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RAMPENLICHT<br />
Sick zeigt auf der Bühne Beispiele aus dem Irrgarten der Sprache.<br />
Im Internet, in Blogs oder in sozialen<br />
Netzwerken findet sich Schriftliches mit<br />
grausamen Fehlern. Vielen macht das<br />
nichts aus…<br />
BS: Die neuen Medien, vor allem das Internet,<br />
haben unsere Gesellschaft verändert.<br />
Auch den Umgang mit der Schriftsprache.<br />
Bis in die 80er Jahre befand sich das geschriebene<br />
Wort in der Hand von Profis.<br />
Der technische Fortschritt hat dazu geführt,<br />
dass sich heute jedermann in schriftlicher<br />
Form verbreiten kann. Früher gab man<br />
Anzeigen bei einer Zeitung auf, die dort<br />
von gelernten Setzern in korrektes Deutsch<br />
gebracht wurden. Heute verfasst jeder<br />
seine Anzeigen im Internet selbst. Schilder<br />
werden nicht mehr vom Fachmann gemacht,<br />
sondern am PC gestaltet und selbst<br />
ausgedruckt. Es wird einerseits heute also<br />
mehr geschrieben als je zuvor in der<br />
Geschichte. Das ist eigentlich ein schöner<br />
Umstand. Andererseits sind Hemmschwellen<br />
und Kontrollinstanzen weggefallen.<br />
Wird in der Schule zu<br />
wenig Wert gelegt auf<br />
Deutschkompetenz?<br />
BS: Im Zuge pädagogischer<br />
Reformen in den<br />
70er Jahren wurde der<br />
Grammatikunterricht quasi abgeschafft. Es<br />
gab die Überzeugung, dass die Vermittlung<br />
von Grammatik die freie Sprachentwicklung<br />
der jungen Menschen hemme. Das<br />
hat sich als großer Fehler erwiesen, denn<br />
ohne Kenntnis der Regeln gibt es keine<br />
wirkliche Sprachkompetenz. Wenn man<br />
eine Fremdsprache lernt, dann eignet man<br />
20 streifzug 4/2012<br />
»Das Elter? Da wird die<br />
Sache richtig absurd«<br />
Foto:<br />
sich schließlich auch die Regeln an, sonst<br />
scheitert man. Man braucht ein System.<br />
Die Sprache liefert ein System, sie besteht<br />
aus einem System, sie bildet ein System<br />
ab. Warum sollte man dieses nicht auch<br />
erklären und vermitteln?<br />
Was halten Sie von den<br />
Bemühungen, die Sprache<br />
zu entmännlichen?<br />
BS: Darüber amüsiere ich<br />
mich natürlich. In der Schweiz wird seit<br />
einiger Zeit behördlicherseits darauf<br />
gedrängt, auf geschlechterspezifische Bezeichnungen<br />
zu verzichten. Wörter, die<br />
auf »-er« enden – wie Arbeiter, Besucher,<br />
Einwohner –, sollen vermieden werden<br />
und durch neutrale Begriffe wie Arbeitende,<br />
Gäste und Bevölkerung ersetzt werden.<br />
Das führt so weit, dass Begriffe wie »Vater«<br />
und »Mutter« als zu geschlechtsspezifisch<br />
gebrandmarkt sind und ersetzt werden sollen<br />
durch »das Elter«. Da wird die Sache<br />
dann richtig absurd.<br />
Wenn Sie eine Schule<br />
besuchen, begrüßen Sie<br />
dann Kinder mit »Liebe<br />
Schülerinnen und Schüler«?<br />
BS: Selbstverständlich. Ich richte mein Vorwort<br />
auch an meine »Sehr geehrten Leserinnen<br />
und Leser« und begrüße im Rundfunk<br />
die Hörerinnen und Hörer. Das ist<br />
charmant und hat Tradition. Aber wenn<br />
von »Mitgliederinnen und Mitgliedern« die<br />
Rede ist oder von »Gästinnen und Gästen«,<br />
dann hört der Feminismus bei mir auf.<br />
»Dialekte bringen Würze<br />
in den Spracheintopf«<br />
Sie schreiben Bücher. Was lesen Sie?<br />
BS: Ich lese gern und viel. Ich lese Romane,<br />
Biografien und Geschichtsbücher.<br />
Sprachliche Fachliteratur lese ich weniger.<br />
Das meiste davon ist langweilig geschrieben.<br />
Lesen Sie Bücher immer bis zum Ende?<br />
BS: Nein. Wenn es mich nicht anspricht,<br />
lege ich es aus der Hand. Dafür gibt es einfach<br />
zu viel anderes, das meiner harrt.<br />
Haben Sie Vorbilder in der deutschen<br />
Sprache?<br />
BS: Zahlreiche! Selbst unter Politikern gibt<br />
es ein paar. Björn Engholm ist eines davon.<br />
Wenn ich ihn sprechen höre, so wie kürzlich<br />
bei »Beckmann«, bekomme ich Wohlgefühle,<br />
weil er so einen angenehmen<br />
Duktus hat, eine so klare Sprache, unprätentiös,<br />
präzise und stimmig. Er hat eine<br />
norddeutsche Einfärbung, aber das macht<br />
es für mich, der ich selbst Norddeutscher<br />
bin, nicht weniger liebenswürdig. Engholm<br />
ist jemand, den ich mir damals als Kanzlerkandidaten<br />
gewünscht hätte. Sein<br />
einziger Fehler war, dass er zu ehrlich war.<br />
Insofern ist er auch unter moralischen<br />
Gesichtspunkten ein Vorbild für mich. Es<br />
gibt auch viele großarti-<br />
ge Synchronsprecher<br />
im Fernsehen. Ich bin<br />
ein großer Freund von<br />
Serien wie den »Desperate<br />
Housewives« – die<br />
deutschen Sprecherinnen klingen wärmer,<br />
lebendiger und angenehmer als die amerikanisch<br />
quäkenden Originalstimmen.<br />
Haben Sie auch Vorbilder in der Musik?<br />
BS: Viele! Denn ich liebe die Musik. Ein<br />
großes Vorbild seit frühester Jugend ist<br />
Udo Jürgens, der – obwohl Österreicher,<br />
oder gerade weil er Österreicher ist –, in<br />
seinen Liedern ein besonders klares, reines<br />
Hochdeutsch artikuliert. Das ist mir um<br />
vieles lieber als das Genuschel seiner Kollegen<br />
wie Müller-Westernhagen, Lindenberg<br />
oder Grönemeyer. Über die Musik mag<br />
man ja denken, was man will, aber wenn<br />
man den Text nicht verstehen kann, dann<br />
ist das für mich keine Kunst, sondern bestenfalls<br />
Gebrauchsware.<br />
Wie ist es denn mit dem Deutsch in Zeitungen<br />
oder Zeitschriften?<br />
BS: Die haben oft ihren eigenen Stil. Je<br />
nach Artikelformat ist das mal mehr mal<br />
weniger stark angelehnt an Agenturvorgaben.<br />
Und das Deutsch der dpa erkennt<br />
man aus jedem Artikel sofort raus. Das ist<br />
eine so ganz bestimmte Art zu formulie-