, dass sein Sohn nun nicht mehr die Schule besuchen wolle. Er schreibt: "Dies<br />

kann auf die heutige Bildung deshalben einen sehr schuldig Einfluss haben und ist<br />

umso kränkender für mich, da er (sein Sohn) als Mutter bloß (ohne Mutter) waise<br />

seine Erziehung bloß der Schule nächst mir künftig verdanken wird." Er bittet den<br />

Vorstand, diesen "Unfug" abzuschaffen. Tun sie es nicht, will er den Fall der<br />

"nächsten betreffenden Behörde" vorlegen. Als er zur Schule gegangen sei, "wurden<br />

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wir ganz unterrichtet und alle Zeit zu den Lehren gehalten." Neben dem<br />

Schmunzeleffekt enthält dieser Brief die fortschrittliche Erkenntnis dieser Zeit, dass<br />

regelmäßige Schulbildung angesagt war. Selbstverständlich war das noch nicht. Für<br />

1832 heißt es in einem Bericht (Use laiwe Häime Nr.1, 1925), dass 34 Kinder im<br />

Bereich der Sandberger Schule (Vosshöfen) vom Bürgermeister wegen erheblicher<br />

Schulversäumnisse bestraft werden mussten. Es wundert nicht, dass Caspar Diedrich<br />

und sein Sohn Friedrich Peter am Ausbau des Grundschöttler Schulwesens beteiligt<br />

waren. 1829 wurde auf ihrem Grund und Boden oberhalb des Hofes die Loher Schule<br />

für die Gemeinde Grundschöttel errichtet. Der damalige Schulbezirk war<br />

Grundschöttel/Oberwengern, der auch Esborn und Silschede umfasste - mit den drei<br />

Schulen Sandberg (1826), Loh (1829) und Grundschöttel (erst 1869). Das enge<br />

Verhältnis zwischen Steveling und Schule Loh blieb noch lange erhalten. Fand doch<br />

häufig im 2. Weltkrieg bei Bombenalarm der Unterricht im Luftschutzkeller auf<br />

Steveling statt. Lehrer Lindscheidt wohnte vor seiner Heirat auf Steveling.<br />

Mit einem letzten Beispiel können wir den Caspar Diedrich Feldhaus als Landwirt und<br />

Familienvater in Szene setzen. Der nun 64 jährige gichtgeplagte Witwer, wie er selbst<br />

von sich sagte, befand sich in einer Notlage. Sein 21 jähriger Sohn Friedrich Peter<br />

stand an, die Militärdienstzeit abzuleisten. Caspar Diedrich hatte noch 5 minderjährige<br />

Kinder zu Hause. So wollte er 1822 die Freistellung seines Sohnes bewirken. Er<br />

schrieb an die Militärkommission sehr klar und plausibel: "Würde mir also mein<br />

ältester Sohn genommen, so wäre dies nicht allein ein harter Schlag für mich und<br />

meine übrigen Kinder, sondern es würden auch die vielen und schweren Abgaben<br />

ohne völligen Ruin des Guthes nicht bestritten werden können." Ob er die Freistellung<br />

bekommen hat, ist nicht bekannt, aber anzunehmen. Berlin bekam häufig solche<br />

Bittsteller-Briefe seiner etwas "widerborstigen" westfälischen Untertanen.<br />

Ausgerechnet Friedrich Peter hatte später vier Söhne, die Preußen zur Zeit der<br />

Bismarckschen Kriege 1864 bis 1870 als Soldaten dienten.<br />

3. Kapitel : Friedrich Peter Feldhaus und die Erben<br />

- Alltag auf Steveling - Steveling und die Reichsgründung<br />

Mit dem Tode Caspar Diedrichs 1840 ist der Einstand der Feldhäuser auf Steveling<br />

abgeschlossen. Wir hatten gesehen, dass sein Sohn Friedrich Peter (geb. 1801) aus<br />

einer großen Kinderschar 1827 der Hoferbe wurde. Im Unterschied zum 18.<br />

Jahrhundert gestaltete sich nun für zwei Generationen das Erben auf Steveling<br />

komplizierter, weil eben viele Kinder da waren. Friedrich Peter wurde Eigentümer<br />

zum "Preis" von 8063 Talern, die er für die Leibrente des Vaters und für die<br />

Abfindung der Geschwister aufbringen musste, grundbuchamtlich festgelegt. Zu einer<br />

kleinen Unstimmigkeit kam es schon 1831 beim Tode seiner älteren Schwester<br />

Caroline, als deren Mann Forderungen stellte. Friedrich Peter selbst hatte aus zwei<br />

Ehen (1. Elisabeth geb. Reschop, 2.Catharina Maria geb. Schulte) insgesamt 14 Kinde,<br />

wovon 4 Kinder schon früh verstarben. Schwierig wurde es 1841 nach dem Tod der<br />

ersten Frau. Zunächst wollte man eine Erbauseinandersetzung und stellte gerichtlich in<br />

einem aufwändigen Rezess den Wert von Haus und Hof fest , kam aber 1843 auf eine<br />

Erbengemeinschaft zurück, wonach der Vater Friedrich Peter die eine Hälfte, die<br />

andere die vier lebenden Kinder aus dieser ersten Ehe erhielten. Schon 1844 war man<br />

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wieder bei der Erbauseinandersetzung, indem der Sohn Friedrich Peter (geb. 1835) als<br />

Neunjähriger zum Hoferben eingesetzt wurde. Der zweite Sohn Friedrich Peters aus<br />

erster Ehe, Carl (geb, 1839), hatte schon 1841 den Hof Schölling bekommen, den jener<br />

von seiner verstorbenen Schwester, verheiratete Peddinghaus (Uhrmacher), geerbt<br />

hatte. Somit hatten beide Söhne aus erster Ehe, noch minderjährig, einen Hof und die<br />

Eigentumsverhältnisse waren zu Gunsten zweier funktionierender Bauernhöfe<br />

gesichert. Hintergrund dieser Ereignisse von 1841 bis 1844 war folgender, den wir als<br />

Nachgeborene milde zu bewerten haben.<br />

Der Vater Friedrich Peter (40 jährig) war in dieser Zeit, ohne Frau und Mutter seiner<br />

vier Kinder im Alter von 2 bis 15 Jahren, in arger Bedrängnis. Es kam, wie es wohl<br />

nicht kommen sollte. Er lernte die Catharina Maria Schulte aus Wetter kennen und<br />

hatte seit dem 9.7.1843 - ohne Trauschein - mit ihr den Sohn Julius. Das Verhältnis<br />

wurde im nächsten Jahr am 4. Mai 1844 legalisiert. Der verwirrenden Ereignisse noch<br />

nicht genug: Im April 1844 war die 12 jährige Lisette (aus erster Ehe) gestorben. Auf<br />

Steveling musste wieder Ruhe einkehren. Somit wollen auch wir jetzt einen Blick<br />

werfen auf ganz normale alltägliche Ereignisse, die uns Steuer- und Abgabezettel<br />

unter Stevelings Dokumenten nahe legen. Landwirtschaft, Kohlehandel und Gaststätte<br />

nahmen ihren Gang und erforderten die staatlichen Pflichten in Form von<br />

Steuerzahlungen. Ein Hof wie Steveling hatte Grundsteuer, Klassensteuer,<br />

Gewerbesteuer und Kommunalsteuer zu leisten. Als zuständige Finanzbehörde<br />

erscheint Mitte des Jahrhunderts Gevelsberg. Die Grundsteuer ist die traditionelle<br />

Steuer des alten absolutistischen Staates. Die Grundlage dazu ist die "Mutterrolle" der<br />

Grundstücke, die beim Amt Volmarstein für seine Gemeinden lag. Hier werden<br />

Grundstücksart (Wohnhaus, Acker, Wiese, Holzung), Grundstücksklasse (Güte) und<br />

Katastral - Reinertrag bestimmt. Friedrich Peter zahlte 1851 54 Taler Grundsteuer.<br />

Die Klassensteuer ist die Vorgängerin der Einkommensteuer und basiert in Preußen im<br />

Zuge der Reformen auf dem Gesetz von 1820. Steuerzettel von 1822 und 1851<br />

zeigen, dass sich Steveling in der Steuerklasse 2 befand (mit einem Betrag von 12<br />

Talern) und die Pflicht hatte, die Hofbediensteten anzugeben und für sie die Steuer<br />

der Klasse 4 = 15 Silbergroschen pro Person zu entrichten. Für 1822 sind zum<br />

Beispiel der "Kuhhirte" Diedrich Heinrich Krüner (ein Grund-schöttler Name vom<br />

Stetroth) und der "Kohlentreiber" Diedrich Wupper (Vater des Gießereigründers<br />

Caspar Diedrich Wupper am Loh? s.u.) angegeben. An Gewerbesteuer muss Steveling<br />

4 Taler entrichten wegen seiner Schankwirtschaft (s.u.). Auch eine Kommunalsteuer<br />

von 14 Talern ist fällig, deren Steuer-Hebe-Rolle vom Kreis Hagen genehmigt sein<br />

muss. An weiteren Abgaben gab es für die "Eingesessenen" das Kirchgeld und das<br />

Armengeld. Da Friedrich Peter 1832 Kirchmeister und Rendant der Kirchenkasse war<br />

(31 jährig), liegt das Abrechnungsheft für 1832 vor. Das Kirchgeld betrug für das Jahr<br />

13 Taler. Die große Kirchengemeinde Volmarstein (bis Berge und Asbeck) hatte einen<br />

Etat von 619 Talern Einnahmen und 605 Talern Ausgaben. Unter den Ausgaben<br />

finden sich solche: An den Gastwirt Mullerus für Feuer und Licht bei der<br />

Konsistorialversammlung = 11 Silbergroschen, ebenso für den gelieferten<br />

Communions-Wein = 15 Taler, an Prediger Ostendorf für Schreibmaterialien und<br />

Wachs = 2 Taler (ca. 100 Euro) , an Lehrer und Küster Lähnemann für Orgelspiel,<br />

Wachs und Heizung der Sakristei = 15 Taler, an Bälgetreter (Luft für die Orgel)<br />

Moritz Scherer für 1832 = 3 Taler. Die Bezahlung des Pfarrers wurde natürlich nicht -<br />

wie auch heute- aus dem örtlichen Etat geleistet.<br />

59


Eine schon alte Tradition war die örtliche Armenkasse, in die Steveling ca. 3 Taler<br />

einzuzahlen hatte. Sie war eine eigene Kasse, die ein Rendant führte und die dieser zur<br />

Prüfung dem Presbyterium und dem Superintendenten vorzulegen hatte. Eine sauber<br />

geführte Abrechnung liegt für 1847 vor, weil Friedrich Peter diese Abrechnung<br />

bekam, die er als Presbyteriumsmitglied (8 Unterschriften am 12.4.1848) zu unterzeichnen<br />

hatte. Rendant war der Gemeindediakon Wehberg. Der Etat belief sich auf<br />

740 Taler Einnahmen und 774 Taler Ausgaben. Den Löwenanteil an den Einnahmen<br />

bilden nicht die "Armengelder" (= 95 Taler), sondern die Zuschüsse aus den<br />

Kommunalkassen (70 %) von Volmarstein, Silschede, Asbeck, Berge, Grundschöttel<br />

und Wengern und auch aus Vorhalle (= 515 Taler). Sammlungen in der Kirchengemeinde<br />

brachten 58 Taler, Kindtaufespenden 16 Taler und ausgeliehene<br />

Leichentücher 9 Taler. Es ist erstaunlich, wie umfangreich diese Kasse schon war. An<br />

regelmäßigen Unterstützungen flossen an 42 Arme insgesamt 444 Taler im Jahr, die<br />

pro Person in Monatszahlungen zur Verfügung standen. Eine solche Monatszahlung<br />

lag dann bei knapp einem Taler. An 22 Hauswirte wurden jährlich 129 Taler gezahlt,<br />

an außerordentlicher Unterstützung( 24 Namen) wurden 25 Taler gezahlt. Somit<br />

ergeben sich Zahlungen an insgesamt ca.180 Personen, wenn man in den Hauswirte-<br />

Haushaltungen mit 5 Personen rechnet. Hinzu kommt noch die Beschaffung von<br />

Kleidungsstücken für 64 Taler (10 Namen). Der Aufwand an Finanzen und<br />

Organisation ist schon bemerkenswert. Eine kuriose, sehr alte Abgabe der<br />

eingesessenen Bauern sei <strong>hier</strong> noch erwähnt. Es war eine jährliche Abgabe von einem<br />

Scheffel Hafer an das Pastorat und eine Abgabe von einem halben Scheffel Roggen an<br />

die Küsterei in Volmarstein zu tätigen. Diese Abgaben waren sogar grundbuchamtlich<br />

festgehalten. Die Eintragung und damit auch die Sache wurde 1873<br />

aufgehoben. (Raummaß 1 Scheffel = 100 Liter)<br />

Es versteht sich, dass in Zeiten der noch fehlenden Krankheits- und Alterssicherung in<br />

Not geratene Menschen sich an solche wandten, von denen sie eine Hilfe zu<br />

bekommen meinten. Zu solchen Adressaten gehörte wohl Friedrich Peter Feldhaus.<br />

Ein gewisser Franz Arnold Stürcken wendet sich als Bittsteller an ihn und Friedrich<br />

Peter hat das Schreiben aufbewahrt. Stürcken bittet um die "freiwillige Gabe", mit<br />

Feldhaus` Hilfe "nach dem Schwelmer Brunnen in das Bad zu gehen". Er habe durch<br />

Blutauswurf, Gicht und schlechte Brust keine gesunde Stunde mehr. Es bleibe ihm nur<br />

diese Bitte übrig. In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts war der "Schwelmer<br />

Brunnen" ein häufig aufgesuchter, auch dem Amusement sehr zugetaner Ort, auf den<br />

die frommen "Erweckten" aus dem Wupper-Tal sehr argwöhnisch blickten. Vielleicht<br />

hat Friedrich Peter dem Stürcken ja einen Aufenthalt gewährt.<br />

Kehren wir zur Hofgeschichte zurück. Der Vater Friedrich Peter wird nach der<br />

Erbauseinandersetzung von 1844 in Erwartung der Volljährigkeit seiner Söhne<br />

Friedrich Peter und Carl (s.o.) deren beide Höfe Steveling und Schölling<br />

bewirtschaftet haben. Zur tatsächlichen Hofübernahme durch Friedrich Peter den<br />

Jüngeren ist es aber 1856 (volljährig) auf Steveling nicht gekommen, weil dieser,<br />

sc<strong>hier</strong> unglaublich, 1855 erschlagen wurde. Wir hatten dieses traurige Ereignis oben<br />

schon erwähnt und hatten es den turbulenten Gold- bzw. Kohlegräberverhältnissen der<br />

Zeit zugeschrieben. Danach könnte es ein Raubüberfall gewesen sein. Das Hoferbe<br />

ging dann 11 Jahre später 1866, nachdem auch Friedrich Peters zweite Frau im selben<br />

Jahr gestorben war, an deren Sohn, den gerade volljährig gewordenen Gustav Adolf<br />

60


(geb. 1845). Er musste zur Unterstützung seines Vaters und zur Abfindung seiner<br />

Geschwister eine beträchtliche Summe aufbringen, Kapital, was er sich vermutlich erst<br />

beschaffen musste (s.u.). Für Gustav Adolfs noch minderjährige Geschwister musste<br />

ein Curator bestellt werden. Es war der Feingießer Christian Schüttler, der noch eine<br />

besondere Rolle in der heimischen Industriegeschichte spielen wird und offenbar ein<br />

Freund des Hauses auf Steveling war.<br />

Die 60er Jahre sind auf Steveling sehr geprägt durch die politisch-kriegerischen<br />

Ereignisse, die der 1862 ernannte preußische Ministerpräsident, Otto von Bismarck,<br />

vorantrieb und mit der Reichsgründung am 18.1.1871 abschloss. Das kam schon<br />

dadurch, dass es auf Steveling vier Söhne im militärdienstpflichtigen Alter gab: Carl<br />

(geb. 1839), Julius (geb. 1843), Gustav Adolf (geb. 1845) und Eduard (geb. 1846). Der<br />

jüngste Sohn, Reinhold, (geb. 1854) war noch zu jung. Carl trat wohl seine dreijährige<br />

Dienstzeit 1860 an, erlebte innerhalb der Armee 1862 den brisanten Streit Bismarcks<br />

mit dem mehrheitlich liberalen preußischen Abgeordnetenhaus, welches die Gelder für<br />

die Heeresreform nicht bewilligen wollte. Bismarck führte bekanntlich unter diesen<br />

Verhältnissen den dänischen (1864) und den oesterreichischen Krieg (1866), ehe er<br />

sich als erfolgreicher Konstrukteur des Norddeutschen Bundes die nachträgliche<br />

Bewilligung (mit Indemnität) des Hauses mit der Hilfe der "Nationalliberalen" holte,<br />

die sich von den Linksliberalen getrennt hatten. Carl Feldhaus hat an dem dänischen<br />

Krieg teilgenommen, wie ein Brief vom Sommer 1864 aus Aalborg zeigt. Julius trat<br />

seinen Dienst in Köln an, wurde aber, wie er schreibt, an die dänische Grenze versetzt.<br />

Vom oesterreichischen Krieg erfahren wir nichts. Gustav Adolf kam 1866 nach<br />

Potsdam zum namhaften Garde-Regiment, was er wohl seiner "Länge" von 1,90 m<br />

verdankte. Er nahm am deutsch-französischen Krieg vom Frühsommer bis Dezember<br />

1870 teil. Von Eduards Aktivität erfahren wir nichts. Was das politische Denken in<br />

Deutschland betrifft, erleben wir in diesen Jahren eine Art Achsen-Zeit. Der Erfolg<br />

gab Bismarck recht und er war in der Lage, einen großen Teil des liberalen<br />

Bürgertums in Form des National-Liberalismus auf seine Seite zu ziehen. Dieser<br />

Effekt zeigte sich besonders deutlich in den preußischen Westprovinzen, also bei uns.<br />

Waren bis dahin in Rheinland und Westfalen trotz gemeinsamen Engagements in den<br />

Freiheitskriegen gegen Napoleon starke Animositäten gegenüber dem "ostelbischen<br />

Junkerstaat" Preußen vorhanden, so schwächte sich diese Haltung mit der progressiven<br />

preußischen Wirtschaftspolitik und dem "Einheitsstreben" Bismarcks ab. Die<br />

linksliberale Position (seit 1862 Fortschrittspartei) des hiesigen Industriepioniers und<br />

Politikers Friedrich Harkort, von 1849 bis 1872 Mitglied des preußischen<br />

Abgeordnetenhauses, von 1867 bis 1874 Mitglied des norddeutschen bzw. des<br />

deutschen Reichstages, war nicht mehr unumstritten. Er hielt an seiner prinzipiellen<br />

Opposition seit 1862 und an seiner Bismarckgegnerschaft fest. Die oben schon<br />

erwähnte Frau Liselotte Funcke schreibt von ihrem Vorfahren Wilhelm Funcke,<br />

einem bedeutenden Unternehmer in Hagen (S. 23): "1871 wechselte Wilhelm Funcke<br />

von den Fortschrittlichen zu den Nationalliberalen, während sein Bruder Julius<br />

weiterhin ein Anhänger von Friedrich Harkort und seinem Nachfolger Eugen Richter<br />

blieb." Das Verhältnis der Linksliberalen zu Bismarck und umgekehrt blieb bis zum<br />

Ende vergiftet. Harkort und besonders Richter waren Bismarcks "Lieblingsfeinde" und<br />

sie mussten jederzeit mit seinem Spott rechnen. Auf Steveling lag es offenbar<br />

besonders nahe, mit dem ostelbischen Junker Frieden zu machen. Hatte er doch eine -<br />

61


wie man es <strong>hier</strong> im Westen fand- patriotische Politik, an der die vier Stevelinger<br />

Brüder auf ihre Art mitgewirkt hatten, mit der Reichsgründung erfolgreich<br />

abgeschlossen. Besonders lang nachwirkende Verkörperung dieser patriotischen<br />

Haltung einschließlich der Bismarckverehrung war die Frau Gustav Adolfs, Julie, die<br />

viele dieser Ereignisse so erzählen konnte, als sei sie unmittelbar dabei gewesen. Sie<br />

wurde sehr alt (90 Jahre), starb erst 1941.<br />

Wir hatten gesehen, dass Gustav Adolf 1866 Hoferbe auf Steveling geworden war -<br />

mit allen Erbverpflichtungen bezüglich seines Vaters Friedrich Peter und seiner<br />

Geschwister. Es sieht so aus, als sei das gute Familienverhältnis, so wie es die Briefe<br />

der Soldatendienst tuenden Brüder in den 60er Jahren nahelegen, doch später zeitweise<br />

getrübt gewesen durch diese Frage der erbschaftlichen Verpflichtungen. Schon 1869<br />

scheint Gustav Adolf in großer Not gewesen zu sein. Er ist als Grenadier in Potsdam<br />

bei der Leib-Companie Erstes Garde Regiment zu Fuß, wie seine vollständige<br />

Adresse heißt. Der Kaufmann Julius Funcke (s.o.), der offenbar mit der Familie gut<br />

bekannt und mit den Erbfinanzen Stevelings befasst war, schrieb ihm einen Brandbrief<br />

des Inhalts, dass eine Klage der Erben gegen ihn, Gustav Adolf, anstehe, dass er diese<br />

Klage unter allen Umständen vermeiden und sich Geld bei Hofmann- Stern in Hagen<br />

leihen solle. Er versteht nicht, dass er oder sein Vater Friedrich Peter nicht längst beim<br />

König um Entlassung in dieser Situation eingekommen sei. Dahinter steckt wohl die<br />

Tatsache, dass Gustav Adolf anstelle des verstorbenen Halbbruders Friedrich Peter<br />

(s.o.) den Hof erworben hat, indem er ihn für 20.000 Taler quasi gekauft hat! Die<br />

Forderung der5 Erben von 1669 wird sich auf diese Summe beziehen, die dann wohl<br />

wirklich beigebracht worden ist. Eine schwierige Lage gibt es noch einmal 1879/80,<br />

als es wegen Fragen der Leibrente des Vaters Friedrich Peter wohl wirklich zu einem<br />

Prozess an der Zivilkammer des Hagener Landgerichtes kam und Gustav Adolf die<br />

Leibzucht des Vaters von April bis Dezember 1879 = 562 Mark (Umstellung 1873<br />

von Taler auf Mark 1 zu 3, s.u.) zahlen musste. Diese Rente wurde vierteljährlich mit<br />

186 Mark entrichtet. Spätestens ab 1874 hat Friedrich Peter den Absender "Bülbring<br />

bei Voerde". Sein Sohn Julius hatte in den dortigen Hof Krüner eingeheiratet.<br />

Kurios ist 1869 eine Erbschaftsforderung aus Naperville-Illinois, USA, die zu Lasten<br />

Gustav Adolfs ins Hypothekenbuch beim Kreisgericht in Hagen eingetragen wird. Ein<br />

gewisser Heinrich Horstmann meldet sich als Erbe einer Witwe Horstmann im Besitz<br />

eines entsprechenden Testaments von ihr. Es gibt tatsächlich von 1864, als Gustav<br />

Adolf noch nicht Hoferbe war, ein Papier zur Eintragung zu Gunsten einer Witwe<br />

Horstmann geb. Zeng zu Heidelberg. In einem Verzeichnis im Internet über<br />

Hochzeiten und Geburten, zu erreichen über Naperville-Illinois, findet man einen<br />

Henry Horstmann "confirmed 1866 Easter, first german ev. luth." Er wäre demnach<br />

1852 in Deutschland geboren. Am Ende wird auch das Verhältnis Gustav Adolfs zu<br />

seinem älteren Bruder Carl nicht mehr ganz so gut gewesen sein, wie es mal war, als<br />

sich die beiden Brüder die Schwestern Auguste und Julie Feldhaus (Töchter von<br />

Caspar Diedrich Feldhaus, Uhrmacher, Laden und Gaststätte am Loh, heute Humpert)<br />

zur Heirat auserkoren hatten. Alle vier hatten einen gemeinsamen Großvater, Caspar<br />

Diedrich den Älteren (s.o.), aber nicht eine gemeinsame Groß-mutter(zwei Ehen<br />

Caspar Diedrichs). Carl war Hofbesitzer auf Schölling und hatte den Nachbarhof<br />

Oberberge (heute unmittelbar an der Autobahn gelegen) 1872 dazu gekauft. Es heißt,<br />

dass der später verkaufswillige Carl nicht an seinen Bruder Gustav Adolf verkaufen<br />

62


wollte. Schölling wurde an Familie Friedhoff und Oberberge an Hugo Böving<br />

verkauft. Der Vollständigkeit wegen sei hinzugefügt, dass es noch einen Feldhaus-<br />

Besitz in der Nähe gab. Der jüngste Bruder dieser Generation, Reinhold, heiratete die<br />

Amalie Vohmann am Loh (Nähe Wasserturm), wo es eine Gaststätte mit Bäckerei gab.<br />

Gustav Adolf hatte sich wohl in den 80er Jahren zumindest finanziell wieder erholt (s.<br />

nächstes Kapitel) und war z.B. in der Lage, ein im Jahr 1883 aufgenommenes<br />

Darlehen von 16800 Mark im Jahre 1888 an den Geber, eben jenen Kaufmann Julius<br />

Funcke in Hagen zurückzuzahlen. Es könnte sich um Geld handeln, das Gustav Adolf<br />

für den Kauf des Hofes (s.o.) aufnehmen musste. Im nächsten Kapitel werden uns die<br />

Familiengeschichtchen nicht mehr interessieren müssen, es geht um die<br />

Ortsentwicklung und um die Erfolgsgeschichte des Gustav Adolf, der sich offenbar<br />

erst aus solchen Drangsalen emporarbeiten musste. Eines darf schon gesagt werden:<br />

Gustav Adolf hatte nicht 14 Kinder, sondern nur eine Tochter !<br />

4. Kapitel : Der "Kaufmann" Gustav Adolf Feldhaus - Kapital und Gewerbe<br />

zwischen Schmandbruch und Loh<br />

Wir kommen nun zu einem Kernstück unserer Hofgeschichte. Hier prägt sich<br />

besonders stark die regionaltypische Eigenart aus, dass sich Landwirtschaft, Gewerbe,<br />

Handel und Finanzen durchdringen. Der Kohletransport vom Schlebuscher<br />

Kohlenrevier ins Ennepe-Tal (am Hof vorbei) hat eine viel beachtete technische<br />

Steigerung erfahren, d.h., die Schlebusch-Harkorter Pferdebahn wurde eingerichtet.<br />

Der Drang, mit verbesserter Eisenbearbeitung am wirtschaftlichen Fortschritt<br />

teilzuhaben, ist <strong>hier</strong> besonders deutlich geworden, d.h., die Feingussherstellung<br />

(Temperguss) hat Einzug gehalten. Der Landbedarf solcher Fabrikbetriebe will<br />

befriedigt sein, d.h., neben und nach den Schmieden entstanden nun die Gießereien.<br />

Alle diese Tendenzen treffen offenbar auf Steveling auf viel Bereitschaft und<br />

Gegenliebe, wie wir sehen werden.<br />

Beginnen wir mit der Pferdebahn. Schon der junge in Wetter tätige Bergdirektor<br />

Freiherr vom Stein propagierte die große Erfindung der Zeit, das Rad-Schiene-System,<br />

zur Lösung der unsäglichen Verkehrsprobleme. Er kannte die Entwicklung der<br />

englischen Eisenbahn aus eigener Anschauung. Hatte er doch von Wetter aus einen<br />

Sprung auf die Insel gemacht, um im Industrie-Mutterland zu "spionieren".<br />

(Interessant: Fast zur gleichen Zeit fährt Herr von Goethe für eindreiviertel Jahr nach<br />

Italien und der Freiherr vom Stein für ein halbes Jahr nach England!- Die Beiden<br />

kannten sich und haben als alte Herren 1815 zusammen während einer Rheinfahrt ihre<br />

Popularität genießen können.) Die erste Pferdebahn gab es bei uns tatsächlich schon<br />

1786/87 bei Hattingen, also eine Bahn, bestehend aus zwei Holzschienen und den<br />

darauf rollenden Kohlewagen, die von Pferden gezogen wurden. Welch ein Fortschritt<br />

zu den "Kohlentreibern", die das auch bemerkten und prompt protestierten. Die<br />

Diskussion über Schienentransport intensivierte sich in den 20er Jahren des 19.<br />

Jahrhunderts, woran Friedrich Harkort führend beteiligt war. So wurde 1829 eine<br />

Pferdebahn vom Muttental ( bei Bommern) zur Witten-Elberfelder Kohlenstraße (s.o.)<br />

über ca. 6 Kilometer gebaut. Dem folgte dann unsere Bahn, geplant und gebaut als 60<br />

cm Schmalspurbahn von 1829 bis 1831. Sie belief sich auf 1 preußische Meile = 7,5<br />

km, wie Harkort stolz bemerkte. Sie führte direkt aus dem Kohlenrevier oberhalb<br />

63


Steinhausen durch dessen Wälder nördlich der Schwelmer Straße, überquerte die alte<br />

Schwelmer Straße an der "Dränke" (Pferdetränke), führte durch einen Tunnel, der<br />

später wegen der Dampfloks aufgedeckt wurde, an Grünewald vorbei auf Stevelinger<br />

Gebiet, am Hof vorbei, überquerte die Vogelsanger Kohlenstraße Richtung Enerke und<br />

Westerbauer (Haspe) und endete auf Harkorten an der Harkortschen Fabrik. Ein<br />

Siebtel der Strecke war Stevelinger Gebiet (gut 1 km). Und damit sind wir auch schon<br />

beim Geschäftlichen.<br />

Am 14. Juni 1829 beschlossen die 10 Teilhaber in Haus Crengeldanz in Witten das<br />

Schlebusch-Harkorter Bahnprojekt, indem sie in 10 Anteilen (pro Anteil = 1550 Taler)<br />

insgesamt 15500 Taler aufbrachten. Sie hatten sich jedoch stark verkalkuliert und<br />

mussten noch mal pro Anteil 3850 Taler , das macht 38500 Taler, aufbringen, um<br />

über die Endsumme von 54000 Talern (also ein Millionenprojekt!) zu verfügen. Wir<br />

können jetzt schon sagen, dass diese Gesellschaft nie schwarze Zahlen schrieb und<br />

1846 an die Zeche Vereinigte Trappe für einen Spottpreis von 6600 Talern verkaufte.<br />

Es ist fraglich, wie 1846 nach 15 jähriger Benutzung die mit Blech verkleideten<br />

Holzschienen aussahen. Außerdem wird sich die Frage nach Eisenschienen gestellt<br />

haben, die der neue Eigentümer 10 Jahre später (1856) beantwortete, indem er<br />

Eisenschienen legte. Die Herren Teilhaber von 1829 waren: Drei Brüder Harkort,<br />

Friedrich, Johann Caspar und Christian, Harkorts Partner der Werkstätte in Wetter,<br />

Heinrich Kamp, Freiherr Ludwig von Elverfeld, verheiratet mit der jüngeren Tochter<br />

Friederike von Schwachenberg, Erbin von Gut Schlebusch, Gustav Voerster,<br />

verheiratet mit Henriette von Schwachenberg, Erbin von Haus Hove, Justizrat Röder<br />

zu Hattingen, Gutsbesitzer August Heintzmann zu Hattingen, Justizrat W.Heintzmann<br />

zu Hamm und Rentmeister Giesler zu Blankenstein. Die Brüder Johann Caspar und<br />

Christian Harkort waren wohl skeptisch und hatten nur je einen halben Anteil, dafür<br />

hatte Justizrat Heintzmann zwei Anteile. Die Verhandlungen mit den Anliegern liefen<br />

von Mai bis September 1829 und damit war auch Steveling im Spiel. Die vertragliche<br />

Vereinbarung mit Friedrich Peter Feldhaus, der gerade (1827) Hofbesitzer geworden<br />

war (s.o.), liegt für den 7. Mai 1829 vor. Er überlässt demnach "den zur Eisenbahn<br />

(eigentlich Holzbahn!?) erforderlichen Grund und Boden...für allemal...zur Abfindungssumme<br />

150 Taler". Bei Aufgabe der Bahn falle der Grund wieder zurück. Es wird<br />

darüber keine Grundbucheintragung gefertigt (!?). Feldhaus bedingt sich aus, dass die<br />

Bahn so zu überqueren sei, dass er seine dahinter liegenden Felder bewirtschaften<br />

könne. Interessant ist sein Wunsch, dass die Bahn "so nah als möglich seinem<br />

Wohngebäude vorbei geführt werde". Es wird auch klar warum: "dass ihm gestattet<br />

werde die Bahn zum Transport von Gehölzen aus seinen eigenen Waldungen benutzen<br />

zu können." Der Vertrag ist erbpachtähnlich angelegt. Eine jährliche "Entschädigung"<br />

ist festgelegt worden. So lautet der jährliche Betrag beispielsweise für die Freifrau von<br />

Elverfeld (Haus Schlebusch) 17 Taler (Förderverein bergbauhistorischer Stätten -<br />

Internet).Für die Stevelinger Kohleverkaufsstelle war die Bahn natürlich sehr attraktiv.<br />

Friedrich Peters Sohn Gustav Adolf konnte schließlich offizielle Verträge mit Zeche<br />

Trappe abschließen. Für die Bahn ist <strong>hier</strong> noch zu bemerken, dass sie 1876 auf<br />

Dampfloks umgestellt wurde, dass bereits 1865 das Hasper Eisen- und Stahlwerk das<br />

Recht erkaufte, die Bahn bis Enerke mitzubenutzen zum Transport von Schlacken und<br />

Asche zur dortigen Deponie, dass 1889 die Zeche Trappe über Silschede und Schee<br />

(Nähe Herzkamp) einen Reichsbahnanschluss bekam. 1900 stellte Trappe die alte<br />

Bahnbenutzung nach Haspe ganz ein. 1907 kaufte das Hasper Eisen- und Stahlwerk<br />

64


Klöckner die Strecke von Haspe bis zur Deponie Enerke (Schlackenkippe genannt, bis<br />

1960 betrieben). Heftigen Betrieb gab es noch mal 1923 zur Zeit der französischen<br />

Ruhrbesetzung, als die Ausfahrt über Bahnhof Schee gesperrt war. Zur<br />

Aufrechterhaltung der Kohleversorgung gab es bei Tag und Nacht Kohlentranporte<br />

über die alte Bahn nach Haspe. (Karl Hebeker: Die Schlebusch-Harkorter Kohlenbahn<br />

s.u.)<br />

Aber noch befinden wir uns in der besten Zeit des Kohletransports, als in der zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts der Kohlebedarf weiter stieg und die Zeche Trappe,<br />

Inhaberin der Gruben und der Bahn nach Haspe, in der hart gewordenen Konkurrenz<br />

noch mithalten konnte. Die Firma band nun den Kohleverkäufer auf Steveling stärker<br />

an sich, wobei wir nicht wissen, von wem die Initiative ausging. Es wurde 1882 ein<br />

Vertrag geschlossen zwischen dem "Grubeninspektor Wilhelm Schulte" und dem<br />

"Gutsbesitzer Gustav Adolf Feldhaus", wonach Feldhaus eine Art Kommissionsvertrag<br />

erhielt. Er verkaufte die Kohle der Zeche Trappe auf eigenem Namen und<br />

bekam dafür 1 Pfg pro Scheffel (ca. ein Zehntel Kubikmeter = 100 Liter) verkaufter<br />

Kohle. Der Verkaufspreis war an den Zechenpreis ab Schacht gebunden. Feldhaus<br />

stellte den Grund für zwei Abstellgeleise zur Verfügung, um Bahnlieferungen, "so viel<br />

Wagen am Tag wie möglich", in Empfang zu nehmen. Es ist die Rede vom "lebhaften<br />

Absatz nach Volmarsteiner Fabriken", womit wohl die zunächst führenden<br />

Schlossfabriken Schröder und Winzerling gemeint waren. Man hatte auch die<br />

"Barmer Pumpstation" (Wasserwerk an der Ruhr) im Auge. Feldhaus soll, wann<br />

immer möglich, Fuhren übernehmen. In §7 steht etwas Interessantes. Feldhaus hat das<br />

Recht, "eichene Schalhölzer bzw. Stempel zu liefern". Und zwar für 75 bis 80 Mark<br />

pro Monat (ca. 2000 Euro).Das lässt aufhorchen, ergibt sich doch eine gewisse<br />

Parallelität mit einem anderen aus Wetter, der auf diese Weise zum Vorteil für Wetter<br />

sehr viel Geld gemacht hat, Gustav Vorsteher. Wir kommen darauf zurück. Obiger<br />

Kommissionsvertrag lief zunächst ein Jahr und begann am 1. Februar 1883. In einem<br />

zweiten Vertrag von 1884 wurde festgelegt, dass sich der Vertrag nach Ablauf eines<br />

Jahres für ein weiteres Jahr verlängert, wenn er nicht von einem Partner vier Wochen<br />

vor Ablauf gekündigt würde. Es wirft ein gutes Licht auf das Geschäft, wenn es im<br />

zweiten Vertrag auch heißt, dass Trappe die Option für ein zweites Abstellgleis habe.<br />

Wir sehen, dass der Landwirt Gustav Adolf Feldhaus mehr ein Kaufmann geworden<br />

war. Es prägt ihn sein überlieferter Ausspruch, dass die hiesige Gegend wegen ihrer<br />

Topographie und Bodenbeschaffenheit weniger landwirtschaftlich als gewerblich zu<br />

nutzen sei. Ganz in diesem Sinne wollen wir ihn im nächsten Abschnitt betrachten.<br />

Es ist die Rede von der zukunftsträchtigen gewerblichen Ansiedlung zwischen Loh<br />

und Schmandbruch bis zum Anfang des 20.Jahrhunderts.<br />

Hatte sich in der Freiheit Volmarstein (Dorf) die Schlossschmiede- Kunst entwickelt,<br />

so hatte sich etwas weiter oberhalb in Grundschöttel seit Mitte des 19. Jahrhunderts in<br />

Ergänzung zur Schlossherstellung eine weitere Eisen-Kunst aufgetan, offenbar mit<br />

dem Schwerpunkt Loh, Rohland und Helle. Es ist die Kunst des Eisengießens. Einer<br />

tat sich besonders hervor, Caspar Diedrich Wupper vom Oberen Loh (gegenüber heute<br />

Haus Humpert). Die Wuppers waren eine alte Eisen-Handwerker Familie. Sie<br />

stammen wie viele solcher Handwerker aus dem Bergischen Land um Solingen, immer<br />

schon ein Zentrum der Klingenschmiede. Sie nahmen dann ihren Weg über Hagen-<br />

65


Eilpe (Zeit des Großen Kurfürsten von Preußen) nach Volmarstein (Dr. Kipper in<br />

seinen Ausarbeitungen). Caspar Diedrich Wupper hatte das Geschick und die<br />

Zähigkeit, einen Eisenguss für die Schlüssel der Volmarsteiner Schlösser zu<br />

entwickeln. Er bediente sich des modernen Tempergusses. Dieses Eisen hatte die<br />

Eigenschaft, eine harte Außenseite mit einem weichen Kern auszubilden, der für die<br />

Schlüsselherstellung gebohrt werden konnte. Wupper war ein erfolgreicher Feingießer,<br />

der 1845 auf dem Kotten am Loh seine Werkstatt gründete. Er hatte noch das Glück,<br />

in seinem bäuerlichen Gehilfen einen mindestens ebenso guten Mitarbeiter zu finden,<br />

den Christian Schüttler (geb.1831), aus Waldeck (Hessen) zugezogen, der nicht nur<br />

sein Schwiegersohn wurde, sondern auch nach Wuppers Tod (1860) in der Lage war,<br />

den Gießereibetrieb zu übernehmen. Hofeigentümer wurde allerdings ein anderer<br />

Schwiegersohn, Friedrich Vohmann. Schüttler mietete die Gießerei von seinem<br />

Schwager. Hier nun erhält die Sache eine lokalgeschichtlich Bedeutung, wenn nicht<br />

darüber hinaus. Vohmann kündigte 1866 dem Schüttler die Werkstatt. Dieser war in<br />

einer schwierigen Lage. Die Ausstattung der Gießerei gehörte ihm zwar, es war aber<br />

kein Kapital da, um einen Ersatz zu beschaffen. Schon der Schwiegervater, der<br />

Gründer Caspar Diedrich Wupper, hatte fremde Finanzhilfe für die teuren Öfen von<br />

seinem Nachbarn, dem Wirt und Uhrmacher Caspar Diedrich Feldhaus, annehmen<br />

müssen. Hilfe kam auch diesmal von dieser Seite. Sein besagter Nachbar hatte<br />

vermutlich vermittelt, dass sein Bruder Friedrich Peter Feldhaus, der Landwirt von<br />

Steveling, einsprang und dem Christian Schüttler den Kotten Egge (vorderer<br />

Schmandbruch) zur Miete anbot. So wechselte dieser 1865 vom Loh zur Egge und<br />

konnte weiter seinen begehrten Feinguss herstellen. Mit dem Kauf des Kottens 1874<br />

war ein entscheidender Schritt zur Vergrößerung der Gießerei getan. Verkäufer war<br />

nun nicht mehr Friedrich Peter Feldhaus, sondern sein Nachfolger Gustav Adolf (s.o.).<br />

Spätestens <strong>hier</strong> stellen wir fest, dass wir uns an der Wiege des überregional<br />

bedeutenden Nachfolge-Werkes, Knorr-Bremse, befinden, die genau genommen also<br />

am Loh stand. Besorgtes Baby-Sitting ist demnach vom Hof Steveling geleistet<br />

worden. Christian Schüttler starb 1881. Seine Nachfolger waren sein Stiefsohn<br />

Wilhelm Bouecke (aus erster Ehe seiner Frau Lisette geb. Wupper) und sein Sohn<br />

Friedrich Schüttler. Eine Ausweitung der Gießerei, die in ihrer Kapazität stark<br />

angestiegen war, fand 1888 statt, als wiederum Gustav Adolf Feldhaus ein Grundstück<br />

auf Steveling(EckeVogelsanger/Köhlerstraße), später genannt Bouecken-Fabrik, zum<br />

Kauf zur Verfügung stellte. Käufer war Wilhelm Bouecke. Die Fabrik wurde aber von<br />

der Egge mitverwaltet. Bouecke hatte -nicht uninteressant- eine bestimmte Produktion<br />

(Löffel und Füssigkeitsmaße) von Winzerling übernommen samt Betriebsleiter, Herrn<br />

Schütz (Gustav Külpmann: Eisen- und Stahlwerk Peyinghaus, s.u.). Herr Schütz<br />

wohnte gleich gegenüber auf dem Kotten von Feldhaus-Steveling. Wilhelm Bouecke<br />

starb 1908. Sein Sohn Karl Bouecke wollte nicht in der Firma Bouecke und Schöttler<br />

bleiben und baute (neben Wupper an der Brille Richtung Haspe) eine eigene Gießerei<br />

auf dem Boden des Hofes Feldhaus- Enerke. Ab 1912 spielte der Kaufmann Walter<br />

Peyinghaus aus Haspe neben dem Techniker Friedrich Schüttler eine immer größere<br />

Rolle an der Egge, bis er 1917 den Konkursbetrieb günstig übernehmen konnte. Seit<br />

1925 finanzierte die Knorr-Bremse den Betrieb mit, 1938 übernahm sie ihn ganz. Die<br />

<strong>Geschichte</strong> dieses Betriebes an der Egge ist aber eine eigene Sache, sie ist interessant,<br />

unter Peyinghaus auch turbulent und hat den Schmandbruch geprägt. Zur Ansiedlung<br />

des Betriebes war von Steveling aus mit einer bestimmten Einstellung, einer gesunden<br />

66


Mischung aus kaufmännischem und gemeinnützigem Denken, Hilfe geleistet worden.<br />

Übrigens war der Kotten Oberer Schmandbruch (Bereich Fußballplatz) schon 1816<br />

von Steveling an den Hufschmied Franz Kriegeskorte veräußert worden. Neben der<br />

Schmiede entstanden dort auch die legendäre Gastwirtschaft von Milchen<br />

Kriegeskorte, ihr Kolonialwarenladen und der Fußballplatz des SuS Schmandbruch.<br />

Die angesprochene Einstellung, verkörpert durch Gustav Adolf Feldhaus, zeigt sich<br />

auch bei den weiteren Ansiedlungen auf Stevelinger Land. Ebenfalls ein Spross der<br />

Wuppers vom Loh war Carl Wupper, der sich auf Federnherstellung spezialisierte. Er<br />

hatte 1883 das Haus an der Brille (Ecke Vogelsanger Straße/ Kohlenbahn) von<br />

G.A.Feldhaus gemietet, strebte aber einen Kauf an. Als Feldhaus zögerte, soll Wupper<br />

mit einem Umzug nach Silschede gedroht haben. da sei dann der Kauf 1894 zustande<br />

gekommen (s. Dr. Kipper). Schließlich dachte Feldhaus kommunal und wollte die<br />

Steuer für Grundschöttel nicht verlieren. Er war 1898 bis 1917 Vorsteher der<br />

Gemeinde Grundschöttel. Eine interessante Ansiedlung ist auch die des Ziegelmeisters<br />

August Timmerhans, der aus Gütersloh kam und 1868 eine Schwester Gustav Adolfs<br />

(Friederike) heiratete. Er ziegelte den sehr lehmhaltigen Füllkamp bis zur Köhlerstraße<br />

im Feldbrandverfahren aus. Bei der Bearbeitung des Feldes kamen später immer<br />

wieder unzählige rote Ziegelstückchen zum Vorschein. Timmerhans hatte das Haus<br />

oberhalb der "Brille". Er starb 1890. Ein weiterer "auswärtiger" Handwerker, der sich<br />

stark dem Ortsbild einprägen konnte und -wie viele dieser Zeit- aus dem<br />

Waldeckschen kam, war der Maurer und dann Bauunternehmer Louis Volp. Er bekam<br />

von G.A. Feldhaus 1906 Bauplatz und Haus an der Köhlerstraße, dazu noch einen<br />

Kredit von 15000 Mark, mit dem er sich dort niederlassen konnte. Louis Volp war<br />

außerordentlich rege, leistete u.a. den Ausbau des Stahlwerkes Peyinghaus und die<br />

Bauten der orthopädischen Anstalten, heute ESV. Der Gärtnerbetrieb gegenüber, Franz<br />

Krusemeyer genannt Rawe, wurde auch angesiedelt -mit einem Kredit von 12000<br />

Mark. Sein Schwiegersohn und Nachfolger war der als rheinische Frohnatur<br />

unvergessene Paul Wennmacher.<br />

Bei der Darstellung der gewerblichen Ansiedlungen wurde schon klar, dass Gustav<br />

Adolf Feldhaus noch einer weiteren Betätigung nachging, nämlich in<br />

wirtschaftsfördernder Weise Geld zu verleihen. Er tat das zu guten Konditionen:<br />

Langfristig zu 4,5 % Zinsen. Man ist überrascht über das Ausmaß dieser Bänker-<br />

Tätigkeit. Das Aktivkapital, das er vor dem 1. Weltkrieg (bis 1917) ausgeliehen hat,<br />

beträgt ca. 150000 Mark (!). Das bedeutet einen Jahreszinsertrag von ca. 6500 Mark.<br />

Es verteilt sich auf 40 Kreditkunden und beläuft sich auf etwa 3800 Mark pro Kunde.<br />

Die kleinste Summe ist 925 Mark, die größte 15000 Mark. Es finden sich kleine Leute,<br />

aber besonders auch Handwerker und Fabrikanten, natürlich sind auch Bauern<br />

darunter. Man kann sich vorstellen, dass sehr viel Geld in die Währungsreformen von<br />

1924 und 1948 geraten ist. Besonders verlustreich war es, wenn die Rückzahlung in<br />

die große Inflation 1922/ 23 fiel - und das konnte man ja als willkommene Gelegenheit<br />

nutzen. Es gibt beispielsweise ein Darlehen von 1911 über 9000 Mark, das im April<br />

1922 in Papiergeld zurückgezahlt wurde und nur noch den Wert von 128,70 alte Gold-<br />

Mark hatte. Mit dieser Tätigkeit stellt sich Gustav Adolf Feldhaus als Privat-Bänker<br />

dar, der schon in beträchtlichem Umfang Nahversorgung eines wichtig gewordenen<br />

Kreditmarktes betrieb. Natürlich ließ er es sich als Patriot in dieser Zeit nicht nehmen,<br />

67


Kriegsanleihen für 9000 Mark zu zeichnen. Man muss bedenken, dass es sich um die<br />

alte Gold-Mark handelt, die 1873 nach der Reichsgründung per Notengesetz auf den<br />

Weg gebracht worden war. Feldhaus` Zahlen würden sich im Vergleich mit heute in<br />

etlichen Millionen bewegt haben. Wie das Verhältnis zur Amtssparkasse Volmarstein<br />

(sie war 1872 in Wengern vom Amtsrat gegründet worden) und wie deren Ausleihmöglichkeiten<br />

waren, muss <strong>hier</strong> offen bleiben. Immerhin gab es zur Jahrhundertwende<br />

dort Spareinlagen von einer halben Million Mark (Dr. T<strong>hier</strong>: 150 Jahre Sparksse s.u.).<br />

Es gab nahe organisatorische Beziehungen zwischen dem Ortsvorsteher Feldhaus und<br />

der Sparkasse. Am 12. April 1898 fand eine historische Amtsversammlung statt, in der<br />

es um die heiße Frage ging: Sitz der Amtsverwaltung und damit der Sparkasse von<br />

Wengern zurück nach Volmarstein? Die Vertreter der 7Amtsgemeinden (Asbeck,<br />

Berge, Esborn, Grundschöttel, Silschede, Volmarstein, Wengern -Bommern war<br />

gerade ausgeschieden) stimmten mehrheitlich für Volmarstein. Grundschöttler<br />

Vertreter waren Vorsteher Feldhaus und Amtsverordneter Fabrikant Wilhelm<br />

Bouecke, den wir ja schon kennen.<br />

Es passt, an dieser Stelle auf zwei Grundschöttler Großprojekte einzugehen, die uns<br />

die wirtschaftliche Betriebsamkeit dort gegen Ende des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll<br />

zeigen. Die Zukunftserwartungen sind offenbar gut, von der Depression nach den<br />

Gründerjahren (1870-1875) ist nichts mehr zu spüren. Das eine Projekt war ein<br />

gewerbliches, die Planung eines Anschlusses der Kohlenbahn an die Reichsbahn in<br />

Vorhalle, das andere ein landwirtschaftliches, die Planung einer Groß-Dampfmühle in<br />

zentraler Lage beim heutigen Hof Beckmänning an der Schwelmer Straße.<br />

Die Initiatoren des Eisenbahnprojektes von 1899 sind Interessenten aus Grundschöttel<br />

und Vomarstein, deren Selbstbewusstsein wohl auch für die Amtssitzverlegung von<br />

Wengern nach Volmarstein verantwortlich war (s.o.). Wer waren die sechs namentlich<br />

Genannten, die öffentlich für ihre Sache werben wollten? Franz Arndt, Pfarrer,<br />

Friedrich Wilhelm Müller (Brennereiinhaber in Grundschöttel), Wilhelm Bouecke<br />

(Fabrikant an der Egge), Carl Wupper (Fabrikant an der Brille), Friedrich Schröder<br />

(Schlossfabrikant in Volmarstein), Carl Winzerling (Schlossfabrikant in Volmarstein).<br />

Interessant ist die Rolle von Franz Arndt, er spricht für seine "Schöpfungen", das<br />

Alterspflegeheim Bethanien und die Verbandsanstalt evangelischer Arbeitervereine für<br />

Westfalen und Rheinland (heutiges Rechenzentrum der ESV), Das Interesse der<br />

Gemeinde Grundschöttel wird ausdrücklich betont, dahinter verbirgt sich kein anderer<br />

als der Vorsteher Gustav Adolf Feldhaus. Der Plan ist für ihn eine<br />

Herzensangelegenheit. Es geht ihnen darum, dass eine Personen- und Güter-Bahnlinie<br />

vom Silscheder Bahnhof in Normalspur nach Vorhalle zum dort sich entwickelnden<br />

Bahnknoten gelegt wird. Sie wollen die Verbindung zum Hagener Raum, aber auch<br />

mit dem östlichen Ruhrgebiet. Es soll "das Plateau zwischen Ruhr und Ennepe"<br />

erschlossen werden, die Lücke zwischen Reichsbahnanschluss Bahnhof Schee (von<br />

Elberfeld aus) und dem Vorhaller Bahnhof geschlossen werden. Man will für<br />

finanzielle Leistungen sorgen, appelliert aber an die Reichsbahn, das Projekt<br />

"Silschede-Steveling-Vorhalle" zu unterstützen. Man hat den Regierungs-Baumeister<br />

G. Küchler in Hohenlimburg beauftragt, Erläuterungsbericht, Kostenanschlag und<br />

Rentabilitätsberechnung anzufertig-en, er legt am 18. November 1899 seine Arbeit,<br />

wir würden heute sagen, seine "Machbarkeitsstudie" vor. Er kommt zu dem Ergebnis,<br />

68


dass der Bau der Bahn insgesamt 700000 Mark kosten würde, Jahreseinnahmen des<br />

Personen- und Güterverkehrs von 95500 Mark, Jahresausgaben von 71423,08 Mark zu<br />

erwarten seien, was einen Jahresüberschuss von 24076,92 Mark erbringe. Der<br />

Überschuss repräsentiere eine Verzinsung des Anlagekapitals von 3,44 %. Küchler<br />

beurteilt das Projekt positiv. Steveling spielt in seinem Konzept eine zentrale Rolle. Es<br />

heißt: "Der Hauptverkehrspunkt an der projektierten Bahn dürfte Steveling bleiben."<br />

Bei Einzelplanungen für Steveling heißt es: "Empfangsgebäude mit Güterschuppen<br />

und Expeditionsräumen auf Bahnhof Steveling, Abortanlage, Perron und<br />

Perronbeleuchtung." Die Zusagen von der Reichsbahn blieben aus, das Projekt wurde<br />

dann aufgegeben. Als neu anzulegende Bahnlinie von Enerke hinunter nach Vorhalle<br />

war die Strecke vorgesehen, die heute die Trasse der Autobahn ist. Immerhin ein<br />

Aufsehen erregendes Projekt, was die gefühlte Wirtschaftskraft unseres Raumes<br />

widerspiegelt.<br />

Nicht nur auf gewerblicher Seite gibt es ein ehrgeiziges Projekt, sondern auch auf<br />

landwirtschaftlicher Seite ist Ähnliches festzustellen. Es geht um die Anlage einer<br />

Dampfmühle. In dem Initiativschreiben heißt es: "Es ist von den Eingesessenen der<br />

Gemeinden Grundschöttel, Berge, Silschede, Asbeck und Umgebung der Wunsch<br />

ausgesprochen bei Specht auf der Hinbecke eine Dampfmühle auf Aktien zu bauen."<br />

Für die Kapitalgewinnung wird zur Zeichnung aufgerufen. Eingetragen haben sich mit<br />

je 100 Talern: Peter Caspar Funke, Grundschöttel (Hof Völker), Friedrich Peter<br />

Feldhaus, Steveling, Friedrich Peter Feldhaus, Enerke, Gustav Feldhaus, Lumbeck<br />

(Hof Schnepper), H. Bosselmann, Ellinghausen (Hof Klinkmann). Das Konzept ist<br />

doch nicht zum Tragen gekommen, zu wenige hatten sich offenbar eingetragen.<br />

Kehren wir zu Gustav Adolf Feldhaus und dem Hof Steveling zurück. Es gilt, dessen<br />

wirtschaftsfördernde Leistung festzustellen. Steveling stellte Land und Kapital für<br />

gewerbliche Ansiedlung zu Verfügung. Der oben angestellte Vergleich zwischen<br />

Gustav Adolf Feldhaus und Gustav Vorsteher in Wetter hat seinen Reiz. Beide<br />

verdienten ihr Geld mit dem hiesigen Bergbau, beide sahen sich zur ortsfördernden<br />

Gemeinnützigkeit veranlasst. Sie werden sich sicher gekannt haben.<br />

An dieser Stelle müsste man sich noch ein anderes Verhältnis zwischen Feldhaus und<br />

einem wichtigen Volmarsteiner ausmalen, dem oben schon mal genannten Pfarrer<br />

Franz Arndt. Hierzu gibt es eine amüsante Stelle im Buch der Johanna Arndt über<br />

ihren Mann (s.u. S.153) Der in seiner Geldbeschaffungs-Kunst geniale Arndt<br />

sammelte mal wieder für ein Projekt. Diesmal ging es (1886) um etwas<br />

vergleichsweise Bescheidenes, um eine Kirchenheizung, damit die Kirchgänger keine<br />

Gelegenheit hätten, im Winter den fehlenden Besuch mit der Kälte zu entschuldigen.<br />

Frau Arndt sieht die Begebenheit recht verärgert so: "Nur der damals reichste Mann<br />

der Gemeinde hatte ihn (ihren Mann) hart abgewiesen und ihm bedeutet, dass er und<br />

seine Vorfahren ihre religiösen Bedürfnisse in ungeheizter Kirche befriedigt hätten. Er<br />

war eben ein Mensch, der mit seinen Anschauungen wie eine Ruine aus alter Zeit in<br />

die Gegenwart ragte. Seine treffliche Frau war schmerzlich berührt durch das<br />

Benehmen ihres Gatten und gab heimlich noch 20 Mark für die Sammlung." Hier kann<br />

nur G. A. Feldhaus gemeint sein. Er war ganz der Kaufmanns-Typ alten Schlages,<br />

sparsam und asketisch, der sein Kapital nicht konsumierte, sondern für Investitionen<br />

arbeiten ließ, der es mit einem Mann, Franz Arndt, zu tun hatte, dessen wortgewaltige,<br />

fordernde, ungeduldige Art ihm nicht behagte. Wahrscheinlich werden auch gewisse<br />

politische Vorbehalte im Spiel gewesen sein wegen Arndts Engagement in der<br />

69


"Christlich-sozialen Bewegung", wozu Johanna Arndt bemerkt: "Die Wogen der<br />

Sozialpolitik hatten Arndt zeitweilig ein Stück mit sich gerissen, und das bedeutete für<br />

den starken Sanguiniker immer eine Gefahr. Äußerlich erregte er Anstoß damit,<br />

innerlich zermürbten ihn die Folgen."(S. 226) Arndts Lebensleistung (Bethanien,<br />

Rektoratschule, Frauenheim, Vereinsheim, Kinderschule, Verbandsanstalt der<br />

evangelischen Arbeitervereine und orthopädische Anstalten) wird Feldhaus ganz<br />

sicher nicht geschmälert haben. Wir sahen auch ihren gemeinsamen Kampf für den<br />

Eisenbahnanschluss nach Vorhalle (s.o.).<br />

Gustav Adolf Feldhaus wurde respektiert und um Rat und Hilfe gebeten. Dazu passte<br />

seine langaufgeschossene, eher hagere Gestalt(1,90 m). Er galt aber auch als sehr<br />

leutselig und war für Straßenpassanten vor dem Haus immer ansprechbar.<br />

Vorübergehende Schulkinder zog er in spaßige Gespräche. Hiesige Bewohner nannten<br />

ihn denjenigen, der "gleich hinter Bismarck" kam.<br />

Gustav Adolf Feldhaus starb 1919 mit 74 Jahren - an einer Zeitenwende. Das 19.<br />

Jahrhundert war endgültig vorbei, es hatte in nationalstaatlicher Tendenz einen<br />

ungeheuren Umbruch in Wirtschaft und Gesellschaft gebracht, von den politischen<br />

Veränderungen ganz zu schweigen. Die erste große Welle von Handel und<br />

industrieller Entwicklung (Kohle, Eisen, Stahl) hatte ihren Höhepunkt erreicht, was<br />

wir im Mikrokosmos unserer Grundschöttler Verhältnisse im Zusammenhang mit dem<br />

Stevelinger Hof durchaus nachvollziehen konnten.<br />

Auf Steveling kehrte man zur intensiven Landwirtschaft zurück, indem der Landwirt<br />

Heinrich Feldhaus vom Twitting (Westerbauer) Gustav Adolfs einzige Tochter Julie<br />

(einziges Kind) heiratete und Bauer auf Steveling wurde. Er konnte von Glück sagen,<br />

denn offensichtlich war sie in jeder Hinsicht eine gute Partie und wurde z:T.<br />

dramatisch umworben, was vorhandene Briefe offenbaren. Heinrich, der schon 1903<br />

die Landwirtschaft übernahm, setzte sich auf Steveling ein nützliches Denkmal, indem<br />

er die mächtige Backsteinscheune baute, die das Hofbild bestimmt. Hier kann man<br />

einen bezeichnenden Unterschied zwischen ihm und seinem Schwiegervater Gustav<br />

Adolf sehen. Dieser, in seiner Skepsis, was die Landwirtschaft dieser Gegend<br />

zukünftig betraf, hatte es trotz finanzieller Möglichkeit (s.o.!) nur zum Neubau eines<br />

praktischen, aber sehr einfachen Kuhstalls gebracht, nicht aus Bruchstein oder<br />

Backstein, sondern aus Tannenholz gebaut. Der über- übernächste Feldhaus-<br />

Nachfolger konnte sich noch darüber ärgern! Heinrich war Landwirt, Jäger und Reiter.<br />

Seine Frau Julie hatte als Mädchen die Rektoratschule Franz Arndts in Volmarstein<br />

besucht und wollte, auch da hatten sich die Möglichkeiten geändert, dass ihr einziger<br />

Sohn Gustav Adolf (der Jüngere) geb. 1907 die beste schulische Ausbildung haben<br />

sollte. Er machte an der Oberrealschule in Haspe sein Abitur und studierte<br />

Landwirtschaft mit Diplomabschluss. Nur wenige Volmarsteiner Schüler zogen mit<br />

ihm nach Haspe (zu Fuß oder mit dem Fahrrad), u.a. Heinz Fischer (Sohn des<br />

Amtmannes Fischer), Heinrich Schackmann vom Schölling (der spätere a.o. Professor<br />

und Direktor der Duisburger Kupferhütte) und Karl Kipper von Wuppers an der Brille.<br />

Gustav Adolf (d.J.) hatte sich zunächst den Vetter seines Vaters, den Wilm Golte vom<br />

Goltenhof in Bommern, zum Vorbild genommen. Man hatte einen engen Kontakt nach<br />

Bommern. Bei Besuch auf Steveling machte Golte den Weg hin und zurück zu Fuß! Er<br />

war Provinzialgeschäftsführer des Westfälischen Bauernvereins in Münster. Gustav<br />

70


Adolf blieb aber dann ab 1931 auf dem Hof, wo er 1933 die Elisabeth Pfingsten von<br />

Käsberg (Nachbarhof von Harkorten) heiratete. Die Pfingstens waren eine alte<br />

Leineweber- und Brauerfamilie aus Herdecke bzw. Breckerfeld. Dem Großvater<br />

gehörte die Brauerei in Hasperbach, die 1923 Andreas kaufte. Gustav Adolf führte<br />

den Hof durch die ersten großen technischen Neuerungen (Trecker, Selbstbinder usw.)<br />

und die schwierige Nachkriegszeit. An dieser Stelle sei auch betont, dass es zur<br />

<strong>Geschichte</strong> des Stevelinger Hofes gehörte, dass seine Bewohner in christlich<br />

konservativer Einstellung vor nationalsozialistischer Infizierung bewahrt blieben. Im<br />

Gegenteil: Großvater Heinrich war dafür bekannt, dass er braune Lokalgrößen auf<br />

offener Straße ausschimpfte. Als Honoratior konnte er sich das leisten. Sohn Gustav<br />

Adolf fand nach der englischen Kriegsgefangenschaft 1946 den Weg in die Politik,<br />

schließlich in den Kreistag und den Landtag und in wichtige Funktionen<br />

landwirtschaftlicher Organisationen. Er war froh, dass sein Sohn Caspar Dietrich ihn<br />

entlastete und als geborener Landwirt früh in die Hofführung einstieg. Er nahm dort<br />

gezielt wichtige strukturelle Änderungen vor. Die am Ende wichtigste und<br />

entscheidende Änderung war die Hofverlagerung nach Schleswig-Holstein. Und da<br />

scheint sich ein Kreis zu schließen. Was Gustav Adolf (der Ältere) zu bedenken<br />

empfahl, führte Caspar Dietrich aus. Die Stadt Wetter drängte auf Wohn- und<br />

Gewerbegebiete. Caspar Dietrich entschied nach reiflicher Überlegung und Beratung.<br />

Ausschlaggebend war, dass sein Sohn Friedrich Peter Landwirt werden wollte, wichtig<br />

auch, dass Caspar Dietrich von seiner Frau Lieselotte geb. Dominicus von Werdringen<br />

-<strong>hier</strong> begegnet uns das alte Werdringen (s.o.) wieder- und auch von seinen<br />

Geschwistern bestärkt wurde. So vollzog er den schweren Schritt, den Hof zu Gunsten<br />

einer weiteren unaufhaltsamen Ortsentwicklung zu verkaufen, um in schöner<br />

Landgegend in Angeln zwischen Flensburger Förde und Schley am Südensee die<br />

Hoftradition fortzusetzen. Somit gibt es in Volmarstein auf Steveling noch die<br />

gepflegte uralte Hofstelle, von der nun schon so lange die Rede war. Auf dem<br />

Südensee-Hof in Angeln wirkt die 7. Feldhaus-Generation mit Friedrich Peter und<br />

seiner Frau Henrike geb. Pries, aus heimischer Bauerntradition in Angeln. Die 8.<br />

Generation hat sich gerade gemeldet -mit Söhnchen Gustav Heinrich! Ihm sei<br />

natürlich diese kleine Hofgeschichte gewidmet. -<br />

Literaturangaben<br />

Ernst Lindscheidt: Der Stevelinger Hof in "Use laiwe Häime" Nr. 1, 1925<br />

Paul Schulte: Die <strong>Geschichte</strong> der Hülsberger Mark / Der 25 jährige Schweineprozess<br />

der Ritter von Mallinckrodt mit den Beerbten der Hülsberger Mark 1561-1586 in<br />

"Beiträge zur <strong>Geschichte</strong> von Haspe" 1. Heft 1921<br />

Friedrich Thörner: Alte Schätze - neu entdeckt, Wetter 1989<br />

Dietrich T<strong>hier</strong> (Hg.): Bauernhöfe in Grundschöttel und Volmarstein, Wetter 1997<br />

Presbyterium (Hg.): Aus der <strong>Geschichte</strong> unserer Volmarsteiner Dorfkirche, Wetter<br />

1939<br />

Karl Siepmann: Aus der <strong>Geschichte</strong> der Gemeinde Grundschöttel (1934), h.g. von<br />

Fritz Brose o.J.<br />

Karl Siepmann : (H.g.) Uralte Freiheit Volmarstein, Vorhalle 1924<br />

Ernst Dossmann: Auf den Spuren der Grafen von der Mark, Iserlohn 1984 (2.<br />

Auflage)<br />

71


Liselotte Funcke: Aus der Famliengeschichte Funcke in "Familienalbum" (h.g.von<br />

der Stadt Hagen), Hagen 2002<br />

Nicolaus Kindlinger: <strong>Geschichte</strong> der Herrschaft und Familie von Volmestein, 1801<br />

Karl Schwerter: Verzeichnis der Volmarsteiner Krieger aus der Zeit von 1806 - 15,<br />

in Uralte Freiheit Volmarstein 1024, S.270<br />

Karl Schwerter: Kohlenstraßen , in Use Laiwe Häime Nr. 11, 1925<br />

Ernst Boye: Das industrielle Leben Volmarsteins, in Uralte Freiheit Volmarstein<br />

1924, S.247<br />

Karl Hebeker: Bergbau in Wetter, in "Hundert Jahre Heimatverein" 2003, S. 111 -<br />

123<br />

Arbeitskreis berbauhistorischer Stätten: Kohlenbahn Internet,2005<br />

Wolfgang Köllmann: Ludwig von Vincke, in Rheinisch-Westfälische Rückblende<br />

(Hg. W. Först) 1964<br />

Franz Herre: Freiherr vom Stein, Kiepenheuer 1973<br />

Dietrich T<strong>hier</strong> (Bearb.): 150 Jahre Wetter und seine Sparkasse, Wetter 2002<br />

Johanna Arndt: Franz Arndt, Der Krüppelpfarrer von Volmarstein, Witten 1928<br />

Gebhardt / Grundmann: Handbuch der deutschen <strong>Geschichte</strong> Band 2, Stuttgart 1961<br />

Friedrich Benninghoven u.a.: Friedrich der Große, Zum 200.Todestag, Berlin 1986<br />

Peter Brandt (bearbeitet): Preußen- Zur Sozialgeschichte eines Staates, Rowohlt 1981<br />

72

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