05.01.2016 Views

Edition Rechtsextremismus

75dwIuZct

75dwIuZct

SHOW MORE
SHOW LESS

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

<strong>Edition</strong> <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

Herausgegeben von<br />

F. Virchow, Düsseldorf, Deutschland<br />

A. Häusler, Düsseldorf, Deutschland


Die „<strong>Edition</strong> <strong>Rechtsextremismus</strong>“ versammelt innovative und nachhaltige Beiträge<br />

zu Erscheinungsformen der extremen Rechten als politisches, soziales und kulturelles<br />

Phänomen. Ziel der <strong>Edition</strong> ist die Konsolidierung und Weiterentwicklung<br />

sozial- und politikwissenschaftlicher Forschungsansätze, die die extreme Rechte<br />

in historischen und aktuellen Erscheinungsformen sowie deren gesellschaftlichen<br />

Kontext zum Gegenstand haben. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei transnationalen<br />

Entwicklungen in Europa.<br />

Herausgegeben von<br />

Fabian Virchow<br />

Düsseldorf, Deutschland<br />

Alexander Häusler<br />

Düsseldorf, Deutschland


Wolfgang Frindte • Daniel Geschke<br />

Nicole Haußecker • Franziska Schmidtke<br />

(Hrsg.)<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und<br />

„Nationalsozialistischer<br />

Untergrund“<br />

Interdisziplinäre Debatten,<br />

Befunde und Bilanzen


Herausgeber<br />

Wolfgang Frindte<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />

Deutschland<br />

Daniel Geschke<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />

Deutschland<br />

Nicole Haußecker<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />

Deutschland<br />

Franziska Schmidtke<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />

Deutschland<br />

<strong>Edition</strong> <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

ISBN 978-3-658-09996-1<br />

DOI 10.1007/978-3-658-09997-8<br />

ISBN 978-3-658-09997-8 (eBook)<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograe;<br />

detaillierte bibliograsche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

Springer VS<br />

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die<br />

nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung<br />

des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen,<br />

Mikroverlmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem<br />

Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche<br />

Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten<br />

wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.<br />

Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen<br />

in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind.<br />

Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder<br />

implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.<br />

Lektorat: Jan Treibel, Stefanie Loyal<br />

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier<br />

Springer Fachmedien Wiesbaden ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media<br />

(www.springer.com)


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

Kapitel 1<br />

Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien<br />

der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung von 1990 bis 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />

Wolfgang Frindte, Daniel Geschke, Nicole Haußecker<br />

und Franziska Schmidtke<br />

Kapitel 2<br />

Unschärfen, Befunde und Perspektiven<br />

Sonderfall Ost – Normalfall West? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />

Über die Gefahr, die Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> zu verschleiern<br />

Matthias Quent<br />

Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland . . . . . . 119<br />

Heinrich Best


6 Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen . . . . . . . . . . . . . 131<br />

Alte Probleme mit neuen Herausforderungen<br />

Kurt Möller<br />

Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

aus der Sicht der Theorie eines identitätsstiftenden politischen<br />

Fundamentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149<br />

Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Kapitel 3<br />

„Nationalsozialistischer Untergrund“<br />

Nicht vom Himmel gefallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195<br />

Die Thüringer Neonaziszene und der NSU<br />

Stefan Heerdegen<br />

Uwe Böhnhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213<br />

Rekonstruktion einer kriminellen Karriere<br />

Heike Würstl<br />

Der Verfassungsschutz und der NSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225<br />

Dirk Laabs<br />

Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter<br />

nach dem NSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259<br />

Thomas Grumke<br />

Fallbeispiel Grass Lifter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277<br />

Künstlerische Interventionen zum NSU im öffentlichen Raum in Sachsen<br />

Franz Knoppe und Maria Gäde


Inhaltsverzeichnis<br />

7<br />

Kapitel 4 Gesellschaftliche Reaktionen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301<br />

Herausforderungen für die ganze Gesellschaft<br />

Anetta Kahane<br />

„Lügenpresse“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309<br />

„<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Rassismus“ in den Medien<br />

Britta Schellenberg<br />

Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt<br />

in Brandenburg (1990-2008). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341<br />

Zur Problematik der statistischen Erfassung politisch<br />

motivierter Kriminalität<br />

Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />

Demokratieferne Rebellionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359<br />

Pegida und die Renaissance völkischer Verschwörungsphantasien<br />

Samuel Salzborn<br />

Lachen gegen den Ungeist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367<br />

Zum Potenzial des politischen Kabaretts am Beispiel der Thematisierung<br />

des „NSU“-Diskurses<br />

Frank Schilden<br />

Kapitel 5<br />

Prävention und Intervention<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen . . . . . . . . . . . . . 389<br />

Grundlagen und Möglichkeiten der Prävention<br />

Kurt Möller<br />

Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention<br />

in den Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403<br />

Eine vergleichende Analyse der Landesstrategien<br />

Franziska Schmidtke


8 Inhaltsverzeichnis<br />

Deradikalisierung als Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425<br />

Theorie und Praxis im nationalen und internationalen Vergleich.<br />

Trends, Herausforderungen und Fortschritte<br />

Daniel Köhler<br />

Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen . . . 443<br />

Die lokale politische Kultur als begünstigender Faktor<br />

für die Herausbildung von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

Reiner Becker<br />

Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee . . . . . . . . . . . . . . . . 463<br />

Wolfgang Beutel, Kurt Edler, Mario Förster und Hermann Veith<br />

Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481<br />

Eine Studie zu den Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt<br />

Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507


Vorwort<br />

Deutschland ist ein Einwanderungsland<br />

Deutschland ist ein Einwanderungsland und laut Grundgesetz, Artikel 16a, Absatz<br />

1, auch ein Land, in dem politisch Verfolgte Asylrecht genießen. Am 21.01.2015<br />

stellte der Bundesinnenminister Thomas de Maizière den Migrationsbericht 2013<br />

mit den Worten vor: „Der Bericht macht deutlich, dass Deutschland im Hinblick<br />

auf die Zuwanderung gut aufgestellt ist“ (Quelle: bmi.bund.de). Das scheinen die<br />

Demonstrantinnen und Demonstranten, die seit Herbst 2014 auf die Straße gehen,<br />

um als „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida)<br />

zu demonstrieren, offenbar ganz anders zu sehen. Auf den Plakaten, die die<br />

Pegida-Leute (und wie sie alle heißen) mit sich führten, wurde nicht nur gegen<br />

den Islam und gegen eine verfehlte Einwanderungs- und Asylpolitik gehetzt. Die<br />

Leute sollen auf die Straße gehen, weil sie – so liest man auf der Facebook-Seite<br />

von Sügida (dem südthüringer Pegida-Ableger) – die „Schnauze voll haben,<br />

von den Lügenmärchen und den etablierten Parteien“. Auch von „Lügenpresse“,<br />

„Lügenpropaganda“ oder von deutschen Spitzenpolitikern, die ihr eigenes Volk<br />

verachten, ist auf den Facebook-Seiten der Pegida-Bewegungen die Rede. Nun<br />

werden bekanntlich Begriffe wie „Systemmedien“ oder „Lügenpresse“ gern von<br />

den rechtspopulistischen und rechtsextremen Szenen gebraucht, um die scheinbare<br />

„Gleichschaltung“ der Massenmedien im heutigen Deutschland zu kritisieren. Die<br />

Herkunft dieser Begriffe sollte auch den Pegida-Anhängern bekannt sein: In den<br />

1920er Jahren nutzten die Nationalsozialisten diese Begriffe, um die linke und die<br />

ausländische Presse zu diffamieren. Mit anderen Worten: Die patriotisch-euro-


10 Vorwort<br />

päischen Protagonisten 1 wissen, was sie sagen und tun. Es geht ihnen nur vordergründig<br />

um den Kampf gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“. Tatsächlich<br />

stellen sie die demokratische Verfasstheit dieses Landes und seinen Status<br />

als Einwanderungsland in Frage und sind insofern die eigentliche Bedrohung der<br />

Zivilisation.<br />

Auch wenn die Demonstrationsbereitschaft dieser Leute rapide abgenommen<br />

hat und sich Anfang 2015 in vielen Teilen Deutschlands ein breiter Widerstand<br />

gegen die islamfeindliche Pegida-Bewegung formierte und Tausende für mehr<br />

Weltoffenheit auf die Straße gingen, bleibt die Frage: Was wollen die „patriotischeuropäischen“<br />

Islamgegner und wer sind sie? Verweisen die Demonstrationen gar<br />

auf neue Formen des <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rechtspopulismus? Wie sehen diese<br />

neuen Formen aus und was kann man dagegen tun?<br />

Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigen sich die Beiträge des vorliegenden<br />

Sammelbandes.<br />

Die Bewegungen, die sich entweder Pegida, Nögida, Dügida, Sügida oder mit<br />

anderen recht kuriosen Namen bezeichnen, könnten eigentlich aus Sicht der Sozialwissenschaftlerinnen<br />

und -wissenschaftler als analytische Sternstunde betrachtet<br />

werden. Nun scheint sichtbar zu werden, was bisher im scheinbaren Dunkel anonymer<br />

Befragungen verschwand. Die 5-6% Antisemiten in Deutschland oder die<br />

5-7% Rechtsextreme oder die 17-22% Ausländerfeinde, wie aus einschlägigen sozialwissenschaftlichen<br />

Analysen abzuleiten war, gibt es in Deutschland schon seit<br />

Jahren. Aber so richtig wahrgenommen wurden sie selten. Denn: so genau scheint<br />

man es dennoch nicht zu wissen, wenn man sich nur auf herkömmliches sozialwissenschaftliches<br />

Instrumentarium (also auf Befragungen) verlässt. Jetzt kann man<br />

sie sehen, kann auf Facebook ihre Vorlieben oder Hobbys anschauen usw. Also:<br />

Das, was sich da auf den Pegida- oder Sügida-Demonstrationen zeigt, ist nicht neu.<br />

Parallel dazu stieg die Anzahl rassistischer Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte<br />

2014 stark an (Dernbach, 2015). Im Vergleich zum Vorjahr 2013, hat sich die<br />

Zahl der Angriffe mehr als verdreifacht; allein 67 Angriffe ereignete sich zudem<br />

im letzten Quartal 2014. Unter den insgesamt 150 registrierten Attacken waren<br />

Brand- und Sprengstoffanschläge, Angriffe auf deren Bewohner und volksverhetzende<br />

Parolen.<br />

Nun gilt es allerdings auch zu differenzieren: Unter den Pegida-„Wutbürgern“<br />

waren nicht nur Rechtsextremisten, Rechtspopulisten oder Anhänger der AfD.<br />

Auch Menschen, die sich bedroht fühlen oder Angst vor etwas haben, das sie<br />

1 Personenbezogene Bezeichnungen werden im vorliegenden Band der besseren Lesbarkeit<br />

wegen, wenn nicht anders hervorgehoben, in der männlichen Form wiedergegeben.


Vorwort<br />

11<br />

kaum aus eigener Erfahrung kennen, nahmen an den Pegida-Demonstrationen<br />

teil. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird nicht nur von „randständigen“<br />

Personengruppen geäußert, sondern ndet sich auch in der „stabilen Mitte“, wie<br />

Wilhelm Heitmeyer und Kollegen oder Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar<br />

Brähler in ihren repräsentativen Studien seit 2002 bis 2014 zeigen konnten.<br />

In welchem Verhältnis stehen nun aber die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit,<br />

der Rechtspopulismus und <strong>Rechtsextremismus</strong>? Auch um diese Frage<br />

geht es im vorliegenden Band.<br />

Theoretische Unschärfen und der <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

in der Mitte der Gesellschaft<br />

Rechtsextremistische Orientierungen setzen sich nach Heitmeyer et al. (1992) aus<br />

einer Ideologie der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der Gewaltaf nität<br />

(bis hin zu gewalttätigem Handeln) zusammen. Beide Dimensionen wurden in<br />

einschlägigen Publikationen (auf die im vorliegenden Band ausführlich eingegangen<br />

wird) durch Subdimensionen mit verschiedenen Facetten untergliedert und<br />

operationalisiert. Leserinnen und Leser werden sich erinnern, nach anfänglicher<br />

Euphorie und umfangreicher Rezeption gerieten in den 1990er Jahren sowohl die<br />

Heitmeyersche <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition als auch der von ihm und Kollegen<br />

vorgelegte Erklärungsansatz in die Kritik. Nicht zuletzt angesichts der ungelösten<br />

Denitionsprobleme wurde von einigen Forschern mit überwiegend politikwissenschaftlicher<br />

Ausrichtung Anfang der 2000er Jahre eine „Konsensde nition“<br />

vorgeschlagen. Rechtsextreme Einstellung solle in sechs Dimensionen gemessen<br />

werden: „Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur“, „Chauvinismus“, „Ausländerfeindlichkeit“,<br />

„Antisemitismus“, „Sozialdarwinismus“ und „Verharmlosung<br />

des Nationalsozialismus“. Die auf dieser Basis entwickelte Skala zur Messung<br />

von rechtsextremen Einstellungen wurde in mehreren Studien eingesetzt, zuletzt<br />

in den Mitte-Studien von Decker, Kiess und Brähler (2014), in der Studie der<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung „Fragile Mitte – Feindselige Zustände“ (Zick & Klein,<br />

2014) und im Thüringen-Monitor 2014 (Best, Niehoff, Salheiser & Salomo, 2014).<br />

Die „Konsensdenition“ lehnt sich zwar an der o. g. <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition<br />

von Heitmeyer und Mitarbeitern an, greift aber nur eine der zwei Dimensionen –<br />

die „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ auf. Auch im Langzeit-Projekt Gruppenbezogene<br />

Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer, 2002 bis 2012) sollte von Anfang<br />

an – vergleichbar mit der o. g. „Konsensde nition“ – „nur“ eine der Dimensionen<br />

empirisch beobachtet werden, die in der ursprünglichen <strong>Rechtsextremismus</strong>-De-<br />

nition genannt sind – eben die Facetten (oder Elemente) der Ideologie der Un-


12 Vorwort<br />

gleichwertigkeit. Sowohl die Befunde der Mitte-Studien als auch und besonders<br />

die Ergebnisse aus dem Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF)<br />

haben die scheinbare Unterscheidung zwischen den brutalen Rechtsextremisten<br />

einerseits und der angeblich humanen Bevölkerung andererseits aufgelöst und auf<br />

grundsätzliche Gefährdungen der deutschen Gesellschaft aufmerksam gemacht.<br />

Die Erweiterung der wissenschaftlichen Perspektive war wichtig und notwendig,<br />

hatte aber auch zur Folge – und das ist die These der Herausgeberinnen und Herausgeber<br />

– dass die Gefährdung der Gesellschaft durch die sich in den letzten zwei<br />

Jahrzehnten neu organisierenden rechtsextremen Milieus und Bewegungen nicht<br />

primär im Fokus der wissenschaftlichen Analyse und Erklärung stand. Auf ein<br />

politisches Problem dieser Fokussierung verweist Anetta Kahane:<br />

„Das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hat den entscheidenden<br />

Vorteil, dass es deutlich macht, dass GMF nicht ausschließlich ein unter<br />

Rechtsextremisten verbreitetes Phänomen ist, sondern – die statistischen Erhebungen<br />

zeigen das – in allen gesellschaftlichen Gruppen vorkommt. Zugleich kann dies<br />

allerdings zu einer Entpolitisierung des Kampfes gegen den <strong>Rechtsextremismus</strong> führen“<br />

(Kahane, 2012, S. 307f.).<br />

Müssen die <strong>Rechtsextremismus</strong>forscherinnen und -forscher vor diesem Hintergrund<br />

möglicherweise ihre analytischen Instrumente schärfen?<br />

Der Nationalsozialistische Untergrund<br />

Im November 2011 wurde die rechtsterroristische Gruppierung Nationalsozialistischer<br />

Untergrund (NSU) aufgedeckt. Fast 14 Jahre waren Mundlos, Böhnhardt<br />

und Zschäpe untergetaucht. Zuvor waren die drei in der rechtsextremen Jenaer<br />

Jugendszene und im rechtsextremen „Thüringer Heimatschutz“ aktiv, nahmen an<br />

rechtsextremen Demonstrationen in Jena, Dresden und anderswo teil und bauten<br />

Bomben. Gefahndet wurde nach den drei Personen noch bis Anfang der 2000er<br />

Jahre. Seit dem 6. Mai 2013 ndet in München der Prozess zu den Mordtaten des<br />

Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) statt. Angeklagt sind Beate Zschäpe,<br />

die einzige Überlebende des Mordtrios, sowie vier mutmaßliche Helfer und Unterstützer<br />

des NSU. Die Anklage gegen Beate Zschäpe lautet Mittäterschaft in zehn<br />

Mordtaten, schwere Brandstiftung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.<br />

Ermordet wurden – so die Anklage – acht türkischstämmige und ein<br />

griechischer Kleinunternehmer sowie eine Polizistin. Am 7.6.2014 schreibt DER<br />

SPIEGEL, dass seit Bekanntwerden der NSU-Morde rund 700 Tötungsverbrechen


Vorwort<br />

13<br />

durch die Ermittlungsbehörden auf ein rechtsextremes Tatmotiv überprüft werden<br />

(Baumgärtner, Röbel & Winter, 2014, S. 34). DER SPIEGEL fragt in diesem Zusammenhang:<br />

„Gab es weitere Mörderbanden nach dem Muster des NSU? Oder<br />

gehen womöglich noch mehr Taten auf das Konto der Rechtsextremen Uwe Mundlos,<br />

Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe?“ (Baumgärtner, Röbel & Winter, 2014,<br />

S. 34). Nach den Recherchen des Opferfonds CURA der Amadeu Antonio Stiftung<br />

kamen seit 1990 bis 2013 184 Menschen durch die Folgen menschenfeindlicher<br />

Gewalt ums Leben (Erkol & Winter, 2013). Die nach dem November 2011 bekannt<br />

gewordenen Fahndungspannen, das Vernichten von Akten bei Polizei und<br />

Verfassungsschutz, die möglichen rechtsextremen Unterstützerinnen und Unterstützer<br />

des Terror-Trios und dessen Kontakte zum Verfassungsschutz beschäftigen<br />

noch immer Untersuchungsausschüsse auf Länder- und Bundesebene. Und so ist es<br />

nicht verwunderlich, dass die Morde des NSU, seine Vernetzung mit inländischen<br />

und ausländischen rechtsextremen Bewegungen und die Kontakte des NSU zum<br />

Verfassungsschutz schließlich und noch immer irritieren, verstören, hil os und<br />

wütend machen können.<br />

Gegenwärtig arbeiten in Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen<br />

parlamentarische Untersuchungsausschüsse zu den zahlreichen noch ungeklärten<br />

Fragen wie etwa den Umständen des Mords an der Polizistin Michèle Kiesewetter<br />

oder den auffälligen Verbindungen des hessischen Verfassungsschutzes zu dem<br />

Mord an Halit Yozgat in Kassel. Der politische Wille für die notwendige Aufklärung<br />

ist allerdings begrenzt. In Hessen konnte der Ausschuss nur gegen den<br />

Willen der schwarz-grünen Regierung eingesetzt werden, die argumentierte, der<br />

Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags hätte bereits alle Fragen geklärt.<br />

Aber ist das wirklich so?<br />

Nein, der Vorhang ist nicht geschlossen; nach wie vor sind viele Fragen offen.<br />

Das zeigen die in diesem Band versammelten Beiträge.<br />

Überblick über die Inhalte dieses Sammelbandes<br />

Ein großer Teil dieser Beiträge geht auf die 27. Jahrestagung Friedenspsychologie<br />

zurück, die Ende Juni 2014 unter dem Titel „ Nationalsozialistischer Untergrund,<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und aktuelle Beiträge der Friedenspsychologie“ in Jena an der<br />

Friedrich-Schiller-Universität stattfand. Um die damals angestoßenen Debatten<br />

weiterzuführen und nach Antworten auf die vielen offenen Fragen zum <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />

zum Rechtspopulismus und zum NSU zu suchen, bieten die Buchbeiträge<br />

sehr vielfältige Anregungen aus theoretischen, empirischen und praktischen<br />

Perspektiven. Diese Perspektiven sind keinesfalls vollständig. Wie könnten sie


14 Vorwort<br />

das auch sein. Überdies dokumentieren die Beiträge auch die Vielfalt, die Unterschiedlichkeit<br />

und manche Widersprüchlichkeit in und zwischen den Sicht- und<br />

Handlungsweisen im Umgang mit dem <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Im Kapitel 1 legen die Herausgeberinnen und Herausgeber ein zusammenfassendes,<br />

quantitatives und qualitatives Review der deutschsprachigen und<br />

internationalen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung zum<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> in den Jahren 1990 bis 2013 vor. Aufbauend auf wissenschaftstheoretischen<br />

Grundlagen werden wissenschaftliche Publikationen zum<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> in ihrem Umfang und ihren theoretischen und empirischen<br />

Inhalten gesichtet und jeweils zentrale Forschungsfragen, De nitionsansätze, erklärende<br />

Theoriegebäude und Untersuchungsdesigns beispielhaft dargestellt und<br />

Dezite aufgezeigt.<br />

Das Kapitel 2 behandelt „Unschärfen, Befunde und Perspektiven“ der gegenwärtigen<br />

und künftigen <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung. Im ersten Beitrag dieses<br />

Kapitels zeigt Matthias Quent quellenreich auf, dass der <strong>Rechtsextremismus</strong> im<br />

Osten Deutschlands eine Geschichte hat, die bereits vor 1989 begann, aber weder<br />

ein originär ost- noch ein einzig westdeutsches Phänomen darstellt. Monokausale<br />

Erklärungsansätze, in denen von einem „Sonderfall Ost“ und einem „Normalfall<br />

West“ die Rede ist, sind zwar populär, aber unzureichend.<br />

Kurt Möller beschäftigt sich in seinem Beitrag „ <strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende<br />

Ablehnungen – alte Probleme mit neuen Herausforderungen“<br />

zunächst mit dem schon erwähnten Problem der begrif ichen Unschärfen, um<br />

anschließend die wichtigsten Befunde der letzten Jahre über das Ausmaß rechtsextremer<br />

Tendenzen in Deutschland und deren Entwicklungen zu analysieren.<br />

Letztlich – so Kurt Möller – ist der <strong>Rechtsextremismus</strong> ein strukturelles und kein<br />

konjunkturelles Problem.<br />

Heinrich Best nimmt die Befunde des Thüringen-Monitors, eine seit 2000 jährlich<br />

stattndende repräsentative Bevölkerungsbefragung zur politischen Kultur im<br />

Freistaat Thüringen, zum Anlass, um die bereits im Beitrag von Matthias Quent<br />

aufgeworfene Frage zu beantworten, ob es sich beim <strong>Rechtsextremismus</strong> im innerdeutschen<br />

Vergleich um ein spezisch ostdeutsches Phänomen handelt. Die Befunde,<br />

die der wissenschaftliche Leiter des Thüringen-Monitors präsentiert, scheinen<br />

einer solchen Antwort zumindest nicht zu widersprechen.<br />

Im vierten und letzten Beitrag dieses zweiten Kapitels präsentieren Wolfgang<br />

Frindte und Daniel Geschke eine neue sozialpsychologische Theorie – die „Theorie<br />

eines identitätsstiftenden politischen Fundamentalismus“ -, mit der eine erweiterte<br />

theoretische, empirische und potentiell auch praktische Perspektive auf<br />

rechtsextreme Tendenzen verbunden ist. <strong>Rechtsextremismus</strong> wird zunächst als<br />

Triple-Phänomen (Dreikomponenten-Ansatz) konzipiert: als fundamentalistische


Vorwort<br />

15<br />

Ideologie (der Ungleichwertigkeit), durch die Gewaltpotentiale (Gewaltakzeptanz,<br />

-bereitschaft und -handeln) und negative Gruppenemotionen legitimiert werden<br />

können. Die soziale Identität als Identi kation mit relevanten (rechtsextremen)<br />

Bezugsgruppen fungiert dabei als Mediator zwischen diversen Kontextbedingungen<br />

und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit, den Gewaltpotentialen<br />

und den Gruppenemotionen. Um diese Mediatorfunktion empirisch<br />

nachzuweisen, greifen die Autoren schließlich auf Sekundäranalysen eigener Studien<br />

zurück, die im Zeitraum von 1998 bis 2011 durchgeführt wurden.<br />

Kapitel 3 widmet sich dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ und vor allem<br />

auch seinem gesellschaftlichen, historischen und institutionellen Kontext aus verschiedenen<br />

Perspektiven: historisch, entwicklungssoziologisch, journalistisch-kriminalistisch,<br />

politikwissenschaftlich, sozialkonstruktivistisch und künstlerisch.<br />

Zunächst analysiert Stefan Heerdegen als Mitarbeiter der Mobilen Beratung in<br />

Thüringen „MOBIT“, einer Beratungsstelle zum praktischen Umgang mit extrem<br />

rechten Erscheinungsformen, in seinem Text den Kontext der Entstehung und der<br />

späteren Taten des NSU. Er beschreibt die Thüringer neonazistische, extrem rechte<br />

und Kameradschaftsszene der 1990er Jahre und führt auch für die nachfolgenden<br />

Jahre die personelle und strukturelle Einbindung des NSU-Trios in neonazistische<br />

Netzwerke wie den „Thüringer Heimatschutz“ oder „Blood & Honour“ detailliert<br />

aus. Sein Beitrag verweist auf die Kontinuität in rechter Ideologie, Organisierung<br />

und Gewalt bis zur Mordserie des NSU und sieht in letzterer keine wirklich überraschende<br />

oder neue Qualität.<br />

Im zweiten Text dieses Kapitels fokussiert Heike Würstl aus einer biogra eforschenden,<br />

entwicklungssoziologischen Perspektive auf den individuellen Werdegang<br />

eines Kernmitglieds des NSU. Im Rahmen dieser lebenslauforientierten<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung versucht sie anhand objektiver Lebensdaten von<br />

Uwe Böhnhardt zu erklären, welche individuellen, familiären, historischen und<br />

gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seinen Weg zum rechtsextremen Mörder<br />

erklären können. Sie konstatiert im theoretischen Rahmen eines Desintegrationsansatzes<br />

(Anhut & Heitmeyer, 2007) Böhnhardts individuelle Unfähigkeit, seine<br />

vielfältigen Anerkennungsdezite zu kompensieren. Die rechtsextreme Ideologie<br />

und die vermeintliche Verantwortung der Nichtdeutschstämmigen für sein Scheitern<br />

ermöglichten es ihm demnach, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten und<br />

die Gewaltexzesse des NSU vor sich selbst zu rechtfertigen.<br />

Im dritten Abschnitt „ Der Verfassungsschutz und der NSU“ beschäftigt sich<br />

der Journalist Dirk Laabs mit dem Umgang staatlicher Behörden mit rechtsterroristischen<br />

Bedrohungen. Akribisch recherchiert (vgl. auch Aust & Laabs, 2014)<br />

dokumentiert er – u. a. mittels zahlreicher Zitate aus den Untersuchungsberichten<br />

verschiedener NSU-Ausschüsse und durch historische Referenzen –, dass das


16 Vorwort<br />

Bundesamt und auch die Landesämter für Verfassungsschutz keinesfalls „auf dem<br />

rechten Augen blind“ waren. Im Gegenteil: auf Grund zahlreicher V-Männer und<br />

Spitzel waren sie bestens informiert und rechter Terror wurde bereits vor und in<br />

den 90er Jahren antizipiert und für möglich gehalten. Er beschreibt auch die Konkurrenz<br />

zwischen verschiedenen Behörden (wie den Bundes- und Landeskriminalämtern<br />

und den Verfassungsschutzbehörden), welche sich bis hin zur Sabotage<br />

polizeilicher Arbeit bei der Verfolgung der Rechtsterroristen auswuchs; und auch<br />

das Versagen der Thüringer Justiz. Für die Verfassungsschützer ging dabei (und<br />

geht teilweise bis heute) „Quellenschutz vor Strafverfolgung“, wodurch nicht nur<br />

die neonazistische Szene deutschlandweit gestärkt, sondern auch die Festsetzung<br />

der Rechtsterroristen des NSU mehrfach verhindert wurde. Ohne die Unterstützung<br />

rechtsextremer Strukturen durch die Verfassungsschutzbehörden und die<br />

gezielte Ignoranz zahlreicher Hinweise auf den NSU hätte die militante Neonaziszene<br />

viel früher kontrolliert oder zerschlagen und die Morde des NSU vielleicht<br />

sogar verhindert werden können. Nicht zuletzt beschreibt Laabs auch für die Zeit<br />

nach dem Aufiegen des NSU die systematische Aktenvernichtung und damit kriminelle<br />

Verschleierung der staatlichen Verwicklung in rechtsextreme Strukturen,<br />

welche bisher kaum personelle Konsequenzen hatte. Sein Beitrag verweist auf viele<br />

offene Fragen zur Verbindung von staatlichen Behörden und Rechtsextremen.<br />

Die Opfer des NSU, ihre Angehörigen und auch die Gesellschaft insgesamt haben<br />

ein Recht auf die Aufklärung dieser Fragen, wobei zum Erhellen der Wahrheit ein<br />

langer Atem gefragt ist.<br />

Im vierten Text dieses Kapitels analysiert Thomas Grumke aus einer politikwissenschaftlichen<br />

Perspektive „Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter<br />

nach dem NSU“. Er beschreibt sehr detailliert die Strukturen und das Personal dieser<br />

Ämter und führt aus, wie sich ihr Image im Laufe der NSU-Affäre von einem<br />

„Frühwarnsystem der Demokratie“ bis hin zu einer „Gefahr für die Demokratie“<br />

entwickelt hat. Die Verantwortlichen entziehen sich der Verantwortung und deren<br />

Inkompetenz ist nicht nur individuell, sondern auch strukturell bedingt, z. B. gibt es<br />

keine einheitlichen Personalauswahl-, Ausbildungs- und Fortbildungsstandards und<br />

einen eklatanten Mangel an sozialwissenschaftlicher Analysekompetenz innerhalb<br />

der für den <strong>Rechtsextremismus</strong> zuständigen Ämter. Eine penible Untersuchung von<br />

analytischen Fehlern und fachlichen und praktischen Versäumnissen staatlichen<br />

Handelns hält er für dringend geboten, hier sieht er die verschiedenen Untersuchungsausschüsse<br />

in der Picht. Er mahnt, dass, wenn man die Verfassungsschutzbehörden<br />

für ein zentrales Element der wehrhaften Demokratie hält, man diese<br />

demnach auch in einen entsprechenden personellen und materiellen Stand versetzen<br />

müsse. Ernüchternd konstatiert er aber, dass deren strukturelle Neuausrichtung<br />

oder Neujustierung bisher überhaupt nicht in Sicht ist. Da <strong>Rechtsextremismus</strong> ein


Vorwort<br />

17<br />

gesamtgesellschaftliches Problem ist, sieht er auch alle in der P icht, damit erfolgreich<br />

umzugehen: „Aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger sind das Fundament einer<br />

demokratischen Kultur und so der beste Verfassungsschutz“.<br />

Im fünften und letzten Abschnitt des dritten Kapitels beschreiben Franz Knoppe<br />

und Maria Gäde als Kunstaktivisten und Mitglieder der Gruppe „Grass Lifter“<br />

(also die, die das Gras ausgraben) ihre „Künstlerische(n) Interventionen zum NSU<br />

im öffentlichen Raum in Sachsen“. Auf einer system- und kommunikationstheoretischen<br />

Perspektive aufbauend fragten sie sich zunächst, wie die sächsische Bevölkerung<br />

und lokale Behörden nach der Aufdeckung des NSU damit umgingen, dass<br />

die Rechtsterroristen jahrelang unter ihnen gelebt hatten und identi zierten hier<br />

sehr starke Verdrängungsmechanismen. Um diese zu durchbrechen, zur Reexion<br />

anzuregen und Diskurse auszulösen führten sie – inspiriert u. a. von den großartigen<br />

„THE YES MEN“ um Andy Bichlbaum (vgl. http://theyesmen.org) – vier<br />

verschiedene, sehr symbolkräftige und medienwirksame künstlerische Interventionen<br />

im öffentlichen Raum durch. Im Text beschreiben sie diese Kunstaktionen,<br />

unterlegt mit aussagekräftigen Bildern, sowie deren Logik und Grundprinzipien,<br />

ihre künstlerischen Motivationen, Ansätze, Taktiken, Prinzipien, Theorien und<br />

gruppendynamischen Prozesse, sowie die gesellschaftlichen Reaktionen darauf.<br />

Mit einem Schmunzeln nimmt man als Leser oder Leserin erfreut zur Kenntnis,<br />

wie es ihnen durch diese relativ unaufwändigen künstlerischen Aktionen gelungen<br />

ist, das vor Ort herrschende politische Meinungsvakuum mit künstlerischen Mitteln<br />

zu füllen und somit einen Beitrag zum Umkonstruieren unserer immer sozial<br />

konstruierten Realität zu leisten.<br />

In Kapitel 4 werden gesellschaftliche Reaktionen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> aus<br />

verschiedenen Perspektiven vorgestellt. Hier kommen Praktikerinnen und Praktiker<br />

zu Wort, die Medienberichterstattung und Reaktionen von Politikerinnen und<br />

Politikern auf diese werden analysiert und das Potenzial des politischen Kabaretts<br />

diskutiert. Dabei werden aktuelle Bezüge hergestellt, z. B. was Satire ist und darf –<br />

im Hinblick auf die Mohammed-Karikaturen – und welche Protestmotivation hinter<br />

der Teilnahme an Pegida-Demonstrationen steckt. Die Problematik der statistischen<br />

Erfassung politisch motivierter Kriminalität wird anhand ofzieller Zahlen<br />

und erweiternder Fallanalysen von Todesopfern rechtsextremer Gewalt diskutiert.<br />

Annetta Kahane eröffnet das vierte Kapitel als Praktikerin, schildert verschiedenste<br />

Szenen aus dem Osten und dem Westen Deutschlands und versucht damit<br />

ein Bild zu zeichnen, was <strong>Rechtsextremismus</strong> heute ist und wie er entstand. Die<br />

Gefahr sieht sie vor allem in der Synthese von nationalrevolutionären militanten<br />

und populistisch rassistischen Bewegungen, die in Deutschland probiert wird.<br />

Deshalb sollte die erste Praxis die des Schutzes von Minderheiten sein sowie die<br />

Zusammenarbeit von allen gesellschaftlichen Bereichen.


18 Vorwort<br />

Britta Schellenberg analysiert in ihrem Artikel die mediale Thematisierung<br />

von <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rassismus sowie die Debattenbeiträge von Akteuren,<br />

die an der Medienberichterstattung Kritik üben und setzt diese in Beziehung zu<br />

ihren jeweiligen Normvorstellungen und Problemwahrnehmungen. Dafür betrachtet<br />

sie den konkreten Fall „Mügeln“ und die öffentliche Debatte darüber. Ziel der<br />

empirischen Analyse ist es, problematische Strukturen jenseits des Neonazismus<br />

aufzuzeigen, die grundlegende Herausforderungen für eine demokratische Auseinandersetzung<br />

und die Strategieentwicklung im Bereich „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

und „Rassismus“ markieren.<br />

Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz widmen sich im<br />

darauffolgenden Beitrag der Frage des tatsächlichen Ausmaßes rechter Gewalt,<br />

speziell anhand der Zahl der Todesopfer. Dafür stellen sie Auszüge aus ihrem Forschungsprojekt<br />

vor und erläutern anhand einiger Beispiele, welche Fälle nicht statistisch<br />

in dem Bereich „Politisch motivierter Kriminalität – rechts“ erfasst werden<br />

aber anhand verschiedener Gutachten eindeutig als solche zu kategorisieren sind.<br />

Letztlich kommen sie zu dem Schluss, dass das staatliche Denitionssystem „Politisch<br />

motivierte Kriminalität“ (PMK) gegenüber älteren an „Staatsschutz“ und<br />

„Extremismus“ orientierten Denitionsansätzen politischer Gewalt bzw. Kriminalität<br />

und den entsprechenden polizeilichen Erfassungssystemen unzweifelhaft eine<br />

deutliche Verbesserung darstellt, aber das Erkennen entsprechender Motivlagen<br />

weiterhin erhebliche Anforderungen an die Analysekompetenz der Polizei stellt.<br />

Samuel Salzborn geht der hochaktuellen Frage nach, welche Protestmotivation<br />

hinter der Teilnahme an Pegida-Demonstrationen zu identi zieren ist – nämlich<br />

Egoismus und Demokratieferne – und diskutiert in diesem Kontext die jüngsten<br />

empirischen Ergebnisse. Danach geht er auf das Weltbild der Verschwörungsängste<br />

und auf Strategien des Umgangs damit ein und postuliert, nicht den Forderungen<br />

der Demonstrantinnen und Demonstranten nachzugeben, sondern ihnen mit aller<br />

Entschiedenheit entgegenzutreten. Abschließend kommt er zu dem Fazit, dass der<br />

rassistische Ruf gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“ in Wahrheit der Ruf<br />

nach einer antidemokratischen und autoritären Lösung eines Problems ist, das nur<br />

in den Ängsten und Phantasien seiner Anhänger besteht.<br />

Das vierte Kapitel wird dann mit dem Beitrag von Frank Schilden abgeschlossen,<br />

der zum Ziel hat, den Mythos der alles dürfenden Satire mindestens zu relativieren,<br />

zu erklären und in den entsprechenden Kontext zu rücken, um dann auf das<br />

Politische Kabarett näher einzugehen. Aus linguistischer Perspektive wird eine<br />

besondere Spielart kabarettistischer Vorträge am Beispiel der Thematisierung des<br />

„NSU“ aufgezeigt. Eine Reexion über das aufklärerische und didaktische Potenzial<br />

von Kabarett schließt den Beitrag ab.


Vorwort<br />

19<br />

Das Kapitel 5 stellt Analysen und Überlegungen zu Prävention und Intervention<br />

im Kontext von <strong>Rechtsextremismus</strong> vor. Dabei verschmelzen theoretische Überlegungen<br />

zur Angemessenheit von Prävention mit der Analyse konkreter Präventionsmodelle.<br />

Kurt Möller eröffnet das fünfte Kapitel und verbindet seine im Kapitel 2 dargelegten<br />

Überlegungen nun mit Empfehlungen für eine praktische Ausgestaltung,<br />

wie sie etwa im neu aufgelegten Bundesprogramm „Demokratie leben!“ angestrebt<br />

sind. Dafür zeichnet er Grundzüge des biograschen Aufbaus rechtsextremer Haltungen<br />

nach, um vor diesem Hintergrund Schlussfolgerungen für eine nachhaltig<br />

wirksame Bearbeitung zu formulieren.<br />

Daran anschließend stellt Franziska Schmidtke Vergleichsaspekte der von den<br />

Bundesländern formulierten Programme zur Auseinandersetzung mit <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Demokratieförderung vor. Sie erläutert die inhaltliche Bandbreite<br />

der verschiedenen Programme und überprüft kritisch die Verknüpfung von inhaltlichen<br />

Zielen und strukturellen Umsetzungen, sowie die Wirkfähigkeit der Programme.<br />

Daniel Köhler greift aus der Vielfalt von Präventionsmaßnahmen die Ansätze<br />

der „Deradikalisierung“ heraus. Er erklärt die theoretischen Hintergründe der<br />

Methode und analysiert vor dem Hintergrund internationaler Vergleichsfälle die<br />

praktische Umsetzung in Deradikalisierungsprogrammen. Diese ordnet er schematisch<br />

und formuliert so Trends und Herausforderungen, die insbesondere der<br />

Weiterentwicklung und wissenschaftlichen Fundierung der deutschen Projektlandschaft<br />

dienen können.<br />

Reiner Becker formuliert in seinem Beitrag ein Plädoyer für die Einbeziehung<br />

der politischen Kultur im sozialen Nahraum bei der Erforschung der Ursachen<br />

für die Herausbildung einer rechtsextremen Szene. Er erläutert kenntnisreich Ebenen<br />

und Wirkungsweisen der politischen Kultur für die Entwicklung rechtsextremer<br />

Haltungen und leitet daraus Anforderungen für Maßnahmen der Prävention<br />

und Intervention ab. Schließlich untermauert er seine Argumentation durch einen<br />

Praxisbericht aus Hessen und zeigt anhand dessen die Bedeutung tradierter Vorurteilsstrukturen<br />

auf.<br />

Auch Wolfgang Beutel, Kurt Edler, Mario Förster und Hermann Veith verbinden<br />

ihre Fürsprache, hier für den Ansatz der Demokratiepädagogik als präventionswirksame<br />

Idee, mit konkreten Projektbeispielen. Sie entfalten die theoretischen<br />

Grundlagen der Demokratiepädagogik vor dem Hintergrund einer<br />

Dezitanalyse der Institution Schule und zeigen anhand von Praxisprojekten die<br />

vielfältige Einsetzbarkeit des Konzepts in verschiedenen Schulformen auf. Dieser<br />

Blick wird zudem ergänzt und erweitert durch eine Initiative des Kompetenzzentrums<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in der alle


20 Vorwort<br />

Bildungsbereiche aufgenommen sind und damit der Wirkungsbereich von Demokratiepädagogik<br />

weiter ausgebaut wird.<br />

Daniel Geschke und Matthias Quent wenden sich schließlich der bisher wissenschaftlich<br />

unterbelichteten Opferperspektive zu und präsentieren eine quantitative<br />

Untersuchung zur sekundären Viktimisierung von Opfern rechter Gewalt. Sie<br />

zeigen systematische Schwachpunkte im Umgang der Polizei mit den Betroffenen<br />

rechter Gewalt auf und tragen damit nicht nur zu einem wissenschaftlichen, sondern<br />

auch gesellschaftlich dringend notwendigen Diskurs bei.<br />

Schlussendlich wollen wir, die Herausgeberinnen und Herausgeber, uns bei all<br />

jenen bedanken, die am Zustandekommen des nun vorliegenden Band beteiligt<br />

waren. Unser Dank gilt natürlich zu allererst den Autorinnen und Autoren der folgenden<br />

Beiträge. Außerdem danken wir Lukas Erhard, Marius Meyer und Stephanie<br />

Wohlt für die gründliche und schnelle Hilfe bei der manchmal nicht leichten<br />

Korrekturarbeit am Manuskript.<br />

Bei der Stiftung für Technologie, Innovation und Forschung des Freistaates<br />

Thüringen bedanken wir uns für die nanzielle Unterstützung bei der Publikation<br />

des vorliegenden Buches.<br />

Das Buch erscheint als Band in der Reihe „<strong>Edition</strong> <strong>Rechtsextremismus</strong>“, die<br />

von Fabian Virchow und Alexander Häusler betreut und herausgeben wird. Ihnen<br />

danken wir für die Bereitschaft, auch unser Buch in dieser Reihe herauszubringen.<br />

Mit Springer VS und dem Verlag für Sozialwissenschaften verbindet uns eine<br />

lange und gute Zusammenarbeit. Auch diesmal hat sich der Bund bewährt. Unser<br />

besonderer Dank gilt deshalb Herrn Jan Treibel und Frau Stefanie Loyal für die<br />

Hilfe beim Fertigstellen des Endmanuskripts.<br />

Wir hoffen, dass sich die Leserinnen und Leser dieses Buches sowohl von der<br />

Pluralität der folgenden Beiträge als auch von den Differenzen zwischen den einzelnen<br />

Beiträgen anregen lassen, um im Sinne der gelebten Demokratie die theoretische<br />

und praktische Auseinandersetzung mit dem <strong>Rechtsextremismus</strong> und dem<br />

Rechtspopulismus fortzusetzen.<br />

Wolfgang Frindte, Daniel Geschke,<br />

Nicole Haußecker & Franziska Schmidtke<br />

Jena, im März 2015


Vorwort<br />

21<br />

Literatur<br />

Anhut, R. & Heitmeyer, W. (2007). Desintegrationstheorie – ein Erklärungsansatz. Universität<br />

Bielefeld: BI.research, 30, 55-58.<br />

Aust, S. & Laabs, D. (2014). Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU. München:<br />

Pantheon.<br />

Baumgärtner, M., Röbel, S., Winter, St. ( 2014, 7. Juni) Fundstück im Pappkarton. Der<br />

SPIEGEL, S. 34.<br />

Best, Niehoff, S., Salheiser, A. & Salomo, K. (2014). Die Thüringer als Europäer –<br />

Ergebnisse des THÜRINGEN-MONITORs 2014. Friedrich-Schiller-Universität Jena: Institut<br />

für Soziologie.<br />

Bundesministerium des Inneren, (2015). „Deutschland ist im Hinblick auf Zuwanderung<br />

gut aufgestellt“. Zugriff am 3.3.2015. www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/<br />

DE/2015/01/vorstellung-migrationsbericht-2013.html?nn=3315820<br />

Decker, O., Kiess, J., Brähler, E. (2014). Die stabilisierte Mitte – Rechtsextreme Einstellung<br />

in Deutschland 2014. Universität Leipzig: Kompetenzzentrum für <strong>Rechtsextremismus</strong>und<br />

Demokratieforschung der Universität Leipzig.<br />

Dernbach, A. (2015, 10. Februar). Dreimal mehr Angriffe auf Asylbewerberheime. Der Tagesspiegel.<br />

Zugriff am 16.3.2015 www.tagesspiegel.de.<br />

Heitmeyer, W. (2002 bis 2012). Deutsche Zustände Folge 1 bis 10. Frankfurt am Main bzw.<br />

Berlin: Suhrkamp.<br />

Heitmeyer, W., Buhse, H., Liebe-Freund, J., Möller, K., Müller, J., Ritz, H., Siller, G. & Vossen,<br />

J. (1992). Die Bielefelder <strong>Rechtsextremismus</strong>-Studie. Erste Langzeituntersuchung<br />

zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher. Weinheim und München: Juventa.<br />

Kahane, A. (2012). Das Konzept Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Praxis.<br />

Segen und Fluch der Komplexität. In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände 10. Berlin:<br />

Suhrkamp.<br />

Erkol, A., Winter, N. (2013). 184 Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt seit<br />

1990. Zugriff am 15.6.2014 www.mut-gegen-rechte-gewalt.de<br />

Zick, A. & Klein, A. (2014). Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen<br />

in Deutschland 2014. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.


Kapitel 1


Ein systematisierender Überblick<br />

über Entwicklungslinien<br />

der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />

von 1990 bis 2013<br />

Wolfgang Frindte, Daniel Geschke, Nicole Haußecker<br />

und Franziska Schmidtke<br />

1 Ausgangssituation<br />

Ist der <strong>Rechtsextremismus</strong> ein „Phänomen“ (Zick, 2004, S. 263), das der psychologischen<br />

und sozialwissenschaftlichen Beobachtung zugänglich ist, aber aus<br />

unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven erklärt werden kann? Ist der<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> gar ein „Forschungsfeld“ (Neidhardt, 2002, S. 781), das zwar<br />

theoretisch und methodisch schwach ausdifferenziert ist, aber disziplinübergreifend<br />

beforscht wird? Oder ist der Rechtextremismus ein „Modethema“ (Butterwegge,<br />

2000, S. 13), dessen Erforschung Konjunktur- und Dramatisierungszyklen<br />

folgt?<br />

Die Antworten auf diese Fragen bestimmen letztlich auch, ob die „<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung“<br />

einen eigenständigen Status als Forschungsfeld oder Forschungsprogramm<br />

in den Sozialwissenschaften 1 und der Psychologie besitzt oder<br />

besitzen sollte. Um Antworten auf diese und andere Fragen zu nden, wurden<br />

sozialwissenschaftliche und psychologische Publikationen, die im Zeitraum von<br />

1990 bis 2013 zum Thema „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ erschienen sind, analysiert. Basis<br />

der Analyse sind a) die Datenbanken zur psychologischen Fachliteratur PsycINFO<br />

(mit dem Schwerpunkt auf angloamerikanischen Publikationen) und PSYNDEX<br />

1 Zu den Sozialwissenschaften werden hier all jene Wissenschaften zugerechnet, die<br />

sich im weitesten Sinne mit der Erforschung des gesellschaftlichen Zusammenlebens<br />

beschäftigen, wie Soziologie, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaft, Kommunikationswissenschaft,<br />

Pädagogik.<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


26 Wolfgang Frindte et al.<br />

(deutsch- und anderssprachige Publikationen aus dem deutschsprachigen Raum),<br />

b) die Datenbank WISO (das Portal für Wirtschaftswissenschaften und Sozialwissenschaften,<br />

in dem überwiegend deutschsprachige Publikationen erfasst werden)<br />

und c) die (englischsprachige) interdisziplinäre Datenbank Web of Science. Ausgeklammert<br />

aus den folgenden Analysen wurden zunächst (aus arbeitsorganisatorischen<br />

Gründen) all jene Arbeiten, die sich ausschließlich mit Interventions- und<br />

Präventionsprogrammen im Kampf gegen den <strong>Rechtsextremismus</strong> beschäftigen. 2<br />

Einen Überblick über den aktuellen Stand entsprechender Programme ndet sich<br />

im Kapitel 4 dieses Bandes.<br />

Ausgangspunkt für die folgende Analyse ist die – im weitesten Sinne an Lakatos<br />

(1971, 1974), Herrmann (1983, S. 252) und Kuhn (1976) angelehnte – Auffassung,<br />

dass Forschungsprogramme jene Menge von Folgerungen umfassen, a)<br />

die sich aus der Festlegung sinnvoll zu bearbeitender Probleme ergeben, b) mit der<br />

Wahl bestimmter Problemlösungen und c) geeigneter Methoden verbunden sind<br />

und d) innerhalb von Wissenschaftsgemeinschaften getroffen werden.<br />

2 Publikationen in den deutschsprachigen<br />

Datenbanken WISO und PSYNDEX<br />

Zwischen Anfang 1990 und Ende 2013 verweist die sozialwissenschaftliche Datenbank<br />

WISO insgesamt auf ca. 4800 wissenschaftliche Publikationen (in Fachzeitschriften<br />

und Büchern; Suche am 18.02.2014) zum Suchbegriff „rechtsextrem“; in<br />

der psychologischen Datenbank PSYNDEX werden für diesen Zeitraum (Suchbefehl<br />

„rechtsextrem“, 18.02.2014) 460 themenbezogene Publikationen ausgewiesen<br />

(siehe Abbildung 1).<br />

2 Interventions- und Präventionsprogramme lassen sich – nach Herrmann (1983, S. 274)<br />

auch als „technologische Programme“ bezeichnen, mit denen primär ein für die nichtforschende<br />

Praxis unmittelbar nutzbares operatives (Hintergrund-) Wissen erarbeitet<br />

wird. Insofern scheint die folgende Ausklammerung derartiger Programme zunächst<br />

durchaus gerechtfertigt zu sein. Psychologische Ansätze zu Präventions- und Interventionsansätzen<br />

gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> finden sich u. a. in Ahlheim (2007), Becker<br />

und Palloks (2013), Borstel und Wagner (2006), Elverich (2011), Frindte und Preiser<br />

(2007), Glaser und Pfeiffer (2013), Melzer und Serfain (2013), Molthagen u. a. (2008),<br />

Rieker (2009), Schoeps u. a. (2007).


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

27<br />

Abbildung 1 Psychologisch und sozialwissenschaftlich relevante Publikationen zum<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> in den Jahren 1990 bis 2013.<br />

Während in den Sozialwissenschaften insgesamt eine relativ stabile und hohe Publikationsrate<br />

zum <strong>Rechtsextremismus</strong> zu beobachten ist, liegt diese Rate in der<br />

Psychologie – erwartungsgemäß, disziplintypisch und verständlicherweise – auf<br />

niedrigerem Niveau und scheint überdies in den 2000er Jahren leicht rückläu g<br />

zu sein. Auffallend sind außerdem die relativ hohen Publikationsspitzen – sowohl<br />

bei PSYNDEX als auch bei WISO – in den Jahren 1993 und 1994. Weitere Spitzen<br />

zeigen sich bei WISO auch zu Beginn, in der Mitte und am Ende der 2000er Jahre.<br />

Die folgende Abbildung 2 illustriert die im Zeitraum 1990 bis 2012 vom Verfassungsschutz<br />

erfassten und berichteten rechtsextremistisch motivierten Straf- und<br />

Gewalttaten (nach Verfassungsschutzbericht, 1990 – 2012).


28<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Abbildung 2 Rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten 1991 bis 2012 (Quelle: Verfassungsschutz).<br />

In den Jahren 1992 und 1993 verzeichnet der Verfassungsschutz einen bedeutsamen<br />

Anstieg an rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten. Rückblickend<br />

verweist Andreas Klärner (2008, S. 26ff.) u. a. darauf hin, dass der parteiförmige<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> in den 1990er Jahren erheblich an Relevanz eingebüßt habe.<br />

An Stelle dessen gewannen vor allem jugendkulturelle rechtsextreme Tendenzen<br />

an Bedeutung.<br />

„Von Ostdeutschland aus breitete sich eine Welle fremdenfeindlicher Gewalt über<br />

ganz Deutschland aus, und die Täter stammten in erster Linie aus diesen neuen Jugendkulturen“<br />

(Klärner, 2008, S. 27).<br />

Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die z. T. pogromähnlichen Ausschreitungen<br />

gegen Unterkünfte von Flüchtlingen und Vertragsarbeitern im September<br />

1991 in Hoyerswerda, im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen (vgl. z. B. Richter<br />

& Schmidtbauer, 1993), sowie gegen Wohnhäuser türkischstämmiger Deutscher<br />

im Oktober 1991 in Hünxe, im November 1992 in Mölln und im Mai 1993 in So-


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

29<br />

lingen. Die in der o. g. Abbildung 1 erkennbaren Publikationsspitzen in den Jahren<br />

1993 und 1994 könnten somit u. U. eine wissenschaftliche Reaktion auf die 1992<br />

und 1993 erfolgte Eskalation des gewalttätigen <strong>Rechtsextremismus</strong> sein.<br />

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre öffnete sich die NPD für Angehörige<br />

der verbotenen Neonazi-Organisationen und für Anhänger rechtsextremer Skinheadgruppen.<br />

Auch Anhänger der Neuen Rechten propagierten in dieser Zeit<br />

rechtspopulistische Losungen. Insgesamt – so Klärner (2008, S. 29) – gewann der<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> in den 1990er Jahren an Breite und Vielfalt. Nicht nur die<br />

demokratische Öffentlichkeit reagierte auf diese Entwicklungen (z. B. durch Massendemonstrationen<br />

und „Lichterketten“ im Übergang von 1992 zu 1993, vgl. auch<br />

Kleger, 1996). Auch für die Sozialwissenschaften und die Psychologie wurde der<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> zunehmend zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen.<br />

Auch wenn ein Vergleich zwischen den Zeiträumen 1990 bis 2000 und 2001 bis<br />

2012 nur bedingt möglich ist, da der Verfassungsschutz im Jahre 2001 ein neues<br />

Verfahren zur Zählung entsprechender Straftaten einführte 3 , lassen sich die in der<br />

Abbildung 2 erkennbaren Schwankungen nach 2000 relativ gut erklären: Nachdem<br />

es im Jahre 2000 zu einer Folge aufsehenerregender Gewalttaten gekommen war<br />

(Ermordung von Alberto Adriano im Juni 2000, Handgranatenattentat in Düsseldorf<br />

im Juli 2000, Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge im Oktober<br />

2000), die deutsche Zivilgesellschaft sich gegen den <strong>Rechtsextremismus</strong> zur Wehr<br />

zu setzen versuchte und Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung einen Antrag<br />

zum Verbot der NPD beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hatten, verringerte<br />

sich in den Jahren 2001 bis 2003 die Anzahl der registrierten rechtsextremen<br />

Straf- und Gewalttaten. Im März 2003 scheiterte das NPD-Verbotsverfahren; 2004<br />

gelang der NPD der Einzug in den sächsischen Landtag. Und seit 2004 registriert<br />

der Verfassungsschutz wieder ein rasantes Ansteigen rechtsextremistischer Strafund<br />

Gewalttaten.<br />

3 „Die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder<br />

(IMK) hat am 10. Mai 2001 die Einführung des neuen Definitionssystems „Politisch<br />

motivierte Kriminalität“ rückwirkend zum 1. Januar 2001 beschlossen (vgl. auch<br />

den Beitrag von Feldmann, Kopke und Schultz in diesem Band). Zentrales Erfassungskriterium<br />

des neuen Meldesystems ist die politisch motivierte Tat. Als politisch motiviert<br />

gilt eine Tat insbesondere dann, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung<br />

des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer<br />

politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion,<br />

Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren<br />

Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet“ (Verfassungsschutzbericht,<br />

2001, S. 35).


30<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Die unterschiedlichen Entwicklungen der wissenschaftlichen Publikationen<br />

zum Thema „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und die Entwicklung der rechtsextremistischen<br />

Straf- und Gewalttaten in den Zeiträumen von 1990 bis 2000 und von 2001 bis<br />

2013 legen es nahe, das Forschungsfeld des <strong>Rechtsextremismus</strong> im deutschsprachigen<br />

Raum für die Zeiträume 1990 bis 2000 und 2001 bis 2013 zunächst getrennt<br />

zu betrachten.<br />

2.1 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und<br />

psychologischen Publikationen zum <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

zwischen 1990 und 2000<br />

Um die mögliche Vielfalt der aufzu ndenden sozialwissenschaftlichen und psychologischen<br />

Publikationen nach Schwerpunkten ordnen zu können, wurden folgende<br />

Raster genutzt: Erstens wurde nach wissenschaftlichen Arbeiten mit Überblickscharakter<br />

gesucht; eine zweite Suchstrategie richtete sich auf Publikationen,<br />

in denen der Untersuchungsgegenstand „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und seine De nitionsmerkmale<br />

diskutiert werden; drittens wurde nach dominierenden Theoriebzw.<br />

Forschungsansätzen gefahndet, mit denen die Beschaffenheiten (Qualität<br />

und Quantität) 4 , mögliche Ursachen und Folgen rechtsextremer Entwicklungen erklärt<br />

bzw. untersucht werden; viertens schließlich werden – vor dem Hintergrund<br />

des ökosystemischen Ansatzes von Uri Bronfenbrenner (1979) – die wissenschaftlichen<br />

Publikationen danach geordnet, welche Rahmenbedingungen für rechtsextreme<br />

Tendenzen jeweils im Fokus der empirischen Forschung stehen (mikro-,<br />

meso- oder makrosystemische Bedingungen). 5<br />

Tabelle 1 liefert zunächst einen beispielhaften Überblick über die Publikationsschwerpunkte<br />

in den Datenbanken PSYNDEX und WISO für die Jahre von 1990<br />

bis 2000. Die Erläuterungen folgen in den anschließenden Abschnitten.<br />

4 Der Begriff Beschaffenheit wird hier in Anlehnung an Hegel benutzt: „Aber ferner<br />

gehört die Beschaffenheit zu dem, was das Etwas an sich ist“ (Hegel, 1986, S. 134).<br />

5 Eine solche Gliederung – angelehnt an Bronfenbrenner (1979) – ist im Umgang mit<br />

den verschiedenen Konzeptionen zur Erklärung des <strong>Rechtsextremismus</strong> nicht unüblich<br />

(siehe z. B. Birzer, 1996; Frindte, 1999; Grumke, 2001; Zick, 2004).


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

31<br />

Tabelle 1 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Publikationen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> (1990 bis 2000).<br />

Überblicksarbeiten<br />

z. B.: Dünkel<br />

& Geng, 1999;<br />

Frindte, 1999;<br />

Jaschke, 1994;<br />

Jäger, 1993;<br />

Otto & Merten,<br />

1993; Wasmuth,<br />

1997; Zick,<br />

1997<br />

Begriffsdebatten:<br />

„<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

– ein unscharfer<br />

Begriff<br />

Makro-soziale<br />

Rahmenbedingungen<br />

für rechtsextreme Tendenzen<br />

Denitionsvorschläge<br />

z. B.: Friedrich,<br />

1992; Heitmeyer<br />

u. a., 1992; Jaschke,<br />

1994; Melzer &<br />

Schubarth, 1995;<br />

Pilz, 1994<br />

Dominierende Theorie-<br />

und Forschungsansätze<br />

Sozialisations- und<br />

Desintegrationstheorie<br />

Heitmeyer, 1989;<br />

Heitmeyer u. a., 1992;<br />

Heitmeyer & Müller,<br />

1995<br />

Ost-West-Vergleiche<br />

z. B. Frindte, Jabs &<br />

Neumann, 1992; Maaz,<br />

1993; Oesterreich, 1993;<br />

Pollmer, Reissig &<br />

Schubarth, 1992<br />

Meso-soziale<br />

Bedingungen<br />

Sozialisationseinüsse<br />

z. B. Ettrich, Krause<br />

& Jahn, 1995;<br />

Heer, Boehnke<br />

& Butz, 1999;<br />

Hopf, Rieker,<br />

Sanden-Marcus &<br />

Schmidt, 1995<br />

Mikro-soziale<br />

und individuelle<br />

Bedingungen<br />

Täteranalysen<br />

Müller, 1997; Willems,<br />

Eckert, Würtz<br />

& Steinmetz, 1993


32<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Tabelle 1 (Fortsetzung)<br />

Überblicksarbeiten<br />

Begriffsdebatten:<br />

„<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

– ein unscharfer<br />

Begriff<br />

Generelle Kritik<br />

am Rechtsextremis-mus-Begriff<br />

z. B. Butterwegge,<br />

2000; Teo, 1993<br />

Dominierende Theorie-<br />

und Forschungsansätze<br />

Kritik an der Desintegrationstheorie<br />

z. B. Bommes &<br />

Scherr, 1992; Eckert<br />

& Willems, 1996;<br />

Götz, 1997; König,<br />

1997, 1998; Pfahl-<br />

Traughber, 1998;<br />

Scherr, 1996; Schumann<br />

& Winkler,<br />

1997; Willems u. a.,<br />

1996; Winkler, 1996<br />

Makro-soziale<br />

Rahmenbedingungen<br />

für rechtsextreme Tendenzen<br />

Geschlechterunterschiede<br />

z. B. Birsl, 1994; Knapp,<br />

1993; Niebergall, 1995;<br />

Rippl & Seipel, 1999;<br />

Rommelspacher, 1993;<br />

Stenke, 1993; Utzmann-<br />

Krombholz, 1994;<br />

Volmerg, Bensch &<br />

Kirchhoff, 1995; Watts,<br />

1996<br />

Zusammenhänge von medialer<br />

Berichterstattung<br />

und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

z. B. Brosius & Esser,<br />

1996; Funk & Weiß,<br />

1995; Jäger & Link,<br />

1993; Lüdemann, 1995;<br />

Ohlemacher, 1993, 1999;<br />

Ruhrmann, Kollbeck &<br />

Möltgen, 1996; Scharf,<br />

1993; Willems, 1996<br />

Meso-soziale<br />

Bedingungen<br />

Bewegungsforschung<br />

z. B. Jaschke,<br />

1993; Hellmann,<br />

1995, 1998; Willems,<br />

1996<br />

Mikro-soziale<br />

und individuelle<br />

Bedingungen<br />

Autoritarismus als<br />

individuelle Disposition<br />

für rechtsextreme<br />

Orientierungen<br />

z. B. Funke, Frindte,<br />

Jacob & Neumann,<br />

1999; Hopf, 1993;<br />

Oesterreich, 1993;<br />

Seipel, Rippl &<br />

Schmidt, 1995


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

33<br />

2.1.1 Überblicksarbeiten<br />

Überblicke über den Stand der sozialwissenschaftlichen und psychologischen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung im Zeitraum von 1990 bis 2000 nden sich u. a. in<br />

Benz (1994), Deutsches Jugendinstitut (1995), Dünkel und Geng (1999), Falter,<br />

Jaschke und Winkler (1996), Frindte (1999), Heiland und Lüdemann (1996), Institut<br />

für Sozialforschung (1994), Jaschke (1994), Jäger (1993), Kowalsky und Schroeder<br />

(1994), Mecklenburg (1996), Otto und Merten (1993), Schubarth und Stöss (2000),<br />

Wahl (1993), Wasmuth (1997) und Zick (1997). Uli Jäger (1993) hebt z. B. folgende<br />

Konzeptionen hervor, die in den Sozialwissenschaften und der Psychologie zur<br />

Erklärung des <strong>Rechtsextremismus</strong> herangezogen werden: a) „Sozialpsychologische<br />

Ansätze“, die sich — folgt man dem Autor — um die zentrale Annahme<br />

einer zunehmenden Individualisierung der Jugendlichen (Beck, 1986; Heitmeyer<br />

et al., 1992; siehe ausführlicher unten) gruppieren, durch die die Jugendlichen<br />

einerseits aus den sozialen Einbettungen in traditionelle soziale Gruppen ausscheren,<br />

andererseits aber infolge einer bleibenden Sehnsucht nach Gemeinschaft<br />

u. U. ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gemeinschaften über abstrakte Kriterien und<br />

Kategorien (wie Nation, Kultur, Rasse etc.) zu denieren suchen; wobei sie sich in<br />

diesen Denitionsversuchen auf die De nitionsangebote rechtsextremer Parteien<br />

und Institutionen zu stützen vermögen. b) „Individualpsychologische Ansätze“,<br />

die als Fortführung und Reformulierung des Ansatzes von der „authoritarian personality“<br />

(Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson & Sanford, 1950) zu verstehen<br />

seien. c) „Gesellschaftskritische Ansätze“, nach denen jugendlicher <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

auch Ausdruck der gegenwärtigen jugendlichen Protestbewegungen sei.<br />

d) „Ökonomische Ansätze“, die davon ausgehen, dass die Verschlechterung von<br />

Existenzbedingungen durch tatsächliche oder drohende Arbeitslosigkeit und der<br />

damit verbundene Mangel an materiellen Gütern rechtsextreme Einstellungen befördern<br />

können. e) „Politische Ansätze“, in deren Mittelpunkt die Frage nach dem<br />

schwindenden Vertrauen der Jugendlichen in etablierte politische Parteien und Institutionen<br />

stehe. f) „Historische Ansätze“, in denen es u. a. um die Herausbildung<br />

obrigkeitsstaatlicher politischer Systeme in Deutschland gehe.<br />

Auffallendes Merkmal der Überblicksarbeiten (siehe Tabelle 1) ist, dass die<br />

verschiedenen Konzeptionen meist zwar ausführlich dargestellt, mögliche Bezüge<br />

zwischen den Konzeptionen aber in der Regel nicht thematisiert bzw. hergestellt<br />

werden.


34<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

2.1.2 „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ – ein unscharfer Begriff 6<br />

Neben politikwissenschaftlichen De nitionen, in denen <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />

Gegensatz zum demokratischen Verfassungsstaat bestimmt wird (z. B. Backes,<br />

1989; Kowalsky, 1993), wurden im Beobachtungszeitraum zahlreiche soziologisch-psychologische<br />

Denitionsvorschläge vorgelegt (z. B. Friedrich, 1992; Heitmeyer<br />

et al., 1992; Jaschke, 1994; Melzer & Schubarth, 1995; Pilz, 1994) und auch<br />

generelle Kritik am <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriff geübt (z. B. Butterwegge, 2000;<br />

Teo, 1993, 1995). Christoph Butterwegge (2000) präferiert z. B. den Rassismus-<br />

Begriff, der die Vorteile habe, gesellschaftliche Strukturzusammenhänge und<br />

historische Kontinuitäten seit dem Mittelalter (Kolonialismus) zu erfassen, ohne<br />

Modikationen und Ausdifferenzierungen (biologisch bzw. kulturell begründete<br />

Spielarten des Rassismus) zu ignorieren (in diesem Sinne auch Teo, 1993). Bommes<br />

und Scherr (1992) kritisieren die „homogenisierende Rede vom <strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

bei Heitmeyer und meinen damit die zu starke begrif iche Einengung<br />

auf einen jugendtypischen <strong>Rechtsextremismus</strong>, der Parteien und Organisationen<br />

außer Acht lasse.<br />

Ulrich Druwe (1996) hat verschiedene Studien der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />

hinsichtlich des jeweils gewählten Begriffs untersucht. In den dreizehn<br />

von ihm ausgewerteten Studien fand er elf verschiedene Bezeichnungen für das<br />

Phänomen, die wiederum mit insgesamt 42 verschiedenen Bedeutungen versehen<br />

waren, so dass von einer <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung mit einem gemeinsamen<br />

Untersuchungsgegenstand nicht die Rede sein könne.<br />

Versuche, <strong>Rechtsextremismus</strong> über einzelne Merkmale zu bestimmen, sind dabei<br />

nicht selten. So versteht Siller (1997, S. 13) z. B. den <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />

„Konglomerat von antidemokratischen, nationalistischen, rassistischen, autoritären,<br />

antisemitischen u.ä. Ideologien, Einstellungs- und/oder Handlungsmustern“.<br />

An der Nützlichkeit solcher De nitionen durch Aufzählung sind sicher Zweifel<br />

angebracht, da für die Anzahl und die Beziehung zwischen den Merkmalen, mit<br />

denen <strong>Rechtsextremismus</strong> beschrieben wird, kaum hilfreiche Kriterien angegeben<br />

werden (vgl. Winkler, 2001). Es stellt sich also die Frage, welche der jeweils aufgezählten<br />

Merkmale eine Person tatsächlich besitzen muss, um als rechtsextrem<br />

zu gelten.<br />

6 Mit „unscharf“ ist hier zunächst, im Sinne von Frege (1998, S. 70; zit. n. Seising, 2011,<br />

S. 150) die Abwesenheit einer „vollständigen und endgültigen“ Definition gemeint.<br />

Fraglich ist allerdings, ob eine solche endgültige Definition generell möglich und im<br />

speziellen Falle des <strong>Rechtsextremismus</strong> auch nötig ist.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

35<br />

Schlussendlich: <strong>Rechtsextremismus</strong> als monolithisches Gebäude erscheint im<br />

Zeitraum von 1990 bis 2000 vor allem als Konstruktion (der Wissenschaftler, Politiker,<br />

der Medien, der Alltagsdiskurse; Frindte et al., 1994). Thomas Kliche (1996)<br />

fragt deshalb, „ob es wissenschaftlich nicht sinnvoller wäre, das Konzept ,des‘<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> zugunsten dadurch überzeugender zu erfassender ,Rechtsextremismen‘<br />

aufzugeben“ (Kliche, 1996, S. 70).<br />

Zugespitzt: „Er ndet sich diese Gesellschaft also ,ihren‘ überaus funktionalen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> gerade selbst – unter tatkräftiger Mitwirkung der sozialwissenschaftlichen<br />

Deutungsindustrie“ (Kliche, 1996 S. 77)?<br />

2.1.3 Dominierende Theorie- und Forschungsansätze<br />

Dominanz der Desintegrationstheorie von Heitmeyer: Neben den o. g. Auseinandersetzungen<br />

über den Begriff von <strong>Rechtsextremismus</strong> dominierten in diesem<br />

Jahrzehnt vor allem Arbeiten, in denen auf der Basis der von Heitmeyer und Kolleg/innen<br />

vorgelegten Sozialisations- und Desintegrationstheorie rechtsextreme<br />

Tendenzen als Folge von individuellen Deprivationsproblemen betrachtet werden<br />

(Heitmeyer, 1989, 1993; Heitmeyer et al., 1992; Heitmeyer & Möller, 1995).<br />

Rechtsextremistische Orientierungen setzen sich nach Heitmeyer et al. (1992) aus<br />

einer Ideologie der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der Gewaltaf nität<br />

(bis hin zu gewalttätigem Handeln) zusammen. Beide Dimensionen werden durch<br />

Subdimensionen mit verschiedenen Facetten untergliedert und operationalisiert.<br />

Zur theoretischen Erklärung derartiger rechtsextremer Tendenzen haben Heitmeyer<br />

und Mitarbeiter (1992) eine Desintegrationstheorie auf der Grundlage von<br />

Becks „Risikogesellschaft“ (Beck, 1986) entwickelt. Die Autoren konstatieren<br />

„ein generalisiertes Auftreten von Individualisierungsschüben, die im Kern aus<br />

der Arbeitsmarktdynamik resultieren“ (Heitmeyer et al., 1992, S. 16). Diese Individualisierungsschübe<br />

bewirken, dass „die klassischen gemeinsamen Erfahrungsund<br />

Deutungszusammenhänge intergenerationell weitergebender intermediärer<br />

Instanzen damit an Wirksamkeit einzubüßen scheinen“ (Heitmeyer et al., 1992,<br />

S. 16-17).<br />

„Kollektive Handlungs- und Durchsetzungsformen verlieren an Bedeutung. Stabile<br />

Solidaritätsbindungen werden sowohl überüssig als auch unerreichbar“ (Heitmeyer<br />

et al., 1992, S. 19).


36<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Als Folge werden Vereinzelungs-, Ohnmachts- und Handlungsunsicherheitserfahrungen<br />

beschrieben, die einer Orientierung an nationalen Kategorien Vorschub<br />

leisten. Dies betrifft nach Heitmeyer vor allem diejenigen, denen der Übergang zu<br />

einer autonomieorientierten Identität nicht gelingt, „weil sie nicht in ausreichendem<br />

Maße Ressourcen und Bezugspunkte der Identitätsbildung zur Verfügung<br />

haben“ (Heitmeyer et al., 1992, S. 32).<br />

Kritik an der Desintegrationstheorie: Nach anfänglicher Euphorie und umfangreicher<br />

Rezeption gerieten in den 1990er Jahren sowohl die Heitmeyersche<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition als auch der von ihm und Kollegen vorgelegte Erklärungsansatz<br />

in die Kritik (z. B. Bommes & Scherr, 1992; Eckert & Willems,<br />

1996; König, 1997, 1998; Pfahl-Traughber, 1998; Scherr, 1996; Schumann &<br />

Winkler, 1997; Winkler, 1996). Diese Kritik bezog sich auf die zu wenig differenzierende<br />

Konzeption, die der Heterogenität des Untersuchungsfeldes nicht gerecht<br />

werde.<br />

König (1997) kritisierte das ausschließlich soziologische Verständnis des jugendlichen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, den Heitmeyer auf soziale und ökonomische Desintegrationsprozesse<br />

zurückführt, anhand eines Fallbeispiels aus der Bielefelder<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>-Studie. Hopf (1994) konnte dagegen anhand der Daten einer<br />

Untersuchung von Melzer, Schröder und Schubarth (1992), in der etwa 1500 westdeutsche<br />

und 1300 ostdeutsche Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jahren<br />

verglichen wurden, die Plausibilität der sogenannten Deprivationsthese, nach<br />

der kumulierende Beeinträchtigungen in der sozialen Lage der Jugendlichen eine<br />

wichtige Voraussetzung für ausländerfeindliche und rechtsextreme Einstellungen<br />

darstellen, bestätigen.<br />

Eckert und Willems (1996) bezweifeln die Erklärungskraft des Desintegrationskonzepts.<br />

Auch die Ergebnisse von Hoffmann-Lange (1996) scheinen diese<br />

Zweifel zu bestätigen: Die Befunde bestätigen zwar, dass erlebte soziale Benachteiligung<br />

und soziale Unzufriedenheit zu erhöhter sozialer Desorientierung führen,<br />

diese wiederum aber nur geringen Ein uss auf ausländerfeindliche Einstellungen<br />

haben; im Osten noch weniger als im Westen Deutschlands (Beta = 0.19<br />

im Westen und Beta = 0.12 im Osten) 7 . Der Einuss von Normlosigkeit als einer<br />

anderen möglichen Folge aus einer anomietheoretischen Perspektive hat dagegen<br />

im Osten weitaus größeres Gewicht (Beta = 0.22 im Westen und Beta = 0.32 im<br />

Osten). Da die formale Schulbildung ebenfalls in die Regressionsgleichung aufgenommen<br />

wurde, diese auch ein starker Prädiktor ist (Beta = 0.31 im Westen<br />

7 Beta-Werte sind standardisierte Regressionskoeffizienten, die Werte von +1,0 bis –1,0<br />

einnehmen können und den Zusammenhang zwischen unabhängigen und abhängigen<br />

Variablen wiedergeben.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

37<br />

und Beta = 0.23 im Osten), aber zudem auch ein starker Prädiktor für soziale Desorientierung,<br />

lässt sich vermuten, dass der tatsächliche Einuss von Desintegration<br />

noch erheblich kleiner ist. Die multiple Regression klärt allerdings auch nur 26 %<br />

Varianz der abhängigen Variable ausländerfeindliche Einstellungen auf (17 % in<br />

der West- und 28 % in der Oststichprobe).<br />

Gegen eine einfache Desintegrationsthese spricht auch ein Befund von Sturzbecher<br />

(1997), der empirisch zeigen konnte, dass die Eltern sowohl gewaltbereiter<br />

wie auch fremdenfeindlicher Jugendlicher eine bessere nanzielle Situation<br />

angeben als die von anderen Jugendlichen. Held, Horn, Leiprecht und Marvakis<br />

(1991) und Held, Horn und Marvakis (1996) kommen zu Ergebnissen, die sogar<br />

nahelegen, dass gerade diejenigen Personen höhere Fremdenfeindlichkeit äußern,<br />

die bzgl. Erwerbsarbeit nicht benachteiligt sind. Auch lässt sich in ihren Untersuchungen<br />

kein Zusammenhang zwischen Fremdenfeindlichkeit und erlebter<br />

gesellschaftlicher Bedrohung und Unzufriedenheit mit der Wohn-, Arbeits- und<br />

Freizeitsituation nachweisen. Daraus folgernd charakterisieren die Autoren <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Fremdenfeindlichkeit als „Wohlstandschauvinismus“, verbunden<br />

mit einer „Überidentikation mit den ‚deutschen‘ Wirtschaftsinteressen.“<br />

Kritisch gegenüber der Desintegrationstheorie von Heitmeyer und Mitarbeitern<br />

äußert sich auch Birgit Rommelspacher (1992, 1993, 1995). Mit dem von ihr<br />

geprägten Konzept der Dominanzkultur versucht Rommelspacher grundlegende<br />

Widersprüche, die die Dynamik moderner Gesellschaften bestimmen, zu erklären.<br />

Wesentliches Merkmal dieser Widersprüche scheint die Dialektik zwischen<br />

egalitären und demokratischen Konzepten und Bestrebungen einerseits und Dominanzansprüchen<br />

in Folge ethnischer oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Leistungsfähigkeit<br />

oder sexueller Orientierung andererseits zu sein. Die jeweiligen<br />

Dominanzansprüche werden durch hierarchische Gesellschaftsstrukturen gefördert<br />

und reproduziert. Der <strong>Rechtsextremismus</strong> gehöre dabei zu den radikalisierten<br />

und politisierten Formen, besagten Widerspruch einseitig zugunsten zunehmender<br />

Hierarchisierung, also durch ideologisch begründete Dominanz ausgewählter<br />

sozialer Gruppierungen gegenüber anderen Gruppierungen, zu lösen. 8 Mit dieser<br />

Auffassung wendet sich Rommelspacher explizit gegen sozialwissenschaftliche<br />

Analysen, in denen ausschließlich nach intrapsychischen und/oder sozialen Kon-<br />

ikten bzw. ökonomischen Benachteiligungen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft<br />

als Ursachen für <strong>Rechtsextremismus</strong> gefahndet wird. Auch Heitmeyers Arbeiten<br />

stehen somit im Fokus ihrer Kritik.<br />

8 Ähnliche Prozesse werden auch in der Theorie der sozialen Dominanz (Sidanius &<br />

Pratto, 1999) beschrieben, auf die später noch eingegangen wird.


38<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Kontrovers zur Desintegrationstheorie von Heitmeyer und Mitarbeitern scheint<br />

auch der Ansatz zu stehen, der von Norbert Götz (1997) vorgestellt und empirisch<br />

geprüft wurde. Götz kritisiert die der Desintegrationstheorie zugrundeliegende<br />

„Modernisierungsverlierer-Hypothese“ und geht von der These aus, dass Rechtsextreme<br />

nicht – wie in der Desintegrationstheorie behauptet, Verlierer, sondern<br />

Gegner der reexiven Moderne seien (Götz, 1997, S. 397ff.). Um diese These zu<br />

explizieren, greift Götz auf den Ansatz des postmaterialistischen Wertewandels<br />

(nach Inglehart, 1977) und auf neuere Erkenntnisse der Autoritarismusforschung<br />

(Altemeyer, 1988; Oesterreich, 1993) zurück. Die empirischen Daten, mit denen<br />

Götz seinen Ansatz zu begründen sucht, stammen aus einer Studie zum <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />

die Richard Stöss (1993) in Berlin durchführte. Die Befunde sind<br />

nicht vollständig überzeugend, verweisen aber durchaus darauf, dass rechtsextrem<br />

orientierte Personen offenbar einerseits von den gesellschaftlichen Bedingungen<br />

einer reexiven Moderne 9 intellektuell und emotional überfordert sind und andererseits<br />

dies durch eine „unzeitgemäße Komplexitätsreduktion und Wirklichkeitskonstruktion“<br />

(Götz, 1997, S. 407) zu kompensieren versuchen.<br />

2.1.4 Rahmenbedingungen für rechtsextreme Tendenzen<br />

A<br />

Makro-soziale Bedingungen<br />

Ost-West-Vergleiche:<br />

Ein besonderer empirischer Fokus lag zunächst auf Ost-West-Vergleichen, um in<br />

den Folgen der politischen und wirtschaftlichen Wende in Ostdeutschland mögliche<br />

Wirkfaktoren für rechtsextreme Tendenzen ausndig zu machen (kaum eine<br />

Studie im Zeitraum von 1990 bis 2000 verzichtete auf derartige Vergleiche; als<br />

Auswahl z. B. Aschwaden, 1995; Friedrich, 1992, 1993; Frindte, Jabs & Neumann,<br />

1992; Maaz, 1993; Melzer, 1992; Melzer & Schubarth, 1992; Oesterreich, 1993;<br />

Pfahl-Traughber, 2000; Seidenstuecker, 1993).<br />

Auch Pollmer, Reissig und Schubarth (1992) berichten Ost-West-Befunde über<br />

Zusammenhänge von subjektiven Bendlichkeiten, Erwartungen für die Zukunft,<br />

Wertorientierungen, politischen Orientierungen, <strong>Rechtsextremismus</strong>, Ausländerfeindlichkeit,<br />

Aggressivität und Gewaltbereitschaft. Die in diesen und ähnlichen<br />

Studien erfolgte Fokussierung auf die Untersuchung von Jugendlichen, jungen Erwachsenen<br />

und Jugendkulturen dürfte ebenfalls eine Konsequenz aus dem Des-<br />

9 Der Begriff der reflexiven Moderne ist eng mit den Arbeiten von Ulrich Beck und<br />

Anthony Giddens verknüpft, die damit den Übergang von einer ersten Moderne zu<br />

einer zweiten Moderne zu beschreiben versuchen (vgl. Beck, Giddens & Lash, 1996).


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

39<br />

integrationsansatz von Heitmeyer sein (z. B. Frindte, 1999; Heitmeyer & Möller,<br />

1995).<br />

Geschlechterunterschiede 10 :<br />

Dass ausgeprägte fremdenfeindliche Vorurteile und rechtsextreme Gewaltbereitschaft<br />

nicht nur ein Männerproblem sind, von Frauen aber fremdenfeindliche<br />

Einstellungen subtiler bzw. geschlechterrollenspezisch geäußert werden, konnte<br />

ebenfalls in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen werden (z. B. Birsl, 1994;<br />

Geng, 1998; Hopf u. a., 1995; Knapp, 1993; Niebergall, 1995; Rippl, Boehnke, Hefler<br />

& Hagan, 1998; Rippl & Seipel, 1999; Rommelspacher, 1993; Siller, 1994; Stenke,<br />

1993; Utzmann-Krombholz, 1994; Volmerg, Bensch & Kirchhoff, 1995; Watts,<br />

1996). Dieser Umstand wurde mit zuverlässiger Konstanz in allen zugänglichen<br />

empirischen Untersuchungen des Zeitraums von 1990 bis 2000 repliziert, so bei<br />

Birsl, Busche-Baumann, Bons und Kurzer (1995), Held et al. (1996), Hoffmann-<br />

Lange (1996), Melzer und Schubarth (1995), Oesterreich (1993), Schumann und<br />

Winkler (1997), Sturzbecher, Dietrich und Kohlstruck (1994), Sturzbecher (1997).<br />

Wenn man die Befunde genauer betrachtet, so bekommt man jedoch den Eindruck,<br />

dass die Differenzen spezischer Dimensionen gar nicht so stark ausgeprägt sind,<br />

so v. a. der Bereich Ausländerfeindlichkeit bei Schubarth und Melzer (1993) und<br />

Utzmann-Krombholz (1994). Sehr viel erheblicher dagegen sind die Unterschiede<br />

zwischen Männern und Frauen, wenn rechtsextrem motivierte Straftaten (vgl.<br />

Willems et al., 1993) oder das Wahlverhalten rechter Parteien (vgl. Falter, 1994)<br />

betrachtet werden: In diesen Fällen sind Männer viel häuger vertreten.<br />

Zusammenhänge von medialer Berichterstattung und <strong>Rechtsextremismus</strong> (z. B.<br />

Brosius & Esser, 1996; Funk & Weiß, 1995; Jäger & Link, 1993; Jäger, 1997; Lüdemann,<br />

1995; Ohlemacher, 1993, 1996, 1998, 1999; Ruhrmann, Kollbeck & Möltgen,<br />

1996; Scharf, 1993; Willems, 1996):<br />

Bezüglich des Einusses der medialen Berichterstattung stellt Willems (1996)<br />

im Zusammenhang mit den ausländerfeindlichen Pogromen in Deutschland Anfang<br />

der neunziger Jahre fest, dass die Welle der Gewalt ihren ersten Kulminationspunkt<br />

nach der ausführlichen medialen Berichterstattung über die Brandanschläge<br />

und die Belagerung des Asylbewerberheimes in Hoyerswerda erreichte.<br />

Auch Brosius und Esser (1996) unterstreichen die Bedeutung von spektakulären<br />

Schlüsselereignissen und weisen in einer Zeitreihenanalyse nach, dass in einer<br />

ersten Phase der ausländerfeindlichen Ausschreitungen (Hoyerswerda und Rostock)<br />

tatsächlich eine Anstiftungswirkung von der medialen Berichterstattung des<br />

10 Selbstverständlich könnten Geschlechterunterschiede als Sozialisationseinflüsse auch<br />

unter der nachfolgenden Rubrik „Meso-soziale Bedingungen“ abgehandelt werden.


40<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Fernsehens ausging (vgl. auch Ohlemacher, 1998, S. 5). Für eine zweite Phase,<br />

die durch Taten von Einzelnen gegen schon seit langer Zeit in Westdeutschland<br />

lebende Ausländer charakterisiert war, bei denen auch Opfer ums Leben kamen<br />

und sich die Bevölkerung mittels Demonstrationen und Lichterketten zu Wort meldete,<br />

konnten dagegen keine Nachahmungseffekte gezeigt werden. Ohlemacher<br />

(1998, S. 15) macht sogar nach diesen Ereignissen einen negativen Trend in den<br />

Gewalttaten gegen Fremde aus. Stereotypisierungen in der Medienberichterstattung<br />

und die Reduzierung des <strong>Rechtsextremismus</strong> auf ein Randgruppenproblem in<br />

Verbindung mit dramatisierenden Elementen in der medialen Darstellung werden<br />

zudem häug kritisiert (z. B. Hundseder, 1992, 1993; Jäger, 1999; Lamnek, 1990;<br />

Ohlemacher, 1996; Scharf, 1993).<br />

B<br />

Meso-soziale Bedingungen<br />

Sozialisationseinflüsse:<br />

Zusammenhänge zwischen schulischer und familiärer Sozialisation einerseits und<br />

rechtsextremen Orientierungen andererseits ließen sich empirisch relativ gut nachweisen<br />

(z. B. Ettrich, Krause & Jahn, 1995; He er, Boehnke & Butz, 1999; Hopf,<br />

Rieker, Sanden-Marcus & Schmidt, 1995). Nahezu alle quantitativen Untersuchungen<br />

betonen, dass ein hoher Zusammenhang dergestalt besteht, dass vorrangig<br />

Hauptschüler bzw. Personen, die über einen Hauptschulabschluss als höchsten<br />

formalen Bildungsabschluss verfügen, ausgeprägte rechtsextreme Orientierungen<br />

aufweisen (Hoffmann-Lange, 1996; Klein-Allermann u. a., 1995; Melzer & Schubarth,<br />

1995; Schumann & Winkler, 1997; Sturzbecher, Dietrich & Kohlstruck, 1994;<br />

Sturzbecher, 1997).<br />

Heer und Boehnke (1995) belegen in ihrer Untersuchung die Relevanz der<br />

Variablen Schulerfolg und Schultyp zur Vorhersage von fremdenfeindlichen Einstellungen.<br />

Die Befunde zeigen, dass Schulerfolg und die damit einhergehende<br />

positivere Selbsteinschätzung und ein höheres Maß elterlicher Kontrolle dazu geeignet<br />

waren, Ressourcen sozialen Kapitals zu schaffen, die ein Hineingleiten in<br />

deviante Subkulturen und ein Ausleben unterschwellig vorhandener Traditionen<br />

von Gewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong> verhinderten.<br />

Noack und Wild (1999) zeigen allerdings auch, dass sich hinter dem Schultyp<br />

als „soziale Adresse“ eine ganze Menge weiterer Variablen verbergen können.<br />

Teils spiegele die besuchte Schule per Selektion die Zugehörigkeit zu sozialen<br />

Schichten und damit die Bildung sowie die nanzielle und beruiche Situation der<br />

Eltern wider; teils gehe der Schultyp mit Variationen in der zu Hause erfahrenen<br />

Erziehung einher.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

41<br />

Auf eine nicht unwichtige Sozialisationsinstanz, auf den Ein uss jugendlicher<br />

Cliquen und Milieus, machen die Arbeiten von Bohnsack, Loos, Schäffer, Städtler<br />

und Wild (1995), Farin und Seidel-Pielen (1993a,b), Geng (1998), Wetzels und<br />

Enzmann (1999) aufmerksam.<br />

Bewegungsforschung:<br />

Im Kontext der o. g. kritischen Auseinandersetzung mit der Desintegrationstheorie<br />

entwickelte sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre auch eine kontroverse Debatte<br />

um den <strong>Rechtsextremismus</strong> als soziale Bewegung (vgl. zum Überblick auch<br />

Schroeder, 2003, S. 113ff.). Basierend auf politikwissenschaftlichen und soziologischen<br />

Theorien sozialer Bewegungen verweist z. B. Jaschke auf das rechtsextreme<br />

Protestverhalten als „eine sich zur sozialen Bewegung formierende modernisierungskritische<br />

Reaktion auf zwei fundamentale Veränderungen der Gesellschaft –<br />

auf Ethnisierungsprozesse und auf Individualisierungsschübe“ (Jaschke, 1993,<br />

S. 105, zit. n. Schroeder, 2003, S. 114; vgl. auch Hellmann, 1998; Leggewie, 1994;<br />

Willems, 1996). Eine lesenswerte Zusammenfassung der sozial- und politikwissenschaftlichen<br />

Ansätze, mit denen der <strong>Rechtsextremismus</strong> als soziale Bewegung<br />

charakterisiert werden kann, ndet sich bei Rucht (1995) und Koopmans (1995).<br />

Rucht deniert soziale Bewegungen folgendermaßen:<br />

„Soziale Bewegungen sind ein besonderer Typus von Kollektiven, nämlich auf gewisse<br />

Dauer gestellte Netzwerke von Gruppen und Organisationen, die sozialen<br />

Wandel mit Mitteln des Protests herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen<br />

wollen. Die Gemeinsamkeit dieser Zielsetzung ist für kollektive Identität nicht hinreichend.<br />

Armeen und Friedensbewegungen mögen gleichermaßen an der Verhütung<br />

von Kriegen interessiert sein, aber sie bilden deshalb kein übergreifendes Kollektiv.<br />

Erst wer sich einer Bewegung als einem sozialen Zusammenhang, charakterisiert<br />

durch bestimmte Träger sowie bestimmte Handlungs- und namentlich Protestformen,<br />

zurechnet und dies möglichst praktisch bezeugt, teilt somit die kollektive Identität<br />

der Bewegung“ (Rucht, 1995, S. 11).<br />

In diesem Sinne lassen sich soziale Bewegungen auch als soziale Milieus (Hellmann,<br />

1995, S. 73) oder als Deutegemeinschaften (Frindte, 1998; S. 84ff.) verstehen.<br />

Deutegemeinschaften sind jene sozialen Gemeinschaften von Menschen, die<br />

die Welt in interindividuell ähnlicher Weise beobachten, beurteilen und darüber<br />

kommunizieren. Deutegemeinschaften erzeugen normativen Druck auf jene, die<br />

sich den jeweiligen Gemeinschaften zugehörig fühlen und sich mit den Bedeutungsräumen<br />

identi zieren. Nicht Fakten, sondern dieses Zugehörigkeitsgefühl<br />

und die entsprechende Identikation erzeugen einen normativen Zwang, Geschehnisse<br />

so zu beobachten und zu beurteilen, wie es die vermeintlichen prototypi-


42<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

schen Mitglieder der Gemeinschaft tun oder tun könnten. Deutegemeinschaften<br />

sind in diesem Sinne Meinungsmacher, Mythenmacher, Allmachtsvertreter. Sie<br />

erheben den Anspruch, mit normativer Kraft die Welt zu interpretieren und zu<br />

verändern. In diesem Sinne versuchen Deutegemeinschaften konkurrierende Deutungen<br />

von Welt zu unterdrücken und/ode r aus dem gesamtgesellschaftlichen<br />

und globalen Diskurs zu vertreiben, um an deren Stelle ihre eigenen Welt- und<br />

Lebensbegründungen zu etablieren. In gewissem Sinne lassen sich Deutegemeinschaften<br />

mit dem Gruppenkonstrukt vergleichen, das in der Theorie der sozialen<br />

Identität (SIT) von Henri Tajfel, John C. Turner und anderen genutzt wird (Tajfel<br />

& Turner, 1986; weitere verwandte Ansätze sind die Self-Categorization Theory,<br />

Turner, Hogg, Oakes, Reicher & Wetherell, 1987; das Social Identity Model of<br />

Deindividuation Phenomena, Reicher, Spears & Postmes, 1995). Auf diese sozialpsychologische<br />

Betrachtung sozialer Bewegungen haben Simon (1995) und Zick<br />

und Wagner (1995) aufmerksam gemacht. Simon weist in diesem Sinne darauf hin:<br />

„Aus sozialpsychologischer Perspektive setzt sich eine soziale Bewegung aus Personen<br />

zusammen, die sich nicht als Individuen, sondern als Vertreter einer sozialen<br />

Kategorie bzw. Gruppe verstehen, und die gemeinschaftlich einen sozialen Wandel<br />

herbeiführen wollen. Selbst-Interpretation als Gruppenmitglied (d. h. Priorisierung<br />

des kollektiven Selbst gegenüber dem individuellen Selbst) wird damit zur entscheidenden<br />

sozialpsychologischen Grundlage sozialer Bewegungen“ (Simon, 1995,<br />

S. 53).<br />

Allerdings betont Ruud Koopmans auch die zum damaligen Zeitpunkt (1995) noch<br />

vorhandenen empirischen De zite der Bewegungsforschung in der Analyse des<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>:<br />

„Eine … Herausforderung für die Bewegungsforschung ist die Welle von Gewalt<br />

gegen Ausländer und Asylanten, die Deutschland seit ein paar Jahren überschwemmt.<br />

Zwar hat dieses Phänomen eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Arbeiten ausgelöst,<br />

aber ich kenne keine Studie, die systematisch mit einer bewegungstheoretischen<br />

Perspektive arbeitet“ (Koopmans, 1995, S. 96).<br />

C<br />

Mikro-soziale und individuelle Bedingungen<br />

Täteranalysen<br />

In ihrer vielfach zitierten Analyse fremdenfeindlicher Gewalttäter zeigen Willems<br />

et al. (1993), dass fremdenfeindliche Straftaten in neun von zehn Fällen als<br />

Gruppentat verübt werden. Dabei spielen subkulturelle Skinheadgruppen wie auch


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

43<br />

unterschiedliche Freundes- und Freizeitcliquen die dominierende Rolle. Die Autoren<br />

verweisen auch darauf, dass „politische Vorstellungen, Motive und Strategien“<br />

von geringerem Einuss sind als „ausgeprägte fremdenfeindliche Feindbilder und<br />

Vorurteile. [...] Daneben gibt es jedoch auch jene Skins, die sich über die eigene<br />

fremdenfeindliche und rechtsorientierte Gruppe hinaus auch für rechtsextremistische<br />

Parteien und Ideologien interessieren und hier auch aktiv werden“ (Willems<br />

et al., 1993, S. 175). In diesem Zusammenhang identizieren die Autoren<br />

fünf zentrale Motive für rechtsextreme Gewalttaten: a) Action-Motive im Sinne<br />

expressiv-hedonistischer Gewalt, b) Geltung in der Gruppe, c) fremdenfeindliche<br />

Gewalt als Resultat allgemeiner Frustration und Orientierungslosigkeit, d) Ausländer-<br />

und Fremdenfeindlichkeit und e) politisch-rechtsradikale Motivation. Die im<br />

Rahmen dieser Analyse ebenfalls durchgeführte Tatverdächtigenstudie erbrachte<br />

überdies keinen Hinweis darauf, dass Diskontinuitäten formaler Familienstrukturen<br />

der Herkunftsfamilie (Eltern geschieden, getrennt lebend, wiederverheiratet,<br />

Eltern(teile) verstorben) als Einussfaktor auf fremdenfeindliche Straftaten angesehen<br />

werden müssen. Für die Straftäter (Gerichtsaktenanalyse) beschrieben die<br />

Autoren drei Konstellationen, die gehäuft auftraten: a) intakte Familienverhältnisse<br />

ohne Auffälligkeiten, b) formal intakte, unauffällige Familien mit starken Kon-<br />

ikten zwischen Eltern und Jugendlichem, oft im Zusammenhang mit nicht erfüllten<br />

Leistungserwartungen der Eltern und c) „zerrüttete Familienverhältnisse“. Da<br />

keine dieser Konstellationen besonders hervorgehoben wurde, ergibt sich somit ein<br />

Abbild der verschiedenen familiären Varianten, wie sie auch in der „Normalbevölkerung“<br />

auftreten, ohne dass die Kinder fremdenfeindliche Straftäter werden.<br />

Dem widersprechen Heitmeyer und Möller (1995). In ihrer Analyse von Gewalttätern<br />

mit fremdenfeindlicher bzw. rechtsextremistischer Motivation sprechen<br />

sie von einem signi kanten Unterschied im Vergleich zur übrigen Bevölkerung<br />

(Heitmeyer & Möller, 1995, S. 43), und dies allein bereits für Merkmale der formalen<br />

Familienstruktur. In der vertiefenden Interviewstudie mit rechtsextremen Gewalttätern<br />

stellen sie fest, dass mehr als die Hälfte der befragten jungen Menschen<br />

(25 von 45) aus so genannten ‚broken-home‘-Verhältnissen stammen (Heitmeyer<br />

& Möller, 1995, S.125).<br />

Autoritarismus als individuelle Disposition für rechtsextreme Orientierungen<br />

In mehreren Untersuchungen wird bei der Erklärung rechtsextremistischer Dispositionen<br />

Jugendlicher in den 1990er Jahren auch auf ein revidiertes Autoritarismuskonzept<br />

11 rekurriert. Man könnte fast behaupten, der „Autoritarismus“<br />

11 In seiner Arbeit „The Fortieth Anniversary of ‚The Authoritarian Personality‘“ verweist<br />

Jos Meloen (1991) auf nachhaltige Resonanz des Konzepts der “autoritären


44<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

entwickelte sich in den 1990er Jahren zu einem der beliebtesten Konzepte der<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung; operationalisiert als Facette des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

oder als unabhängige Variable zur Erklärung rechtsextremer Orientierungen. Das<br />

Revival des Autoritarismuskonzepts hängt natürlich auch mit der fälschlichen Annahme<br />

zusammen, vor allem der ostdeutsche <strong>Rechtsextremismus</strong> ließe sich durch<br />

die nachweisbaren Zusammenhänge zwischen rechtsextremen Einstellungen und<br />

autoritären Überzeugungen auf den nachhaltigen Ein uss der gesellschaftlichen<br />

Strukturen aus DDR-Zeiten zurückführen ( siehe auch den Beitrag von Quent in<br />

diesem Band). Spätestens seit den fremdenfeindlichen Gewaltaktionen zu Beginn<br />

der 1990er Jahre in Deutschland ist dieses Erklärungskonzept dann auch wieder<br />

in den Blickpunkt der deutschen massenmedialen und sozialwissenschaftlichen<br />

Diskurse gerückt. Das zeitliche Zusammenfallen der Wende in der DDR mit dem<br />

Aufammen fremdenfeindlicher Gewalt wurde vor allem in außerwissenschaftlichen<br />

Kreisen kausal interpretiert: Diesem Erklärungsmuster zufolge sei das<br />

autoritäre politische System der DDR der Nährboden für die Ausbildung autoritärer<br />

Persönlichkeiten und für rechtsextreme Tendenzen (so z. B. Maaz, 1990,<br />

1993; Pfeiffer, 1999). Stellmacher, Petzel und Sommer (2002) haben insgesamt<br />

19 empirische Studien aus ndig gemacht, in denen in den 1990er Jahren autoritäre<br />

Überzeugungen in Ost- und Westdeutschland verglichen wurden. In 13 der 19<br />

Persönlichkeit“ (Adorno et al., 1950). Die empirischen Replikationsversuche sind<br />

mittlerweile – ebenso wie die kritischen Auseinandersetzungen mit der Theory of Authoritarian<br />

Personality (TAP) – kaum noch zu überschauen (zusammenfassend Altemeyer,<br />

1996; Oesterreich, 1996, 2005a; Stone, Lederer & Christie, 1993). Ein innovativer<br />

Schritt in der Autoritaritarismusforschung gelang erst in den 1980er Jahren. Die<br />

Veröffentlichung von Bob Altemeyers erstem Buch „Right-wing Authoritarianism“<br />

(1981) gilt dabei als Zäsur und Beginn der modernen Autoritarismusforschung. Altemeyer<br />

stützt sich in seiner sparsamen theoretischen Konzeption auf lerntheoretische<br />

Erklärungen zur Entstehung von Autoritarismus (Bandura, 1979). Sein größerer Verdienst<br />

liegt aber vor allem in der einfacheren Operationalisierung autoritärer Überzeugungen:<br />

Altemeyer reduzierte auf der Basis einer Vielzahl zweifellos konkurrenzloser<br />

Experimente und Fragebogenstudien das ursprüngliche Konzept der TAP mit seinen<br />

neun Dimensionen auf drei Subdimensionen: Konventionalismus (ein hoher Grad des<br />

Festhaltens an sozialen Konventionen, die als von der Gesellschaft und den etablierten<br />

Autoritäten geteilt wahrgenommen werden), autoritäre Unterwürfigkeit (ein hohes<br />

Maß an Unterordnung unter Autoritäten, die als rechtmäßig in der Gesellschaft<br />

wahrgenommen werden) und autoritäre Aggression (gegen Personen oder Gruppen<br />

gerichtete allgemeine Aggressivität, die als von den etablierten Autoritäten sanktioniert<br />

wahrgenommen werden). Right-Wing-Authoritarianism ist nach Altemeyer eine<br />

Persönlichkeitseigenschaft bzw. eine individuelle Differenzvariable, nach der Menschen<br />

sich mehr oder weniger Autoritäten unterwerfen, gegen Außenseiter vorgehen<br />

und sich beständig konventionellen Normen anpassen (Altemeyer, 1996, S. 8).


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

45<br />

Studien wurden Unterschiede gefunden; allerdings waren in sieben Studien nur<br />

Unterschiede bezüglich einzelner Items oder einzelner Subskalen erkennbar. Zwei<br />

weitere Studien, in denen generelle Unterschiede berichtet werden, fanden zwar signikante,<br />

aber nur relativ geringe Differenzen. In den drei verbleibenden Studien<br />

werden zwar relativ große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen berichtet<br />

(Dalbert, 1993; Schoebel, 1997; Lederer, 2000). Die Untersuchungen stützten<br />

sich aber entweder auf relativ kleine Stichproben (Dalbert, 1993) oder auf eine<br />

nur geringe Anzahl von Items (Schoebel, 1997). Und auch Gerda Lederers (2000)<br />

Befunde sind mit Vorsicht zu genießen, da die Daten mit einem Jahr Verzögerung<br />

zwischen Ost und West erhoben wurden. Stellmacher, Petzel und Sommer (2002,<br />

S. 99) konstatieren deshalb, dass eine generell unterschiedliche Autoritarismusneigung<br />

zwischen ost- und westdeutschen Personen nur selten festgestellt wurde.<br />

Unabhängig von vermeintlichen oder tatsächlichen Ost-West-Unterschieden in<br />

den autoritären Überzeugungen dürfte das Autoritarismuskonzept durchaus einen<br />

hohen Erklärungswert besitzen. Seipel et al. (1995) zeigen z. B. mittels Strukturgleichungsmodellierung<br />

(N = 200), dass Gefühle starker politischer Machtlosigkeit<br />

gepaart mit ausgeprägtem Autoritarismus die Bereitschaft erhöhen, rechtspopulistische<br />

Parteien zu wählen. Funke et al. (1999) belegen den engen Zusammenhang<br />

zwischen den Facetten einer Ideologie der Ungleichwertigkeit (im Sinne der von<br />

Heitmeyer und Kollegen vorgelegten <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition, s. o.) und autoritären<br />

Einstellungen. Auch Hopf (1993) kann auf der Grundlage qualitativer<br />

Interviews nachweisen, dass es deutliche Zusammenhänge zwischen autoritären<br />

Dispositionen und rechtsextremen Orientierungen zu geben scheint.<br />

2.1.5 Zwischenfazit<br />

Die vor mehr als zehn Jahren von Friedhelm Neidhardt in einer Sammelrezension<br />

einschlägiger wissenschaftlicher Beiträge zum Forschungsfeld <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

(u. a. Boehnke, Fuß & Hagan, 2002; Funke, 2002; Neumann, 2001; Neumann<br />

& Frindte, 2002; Wahl, 2002; Würtz, 2000) getroffenen Feststellungen dürften<br />

den damaligen Status des Forschungsfeldes <strong>Rechtsextremismus</strong> für den Zeitraum<br />

von 1990 bis 1999/2000 auch insgesamt gut beschreiben. In seinem Fazit stellt<br />

Neidhardt (2002) u. a. fest, a) die von Heitmeyer (1992) vorgelegte De nition von<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> bestimme in beachtlichen Teilen die konzeptionelle Ausrichtung<br />

des Forschungsfeldes (Neidhardt, 2002, S. 781), biete aber b) einen Ausgangspunkt,<br />

um auch nach den „individuellen Bedingungen von <strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

(Neidhardt, 2002, S. 783) zu fahnden; c) trotzdem existiere im Forschungsfeld<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> ein „De zit an Theorie“ und ein „narrativer Überschuss mit


46<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

gelegentlichen Ansätzen zu Ad-hoc-Theoretisierungen“ (Neidhardt, 2002, S. 782);<br />

d) eine sehr große Praxisnähe vieler Beiträge fördere „die Tendenz zu subjektiven<br />

Befangenheiten, die sich leicht in eine kollektive Befangenheit methodischer<br />

und theoretischer Borniertheit“ (Neidhardt, 2002, S. 782) umsetze; e) die „auffälligste<br />

Forschungslücke“ (Neidhardt, 2002, S. 783) verbinde sich mit der Frage,<br />

„wann wird Fremdenfeindlichkeit gewalttätig – und wann werden die vorhandenen<br />

Gewaltpotenziale fremdenfeindlich?“ (Neidhardt, 2002, S. 783); f) auch hinsichtlich<br />

der sozialen Kontexte (familiäre, schulische und mediale Ein üsse), in denen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> entstehe und gefördert werde, sei die Forschung unbestimmt<br />

(Neidhardt, 2002, S. 783f.); außerdem bestehe g) eine „extreme Deutschlastigkeit<br />

des Forschungsfeldes“ (Neidhardt, 2002, S. 782) 12 ; und h) eine theoretische Fundierung<br />

des Forschungsfeldes <strong>Rechtsextremismus</strong> scheine „am ehesten in den sozialpsychologischen<br />

Beiträgen vorhanden“ (Neidhardt, 2002, S. 782).<br />

Versucht man dennoch aus den durchaus vielfältigen empirischen Befunden ein<br />

Erklärungsmuster abzuleiten, so ließe sich wohl formulieren: Die in den meisten<br />

sozialwissenschaftlichen und psychologischen Studien zwischen 1990 und 2000<br />

aufgezeigten Befunde lassen einen komplexen Zusammenhang zwischen rechtsextremen<br />

Tendenzen, wahrgenommener individueller und sozialer Bedrohung (z. B.<br />

in Folge von gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüchen und Modernisierungsprozessen),<br />

Orientierungslosigkeit, Desintegration und autoritären Überzeugungen<br />

auf der Seite der rechtsextremen Akteure und Mitläufer vermuten.<br />

2.2 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und<br />

psychologischen Publikationen zum<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> zwischen 2001 und 2013<br />

Um wiederum die Vielfalt der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Publikationen<br />

zum Thema aus diesem zweiten Zeitraum ordnen zu können, wurde<br />

zunächst das bereits vorgestellte Raster angelegt, das auch für die Einordnung der<br />

Publikationen aus dem Zeitraum 1990 bis 2000 genutzt wurde. Allerdings erwies<br />

sich dieses Raster als nicht trennscharf genug. Zahlreiche Publikationen im Zeitraum<br />

2001 bis 2013 ließen sich nicht eindeutig den verschiedenen Ordnungsclustern<br />

zuordnen. Auf die Gründe wird noch eingegangen. Tabelle 2 bietet zunächst<br />

wieder einen beispielhaften Überblick, der in den anschließenden Abschnitten erläutert<br />

wird<br />

12 Verwiesen werden muss allerdings auf die vergleichende Übersichtsarbeit von Gress,<br />

Jaschke & Schönekäs (1990).


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

47<br />

Tabelle 2 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Publikationen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> (2001 bis 2013).<br />

Überblicksarbeiten<br />

Begriffs-debatten:<br />

„<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

– noch immer<br />

ein unscharfer<br />

Begriff<br />

Dominierende<br />

Theorie- und<br />

Forschungsansätze<br />

Makro-soziale<br />

Rahmenbedingungen<br />

für rechtsextreme<br />

Tendenzen<br />

Meso-soziale<br />

Bedingungen<br />

z. B.: Boehnke,<br />

Fuß und Hagan,<br />

2002; Frindte<br />

& Neumann,<br />

2002; Klärner<br />

& Kohlstruck,<br />

2006; Möller &<br />

Schuhmacher,<br />

2007; Schneider,<br />

2001; Schroeder,<br />

2003; Stöss,<br />

2010; Quent,<br />

2012; Zick und<br />

Küpper, 2009<br />

Mikro-soziale und<br />

individuelle Bedingungen<br />

Denitionsdiskussionen<br />

z. B. Decker u. a.,<br />

2010; Decker, Kiess<br />

& Brähler, 2012;<br />

Frindte & Neumann,<br />

2002; Fuchs,<br />

2003; Glaser, 2012;<br />

Grumke, 2011, 2013;<br />

Heitmeyer, 2002;<br />

Hirscher & Jesse,<br />

2013; Klärner &<br />

Kohlstruck, 2006;<br />

Klemm, Stobl &<br />

Würtz, 2006; Quent,<br />

2013; Stöss, 2010;<br />

Zick & Küpper,<br />

2009<br />

Dominanz der<br />

Studien zur<br />

Gruppenbezogenen<br />

Menschenfeindlichkeit<br />

Heitmeyer, 2002<br />

bis 2012<br />

Beobachtet wird<br />

„nur“ eine der<br />

Dimensionen aus<br />

der ursprünglichen<br />

Rechts-extremismus-Denition<br />

–<br />

die Ideologie der<br />

Ungleich-wertigkeit<br />

Gruppen-bezogenen<br />

Menschen-feindlichkeit<br />

z. B. Heitmeyer, 2012,<br />

„Mitte-Studien“ Decker,<br />

Kiess & Brähler<br />

2012<br />

„Thüringen-Monitor“<br />

Best & Salheiser, 2012<br />

Sozialisationsein-<br />

üsse<br />

z. B. Decker, Kiess<br />

& Brähler 2012;<br />

oder im „Thüringen-Monitor“<br />

(Best & Salheiser,<br />

2012)<br />

Sozial-psychologische<br />

Ansätze<br />

in den Studien zur<br />

Gruppen-bezogenen<br />

Menschen-feindlichkeit<br />

z. B. Autoritarismus-<br />

Konzept (Zick, Hövermann<br />

& Krause,<br />

2012), Theorie der<br />

sozialen Dominanz<br />

von Sidanius und<br />

Pratto (Küpper &<br />

Zick, 2008), Glauben<br />

an die gerechte Welt<br />

(Dalbert, Zick &<br />

Krause, 2010), erweiterte<br />

Kontakttheorie<br />

nach Pettigrew<br />

(Christ & Wagner,<br />

2008; Asbrock u. a.,<br />

2012a,b).


48<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Tabelle 2 (Fortsetzung)<br />

Überblicksarbeiten<br />

Begriffs-debatten:<br />

„<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

– noch immer<br />

ein unscharfer<br />

Begriff<br />

z. B.: Boehnke,<br />

Fuß und Hagan,<br />

2002; Frindte<br />

& Neumann,<br />

2002; Klärner<br />

& Kohlstruck,<br />

2006; Möller &<br />

Schuhmacher,<br />

2007; Schneider,<br />

2001; Schroeder,<br />

2003; Stöss,<br />

2010; Quent,<br />

2012; Zick und<br />

Küpper, 2009<br />

Bemühungen um<br />

methodischen<br />

Konsens<br />

Decker & Brähler,<br />

2006, 2008; Decker,<br />

Weißmann, Kiess<br />

& Brähler, 2010;<br />

Decker, Kiess &<br />

Brähler, 2012; Best<br />

& Salheiser, 2012;<br />

Kreis, 2007<br />

Dominierende<br />

Theorie- und<br />

Forschungsansätze<br />

„Mitte-Studien“<br />

Decker, Brähler<br />

& Geißler, 2006;<br />

Decker & Brähler,<br />

2008; Decker u. a.,<br />

2010; Decker, Kiess<br />

& Brähler, 2012<br />

Makro-soziale<br />

Rahmenbedingungen<br />

für rechtsextreme<br />

Tendenzen<br />

Zusammenhänge von<br />

medialer Bericht-erstattung<br />

und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

z. B. Brosius &<br />

Scheufele, 2001; Esser,<br />

Scheufele & Brosius,<br />

2002; Geschke, Sassenberg,<br />

Neidhardt, 2004;<br />

Weiß & Spallek, 2002<br />

Medien als Anbieter<br />

von Gelegenheitsstrukturen<br />

z. B. Klärner, 2008;<br />

Udris, 2007, 2011<br />

Meso-soziale<br />

Bedingungen<br />

Soziologische<br />

Bewegungs-forschung<br />

Grumke, 2013;<br />

Klärner, 2008;<br />

Klärner & Kohlstruck,<br />

2006;<br />

Pfeiffer, 2002;<br />

Rucht, 2002<br />

Mikro-soziale und<br />

individuelle Bedingungen<br />

Einstellungs-Verhaltens-Modelle<br />

Theory<br />

of coercive actions<br />

Frindte & Neumann,<br />

2002; Neumann,<br />

2001<br />

Täteranalysen<br />

Frindte & Neumann,<br />

2002; Wahl, 2002


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

49<br />

2.2.1 Überblicksarbeiten<br />

Überblicke über den Stand der sozialwissenschaftlichen und psychologischen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung im Zeitraum von 2001 bis 2013 nden sich u. a. in<br />

Backes (2003), Boehnke et al. (2002), Braun, Geisler und Gerster (2009), Büchel,<br />

Glück, Hoffrage, Stanat & Wirth (2009), Frindte und Neumann (2002), Goldberger<br />

(2013), Klärner und Kohlstruck (2006), Lamnek, Fuchs und Wiederer (2002), Möller<br />

und Schuhmacher (2007), Quent (2012), Schneider (2001), Schroeder (2003),<br />

Stiehm (2012), Stöss (2010), Virchow (2012), Wenzler, (2001), Zick (2004), Zick<br />

und Küpper (2009). 13 Andreas Zick (2004) z. B. ordnet die sozialwissenschaftlichen<br />

und psychologischen Erklärungsmodelle in die oben bereits genutzten, von<br />

Uri Bronfenbrenner (1979) eingeführten Unterscheidungsebenen ( Mikro-, Meso-,<br />

und Makrosysteme) ein. Auf der Mikroebene verortet Zick Modelle, die individuelle<br />

Voraussetzungen rechtsextremer Einstellungen und Handlungen untersuchen.<br />

Zu Modellen auf der Mesoebene rechnet Zick vor allem den schon erwähnten Desintegrationsansatz<br />

von Heitmeyer und Mitarbeitern. Makroebene ist für Zick jene<br />

Ebene, auf der wichtige Interventions- und Präventionsansätze zu nden sind, die<br />

aber auch auf den anderen Ebenen Wirkung erzielen können.<br />

2.2.2 „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ – noch immer ein unscharfer Begriff<br />

Auch im Zeitraum 2001 bis 2013 setzen sich die sozialwissenschaftlichen und psychologischen<br />

Diskussionen und Auseinandersetzungen um den <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriff<br />

fort (z. B. Decker, Weißmann, Kiess & Brähler, 2010; Decker, Kiess &<br />

Brähler, 2012; Frindte, Neumann, Hieber, Knote & Müller, 2001; Frindte & Neumann,<br />

2002; Fuchs, 2003; Glaser, 2012; Grumke, 2012, 2013; Heitmeyer, 2002;<br />

Hirscher & Jesse, 2013; Klärner & Kohlstruck, 2006; Klemm, Stobl & Würtz,<br />

2006; Kumiega, 2013; Neidhardt, 2002; Quent, 2013; Stöss, 2010; Zick, 2004;<br />

Zick & Küpper, 2009). Einig sind sich die meisten Autoren in der Abgrenzung<br />

13 Auch der Bericht über die Herbsttagung des Bundeskriminalamts (2012) enthält eine<br />

Reihe von interessanten Überblicksarbeiten, etwa den Beitrag von Armin Pfahl-Traughber<br />

(2012a) über den Forschungsstand und die Forschungslücken zum Phänomen des<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>. Pfahl-Traughber (Pfahl-Traughber, 2012a, S. 43) stellt u. a. fest,<br />

„…dass die Forschung bezogen auf die gewaltorientierten Bereiche eher unterentwickelt<br />

und hinsichtlich der legalen Bereiche eher gut entwickelt ist. Eine Ausnahme<br />

stellen hier die Untersuchungen zu fremdenfeindlicher Gewalt dar, welche in den<br />

1990er Jahren entstanden, insofern aber auch schon wieder veraltet sind“.


50<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

des sozial- bzw. politikwissenschaftlichen <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriffs von verfassungsrechtlichen<br />

Denitionen. 14<br />

Eine Ausnahme in dieser Abgrenzung bilden die Vertreter der „vergleichenden<br />

Extremismusforschung“ (Hirscher & Jesse, 2013). Die theoretischen Grundlagen<br />

einer solchen Extremismusbetrachtung wurden bereits 1989 von Uwe Backes<br />

(1989) gelegt (vgl. auch Backes & Jesse, 1993). Die Prämissen, Konsequenzen und<br />

methodischen Instrumentarien der darauf aufbauenden „vergleichenden Extremismusforschung“<br />

sind in den Wissenschaftlergemeinschaften nicht unumstritten, da<br />

sie eine Gleichsetzung von Linksextremismus und <strong>Rechtsextremismus</strong> nahelegen<br />

und so von der besonderen Problematik und Gefährlichkeit des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

abzulenken scheinen (vgl. z. B. Butterwegge, 2010; Decker et al. 2006; Falter,<br />

2013; Forum für kritische <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung, 2011; Neugebauer, 2000;<br />

Salzborn, 2011).<br />

Ruud Koopmans (2001) kritisiert die öffentlichen Diskussionen über den<br />

vermeintlich einheitlichen „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und plädiert dafür, zwischen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und Rechtsradikalismus zu differenzieren. Aus seiner Sicht<br />

handelt es sich beim <strong>Rechtsextremismus</strong> um die Verknüpfung von „klassischen“,<br />

„genuin rechtsextremistischen Zielen wie Verherrlichung des Naziregimes und<br />

die Leugnung seiner Verbrechen, Antisemitismus, die Ablehnung der deutschen<br />

Nachkriegsgrenzen, Demokratiefeindschaft sowie militante Angriffe gegen linke<br />

Gruppierungen“ (Koopmans, 2001, S. 472). Quasi als Oberbegriff fungiert aus der<br />

Sicht Koopmans der „Rechtsradikalismus“, der sich vor allem auf fremdenfeindliche<br />

Einstellungen und Aktionen beziehe. Aktionen mit genuin rechtsextremistischen<br />

Zielsetzungen würden nur einen Bruchteil der rechtsradikalen Aktivitäten<br />

ausmachen. Diese Aktivitäten stünden aber viel seltener im Fokus der (medialen)<br />

Öffentlichkeit.<br />

Für Andreas Zick (2004, S. 265) ist die o. g. von Heitmeyer und Mitarbeitern<br />

(Heitmeyer et al., 1992) entwickelte Bestimmung des <strong>Rechtsextremismus</strong> die<br />

„bekannteste und psychologisch interessanteste De nition“. Klemm et al. (2006)<br />

ergänzen die zwei im Heitmeyerschen Ansatz bestimmenden Dimensionen des<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> (Ideologie der Ungleichwertigkeit und Gewaltakzeptanz) um<br />

14 Der Begriff <strong>Rechtsextremismus</strong> aus der verfassungsrechtlichen Perspektive ist geprägt<br />

durch die Staatsrechtslehre, das Grundgesetz sowie einschlägige Gerichtsurteile, etwa<br />

die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei<br />

(SRP) oder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in den 1950er-Jahren.<br />

In dieser Tradition basiert die Vorstellung von „Extremismus“ auf dem politischen<br />

Konzept der „wehrhaften Demokratie“, das die Bedrohung der freiheitlichen demokratischen<br />

Grundordnung über Verfassungsfeindlichkeit definiert (vgl. ausführlich<br />

Decker u. a., 2010, S. 10ff.).


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

51<br />

eine dritte, die sie „Idealistisch-autoritäre Staatsauffassung“ nennen (Klemm et<br />

al., 2006, S. 118). Zu dieser dritten Dimension gehören aus Sicht der Autoren die<br />

Zustimmung zu Zentralismus und dem Führerprinzip, eine völkische Auffassung<br />

von Nation und eine positive Einstellung zum „Dritten Reich“.<br />

Marek Fuchs (2003) sieht dagegen eine Konzeption von <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />

die neben der Einstellungsdimension (zur Ideologie der Ungleichwertigkeit) auch<br />

die Gewaltafnität einschließt, für nicht geeignet an, um das <strong>Rechtsextremismus</strong>potential<br />

Jugendlicher zu untersuchen. Decker, Brähler und Geißler (2006), Decker<br />

und Brähler (2008) und Decker et al. (2010, 2012) halten den <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriff<br />

zwar auch für problematisch, arbeiten aber dennoch mit ihm und<br />

unterscheiden zwischen rechtsextremen Einstellungen und tatsächlich gezeigtem<br />

Verhalten (Decker et al., 2010, S. 17). In ihren Studien erfassen sie aber nur rechtsextreme<br />

Einstellungen.<br />

Ähnlich verfahren auch Best und Salheiser im „Thüringen-Monitor“ (2012; vgl.<br />

auch Best, Dwars, Salheiser & Salomo, 2013), indem sie <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />

Einstellungsmuster denieren, das „durch die Überzeugung einer unterschiedlichen<br />

Wertigkeit von Menschen in Abhängigkeit von askriptiven Merkmalen, wie<br />

Nationalität, Hautfarbe oder ethnischer Herkunft, sowie einem auf diesen Ungleichwertigkeitsvorstellungen<br />

aufbauenden Gesellschaftsbild“ (Best & Salheiser,<br />

2012, S.79) gekennzeichnet ist. Die empirischen Befunde von Best und Salheiser<br />

weisen auch auf einen schwachen Zusammenhang zwischen politischer Selbsteinstufung<br />

auf einer Links-Rechts-Skala und der empirisch erhobenen <strong>Rechtsextremismus</strong>afnität<br />

in der Thüringer Bevölkerung hin. Die Gruppe der rechtsextremen<br />

Einstellungsträger/-innen setzte sich 2012 zu ähnlichen Anteilen aus<br />

sich selbst politisch rechts, mittig und links einordnenden Thüringern zusammen<br />

(vgl. auch den Beitrag von Best in diesem Band). Dies belege die theoretische und<br />

empirische Unzulänglichkeit des <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriffes und habe Folgen<br />

für die Präventionsarbeit (vgl. auch Quent, 2013, S. 8). Diese Befunde scheinen<br />

also darauf hinzudeuten, dass zwischen den wissenschaftlichen Begriffen zum<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und den verschiedenen Operationalisierungsversuchen einerseits<br />

und der politischen Praxis andererseits, in der <strong>Rechtsextremismus</strong> auftritt<br />

und sich entfalten kann, gravierende Differenzen bestehen bzw. bestehen können.<br />

Darauf machen auch Klärner und Kohlstruck (2006, S. 14) aufmerksam, wenn sie<br />

vorschlagen, <strong>Rechtsextremismus</strong> auf zwei Ebenen zu beobachten, nämlich als diskursive<br />

Konstruktion und als soziale bzw. politische Praxis.<br />

Wenn nun aber der Begriff „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ nach wie vor „umstritten und<br />

unklar“ (z. B. Stöss, 2010; Strobl, Lobermeier & Heitmeyer, 2012; u. v. a.) und unscharf<br />

ist, so ist zu fragen, ob ein unscharfer Begriff den Strukturkern liefern kann,<br />

um das dazugehörige Forschungsfeld bestimmen zu können. Sicher nicht; es kann


52<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

eher davon ausgegangen werden, dass Begriffe, wie <strong>Rechtsextremismus</strong>, Rechtsradikalismus<br />

etc., nicht nur im Kontext einer, wie auch immer elaborierten, Theorie,<br />

zu bestimmen sind, sondern auch die sich verändernden gesellschaftlich-politischen<br />

Kontexte reektieren, auf die sie sich beziehen sollen und in denen sie gebraucht<br />

werden. Insofern sind diese und ähnliche Begriffe und ihre Bedeutungen<br />

auch historischen und situativen Veränderungen unterworfen.<br />

Bemühungen um methodischen Konsens: Ungeachtet der auch im Zeitraum<br />

2001 bis 2013 ungelösten De nitionsprobleme wurde von einigen Forschern mit<br />

überwiegend politikwissenschaftlicher Ausrichtung (angeregt von Oskar Niedermayer<br />

und Richard Stöss) 2001 und 2004 eine „Konsensdenition“ vorgeschlagen,<br />

auf deren Basis eine Skala zur Messung von rechtsextremen Einstellungen entwickelt<br />

wurde, die in mehreren Studien (Best & Salheiser, 2012; Best et al., 2013;<br />

Decker & Brähler, 2006, 2008; Decker et al. 2012; Decker, Weißmann, Kiess &<br />

Brähler, 2010) eingesetzt wurde. Die Konsensdenition lautet:<br />

„Der <strong>Rechtsextremismus</strong> ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen<br />

Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen<br />

Bereich in der Afnität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen<br />

und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus.<br />

Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche<br />

und sozialdarwinistische Einstellungen“ (Kreis, 2007, S. 13).<br />

Rechtsextreme Einstellung solle in sechs Dimensionen mit je fünf Items, also insgesamt<br />

dreißig Items gemessen werden. Die Dimensionen wurden de niert als<br />

„Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur“, „Chauvinismus“, „Ausländerfeindlichkeit“,<br />

„Antisemitismus“, „Sozialdarwinismus“ und „Verharmlosung des<br />

Nationalsozialismus“. Aus den von Joachim Kreis (2007) mitgeteilten Berichten<br />

über die Tagungen, auf denen die Konsensde nition erarbeitet wurde, lässt sich<br />

nicht entnehmen, auf welchen theoretischen Prämissen oder Konzeptionen diese<br />

Denition aufbaut. Zum einen lehnt sie sich an der o. g. <strong>Rechtsextremismus</strong>-De -<br />

nition von Heitmeyer und Mitarbeitern an; zum zweiten greift sie aber nur eine der<br />

in dieser Denition hervorgehobenen zwei Dimensionen auf (und vernachlässigt<br />

den Gewaltaspekt); zum dritten ist die „Konsensde nition“ eine Denition durch<br />

Aufzählung, ohne dass ein Kriterium angegeben wird, ob die Aufzählung vollzählig,<br />

hinreichend oder nur beispielhaft erfolgt.<br />

Einen anderen, keinesfalls uninteressanten Zugang wählt Thomas Grumke<br />

(2011). Mit dem Ziel, den <strong>Rechtsextremismus</strong> in den USA zu analysieren, greift<br />

er auf die zivilisationstheoretische Untersuchung fundamentalistischer Bewegungen<br />

in der Moderne von Shmuel Eisenstadt (1998) zurück. Eisenstadts Ausgangs-


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

53<br />

punkt ist die Annahme, dass fundamentalistische Bewegungen durchaus modern<br />

sein können, obwohl sie antimoderne und antiaufklärerische Ideen verkünden. In<br />

dieser Paradoxie sieht Grumke (2011) nun eben auch Parallelen zwischen Fundamentalismus<br />

und (US-amerikanischem) <strong>Rechtsextremismus</strong>. Als Projekt und Produkt<br />

der Moderne betreibe – so Grumke (2011, S. 153) – der <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

unter Rückgriff auf traditionelle Elemente der (amerikanischen) politischen Kultur<br />

eine extreme Komplexitätsreduktion und suspendiere so jegliche P icht zur Begründung.<br />

An die Stelle des bloßen Bewahrenwollens trete die Platzierung neuer,<br />

eigener, umgedeuteter politischer Mythen (wie „Rasse“ oder „Nation“). Ideologisch<br />

sei der (amerikanische) <strong>Rechtsextremismus</strong> – wie auch der Fundamentalismus<br />

15 – grundsätzlich antimodern, schöpfe aber in organisatorischer Hinsicht die<br />

Mittel der Moderne voll aus. Und noch einmal auf Eisenstadt (1998, S. 84) zurückgreifend<br />

bezeichnet Grumke (Grumke, 2011) den (amerikanischen) <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

als militante Ideologie, die grundlegend in eine hochmoderne Struktur<br />

eingebunden ist und so quasi die Kehrseite der Moderne darstellt.<br />

Sehr bewusst haben wir den amerikanischen Bezug der Grumkeschen Analyse<br />

in Klammern gesetzt, sehen wir doch durchaus Parallelen zum deutschen bzw.<br />

europäischen <strong>Rechtsextremismus</strong>. Den <strong>Rechtsextremismus</strong> insofern als fundamentalistische<br />

Strömung zu konzeptualisieren und auf diese Weise empirisch zugänglich<br />

zu machen, könnte eine innovative sozialwissenschaftliche Herausforderung<br />

sein (vgl. den Beitrag von Frindte und Geschke in diesem Band). 16<br />

15 Der Ausdruck „Fundamentalismus“ kam im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts<br />

in Gebrauch und bezieht sich seitdem vor allem auf eine strenge und ausschließliche<br />

Auslegung der (zunächst christlichen) Wurzeln einer Religion. Zwischen 1910 und<br />

1915 erschien eine Reihe von Schriften unter dem Titel „The Fundamentals“, in denen<br />

die Rückbesinnung auf die Grundlagen der christlichen Religion gefordert wurde.<br />

1919 fanden dazu Konferenzen der World’s Christian Fundamentals Association statt.<br />

Allerdings hat sich die Verwendung des Begriffs Fundamentalismus in den letzten<br />

Jahrzehnten sowohl im Alltag als auch im wissenschaftlichen Kontext stark erweitert.<br />

In der Umgangssprache wird der Begriff nicht selten unscharf zur Bezeichnung von<br />

konservativen und u. U. gewalttätigen Gruppierungen und Bewegungen benutzt. Im<br />

wissenschaftlichen Kontext hat sich überdies in den letzten Jahren auch eine Begriffsverwendung<br />

etabliert, die sich nicht nur auf den „religiösen Fundamentalismus“ beschränkt<br />

(vgl. auch Meyer, 2011).<br />

16 Uwe Backes macht darauf aufmerksam, dass die Idee, den <strong>Rechtsextremismus</strong> als fundamentalistische<br />

Ideologie zu begreifen, so neu allerdings auch wieder nicht sei. Backes<br />

(2006) verweist z. B. auf die Arbeiten von Thomas Meyer (1989) oder Christian<br />

Jäggi und David J. Krieger (1991), in denen u. a. auch der <strong>Rechtsextremismus</strong> als Form<br />

eines säkularen Fundamentalismus beschrieben wird.


54<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

2.2.3 Dominierende Theorie- und Forschungsansätze<br />

Dominanz der Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer,<br />

2002 bis 2012): Auch im Zeitraum 2001 bis 2013 dominierten wieder Arbeiten<br />

von Wilhelm Heitmeyer und Kollegen das Forschungsfeld. Das groß angelegte<br />

Forschungsprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF), das von<br />

Wilhelm Heitmeyer geleitet wurde, hatte das Ziel, den „klimatischen“ Zustand<br />

der Bundesrepublik durch jährliche Befragungen zu eruieren. Nicht zuletzt vor<br />

dem Hintergrund der in den 1990er Jahren und im Übergang zum neuen Jahrtausend<br />

beobachtbaren menschenfeindlichen Stimmungen und z. T. zerstörerischen<br />

Gewalttendenzen stellt Heitmeyer im ersten Bericht zur Langzeitstudie (die von<br />

2002 bis 2012 durchgeführt wurde) u. a. fest, dass es von höchstem Interesse sei,<br />

„welches Ausmaß an Ideologien von Ungleichwertigkeit … existiert und wie es<br />

sich im Zeitverlauf entwickelt“ (Heitmeyer, 2002, S. 19; Hervorh. im Original).<br />

Das heißt, mit dem Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sollte von<br />

Anfang an – vergleichbar mit der o. g. „Konsensde nition“ – „nur“ eine der Dimensionen<br />

empirisch beobachtet werden, die in der ursprünglichen <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition<br />

genannt sind – eben die Facetten (oder Elemente) der Ideologie<br />

der Ungleichwertigkeit (vgl. Heitmeyer, 2008, S. 36ff.; auch Klemm et al., 2006) 17 .<br />

Die Absicht dieser Fokussierung beschreibt Heitmeyer im letzten Bericht zum<br />

Projekt: „…die ‚beruhigende‘ Unterscheidung zwischen den brutalen Rechtsextremisten<br />

einerseits sowie der angeblich humanen Bevölkerung andererseits aufzulösen<br />

und somit den ober ächlichen Konsens im Lande bewusst zu irritieren und<br />

zu stören“ (Heitmeyer, 2012, S. 322).<br />

In der ersten repräsentativen Erhebung wurden sechs Elemente der gruppenbezogenen<br />

Menschenfeindlichkeit operationalisiert und analysiert: Rassismus,<br />

Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, Etabliertenvorrechte und<br />

Sexismus (Heitmeyer, 2002, S. 20). Zehn Jahre später umfasste das Syndrom der<br />

Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zwölf Facetten bzw. Elemente: Sexismus,<br />

Homophobie, Etabliertenvorrechte, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Islamfeindlichkeit,<br />

Antisemitismus, Ablehnung von Behinderten, Abwertung von<br />

Obdachlosen, Abwertung von Sinti/Roma, Abwertung von Asylbewerbern und<br />

Abwertung von Langzeitarbeitslosen (Heitmeyer, 2012, S. 17). Mit der Untersuchung<br />

dieser Facetten und ihren wechselseitigen Zusammenhängen etablierte sich<br />

17 Susanne Johansson (2011, S. 278) kritisiert allerdings in einer sehr umfangreichen<br />

Rezension (sie bezieht sich auf die Bände 1 bis 8 zum Projekt; Heitmeyer, 2002-2010),<br />

dass das Verhältnis zwischen den Syndromen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit<br />

und des <strong>Rechtsextremismus</strong> unbestimmt bleibe.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

55<br />

das Projekt zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit innerhalb der sozialwissenschaftlichen<br />

und psychologischen Erforschung von Stereotypen, Vorurteilen<br />

und Diskriminierungen (vgl. auch Zick, Hövermann & Krause, 2012, S. 64).<br />

Mit der Konzentration auf nur eine der Dimensionen des ursprünglichen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>konzepts wird allerdings – anders als mit der o. g. „Konsensdenition“<br />

– innerhalb des Projekts Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit<br />

keine neue Auffassung von <strong>Rechtsextremismus</strong> vertreten. „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

in seiner ursprünglichen De nition durch Heitmeyer und Mitarbeiter – also als<br />

Verknüpfung von Ideologie(n) der Ungleichwertigkeit und Gewaltafnität – spielt<br />

im Projekt der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit durchaus noch eine gewichtige<br />

Rolle (vgl. auch Grau, 2010; Zick, Küpper & Legge, 2009). Küpper und<br />

Zick (2008) gehen z. B. davon aus, dass „Gewalt als Mittel der Durchsetzung und<br />

Demonstration von Machtansprüchen, Kontrolle und Dominanz … eine extreme<br />

Form der Herstellung von Ungleichwertigkeit“ (Küpper & Zick (2008), S. 116) sein<br />

kann. Die empirischen Befunde, die die beiden Autoren präsentieren, scheinen das<br />

zu belegen. Soziale Dominanzorientierung und mangelnde Anerkennung erweisen<br />

sich als starke Prädiktoren für Gewaltakzeptanz und Gewaltbereitschaft. Neben<br />

solchen und ähnlichen empirischen Befunden aus dem Projekt Gruppenbezogene<br />

Menschenfeindlichkeit wird in den entsprechenden Publikationen auch immer<br />

nach Möglichkeiten gesucht, die Ergebnisse mit Fallbeispielen zu illustrieren,<br />

die auf rechtsextreme Entwicklungen in Deutschland verweisen (z. B. Heitmeyer,<br />

2003, S. 187ff.; Heitmeyer, 2010, S. 178ff.; Heitmeyer, 2012; S. 245ff.).<br />

Gefährdungen des friedlichen Zusammenlebens zwischen Angehörigen unterschiedlicher<br />

Religionen, Ökonomisierung des Sozialen, Abwertung von Homosexuellen<br />

und Obdachlosen, Demokratieentleerung, soziale Desintegrationsprozesse<br />

sind die Stichworte, mit denen Heitmeyer (2012) die empirischen Befunde benennt,<br />

die zeigen, wie stark Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit die Grundlagen<br />

der deutschen Gesellschaft zu bedrohen scheint.<br />

„Mitte-Studien“: Auch die repräsentativen Studien, die Elmar Brähler, Oliver<br />

Decker und Mitarbeiter im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in den<br />

Jahren 2006, 2008, 2010 und 2012 zum rechtsextremen Potential in der „Mitte<br />

der Gesellschaft“ durchführten, sollen auf grundsätzliche Gefährdungen der deutschen<br />

Gesellschaft aufmerksam machen (Decker et al., 2006; Decker & Brähler,<br />

2008; Decker et al., 2010; Decker et al., 2012). Methodische Grundlage dieser Studien<br />

sind die o. g. „Konsensdenition“ und die darauf aufbauenden Operationalisierungen.<br />

Das heißt, rechtsextreme Tendenzen werden in diesen Studien mittels<br />

der sechs, bereits erwähnten, Dimensionen beschrieben: „Befürwortung einer<br />

rechtsautoritären Diktatur“, „Chauvinismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Antisemitismus“,<br />

„Sozialdarwinismus“ und „Verharmlosung des Nationalsozialismus“.


56<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Auch die zur Erfassung dieser Dimensionen eingesetzten Skalen gehen auf die<br />

Diskussionen zurück, in denen über die „Konsensde nition“ verhandelt wurde.<br />

Im Jahre 2012 konstatieren Decker et al. (2012) u. a., dass knapp 16 Prozent der<br />

Ostdeutschen ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ (S. 114) haben und dass<br />

dies der höchste in den „Mitte-Studien“ bisher gemessene Wert sei. Vor allem<br />

junge Ostdeutsche elen durch zunehmend hohe Zustimmungswerte auf. Verantwortlich<br />

machen die Autoren die nach wie vor vorhandenen „Strukturprobleme in<br />

Ostdeutschland“ (Decker et al., 2012).<br />

2.2.4 Rahmenbedingungen für rechtsextreme Tendenzen<br />

Das in Anlehnung an Bronfenbrenner (1979) genutzte Schema zur Beschreibung<br />

der Rahmenbedingungen für rechtsextreme Tendenzen scheint zwar geeignet zu<br />

sein, um eben diese Rahmenbedingungen zu ordnen; für die Einordung wissenschaftlicher<br />

Publikationen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> im Zeitraum von 2001 bis<br />

2013 erwies es sich jedoch als zu starr. Dies vor allem deshalb, weil sich in diesem<br />

Zeitraum zahlreiche Studien nden lassen, in denen sowohl makro-, meso- als<br />

auch mikro-soziale Bedingungen untersucht wurden. Trotzdem soll dieses Schema<br />

zunächst beibehalten werden.<br />

A<br />

Makro-soziale Bedingungen<br />

Makro-soziale Bedingungen spielen vor allem in den Studien zur Gruppenbezogenen<br />

Menschenfeindlichkeit (z. B. Heitmeyer, 2012), den Mitte-Studien (Decker<br />

et al. 2012) oder im Thüringen-Monitor (Best & Salheiser, 2012) eine zentrale<br />

Rolle. Untersucht wurden in diesen, aber auch in anderen Studien, z. B. die nach<br />

wie vor vorhandenen Ost-West-Unterschiede in den rechtsextremen Tendenzen<br />

(z. B. Decker et al. 2012; Krüger, Fritzsche, Pfaff & Sandring, 2003; Landua, Harych<br />

& Schutter, 2002; Oepke, 2005; Schroeder, 2003), regionale Besonderheiten<br />

(z. B. Gabriel, Grastdorf, Lakeit, Wandt & Weyand, 2004; Geyer, 2002; Held et<br />

al., 2008), der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit bzw. Prekarisierung und<br />

rechtsextremen Einstellungen (Decker et al. 2012; Sommer, 2010), Unterschiede<br />

zwischen Männern und Frauen (z. B. Birsl, 2012; Fromm & Kernbach, 2002; Köttig,<br />

2004) oder zwischen Stadt und Land (Best & Salheiser, 2012, S. 92ff.; Held et<br />

al., 2008; Neumann, 2001).<br />

Auch Zusammenhänge von medialer Berichterstattung und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

sind unter diesem Aspekt wieder erwähnenswert (vgl. z. B. Brosius, 2002;<br />

Dollase, 2002; Erb, 2002; König, 2008; Schellenberg, 2005).<br />

Friedhelm Neidhardt fragt – sicher etwas polemisch:


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

57<br />

„Auf welchen Wegen und mit welchem Erfolg erreicht der in Organisationen und<br />

Parteien verfasste Rechtsradikalismus, dessen Strukturen und Programme jeder<br />

Verfassungsschutzbericht ausführlich beschreibt, eine Basis gewaltbereiter junger<br />

Leute? Welche Medien spielen dabei eine Rolle?“ (Neidhardt, 2002, S. 784).<br />

Zwei Jahre später formuliert er die in den o. g. Fragen steckende These expliziter:<br />

„Auch bei der Mobilisierung rechtsextremistischer Aktionen könnten Medien durchaus<br />

gegen ihren Willen zum Beispiel zu einer ‚discursive opportunity structure‘ (Koopmans<br />

1996; 2001) zugunsten derer beitragen, die sie scharf kritisieren, nämlich<br />

Informationen, ‚Frames‘ und Positionen bekannt zu machen, die sich zum Beispiel<br />

zur Rechtfertigung von Gewalt und zur Stigmatisierung von Fremden verarbeiten<br />

lassen“ (Neidhardt, 2004, S. 337).<br />

Brosius und Scheufele (2001) untersuchen, unter welchen Bedingungen die Berichterstattung<br />

der Medien einer Ausbreitung fremdenfeindlicher Straftaten Vorschub<br />

leistet. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass es unter bestimmten Bedingungen<br />

zu massiven Anstiftungseffekten durch die Berichterstattung kommen<br />

kann. Schon die Berichterstattung über Gewalt durch Ausländer könne zu ausländerfeindlichen<br />

Straftaten führen (vgl. auch Esser, Scheufele & Brosius, 2002).<br />

Häug wird in der Medienberichterstattung das Handeln der Migranten selbst für<br />

das „Ausländerproblem“ verantwortlich gemacht und negativ bewertet (Pfetsch<br />

& Weiß, 2000). Das kann dazu führen, dass in bestimmten Gruppen die Gewaltbereitschaft<br />

gegenüber Ausländern/ Migranten wächst (Scheufele, 2002). So wird<br />

die Berichterstattung von verschiedenen Rezipientengruppen unterschiedlich aufgenommen<br />

und löst Reaktionen von ausländerfeindlicher Wut bis zu Angst vor<br />

rechtsextremer Gewalt aus (Oemichen, Horn & Mosler, 2005).<br />

Unter diesem Aspekt ist auch der o. g. Hinweis von Neidhardt auf die „discursive<br />

opportunity structure“ im Sinne von Koopmans zu verstehen: Verbreitungsmedien<br />

(im Luhmannschen Sinne) eröffnen Möglichkeitsräume (Frindte, 1998, 1999;<br />

Geschke, Sassenberg, Ruhrmann & Sommer, 2010) oder stellen Frames bereit,<br />

wie Wirklichkeit interpretiert werden kann. Diesbezüglich wurden verschiedenste<br />

Aspekte der Berichterstattung in Inhalts- und Rezeptionsanalysen untersucht, wie<br />

z. B. ereignisorientierte Thematisierung (z. B. Weiß & Spallek, 2002), Skandalisierung,<br />

Emotionalisierung und Stereotypisierung mit deren Wirkpotentialen und<br />

Wirkungen (vgl. z. B. Matthes & Marquardt, 2013; Oemichen et al., 2005). Die<br />

Rezipientenanalysen der „ARD/ZDF Studie“ (vgl. Oemichen et al., 2005) zeigen,<br />

dass eine moderate Emotionalisierung zum einen durchaus bedeutsam sein kann,<br />

da sie eine Identikation mit den Opfern ermöglicht und dazu anregt, sich inten-


58<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

siver mit dem Thema zu beschäftigen. Zum anderen können solche Berichterstattungsmuster<br />

aber auch die Rezipienten emotional überwältigen und stark emotionale,<br />

fremdenfeindliche Reaktionen auslösen (vgl. auch Schellenberg, 2005).<br />

Pfeiffer, Jansen, Stegmann und Tepper (2002) untersuchten die <strong>Rechtsextremismus</strong>-Berichterstattung<br />

in deutschen Tageszeitungen und kritisierten zum einen die<br />

stereotype Darstellung der Rechtsextremen, die verwirrte Einzeltäter oder außerhalb<br />

der Gesellschaft stehende Extremisten zeigt, statt das gesamtgesellschaftliche<br />

Problem zu fokussieren. Zum anderen stellten sie fest, dass der <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

im Osten den Lesern „in unangemessenem Maße als größeres Problem vermittelt<br />

wird, jener im Westen hingegen vernachlässigt wird“ (Pfeiffer et al., 2002, S. 277;<br />

vgl. auch Oemichen et al., 2005 für TV-Berichterstattung). Über die deutsche Berichterstattung<br />

hinaus, stellt Udris (2007) in den Schweizer Leitmedien von 1960<br />

bis 2007 fest, dass auch diese von Skandalisierung und Event-Inszenierungen geprägt<br />

ist und somit „punktualistisch respektive ereignisorientiert und höchst volatil“<br />

(Udris, 2007, S. 3).<br />

„Discursive opportunity structures“ oder „diskursive Gelegenheitsstrukturen“<br />

bezeichnen die politischen Strukturen bzw. die Diskurse über solche Strukturen,<br />

durch die sich Möglichkeiten ergeben, soziale Bewegungen zu mobilisieren (vgl.<br />

auch Klärner, 2008; Udris, 2011). Das Konzept der Gelegenheitsstrukturen verweist<br />

zunächst auf einen unscharfen Begriff (vgl. auch Klärner, 2008, S. 52), der<br />

aus der soziologischen Bewegungsforschung stammt (siehe auch weiter unten).<br />

Diese Perspektive steht nicht unbedingt konträr zur <strong>Rechtsextremismus</strong>auffassung<br />

von Heitmeyer und Kollegen, sie offeriert aber u. a. einen Ansatz, um den Einuss<br />

der Verbreitungsmedien in der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung neu zu bestimmen<br />

(vgl. auch Braun & Koopmans, 2010; Weiß & Spallek, 2002 18 ): Verbreitungsmedien<br />

können u. U. Möglichkeitsräume (oder discursive opportunity structures) eröffnen,<br />

an die sich Rechtsextreme anzuschließen vermögen und durch die sie sich<br />

in ihren Ideologien und Handlungsbereitschaften bestätigt sehen. Dabei sind für<br />

den Zeitraum 2001 bis 2013 vor allem die wissenschaftlichen und journalistischen<br />

Analysen über die Bedeutung des Internets im Kontext von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Rechtspopulismus hervorzuheben (vgl. z. B. Busch, 2005; Braun & Hörsch,<br />

2004; Frindte, Jacob & Neumann, 2002; Fromm & Kernbach, 2001; Holtz & Wagner,<br />

2008; Parker, 2002; Pfeiffer, 2004, 2009; Reissen-Kosch, 2013; Wojcieszak,<br />

2011). In einem Review liefert Daniels (2013) einen Überblick über Studien der<br />

letzten 15 Jahre, die sich mit Internet und Rassismus beschäftigen.<br />

18 Die Arbeit von Weiß und Spallek (2002) dürfte für künftige inhaltsanalytische Untersuchungen<br />

der Berichterstattung über <strong>Rechtsextremismus</strong> besonders paradigmatisch<br />

sein.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

59<br />

Unbedingt erwähnenswert ist auch der aktuelle Sammelband von Michael Haller<br />

(2013) über den „Rechtsterrorismus in den Medien“. Norwegische und deutsche<br />

Medienfachleute (Journalisten und Wissenschaftler) diskutieren in diesem Band, wie<br />

Journalisten mit den Mordtaten von Anders Behring Breivik in Norwegen und denen<br />

des Nationalsozialistischen Untergrunds in Deutschland umgegangen sind. Aus kommunikations-<br />

und medienrechtlicher Perspektive betrachtet Kujath (2013) die Medienöffentlichkeit<br />

im „NSU-Prozess“ (siehe auch ausführlich Kapitel 3 in diesem Band).<br />

B<br />

Meso-soziale Bedingungen<br />

Auch meso-soziale Bedingungen (wie Sozialisationsein üsse oder rechtsextreme<br />

Milieus und Szenen) werden als Prädiktoren für rechtsextreme bzw. fremdenfeindliche<br />

Einstellungen in den Mitte-Studien (Decker et al. 2012) oder im Thüringen-<br />

Monitor (Best & Salheiser, 2012) untersucht.<br />

Vor allem aber in dem sehr umfassenden Forschungsbericht über rechtsextreme<br />

Orientierungen und rechtsextreme Szenen von Möller und Schuhmacher (2007)<br />

spielen diese meso-sozialen Bedingungen eine wichtige Rolle. Die zentralen Ergebnisse<br />

dieses in seiner Anlage einzigartigen Forschungsprojekts zeigen u. a.,<br />

dass rechtsextreme Orientierungen und Symboliken zunehmend in unterschiedliche<br />

Jugendkulturen einwandern, rechtsextreme Haltungen immer stärker auch<br />

öffentlich akzeptiert werden, der Anteil der Gewaltbereiten im rechtsextremen<br />

Spektrum sich in den 2000er Jahren vervielfacht hat und Gefühle eigener Desintegration<br />

und Missachtung, das Erleben von Konkurrenz mit Migranten und das<br />

Aufwachsen in einem menschenfeindlich geprägten Umfeld zu den Bedingungen<br />

gehören, unter denen rechtsextreme Tendenzen wahrscheinlich werden (vgl. auch<br />

Wippermann, Zarcos-Lamolda & Krafeld, 2004).<br />

Auch auf die soziologische Bewegungsforschung ist an dieser Stelle noch einmal<br />

zu verweisen: Nachdem diese Perspektive bereits im Zeitraum von 1990 bis 2000<br />

von mehreren Autoren in die Diskussion eingeführt wurde (s. o.), gewinnt sie im<br />

Zeitraum von 2001 bis 2013 vor allem in den Politik- und Sozialwissenschaften stark<br />

an Einuss (vgl. z. B. Grumke, 2013; Klärner, 2008; Klärner & Kohlstruck, 2006;<br />

Pfeiffer, 2002; Pfahl-Traughber, 2003; Rucht, 2002). Innerhalb dieser Forschungs-<br />

Community wird der <strong>Rechtsextremismus</strong> als soziale Bewegung betrachtet (was er<br />

trivialer Weise auch ist), um die Vielfalt relativ autonomer rechtsextremer Strömungen<br />

beobachten zu können. In diesem Sinne schreibt z. B. Thomas Grumke:<br />

„In der Tat sind die eher partikularen Ansätze der Parteien- und Wahlforschung oder<br />

der Jugend- und Gewaltforschung kaum in der Lage, das komplexe, heterogene und<br />

mittlerweile sich internationalisierende Phänomen (des <strong>Rechtsextremismus</strong>, die Verfasser)<br />

voll zu erfassen“ (Grumke, 2013, S. 29).


60<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Und indem er sich auf Rucht (2002) bezieht, sieht Grumke (Grumke, 2013) in der<br />

Bewegungsforschung ein Analysepotential, das Chancen für stärker integrative<br />

Sichtweisen und Interpretationen des <strong>Rechtsextremismus</strong> zu liefern vermag. Aus<br />

der Sicht der Bewegungsforschung ist der <strong>Rechtsextremismus</strong> nicht vorrangig als<br />

Ideologie mit Gewaltaf nität zu betrachten, sondern als Ensemble von Gruppen<br />

und Organisationen, die sich über Symbole, Idole und Slogans de nieren, Protest<br />

mobilisieren, praktizieren und provozieren, um auf diese Weise einen grundsätzlichen<br />

gesellschaftlichen Wandel zu initiieren (vgl. Klärner, 2008, S. 39ff.). Aus<br />

sozialpsychologischer Perspektive nicht unbedeutend ist die Annahme, dass sich<br />

soziale Bewegungen nicht durch verbindliche und kodi zierte Programme, sondern<br />

durch eine kollektive Identität auszeichnen, mit der sie sich nach innen und<br />

außen abzugrenzen versuchen (vgl. auch Grumke, 2013, S. 30; Pfeiffer, 2013). Insofern<br />

bietet die soziologische Bewegungsforschung durchaus interessante interdisziplinäre<br />

Anschlussmöglichkeiten; besonders neu sind die vorgelegten wissenschaftlichen<br />

Ansätze – aus sozialpsychologischer Sicht – allerdings nicht.<br />

C<br />

Mikro-soziale und individuelle Bedingungen<br />

Sozialpsychologische Ansätze in den Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit:<br />

Die im Projekt vorrangig präferierten sozialwissenschaftlichen Erklärungen<br />

und Annahmen über die Ursachen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit<br />

stammen – sieht man von den soziodemogra schen Prädiktoren, wie Geschlecht,<br />

Alter, Bildung, Einkommen einmal ab – vor allem aus der etablierten sozialpsychologischen<br />

Vorurteilsforschung.<br />

Zu diesen Erklärungen gehören das Autoritarismus-Konzept (Altemeyer, 1988;<br />

hier z. B. Heitmeyer & Heyder, 2002; Zick et al., 2012), die Theorie der sozialen<br />

Dominanz von Sidanius und Pratto (1999; hier z. B. Küpper & Zick, 2008), die<br />

Konzeption vom Glauben an die gerechte Welt (Lerner, 1980; hier z. B. Dalbert,<br />

Zick & Krause, 2010) und die erweiterte Kontakttheorie nach Pettigrew (1998a;<br />

hier z. B. Christ & Wagner, 2008; Asbrock, Christ, Duckitt & Sibley, 2012a).<br />

Ulrich Wagner (2013) hebt vereinfachend zwei psychologische Erklärungsmuster<br />

für <strong>Rechtsextremismus</strong> hervor: ein persönlichkeitspsychologisches und ein sozialpsychologisches.<br />

Aus persönlichkeitspsychologischer Perspektive seien vor allem<br />

Autoritarismusneigung und Dominanzorientierung als Prädiktoren für rechtsextreme<br />

Tendenzen interessant (siehe oben). Von sozialpsychologischem Interesse seien<br />

dagegen die sozialen Bedingungen, in denen rechtsextreme Tendenzen entstehen<br />

bzw. sich entfalten. Zu diesen Bedingungen gehören Prozesse in und zwischen Gruppen<br />

(Tajfel, 1978) oder gruppenbezogene Emotionen und deren Verhaltensfolgen.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

61<br />

Zwar dürfte die Einschätzung von Bornewasser (1994), dass der „Fremde“ kein<br />

Forschungsthema in der Psychologie sei, kaum noch auf den gegenwärtigen Forschungsstand<br />

der Sozialpsychologie zutreffen, betrachtet man nur allein die expansive<br />

Entwicklung der Vorurteilsforschung. Eine genuin psychologische <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />

gibt es im deutschsprachigen Raum allerdings bisher nicht.<br />

Überdies: Während autoritäre Überzeugungen in diesem Kontext bereits sehr gut<br />

untersucht und in ihrem Ein uss auf rechtsextreme Tendenzen weitgehend bestätigt<br />

sind (siehe z. B. Best & Salheiser, 2012), nden sich im deutschsprachigen<br />

Raum, außer der o. g. von Küpper und Zick (2008), kaum einussreiche Studien, in<br />

denen die Variable Soziale Dominanzorientierung als Erklärung für rechtsextreme<br />

Tendenzen (im Sinne der ursprünglichen Denition von Heitmeyer und Kollegen;<br />

also als Kopplung von Ideologien der Ungleichwertigkeit und Gewaltafnität)<br />

geprüft und bestätigt wurde.<br />

Zu den wenigen sozialpsychologischen <strong>Rechtsextremismus</strong>-Studien gehören<br />

u. a. die Arbeiten von Klein und Simon (2006), Neumann (2001), Frindte und Neumann<br />

(2002), Menschik-Bendele und Ottomeyer (1998) und Neumann und Frindte<br />

(2002). Während sich die Studie von Klein und Simon (2006) zur Funktion der<br />

sozialen Identität in die neueren Ansätze der Bewegungsforschung (siehe unten)<br />

einordnet, versucht Neumann (2001) die von Heitmeyer und Mitarbeitern vorgelegte<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition sozialpsychologisch zu spezi zieren, indem<br />

er zwei international renommierte Theorieansätze (die Einstellungs-Verhaltens-<br />

Modelle von Ajzen und Fishbein (1980) und die Theory of coercive actions von<br />

Tedeschi und Felson (1995)) miteinander verknüpft.<br />

Auch Frindte und Neumann (2002) greifen auf die <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition<br />

von Heitmeyer zurück, spezizieren diese Denition auf der Basis eigener, vorausgehender<br />

Befunde (Frindte, 1999) und verknüpfen diese Spezikation mit dem<br />

General Affective Agression Model von Anderson, Deuser und DeNeve (1995).<br />

Trotz dieser vereinzelten Studien kann man sich nicht des Eindrucks erwehren,<br />

dass die in der <strong>Rechtsextremismus</strong>-De nition von Heitmeyer hervorgehobenen<br />

zwei Dimensionen in der Psychologie (vor allem in der Sozialpsychologie)<br />

zwei unterschiedliche Forschungsfelder und –traditionen markieren; zum einen<br />

das Feld der Vorurteilsforschung und zum anderen das Feld der Aggressions- und<br />

Gewaltforschung.<br />

Täteranalysen: Frindte und Neumann (2002) haben in einem interdisziplinären<br />

Projekt und in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut München (vgl.<br />

Wahl, 2002) fremdenfeindliche Gewalttäter (durchgehend männlich und zwischen<br />

1970 und 1983 geboren) in 21 bundesdeutschen Haftanstalten interviewt. In dem<br />

Projekt sollten die situativen und biogra schen Bedingungen für fremdenfeindliches<br />

Gewalthandeln junger Menschen untersucht werden, um Vorschläge für


62<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

potentielle Prävention und Intervention ableiten zu können. Insgesamt wurden 101<br />

Täter mittels leitfadengestütztem Interview und Fragebogen befragt. Im Ergebnis<br />

kommen Frindte und Neumann (2002) u. a. zu dem Schluss, dass es sich bei den<br />

Gewalttätern um multipel kriminelle und in hohem Maße aggressionsgewöhnte<br />

und -bereite junge Männer handelt. Eine gezielt politische Funktion tritt bei diesen<br />

Tätern eher hinter eine jugendkulturelle maskuline Stärkepräsentation zurück.<br />

Das gilt für ost- und westdeutsche Akteure gleichermaßen; die Täter- und Tatbelastung<br />

ist allerdings bei den Gewalttätern aus den neuen Bundesländern – relativ<br />

zur Bevölkerungszahl – höher. Ostdeutsche unterscheiden sich von westdeutschen<br />

Tätern auch dadurch, dass sie die Taten häu ger sowohl aus einer positiven<br />

Grundstimmung heraus begehen als auch während der Tat positive Emotionen wie<br />

Freude eine größere Rolle spielen als bei westdeutschen Tätern. Darüber hinaus<br />

waren die Taten ostdeutscher Jugendlicher häuger mit einer erhöhten vor der Tat<br />

bestehenden Aggressionsbereitschaft verbunden.<br />

Helmut Willems, der schon 1993 gemeinsam mit Eckert, Würtz und Steinmetz<br />

(Willems et al., 1993, s. o.) eine ausführliche Täteranalyse durchgeführt hat, veröffentlichte<br />

2003 eine auf Nordrhein-Westfalen bezogene Analyse zu Täter- und<br />

Opferprolen (Willems & Steigleder, 2003), in der u. a. eine vereinfachte Gruppierung<br />

von rechten Gewalttätern präsentiert wurde: der „Mitläufer“, der deviante<br />

„Schlägertyp“, der „Ethnozentrist“ und der „rechtsradikale Täter“. Rechtsextreme<br />

Ideologien spielen, dieser Analyse zur Folge, vor allem bei den „rechtsradikalen<br />

Tätern“ eine gewaltlegitimierende Rolle (vgl. auch Gamper & Willems, 2006;<br />

Krüger, 2008).<br />

„Nationalsozialistischer Untergrund“: Im November 2011 wurde die rechtsterroristische<br />

Gruppierung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) aufgedeckt.<br />

Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe werden zehn Morde zugerechnet, die sie in den<br />

fast 14 Jahren im Untergrund begangen haben sollen. Dabei wurden sechs türkische<br />

Staatsangehörige, zwei türkischstämmige Deutsche, ein Grieche und eine<br />

deutsche Polizistin getötet. Zuvor waren die drei in der rechtsextremen Jenaer Jugendszene<br />

und im rechtsextremen „Thüringer Heimatschutz“ aktiv, nahmen an<br />

rechtsextremen Demonstrationen teil und bauten Bomben. Im Januar 1998 war<br />

es Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gelungen, in den Untergrund abzutauchen.<br />

Gefahndet wurde nach ihnen noch bis Anfang der 2000er Jahre. Die nach dem<br />

November 2011 bekannt gewordenen Fahndungspannen, das Vernichten von Akten<br />

bei Polizei und Verfassungsschutz, die möglichen rechtsextremen Unterstützer<br />

des Terror-Trios und dessen Kontakte zum Verfassungsschutz beschäftigen noch<br />

immer (also zum Zeitpunkt, an dem dieses Review geschrieben wurde) diverse<br />

Untersuchungsausschüsse auf Länder- und Bundesebene.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

63<br />

Die besondere Tragik dieser Pannen liegt darin, dass die Fahnder offenbar jahrelang<br />

nicht auf die Idee kamen, die zehn Morde könnten einen rechtsextremen<br />

Hintergrund haben und auf das Konto des gesuchten Nazi-Trios gehen. Lange Zeit<br />

ging die Polizei von der Annahme aus, es handele sich um Verbrechen der organisierten<br />

Kriminalität oder gar um Ehrenmorde. Die Sonderkommissionen der Polizei<br />

hießen dann auch Soko Halbmond oder Soko Bosporus. Über Jahre wurden<br />

auch Angehörige der Mordopfer als mögliche Täter oder Mitwisser verdächtigt.<br />

Und in den Medien, auch in jenen, die sich als Qualitätsmedien verstehen, wie die<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die Neue Züricher Zeitung, schrieb man von<br />

„Döner-Morden“ und von „Döner-Mördern“ (Spiegel Online ,4.7.2012).<br />

An der Brutalität der Morde, die vom Nationalsozialistischen Untergrund verübt<br />

wurden, kommt seit seiner Aufdeckung auch die <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />

nicht vorbei (z. B. Backes, 2013; Baumgärtner & Böttcher, 2012; Fuchs & Goetz,<br />

2012; Gensing, 2012, Pfahl-Traughber, 2012b; Röpke & Speit, 2013; Schmincke &<br />

Siri, 2013; Staud & Radke, 2012; Sundermeyer, 2012; Wetzel, 2013).<br />

Der <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland entstand nicht über Nacht und bildete<br />

sich auch nicht erst nach 1989 aus. Tatsache ist aber auch, dass nach der Wende<br />

in der DDR die rechtsextremistischen Gewalt- und Straftaten in ganz Deutschland<br />

sprunghaft angestiegen waren ( siehe auch den Beitrag von Quent in diesem<br />

Band). So kommt Gensing (2012) zu der Schlussfolgerung, dass die Pogrome in<br />

Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda in den Jahren 1991 und 1992 und die dabei<br />

deutlich gewordene Legitimierung von Gewalt gegen Migranten durch Staat<br />

und Bevölkerung zu den Sozialisationserfahrungen der neuen Neonazis gehören.<br />

Auch Stephan Lessenich (2013) fragt zunächst nach dem „Braunen Osten?“. Sicher,<br />

die Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (z. B. Heitmeyer,<br />

2012) oder die „Mitte-Studien“ (Decker et al., 2012) zeigen die nach wie vor vorhandenen<br />

Ost-West-Unterschiede in den rechtsextremen Tendenzen. Aber worauf<br />

verweisen diese Unterschiede? Auf „die ‚böhsen Onkelz‘ von der SED, die in den<br />

Köpfen und Seelen der Ostdeutschen noch heute ihr Unwesen treiben“? (Lessenich,<br />

2013, S. 141). Lessenich sieht das analytischer: Mit der politisch-medialen<br />

Debatte über die NSU-Morde sei der <strong>Rechtsextremismus</strong> erneut zum Instrument<br />

der deutsch-deutschen Gesellschaftspolitik geworden. „Wie dem auch sei: Aus<br />

soziologischer Warte allemal Stoff und Grund genug, der alltagspraktischen und<br />

mikropolitischen Aufarbeitung der Vereinigungsfolgen genauer nachzugehen“<br />

(Lessenich, 2013, S. 142).


64<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

2.2.5 Zwischenfazit<br />

Im Zeitraum 1990 bis 2000 dominierten relativ geschlossene, umfassende und<br />

exklusive Forschungsansätze das Forschungsfeld. Ausgehend von diesen (bzw.<br />

besonders einem) Forschungsansatz wurde versucht, die verschiedenen Facetten<br />

von <strong>Rechtsextremismus</strong> zu erklären (und empirisch zu begründen). Vor allem<br />

die Sozialisations- und Desintegrationstheorie von Heitmeyer und Mitarbeitern<br />

(Heitmeyer, 1989; Heitmeyer et al., 1992; Heitmeyer & Müller, 1995) und die im<br />

Rahmen dieser Theorie entwickelte <strong>Rechtsextremismus</strong>-De nition bestimmten<br />

in diesem Zeitraum die Erforschung rechtsextremer Tendenzen. Konkurrierende<br />

Ansätze (z. B. das Modell des <strong>Rechtsextremismus</strong>-Syndroms von Melzer, 1992;<br />

bzw. Melzer & Schubarth, 1995) oder kritische Einwände (z. B. Eckert & Willems,<br />

1996; Leggewie, 1998) haben vor allem die dezidiert makrosoziologische Fokussierung<br />

des Heitmeyerschen Ansatzes als zwar notwendige, aber nicht hinreichende<br />

Erklärungsperspektive hervorgehoben.<br />

Im Zeitraum von 2001 bis 2013 nden sich in den Sozialwissenschaften und<br />

der Psychologie zwar auch dominante Theorieansätze zur Erklärung des <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Augenscheinlich etablieren sich aber zunehmend Forschungsweisen,<br />

in denen ausgehend vom Phänomen des <strong>Rechtsextremismus</strong> theoretische Konzeptionen<br />

(und deren empirische Begründungen) entwickelt wurden, mit denen ihre<br />

Konstrukteure verschiedene und z. T. auch diverse Partial-Theorien (bzw. Theorien<br />

mittlerer Reichweite, Merton, 1957) zu systematisieren und zu integrieren versuchen.<br />

Prototypisch nden derartige Integrationen im Projekt Gruppenbezogene<br />

Menschenfeindlichkeit statt. Neben makrosoziologisch wichtigen Konzepten und<br />

Variablen wurden im Verlauf des Langzeitprojekts mikrosoziologische und sozialpsychologische<br />

Theorien (z. B. das Autoritarismus-Konzept, die Theorie der<br />

sozialen Dominanz, s. o.) genutzt, um Struktur und Bedingungen des Syndroms<br />

der Gruppenbezogen Menschenfeindlichkeit zu erklären (und empirisch zu begründen).<br />

Auch die schon mehrfach erwähnte soziologische Bewegungsforschung (z. B.<br />

Klärner, 2008) greift in der Erforschung des <strong>Rechtsextremismus</strong> auf diverse soziologische,<br />

kommunikationswissenschaftliche und sozialpsychologische Partial-<br />

Theorien zurück (z. B. die Dominanztheorie von Rommelspacher, 1995, 2006; der<br />

Framingansatz, Entman, 1993; die Theorie der sozialen Identität, Tajfel & Turner,<br />

1979).<br />

In Anlehnung an McGuire (1986) könnten die Forschungsweisen im Zeitraum<br />

1990 bis 2000 auch als divergente Forschungsstile bezeichnet werden; die Forschungsweisen<br />

im Zeitraum von 2001 bis 2013 wären dagegen eher als konver-


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

65<br />

gente Forschungsstile zu nennen. 19 Die mit konvergenten Forschungsstilen einhergehenden<br />

Bemühungen, diverse Partial-Theorien zu integrieren, dürften auch<br />

ein weiterer Grund sein, warum sich das ursprünglich für die Beobachtung des<br />

Zeitraums von 1990 bis 2000 angelegte Raster, mit dem die aufgefundenen wissenschaftlichen<br />

Publikationen geordnet werden sollten, für den Zeitraum von 2001<br />

bis 2012 als zu starr erwiesen hat.<br />

Im Ergebnis eines konvergenten Forschungsstils, in dem z. B. das Autoritarismus-Konzept,<br />

Diskriminierungsansätze und makrosoziologische Konzeptionen<br />

verknüpft, operationalisiert und als mögliche Ursachen für rechtsextreme Tendenzen<br />

geprüft werden, lassen sich dann Aussagen treffen, wie die folgenden aus dem<br />

„Thüringen-Monitor 2012“:<br />

„Über diese Analyse können als wichtigste Ursachen für rechtsextreme Einstellungen<br />

autoritäre Orientierungen, ein niedriger Bildungsabschluss, die empfundene<br />

Diskriminierung der Ostdeutschen, der verfestigte Eindruck, keinen Ein uss auf<br />

die Regierung zu haben, und, in geringerem Maß, die politische Eigenkompetenzzuschreibung<br />

benannt werden. Gemeinsam können diese Einussgrößen 44 Prozent<br />

der beobachteten rechtsextremen Einstellungen unter der Thüringer Bevölkerung erklären“<br />

(Best & Salheiser, 2012, S. 92; vgl. auch Decker et al., 2012).<br />

Im Zeitraum 2001 bis 2013 hat gegenüber dem vorangehenden Jahrzehnt auch<br />

eine weitere Verschiebung in den Forschungsperspektiven stattgefunden: Wenn<br />

zwischen 1990 bis 2000 die rechtsextremen Tendenzen vor allem als Folge einer<br />

wahrgenommenen individuellen und sozialen Bedrohung interpretiert und analysiert<br />

wurden, so scheint sich im Zeitraum 2001 bis 2013 die Forschung vor allem<br />

auf die Bedrohungspotentiale zu richten, die vom <strong>Rechtsextremismus</strong> ausgehen.<br />

Zumindest sind das die zentralen Botschaften, die sich aus den Ergebnissen der<br />

großen repräsentativen Studien ableiten lassen (Best & Salheiser, 2012; Decker et<br />

al., 2012; Heitmeyer, 2012). Und ein weiteres Merkmal scheint aus unserer Sicht<br />

die sozialwissenschaftlichen Forschungsperspektiven im besagten Zeitraum zu<br />

charakterisieren: Wie im Zeitraum 1990 bis 2000 spielt auch im nachfolgenden<br />

19 William J. McGuire (1986) beschreibt in diesem Überblicksartikel die Entwicklung<br />

der sozialpsychologischen Einstellungsforschung und unterscheidet dabei zwei Forschungsstile,<br />

einen „convergent-style“ und einen „divergent-style“: „The … convergent<br />

stylist typically started off with a phenomenon to be explained …and cast a wide<br />

theoretical net to ensnare as many relevant independent variables as possible, bringing<br />

a wide variety of explanatory notions convergently to bear on the phenomenon to be<br />

explained“ (McGuire, 1986, S. 99). “A divergent stylist starts off with a theory … and<br />

applies it divergently across a series of studies to a variety of … phenomena” (McGuire,<br />

1986, S. 100).


66<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Jahrzehnt die Identitätsproblematik eine zentrale Rolle; etwa wenn auf das Identi-<br />

kationspotential der rechtsextremen Gruppierungen, Milieus oder Bewegungen<br />

verwiesen wird (vgl. auch Klein, 2003).<br />

3 Internationale Anregungen und Publikationen<br />

in englischsprachigen Datenbanken<br />

(PsycINFO und Web of Knowledge)<br />

3.1 Internationale Vergleiche im deutschsprachigen Raum<br />

Eine erste Erweiterung der o. g. Suchstrategien nach wissenschaftlichen Publikationen<br />

zum Forschungsfeld „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ geht wiederum auf eine kritische<br />

Einschätzung von Friedhelm Neidhardt (2002) zurück. Neidhardt moniert in<br />

seinem bereits erwähnten umfangreichen Review u. a. die mangelnde Internationalisierung<br />

der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung.<br />

Die Frage ist, ob sich das im Zeitraum 2001 bis 2013 verändert, verbessert<br />

hat. Ja, es hat sich etwas zum Positiven im deutschsprachigen Raum verändert:<br />

Erschienen sind z. B. eine sehr ausführliche Buchpublikation, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

(FES) herausgegeben wurde (Langenbacher & Schellenberg,<br />

2011), in der Wissenschaftler aus Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich,<br />

Großbritannien, Italien, den Niederlanden, aus Norwegen, Polen, Schweden, der<br />

Schweiz, aus Spanien und Ungarn die Strukturen und die Entwicklung des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Rechtspopulismus in Europa analysieren. Vergleiche zwischen<br />

den rechtsextremistischen Entwicklungen in Europa nden sich auch bei Backes<br />

(2013), Greven und Grumke (2006), Melzer und Serfain (2013), Münch und Glaser<br />

(2011) und Stöss (2010; ebenfalls von der FES herausgegeben). Und gleichfalls von<br />

der FES herausgegeben wurde auch die Studie von Grumke und Klärner (2006),<br />

in der ein Vergleich zwischen den rechtsextremen Entwicklungen in Deutschland<br />

und Großbritannien versucht wird. Auch auf die umfangreiche Studie zum <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

in den USA von Thomas Grumke (2001) ist zu verweisen.<br />

Unbedingt erwähnenswert ist auch die europäische Vergleichsstudie „Die Abwertung<br />

der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz,<br />

Vorurteilen und Diskriminierung“ von Zick, Küpper und Hövermann (2011; und:<br />

wiederum von der FES herausgegeben). Hier handelt es sich um Befunde einer<br />

Meinungsumfrage, bei der jeweils ca. 1.000 Bürger in Deutschland, Großbritannien,<br />

Frankreich, den Niederlanden, Italien, Portugal, Polen und Ungarn zur<br />

Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit befragt wurden. Ähnlich wie im o. g.<br />

Langzeitprojekt „Deutsche Zustände“ (Heitmeyer 2002 bis 2012) stand in dieser


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

67<br />

Umfrage neben Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus, Homophobie auch<br />

das Ausmaß der Islamfeindlichkeit im Analysefokus. Das heißt, es geht nicht explizit<br />

um rechtsextreme Tendenzen, eher um verschiedene Facetten der „Ideologie<br />

der Ungleichwertigkeit“.<br />

3.2 Publikationen in Web of Science und PsycINFO<br />

Internationale Arbeiten, die sich dezidiert dem „<strong>Rechtsextremismus</strong>“, respektive<br />

„right-wing extremism“ widmen, sind rar. Zumindest ist die Suche danach nicht<br />

einfach. Der Grund dafür liegt auf der Hand und hat vor allem mit der schon mehrfach<br />

hervorgehobenen begrif ichen Diversität zu tun (vgl. auch Grumke, 2001,<br />

S. 18). Im angloamerikanischen Sprachraum wird besagtes Phänomen z. B. als<br />

radical right (Bell, 1963) benannt oder als extreme right (Ebata, 1997; Lipset &<br />

Raab, 1978), als racist right (Ridgeway, 1990), als far right (Coppola, 1996), oder<br />

als survivalist right (Lamy, 1996).<br />

In der Datenbank Web of Science sind für den Zeitraum 1990 bis 2013 immerhin<br />

171 wissenschaftliche Publikationen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> vermerkt<br />

(Suchbefehl: „right-wing extremism“) und ca. 360 zum Stichwort „racist right“.<br />

Dabei handelt es sich um politikwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und<br />

psychologische Arbeiten 20 , die u. a. a) Überblicksarbeiten darstellen (Lundberg,<br />

2011), b) sich u. a. mit den Persönlichkeitsprolen rechtsextremer Aktivisten beschäftigen<br />

und dabei auch auf die Funktion autoritärer Überzeugungen verweisen<br />

(Van Hiel, 2012), c) Deprivationserfahrungen, Anomie und Wertorientierungen als<br />

Prädiktoren für rechtsextreme Orientierungen thematisieren (z. B. Heyder & Gassner,<br />

2012), d) rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen und Parteien in<br />

Europa und Übersee behandeln (Arter, 2010; Guterl, 2008; Veugelers, 2000) und e)<br />

auf die Rolle von Online-Medien und Sozialen Netzwerken für rechtsextreme Bewegungen<br />

hinweisen (Caiani & Wagemann, 2009; Crilley, 2001; Holtz & Wagner,<br />

2009; Wojcieszak, 2011).<br />

20 Diese psychologischen Publikationen werden fast alle auch in der Datenbank PsycIN-<br />

FO aufgeführt.


68<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

In der englischsprachigen, psychologischen Datenbank PsycINFO nden sich<br />

für den Zeitraum 1990 bis 2013 unter dem Suchbegriff „right-wing extremism“<br />

nur 40 Publikationen, von denen wiederum 18 Arbeiten sich mit rechtsextremen<br />

Tendenzen in Deutschland beschäftigen (z. B. Frindte et al. 1996; Hagan et al.<br />

1999; Oesterreich 2005b). Erwähnenswert ist aber die Studie von Michael und<br />

Minkenberg (2007), in der rechtsextreme Tendenzen in den USA mit solchen in<br />

Deutschland verglichen werden.<br />

Die Recherche in PsycINFO wurde deshalb erweitert: Statt des Suchbefehls<br />

„right-wing extremism“ wurde in einem zweiten Schritt der Suchbegriff „Hate<br />

Crime“ gesucht. Die Suche mittels des Suchbefehls „Hate Crime“ hängt mit einer<br />

Orientierung der deutschen <strong>Rechtsextremismus</strong>-Forschung seit 2000 im Hinblick<br />

auf internationale Forschungen zusammen (vgl. auch Coester 2008; Jennes und<br />

Grattet 2002; Seehafer 2003).<br />

Auffallend ist zunächst, dass die Anzahl der Publikationen, die unter dem<br />

Schlagwort „Hate crime“ nachweisbar sind, nach 2001 stark ansteigt. Dieser Anstieg<br />

von psychologischen Arbeiten zum Stichwort „Hate Crime“ scheint mit einer<br />

Erweiterung dieses Forschungsfeldes verbunden zu sein. Nach 2001 werden unter<br />

dem Stichwort „Hate Crime“ – neben Überblicksarbeiten (z. B. Bleich 2007; Ellis<br />

und Hall 2010) – auch Publikationen aufgeführt, in denen fremdenfeindliche Gewalt<br />

(per de nitionem also <strong>Rechtsextremismus</strong>) gegenüber Arabern bzw. Muslimen<br />

untersucht (z. B. Disha et al. 2011) oder Täterpro le (McDevitt et al. 2002)<br />

erarbeitet werden. Diese Studien sind für die <strong>Rechtsextremismus</strong>-Forschung insofern<br />

interessant, weil sie zum einen die im deutschsprachigen Raum – zumindest<br />

für den Zeitraum von 2001 bis 2013 – vernachlässigte Gewaltdimension in den<br />

Blick nehmen und zum anderen auf die emotionale Beteiligung rechtsextremer<br />

Gewaltafnitäten aufmerksam machen (vgl. auch Backes, 2013; Schneider, 2001).<br />

4 Schlussfolgerungen<br />

Im Verlauf des Zeitraums von 2001 bis 2013 hat sich in den deutschen Sozialwissenschaften<br />

und der Psychologie durchaus ein differenziertes Forschungsfeld<br />

zum <strong>Rechtsextremismus</strong> entwickelt, a) das sich durch ein wissenschaftlich artikuliertes<br />

Problemverständnis auszeichnet (auch wenn hinsichtlich einer De nition<br />

dieses Problems, also des <strong>Rechtsextremismus</strong>, kein Konsens zu erkennen ist), b)<br />

sich auf empirisch bewährte theoretische Erklärungsansätze (zur Problemlösung)<br />

zu stützen vermag, c) mit wissenschaftlich bewährten und geeigneten Methoden<br />

bearbeitet wird und d) von etablierten und konkurrierenden Wissenschaftlergemeinschaften<br />

bestimmt wird.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

69<br />

Das so ausgezeichnete (bzw. wahrgenommene) Forschungsfeld zum <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

lässt sich in Anlehnung an Theo Herrmann (1979) durchaus als Domain-Programm<br />

bezeichnen 21 ; d. h. sozialwissenschaftliche und psychologische<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung fokussiert zunächst auf einen Problembereich, der<br />

als relevant und beobachtbar angesehen wird und für den geeignete theoretische<br />

Erklärungskonzeptionen gesucht werden.<br />

Als geeignet für eine derartige Suche bieten sich – wie bereits erwähnt – zumindest<br />

zwei Wege an: ein divergenter und/oder ein konvergenter Forschungsstil.<br />

Ein divergenter Forschungsstil stützt sich auf eine weitgehend empirisch bestätigte<br />

theoretische Konzeption. Eine solche Theorie-Konzeption ist der Interpretationsrahmen,<br />

aus dem sich die methodischen Entscheidungen zur Erforschung des jeweiligen<br />

„Untersuchungsgegenstandes“ ableiten lassen. Mit anderen Worten: Die<br />

Theorie-Konzeption liefert das Bezugssystem, um zu prüfen, ob die Ergebnisse<br />

der methodischen Entscheidungen inhaltlich valide sind. Darin liegt der Vorteil<br />

eines divergenten Forschungsstils.<br />

Aber auch die Nachteile ergeben sich daraus: Es lässt sich eben nur das empirisch<br />

erforschen, was im Rahmen der Theorie-Konzeption beobachtbar ist. Das,<br />

was nicht im Rahmen der dominierenden Theorie-Konzeption bestimmt ist (z. B.<br />

die Gewalt-Dimension als Teil des <strong>Rechtsextremismus</strong>-Konzepts), wird nicht beobachtet<br />

bzw. in Denitionskämpfen als nicht beobachtbar behauptet. Das heißt,<br />

dann, wenn divergente Forschungsstile ein Forschungsfeld dominieren, konkurrieren<br />

Wissenschaftlergemeinschaften um die „richtigen“ Sichtweisen auf den<br />

„Untersuchungsgegenstand“. Derartige De nitionskämpfe prägten u.E. auch die<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung im Zeitraum von 1990 bis 2000.<br />

Ein konvergenter Forschungsstil hat dagegen den Vorteil, offen für vielfältige<br />

Theorie-Konzeptionen zu sein, die sich zur Erklärung des „Untersuchungsgegenstandes“<br />

anbieten. Die Probleme dabei liegen allerdings auch in dieser Offenheit<br />

bzw. im notwendigen Referenzrahmen, innerhalb dessen eine systematische Aus-<br />

21 Domain-Programme lassen sich dadurch charakterisieren, dass bestimmte Problemfelder<br />

mit einem relativ stabilen (indisponiblen) Kern von Annahmen existieren, mit<br />

denen quasi Regeln vorgegeben werden, wie etwas verstanden werden soll. Derartige<br />

Regeln (oder Konstruktionen) sind weder wahr noch falsch. Als Beispiel: Wenn sich<br />

Sozialwissenschaftler dem Problemfeld oder dem Forschungsgebiet „<strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Fremdenfeindlichkeit“ zuwenden, dann bedeutet das, dass sie – implizit oder<br />

explizit – einen Komplex von Annahmen akzeptieren und verwenden, den man mit<br />

dem Etikett „<strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit“ beschreiben kann (vgl.<br />

auch Herrmann, 1979, S. 201). Dazu gehört u. a., dass es so etwas wie <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Fremdenfeindlichkeit gibt, dass <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit<br />

interindividuell variieren können, dass wir zu wenig über diese Variationen<br />

wissen, aber mehr darüber wissen sollten etc.


70<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

wahl der zu integrierenden Partial-Theorien möglich wird: In der o. g. „Konsensdenition“<br />

des <strong>Rechtsextremismus</strong>, an der sich u. a. die „Mitte-Studien“ (z. B.<br />

Decker et al., 2012) und die Erhebungen des „Thüringen-Monitor“ (Best & Salheiser,<br />

2012; Best et al., 2013) orientierten, wurden rechtsextreme Einstellungen<br />

durch sechs Dimensionen beschrieben („Befürwortung einer rechtsautoritären<br />

Diktatur“, „Chauvinismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Antisemitismus“, „Sozialdarwinismus“<br />

und „Verharmlosung des Nationalsozialismus“). Hinter jeder dieser<br />

Dimensionen stehen ganz unterschiedliche Theorie-Konzeptionen. Ein Kriterium<br />

bzw. ein übergeordneter Referenzrahmen für diese sechs (und nicht z. B. acht oder<br />

sechsundsechzig) Dimensionen lässt sich aus den Publikationen nicht entnehmen.<br />

Wie also weiter?<br />

1. Trotz der zahlreichen deutschsprachigen Überblicksarbeiten zur <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />

und der im Zeitraum von 2001 bis 2013 erfolgten theoretischen<br />

Integrationsbemühungen gibt es bisher keinen ernsthaften Versuch, die<br />

zahlreichen empirischen Befunde aus nicht minder zahlreichen Einzelstudien<br />

miteinander zu vergleichen. Im deutschsprachigen Bereich wurden zwischen<br />

1990 und 2013 mehr als 5.200 Arbeiten zum <strong>Rechtsextremismus</strong> publiziert.<br />

Davon sind schätzungsweise 30 Prozent empirische Studien. Aufgrund der<br />

Unbestimmtheit des <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriffs werden – aus unserer Sicht –<br />

die abhängigen und unabhängigen Variablen in diesen Studien sehr divers bestimmt<br />

und operationalisiert. Notwendig wäre deshalb eine fundierte und professionelle,<br />

empirisch gestützte Metastudie.<br />

2. Wenn sich die deutsche <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung im Zeitraum 2001 bis<br />

2013 vorrangig als Domain-Programm mit konvergentem Forschungsstil zu<br />

etablieren suchte, ein Referenzrahmen bzw. ein Kriterium für die Auswahl der<br />

zu integrierenden Theorie-Ansätze aber offenbar nicht eindeutig zu erkennen<br />

ist, dann ist zu fragen, ob und wie sich sozialwissenschaftliche bzw. psychologische<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>-Studien künftig etablieren können. Ein Weg könnte<br />

darin bestehen, die Dimension der Gewalt nicht aus dem Auge zu verlieren und<br />

die Befunde der vor allem angloamerikanischen „Hate Crime“-Forschung zu<br />

berücksichtigen. Dies hätte auch den Vorteil, emotionale Komponenten rechtsextremer<br />

Tendenzen in der Forschung stärker zu berücksichtigen. Damit ließen<br />

sich rechtsextreme Tendenzen tatsächlich auf der Basis der sozialpsychologischen<br />

Einstellungsforschung und dem klassischen „Dreikomponenten-Modell“<br />

von Rosenberg und Mitarbeitern (1960) folgend hinsichtlich ihrer kognitiven,<br />

affektiven und konativen Komponenten erforschen. Das heißt, mit dieser Konsequenz<br />

wird für die Rückbesinnung auf die ursprünglich von Heitmeyer und<br />

Mitarbeitern (1992) vorgeschlagene <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition plädiert. In


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

71<br />

dieser Denition (s. o.) wird <strong>Rechtsextremismus</strong> als Komplex aus einer Ideologie<br />

der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der Gewaltaf nität (bis hin<br />

zu gewalttätigem Handeln) verstanden. Beide Dimensionen werden durch Subdimensionen<br />

mit verschiedenen Facetten untergliedert und operationalisiert.<br />

Für weitere Forschungen ließen sich für die Operationalisierung der Ideologie<br />

der Ungleichwertigkeit die im Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit<br />

untersuchten Einstellungselemente bzw. -facetten nutzen. Zur Erforschung<br />

der Gewaltdimension wären die Ergebnisse der o. g. „Hate-Crime“-Forschung<br />

einzubeziehen. Und die mittlerweile umfangreiche Forschung zu „Intergroup<br />

Emotions“ (z. B. Mackie, Smith & Ray, 2008) böte genügend Ansätze, um die<br />

emotionale Komponente genauer zu bestimmen.<br />

3. Wie weiter oben schon gewürdigt, ist der Zugang, den Thomas Grumke (2011)<br />

wählt, um sich begrifich dem <strong>Rechtsextremismus</strong> über den Vergleich mit dem<br />

Fundamentalismus zu nähern, gar nicht so abwegig. Fundamentalismus und<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> sind antimodern und modern zugleich. Antimodern sind<br />

die Inhalte, modern ihre Organisationsformen. Heinrich Schäfer (2008) macht<br />

einen interessanten Vorschlag, um auch von einem Fundamentalismus im „säkularen<br />

Gewande“ sprechen zu können. Er schlägt einen „formalen Fundamentalismusbegriff“<br />

vor, um „sowohl religiöse als auch säkulare Bewegungen auf<br />

Fundamentalismus hin überprüfen“ (Schäfer, 2008, S. 24) zu können. Gemäß<br />

dieser Denition ist „eine soziale beziehungsweise religiöse Bewegung dann<br />

fundamentalistisch, wenn sie: 1. ihre spezische religiöse, ethnische oder ideologische<br />

Orientierung absolut setzt – gleich ob es sich um die Bibel, den Koran,<br />

den Mahdi, den Heiligen Geist, das serbische Volk, das Ariertum, den Markt<br />

oder sonst etwas handelt und 2. expansiv um die Kontrolle eines ihr übergeordneten<br />

gesellschaftlichen Machtzentrums kämpft“ (Schäfer, 2008). Antimoderne<br />

Inhalte (im religiösen Fundamentalismus ist das z. B. die absolute Geltung<br />

religiöser Gebote und Verbote; im <strong>Rechtsextremismus</strong> z. B. die Verabsolutierung<br />

von „Rasse“ oder „Nation“) werden – und auch darauf hat Grumke (2011)<br />

verwiesen – durch den Rückgriff auf religiöse und politische Mythen legitimiert,<br />

mittels moderner Organisations- und Kommunikationsformen transportiert<br />

und durch Gewalt oder Gewaltandrohung durchgesetzt.<br />

4. Wird <strong>Rechtsextremismus</strong> als fundamentalistische Ideologie beschrieben, so<br />

bieten auch die zahlreichen (sozial-) psychologischen Studien, in denen nach<br />

Prädiktoren für fundamentalistische Einstellungen gefahndet wird, profunde<br />

Hinweise für entsprechende <strong>Rechtsextremismus</strong>-Studien (vgl. z. B. die Metaanalyse<br />

von McCleary, Quillivan, Foster & Williams, 2011).<br />

5. Um den Ausgangspunkt und einen theoretischen Rahmen zu nden, mit denen<br />

eine (und nicht ausschließliche) Fokussierung auf neue Fragestellungen in der


72<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung möglich ist, lohnt sich ein Blick auf die weiter<br />

oben formulierte Vermutung über die zwei Forschungsperspektiven in den<br />

Zeiträumen 1990 bis 2000 bzw. von 2001 bis 2013: In beiden Dekaden (1990<br />

bis 2000 und 2001 bis 2013) wurden rechtsextreme Tendenzen nicht nur unter<br />

dem Bedrohungsaspekt untersucht und erklärt (wahrgenommene Bedrohung<br />

und Desintegration z. B. durch gesellschaftliche und ökonomische Umbrüche<br />

und Modernisierungsprozesse als mögliche Bedingungen für rechtsextreme<br />

Tendenzen, bzw. Bedrohungspotentiale, die vom <strong>Rechtsextremismus</strong> ausgehen),<br />

sondern auch die Identitätsproblematik spielte eine zentrale Rolle; etwa<br />

wenn auf das Identi kationspotential der rechtsextremen Gruppierungen, Milieus<br />

oder Bewegungen verwiesen wird. Ausgehend vom Konzept der sozialen<br />

bzw. kollektiven Identität könnte ein möglicher Referenzrahmen markiert werden,<br />

innerhalb dessen der missing link zu nden ist, durch den makro-, mesound<br />

mikrosoziale Bedingungen vermittelt auf rechtsextreme Ideologien und die<br />

damit verbundenen Gewaltpotentiale Einuss nehmen.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

73<br />

Literatur<br />

Adorno, T.W., Frenkel-Brunswik, E., Levinson, D.J. & Sanford, R.N. (1950). The authoritarian<br />

personality. New York: Harper & Row.<br />

Ahlheim, K. (2007). Prävention von <strong>Rechtsextremismus</strong>, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.<br />

In W. Sander (Hrsg.). Handbuch politische Bildung (S. 379 – 391). Bonn:<br />

Bundeszentrale für politische Bildung.<br />

Ajzen, I. & Fishbein, M. (1980). Understanding Attitudes and Predicting Social Behavior.<br />

New York: Prentice-Hall, Inc.<br />

Altemeyer, B. (1981). Right-wing authoritarianism. Canada: University of Manitoba Press.<br />

Altemeyer, B. (1988). Enemies of freedom: Understanding Right-Wing Authoritarianism.<br />

San Francisco: Jossey-Bass.<br />

Altemeyer, B. (1996). The authoritarian specter. Harvard: Cambridge Univ Press.<br />

Altemeyer, R. (1998). The other “authoritarian personality”. Advances in Experimental Social<br />

Psychology, 30, 47 – 92.<br />

Altemeyer, B. (2004). The Other ‘Authoritarian Personality’. In J. T. Jost, J. Sidanius (Eds.),<br />

Political psychology: Key readings (S. 85 – 107). New York, NY US: Psychology Press.<br />

Anderson, C. A., Deuser, W.E. & DeNeve, K. M. (1995). Hot temperatures, hostile affect,<br />

hostile cognition, and arousal: Tests of a general model of affective aggression. Personality<br />

and Social Psychology Bulletin, 21(5), 434 – 448.<br />

Arter, D. (2010). The Breakthrough of Another West European Populist Radical Right Party?<br />

The Case of the True Finns. Government and Opposition, 45, 4, 484 – 504.<br />

Arzheimer, K. & Falter, J. W. (2002). Die Pathologie des Normalen. Eine Anwendung des<br />

Scheuch-Klingemann-Modells zur Erklärung rechtsextremen Denkens und Verhaltens.<br />

In D. Fuchs, E. Roller & B. Weßels (Hrsg.). Bürger und Demokratie in Ost und West.<br />

Studien zur politischen Kultur und zum politischen Prozess. Festschrift für Hans-Dieter<br />

Klingemann (S. 85 – 107). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Asbrock, F., Christ, O., Duckitt, J., & Sibley, C. G. (2012a). Differential effects of intergroup<br />

contact for authoritarians and social dominators: A dual process model perspective. Personality<br />

and Social Psychology Bulletin, 38(4), 477 – 490.<br />

Asbrock, F., Kauff, M., Issmer, Chr., Christ, O., Pettigrew, T.F. & Wagner, U. (2012b). Kontakt<br />

hilft – auch wenn die Politik es nicht immer leichtmacht. In W. Heitmeyer (Hrsg.),<br />

Deutsche Zustände 12. Berlin: Suhrkamp.<br />

Aschwaden, D. (1995). Jugendlicher <strong>Rechtsextremismus</strong> als gesamtdeutsches Problem. Baden-Baden:<br />

Nomos.<br />

Backes, U. & Jesse, E. (1993). Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Köln: Verlag Wissenschaft und Politik.<br />

Backes, U. (1989). Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente<br />

einer normativen Rahmentheorie. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Backes, U. (Hrsg.) (2003). Rechtsextreme Ideologien in Geschichte und Gegenwart. Köln:<br />

Böhlau Verlag.<br />

Backes, U. (2006). Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike<br />

bis zur Gegenwart. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.<br />

Backes, U. (2013). Rechtsextremistische Gewalt in Europa – Qualitative und quantitative<br />

Bedrohungsdimensionen. In G. Hirscher & E. Jesse (Hrsg.). Extremismus in Deutschland.<br />

Baden-Baden: Nomos.


74<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Bandura, A. (1979). Aggression. Eine sozial-lerntheoretische Analyse. Stuttgart: Klett-Cotta.<br />

Baumgärtner, M. & Böttcher, M. (2012). Das Zwickauer Terror-Trio: Ereignisse, Szene,<br />

Hintergründe. Berlin : Das Neue Berlin.<br />

Bayer, J. (2002). Rechtspopulismus und <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostmitteleuropa. Österreichische<br />

Zeitschrift für Politikwissenschaft. 31, 2002, 265 – 280.<br />

Beck,U. (1986). Risikogesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.<br />

Beck, U., Giddens, A. & Lash, S. (1996). Re exive Moderne – Eine Kontroverse. Frankfurt<br />

a.M.: Suhrkamp.<br />

Becker, R. & Palloks, K. (2013). Jugend an der roten Linie. Analysen von und Erfahrungen<br />

mit Interventionsansätzen zur <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag.<br />

Bell, D. (Ed.) (1963). The radical right, The new American right expanded and updated.<br />

Garden City, N.Y.: Doubleday.<br />

Benjamin, A. R. (2006). The relationship between right-wing authoritarianism and attitudes<br />

toward violence: Further validation of the Attitudes Toward Violence Scale. Social Behavior<br />

And Personality, 34(8), 923 – 926.<br />

Benz, W. (Hrsg.) (1994). <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland. Voraussetzungen, Zusammenhänge,<br />

Wirkungen. Frankfurt a.M.: Fischer.<br />

Best, H., Dwars, D., Salheiser, A. & Salomo, K. (2013). „Wie leben wir? Wie wollen wir<br />

leben?“ – Zufriedenheit, Werte und gesellschaftliche Orientierungen der Thüringer Bevölkerung;<br />

Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2012. Online verfügbar unter www.thueringen.de/imperia/md/content.<br />

Best, H. & Salheiser, A. (2012). Politische Kultur im Freistaat Thüringen. Thüringen International:<br />

Weltoffenheit, Zuwanderung und Akzeptanz; Ergebnisse des Thüringen-Monitors<br />

2012. Online verfügbar unter www.thueringen.de/imperia/md/content/tsk/th__ringen-monitor_2012_mit_anhang.pdf.<br />

Birsl, U. (1994). <strong>Rechtsextremismus</strong>: weiblich – männlich? Opladen: Leske + Budrich.<br />

Birsl, U. (2012). Frauen in der rechtsextremistischen Szene. In Bundeskriminalamt (Hrsg.),<br />

Bekämpfung des <strong>Rechtsextremismus</strong>. Köln: Luchterhand.<br />

Birsl, U., Busche-Baumann, M., Bons, J. & Kurzer, U. (1995). Jugendlicher <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Gewerkschaften, Lebensverhältnisse und politische Orientierungen von Auszubildenden.<br />

Opladen: Leske + Budrich.<br />

Birzer, M. (1996). <strong>Rechtsextremismus</strong> – Denitionsmerkmale und Erklärungsansätze. In J.<br />

Mecklenburg (Hrsg.), Handbuch deutscher <strong>Rechtsextremismus</strong>. Berlin: Elefanten-Press.<br />

Bleich, E. (2007). Hate crime policy in Western Europe: Responding to racist violence in<br />

Britain, Germany, and France. American Behavioral Scientist, 51(2), 149 – 165.<br />

Boehnke, K., Fuß, D., & Hagan, J. (2002). Jugendgewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>- Soziologische<br />

und psychologische Analysen in internationaler Perspektive. In K. Boehnke, D.<br />

Fuß, J. Hagan (Hrsg.), Jugendgewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Soziologische und psychologische<br />

Analysen in internationaler Perspektive (S. 7 – 20). Weinheim: Juventa.<br />

Boehnke, K., Hagan, J., & Merkens, H. (1998). Right-wing extremism among German adolescents:<br />

Risk factors and protective factors. Applied Psychology: An International Review,<br />

47(1), 109 – 126.<br />

Bohnsack, R., Loos, P., Schäffer, B., Städtler, K. & Wild, B. (1995). Die Suche nach Gemeinsamkeit<br />

und die Gewalt der Gruppe. Opladen: Leske + Budrich.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

75<br />

Bommes, M. & Scherr, A. (1992). <strong>Rechtsextremismus</strong>: Ein Angebot für ganz gewöhnliche<br />

Jugendliche. In J. Mansel (Hrsg.), Reaktionen Jugendlicher auf gesellschaftliche Bedrohung.<br />

Untersuchungen zu ökologischen Krisen (S. 210-227). Weinheim: Juventa.<br />

Bornewasser, M. (1994). Arbeitsgruppe: Fremdenfeindlichkeit – Ursachen und Veränderungsmöglichkeiten.<br />

In A. Thomas (Hrg.). Psychologie und mul tikulturelle Gesellschaft.<br />

Göttingen, Stuttgart: Hogrefe.<br />

Borstel, D & Wagner, B. (2006). Chancen und Grenzen der Maßnahmen gegen rechtsextreme<br />

Gewalt. Prävention und Intervention. In W. Heitmeyer & M. Schröttle (Hrsg .).<br />

Gewalt. Beschreibungen, Analysen, Prävention (S. 469 – 482). Bonn: Bundeszentrale<br />

für politische Bildung.<br />

Borstel, D. (2012). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Demokratieentwicklung in Ostdeutschland. In<br />

W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände (S. 246 – 260). Folge 10, Berlin: Suhrkamp.<br />

Braun, St. & Hörsch, D. (Hrsg.) (2004). Rechte Netzwerke – eine Gefahr . Wiesbaden: VS<br />

Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Braun, St., Geisler, A. & Gerster, M. (Hrsg.) (2009). Strategien der extremen Rechten. Hintergründe,<br />

Analysen, Antworten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Braun, R. & Koopmans, R. (2010). The Diffusion of Ethnic Violence in Germany: The Role<br />

of Social Similarity. European Sociological Review, 26, 1, 111 – 123.<br />

Bronfenbrenner, U. (1979). The ecology of human development: Experiment by nature and<br />

design. Cambridge: Harvard University Press.<br />

Brosius, H.B. (2002). Zwischen Eskalation und Verantwortung. Die Berichterstattung<br />

über fremdenfeindliche Gewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>. In D. Wiedemann (Hrsg.), Die<br />

rechtsextreme Herausforderung. Schriften zur Medienpädagogik (S. 204 – 214). Bielefeld:<br />

AJZ-Druck & Verlag.<br />

Brosius, H.B. & Esser, F. (1996). Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt. In J. W.<br />

Falter, H.-G. Jaschke & J. R. Winkler (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong>. Ergebnisse und Perspektiven<br />

der Forschung. (S. 204 – 220). Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Brosius, H.B. & Scheufele, B. (2001). Berichterstattung und fremdenfeindliche Straftaten.<br />

Zeitschrift für Politische Psychologie, 9(2+3), 99 – 113.<br />

Brown, T.S. (2004). Subcultures, pop music and politics: Skinheads and “Nazi rock” in<br />

England and Germany. Journal of Social History, 38, 1, 157.<br />

Büchel, F., Glück, J., Hoffrage, U., Stanat, P. & Wirth, J. (Hrsg.) (2009). Fremdenfeindlichkeit<br />

und Gewalt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Bugiel, B. (2002). <strong>Rechtsextremismus</strong> Jugendlicher in der DDR und in den neuen Bundesländern<br />

von 1982 – 1998. Münster: LIT.<br />

Bundeskriminalamt (2012). Bekämpfung des <strong>Rechtsextremismus</strong>. Eine gesellschaftliche<br />

Herausforderung. Köln: Luchterhand.<br />

Burkert, M. (2012). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Ausländerfeindlichkeit. In D. Sturzbecher, A.<br />

Kleeberg-Niepage & L. Hoffmann (Hrsg.). Aufschwung Ost? Wiesbaden: Springer VS.<br />

Busch, Ch. (2005). Rechtsradikale Vernetzung im Internet. WeltTrends, 45, 13, 67 – 78.<br />

Butterwegge, C. (2000). Entschuldigung oder Erklärung für <strong>Rechtsextremismus</strong>, Rassismus<br />

und Gewalt? In C. Butterwegge & G. Lohmann (Eds.), Jugend, <strong>Rechtsextremismus</strong> und<br />

Gewalt. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Butterwegge, C. & Lohmann, Chr. (Hrsg.) (2001). Jugend, <strong>Rechtsextremismus</strong> und Gewalt.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Butterwegge, C. (2010). Die Entsorgung des <strong>Rechtsextremismus</strong>. Blätter für deutsche und<br />

internationale Politik, Heft 1/2010, 12 – 15.


76<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Butz, P., & Boehnke, K. (1997). Auswirkungen von ökonomischem Druck auf die psychosoziale<br />

Bendlichkeit von Jugendlichen: Zur Bedeutung von Familienbeziehungen und<br />

Schulniveau. Zeitschrift für Pädagogik, 43(1), 79 – 92.<br />

Caiani, M. & Wagemann, C. (2009). ONLINE NETWORKS OF THE ITALIAN AND<br />

GERMAN EXTREME RIGHT An explorative study with social network analysis. Information,<br />

Communication & Society, 12, 1, 66 – 109.<br />

Christ, O. & Wagner, U. (2008). Interkulturelle Kontakte und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.<br />

In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände 6. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.<br />

Coester, M. (2008). Hate Crimes. Das Konzept der Hate Crimes aus den USA unter besonderer<br />

Berücksichtigung des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland. Frankfurt a.M.: Peter<br />

Lang.<br />

Coester, M. & Gossner, U. (2002). <strong>Rechtsextremismus</strong> – Herausforderung für das neue<br />

Millenium. Wirklichkeiten eines Jugendphänomens. Marburg: Tectum Verlag.<br />

Cohrs, J., Moschner, B., Maes, J., & Kielmann, S. (2005). The motivational bases of rightwing<br />

authoritarianism and social dominance orientation: Relations to values and attitudes<br />

in the aftermath of September 11, 2001. Personality and Social Psychology Bulletin,<br />

31(10), 1425 – 1434.<br />

Cohrs, J., & Asbrock, F. (2009). Right-wing authoritarianism, social dominance orientation<br />

and prejudice against threatening and competitive ethnic groups. European Journal Of<br />

Social Psychology, 39(2), 270 – 289.<br />

Coppola, V. (1996). Dragons of God: A Journey through Far Right America. Marietta, Ga.:<br />

Longstreet Press.<br />

Cornelis, I., & Van Hiel, A. (2006). The impact of cognitive styles on authoritarianism<br />

based conservatism and racism. Basic and Applied Social Psychology, 28(1), 37 – 50.<br />

Crilley, K. (2001). Information warfare: new battle elds – Terrorists, propaganda and the<br />

Internet. Aslib Proceedings, 53, 7, 250 – 264.<br />

Dalbert, C. (1993). Psychisches Wohlbe nden und Persönlichkeit in Ost und West: Vergleich<br />

von Sozialisationseffekten in der früheren DDR und der alten BRD. Zeitschrift für<br />

Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 13, 82 – 94.<br />

Dalbert, C., Zick, A. & Krause, D. (2010). Die Leute bekommen, was ihnen zusteht. Der<br />

Glaube an eine gerechte Welt und die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In W.<br />

Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände 10, Berlin: Suhrkamp.<br />

Daniels, J. (2013). Race and racism in internet studies: A review and critique. New Media &<br />

Society, Vol 15(5), Aug, 2013, 695 – 719.<br />

Decker, O., Brähler, E. & Geißler, N. (2006). Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellung<br />

und ihre Ein ussfaktoren in Deutschland. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Decker, O. & Brähler, E. (2008). Bewegung in der Mitte. Rechtsextreme Einstellungen in<br />

Deutschland 2008. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Decker, O., Weißmann, M., Kiess, J. & Brähler, E. (2010). Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme<br />

Einstellungen in Deutschland 2010. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2012). Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen<br />

in Deutschland 2012. Bonn: Dietz. Online verfügbar unter http://www.fes-gegenrechtsextremismus.de/pdf_12/ergebnisse_mitte_studie_2012.pdf.<br />

Della Porta, D. (1992). Spirals of revenge: Biographical accounts of left-wing and rightwing<br />

radicals in Italy. Politics & The Individual, 2(2), 87 – 98.<br />

Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) (1995). Gewalt gegen Fremde. Wiesbaden: Westdeutscher<br />

Verlag.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

77<br />

Disha, I., Cavendish, J. C., & King, R. D. (2011). Historical events and spaces of hate: Hate<br />

crimes against Arabs and Muslims in post-9/11 America. Social Problems, 58(1), 21 – 46.<br />

Dobratz, B. A. (1996). Review of ‘American skinheads: The criminology and control of hate<br />

crime’. Journal of Criminal Justice, 24(6), 563 – 565.<br />

Döring, U. (2008). Angstzonen. Rechtsdominierte Orte aus medialer und lokaler Perspektive.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Dollase, R. (2002). Der Zuschauereffekt. In D. Wiedemann (Hrsg.), Die rechtsextreme Herausforderung.<br />

Schriften zur Medienpädagogik (215 – 223). Bielefeld: AJZ-Druck &<br />

Verlag.<br />

Druwe, U. (1996). „<strong>Rechtsextremismus</strong>“. Methodologische Bemerkungen zu einem politikwissenschaftlichen<br />

Begriff. In J.W. Falter, H.-G. Jaschke, J.R. Winkler (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Politische Vierteljahresschrift,<br />

Sonderheft 27, 66 – 80.<br />

Duck, R. J., & Hunsberger, B. (1999). Religious orientation and prejudice: The role of religious<br />

proscription, right-wing authoritarianism and social desirability. International<br />

Journal for the Psychology of Religion, 9(3), 157 – 179.<br />

Dunbar, E., & Simonova, L. (2003). Individual difference and social status predictors of<br />

anti-Semitism and racism US and Czech ndings with the prejudice/tolerance and right<br />

wing authoritarianism scales. International Journal Of Intercultural Relations, 27(5),<br />

507 – 523.<br />

Dünkel, F. & Geng, B. (Hrsg.) (1999): <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit -Bestandsaufnahme<br />

und Interventionsstrategien. Bonn, Bad Godesberg: Forum Verlag<br />

Godesberg.<br />

Ebata; M. (1997). Right-wing extremism: In search of a denition. In A. Braun & St. Scheinberg<br />

(Eds.), The extreme right: freedom and security at risk. USA: Westview Press.<br />

Eckert, R. & Willems, H. (1996). Fremdenfeindliche Gewalt – Eine historische Emergenz?<br />

In W. Edelstein & D. Sturzbecher (Hrsg.), Jugend in der Krise. Ohnmacht der Institutionen<br />

(S. 95 – 130). Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg.<br />

Edinger, M. (2010). <strong>Rechtsextremismus</strong> und politische Entfremdung. Expertise für das Thüringer<br />

Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit. Jena; verfügbar unter: http://<br />

www.freistaat-thueringen.de/imperia/md/content/kostg/anlage_gef__hrdungen_der_demokratischen_kultur_in_th__ringen.pdf<br />

(25.2.2014.)<br />

Eisenstadt, S. (1998). Die Antinomien der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.<br />

Ellis, T., & Hall, N. (2010). Hate crime. In J. M. Brown, E. A. Campbell (Eds.), The Cambridge<br />

handbook of forensic psychology (S. 511 – 519). New York, NY US: Cambridge<br />

University Press.<br />

Elverich, G. (2011). Demokratische Schulentwicklung. Potenziale und Grenzen einer<br />

Handlungsstrategie gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Entman, R. M. (1993). Framing: Toward clari cation of a fractured paradigm. Journal of<br />

Communication, 43(4), 51 – 58.<br />

Erb, R. (2002). Die Fortsetzung des nationalsozialistischen Krieges mit anderen Mitteln? In<br />

D. Wiedemann (Hrsg.), Die rechtsextreme Herausforderung. Schriften zur Medienpädagogik<br />

(S. 237 – 245). Bielefeld: AJZ-Druck & Verlag.<br />

Esser, F., Scheufele, B. & Brosius, H.-B. (2002). Fremdenfeindlichkeit als Medienthema<br />

und Medienwirkung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.


78<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Ettrich, K.U. Krause, R. & Jahn, H.-U. (1995). Gewaltbereitschaft Jugendlicher in Abhängigkeit<br />

von Lebenslage, Bewertung des sozialen Wandels und Einstellungs- und Selbstkonzeptmerkmalen.<br />

In E. Witruk, G. Friedrich, B. M. Sabisch & D. M. Kotz (Hrsg.).<br />

Pädagogische Psychologie im Streit um ein neues Selbstverständnis. Bericht über die<br />

5. Tagung der Fachgruppe Pädagogische Psychologie in der Deutschen Gesellschaft für<br />

Psychologie e.V. in Leipzig 1995 (S. 560 – 569), Landau: Verlag Empirische Pädagogik.<br />

Falter, J.W. (1994). Wer wählt rechts? Die Wähler und Anhänger rechtsextremistischer Parteien<br />

im vereinigten Deutschland. München: Beck.<br />

Falter, J. W., Jaschke, H.-G. & Winkler, J. R. (Hrsg.) (1996). <strong>Rechtsextremismus</strong>. Ergebnisse<br />

und Perspektiven der Forschung. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Falter, M. (2013). Gegen-Aufklärung im Namen der Ordnung. Grundlagen und Konsequenzen<br />

des Extremismuskonzepts. In I. Schmincke & J. Siri (Hrsg.), NSU Terror. Ermittlungen<br />

am rechten Abgrund. Bielefeld: transcript Verlag.<br />

Farin, K. & Seidel-Pielen, E. (1993a). „Ohne Gewalt läuft nichts!“- Jugend und Gewalt in<br />

Deutschland. Köln: Bund-Verlag.<br />

Farin, K. & Seidel-Pielen, E. (1993b). Skinheads. München: Beck.<br />

Feather, N. T., & McKee, I. R. (2012). Values, right wing authoritarianism, social dominance<br />

orientation, and ambivalent attitudes toward women. Journal of Applied Social<br />

Psychology, 42(10), 2479 – 2504.<br />

Fischer, S. (2006). <strong>Rechtsextremismus</strong> bei Jugendlichen. Eine kritische Diskussion von Erklärungsansätzen<br />

und Interventionsmustern in pädagogischen Handlungsfeldern. Oldenburg:<br />

Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für Bildung und Kommunikation in<br />

Migrationsprozessen (IBKM) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Nr. 23.<br />

Ford, T. E., Brignall, T., Van Valey, T. L., & Macaluso, M. J. (2009). The unmaking of<br />

prejudice: How Christian beliefs relate to attitudes toward homosexuals. Journal for the<br />

Scienti c Study of Religion, 48(1), 146 – 160.<br />

Forster, R. (2002). Von der Ausgrenzung zur Gewalt. <strong>Rechtsextremismus</strong> und Behindertenfeindlichkeit<br />

– eine soziologisch-sonderpädagogische Annäherung. Rieden: Julius<br />

Klinkhardt.<br />

Forum für kritische <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung (2011). Ordnung. Macht. Extremismus –<br />

Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Förster, P., Friedrich, W., Müller, H. & Schubarth, W. (1993). Jugend Ost: Zwischen Hoffnung<br />

und Gewalt. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Frege, G. (1998). Grundgesetze der Arithmetik. Jena 1893–1903. Band II (Nachdruck). Hildesheim:<br />

Olms.<br />

Friedrich, W. (1992). Über Ursachen der Ausländerfeindlichkeit und rechtsex tremer Verhaltensweisen<br />

in den neuen Bundesländern. In: Ausländerfeind lichkeit und rechtsextreme<br />

Orientierungen bei der ostdeutschen Jugend. Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Leipzig.<br />

Friedrich, W. (1993). Einstellungen zu Ausländern bei ostdeutschen Jugendlichen. „Autoritäre<br />

Persönlichkeit“ als Stereotyp. In H-U. Otto & R. Merten (Hrsg.). Rechtsradikale<br />

Gewalt im vereinigten Deutschland. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Frindte, W. (1998). Soziale Konstruktionen. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Frindte, W., Jabs, K. & Neumann, J. (1992). Sozialpsychologische Bendlichkeiten von Jugendlichen<br />

in den neuen Bundesländern unter besonderer Berücksichtigung rechtsextremer<br />

Tendenzen. Geschichte, Politik und ihre Didaktik. Zeitschrift für historisch-politische<br />

Bildung., 20(3/4), 235 – 243.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

79<br />

Frindte, W. & Neumann, J. (Hrsg.). (2002). Fremdenfeindliche Gewalttäter: Biogra en und<br />

Tatverläufe. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Frindte, W. (Hrsg.) (1993). Jugendlicher <strong>Rechtsextremismus</strong> und Gewalt zwischen Mythos<br />

und Wirklichkeit. Münster: LIT.<br />

Frindte, W. (1998). Soziale Konstruktionen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.<br />

Frindte, W. (Hrsg.) (1999). Fremde Freunde Feindlichkeiten – Sozialpsychologische Untersuchungen.<br />

Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Frindte, W. (2013). Rezension zu: Gerhard Hirscher, Eckhard Jesse (Hrsg.): Extremismus in<br />

Deutschland. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2013. 608 Seiten. In: socialnet<br />

Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/14825.php.<br />

Frindte, W., Funke, F., & Waldzus, S. (1996). Xenophobia and right-wing-extremism in<br />

German youth groups – some evidence against unidimensional misinterpretations. International<br />

Journal of Intercultural Relations, 20(3-4), 463 – 478.<br />

Frindte, W., Funke, F., Jabs, K., Neumann, J., Sinnig, K. & Stock, S. (1994). Soziale Konstruktionen<br />

der Fremdenfeindlichkeit und des <strong>Rechtsextremismus</strong>. In A. Thomas (Hrsg.),<br />

Psychologie und multikulturelle Gesellschaft. Problemanalysen und Problemlösungen<br />

(S. 129 – 140). Göttingen, Stuttgart: Verlag für Angewandte Psychologie.<br />

Frindte, W., Neumann, J., Hieber, K., Knote, A., & Müller, C. (2001). <strong>Rechtsextremismus</strong> =<br />

„Ideologie plus Gewalt“ – Wie ideologisiert sind rechtsextreme Gewalttäter?. Zeitschrift<br />

Für Politische Psychologie, 9(2-3), 81 – 98.<br />

Frindte, W., Jacob, S., & Neumann, J. (2002). Wie das Internet benutzt wird: Rechtsextreme<br />

Orientierung von Schuljugendlichen und ihr Umgang mit neuen Medien. In D. Wiedemann<br />

(Hrsg.), Die rechtsextreme Herausforderung. Jugendarbeit und Öffentlichkeit<br />

zwischen Konjunkturen und Konzepten (S. 93 – 105). Bielefeld: Gesellschaft für Medienpädagogik<br />

und Kommunikationskultur in der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Frindte, W. & Preiser, S. (2007). Präventionsansätze gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>. Aus Politik<br />

und Zeitgeschichte, Heft 11, 32 – 38.<br />

Frindte, W., & Haußecker, N. (2010). Inszenierter Terrorismus . Wiesbaden. VS Verlag für<br />

Sozialwissenschaften.<br />

Frindte, W. & Geschke, D. (2014). When religion turns into ideology – a socio-psychological<br />

analysis on the base of a longitudinal survey study. Unveröffentlichtes Manuskript.<br />

Jena.<br />

Fromm, R. & Kernbach, B. (2002). <strong>Rechtsextremismus</strong> – ein Männerphänomen. In D. Wiedemann<br />

(Hrsg.), Die rechtsextreme Herausforderung. Schriften zur Medienpädagogik .<br />

Bielefeld: AJZ-Druck & Verlag.<br />

Fromm, R. & Kernbach, B. (2001). <strong>Rechtsextremismus</strong> im Internet. München: Olzog.<br />

Fuchs, A. (2002). Rechtsextreme Orientierung. Gewaltakzeptanz und Gewalttätigkeit bei<br />

Schülerinnen und Schülern aus Erfurter Regelschulen. In K. Boehnke, D. Fuß, J. Hagan<br />

(Hrsg.), Jugendgewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Soziologische und psychologische Analysen<br />

in internationaler Perspektive (S. 239 – 256). Weinheim: Juventa.<br />

Fuchs, M. (2003). <strong>Rechtsextremismus</strong> von Jugendlichen. Zur Erklärungskraft verschiedener<br />

theoretischer Konzepte. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,<br />

Heft 4, Jg. 55, 654 – 678.<br />

Fuchs, Ch. & Goetz, J. (2012). Die Zelle: Rechter Terror in Deutschland. Hamburg: Rowohlt.<br />

Funk, P., & Weiß, H. (1995). Ausländer als Medienproblem?: Thematisierungseffekte der<br />

Medienberichterstattung über Ausländer, Asyl und <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland.<br />

Media Perspektiven, 1, 21 – 29.


80<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Funke, F., Frindte, W., Jacob, S. & Neumann, J. (1999). Rechtsextreme Wirklichkeitskonstruktionen.<br />

In W. Frindte (Hrsg.), Fremde Freunde Feindlichkeiten – Sozialpsychologische<br />

Untersuchungen (S. 70 – 82). Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Funke, F. (2002). Die dreidimensionale Struktur von Autoritarismus . Friedrich-Schiller-<br />

Universität Jena: Unveröffentlichte Dissertation.<br />

Gabriel, R., Grastorf, I., Lakeit, T., Wandt, L. & Weyand, D. (2004). Futur Exakt. Jugendkultur<br />

in Oranienburg zwischen rechtsextremer Gewalt und demokratischem Engagement.<br />

Berlin: Verlag Hans Schiler.<br />

Gamper, M.& Willems, H. (2006). Rechtsextreme Gewalt – Hintergründe, Täter und Opfer.<br />

In W. Heitmeyer & M. Schröttle (Hrsg.). Gewalt. Beschreibungen, Analysen, Prävention<br />

(S. 439 – 461). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.<br />

Geißler, N., Brähler, E., Decker, O., & Rothe, K. (2007). Rechtsextreme Einstellung in<br />

Deutschland 2006 – Ergebnisse einer Repräsentativbefragung. Psychosozial, 30(3),<br />

107 – 118.<br />

Geng, B. (1998). Fremdenfeindliche und rechtsextreme Orientierungen, Gewaltakzeptanz<br />

und Gewalterfahrungen – Befunde einer Schülerstudie. In F. Dünkel & B. Geng (Hrsg.),<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit. Bestandsaufnahme und Interventionsstrategien<br />

(S. 237 – 264). Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg.<br />

Gensing, P. (2012). Terror von Rechts. Die Nazi-Morde und das Versagen der Politik. Berlin:<br />

Rotbuch Verlag.<br />

Geschke, D., Sassenberg, K., Ruhrmann, G., & Sommer, D. (2010). Effects of linguistic<br />

abstractness in the mass media: how newspaper articles shape readers’ attitudes towards<br />

migrants. Journal of Media Psychology, 22 (3), 99 – 104.<br />

Geyer, J.I. (2002). <strong>Rechtsextremismus</strong> von Jugendlichen in Brandenburg. Münster: LIT.<br />

Glaser, M. (2012). ‚<strong>Rechtsextremismus</strong>‘ – eine Begriffsdiskussion. Berlin: Kontaktstelle<br />

BIKnetz – Präventionsnetz gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, gsub-Projektegesellschaft mbH.<br />

Glaser, St. & Pfeiffer, Th. (Hrsg.) (2013, 3. Au age). Erlebniswelt <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.<br />

Götz, N. (1997). Modernisierungsverlierer oder Gegner der re exiven Moderne? Rechtsextreme<br />

Einstellungen in Berlin. Zeitschrift für Soziologie, 26, 6, 393 – 414.<br />

Goldberger, B. (2013). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit. Gesellschaftstheoretische<br />

und sozialpsychologische Erklärungsfaktoren basaler Zugehörigkeitskon ikte.<br />

Wien: Wiener Verlag für Sozialforschung.<br />

Grau, A. (2010). <strong>Rechtsextremismus</strong> zwischen Normalisierung und Gewalt In W. Heitmeyer<br />

(Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 8. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.<br />

Gress, F., Jaschke, H.-G. & Schönekäs, K. (1990). Neue Rechte und <strong>Rechtsextremismus</strong> in<br />

Europa: Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Greven, T. & Grumke, T. (Hrsg.) (2006). Globalisierter <strong>Rechtsextremismus</strong>? Die extremistische<br />

Rechte in der Ära der Globalisierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Grumke, T. (2001). <strong>Rechtsextremismus</strong> in den USA. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Grumke, T. (Hrsg.) (2002). Handbuch Rechtsradikalismus: Personen, Organisationen,<br />

Netzwerke vom Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Grumke, T. (2011). Die etwas andere Rebellion. In A. Schäfer, M., D. Witte & U. Sander<br />

(Hrsg.), Kulturen jugendlichen Aufbegehrens. Weinheim und München: Juventa.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

81<br />

Grumke, T. (2012). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rechtspopulismus als Herausforderung für die<br />

Demokratie. In T. Mörschel & Ch. Krell (Hrsg.), Demokratie in Deutschland (S. 363 –<br />

387). Wiesbaden: Springer VS<br />

Grumke, T. (2013). <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland. Begriff – Ideologie – Struktur. In<br />

St. Glaser & T. Grumke (Hrsg.). Erlebniswelt <strong>Rechtsextremismus</strong>. Schwalbach/Ts.: Wochenschau<br />

Verlag.<br />

Grumke, T. & Klärner, A. (Hrsg.) (2006). <strong>Rechtsextremismus</strong>, die soziale Frage und Globalisierungskritik<br />

– Eine vergleichende Studie zu Deutschland und Großbritannien seit<br />

1990. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Guterl, M.P. (2008). The Color of Fascism: Lawrence Dennis, Racial Passing, and the Rise<br />

of Right-Wing Extremism in the United States. American Historical Review, 113, 4, 1197.<br />

Hagan, J., Rippl, S., Boehnke, K., & Merkens, H. (1999). Interest in evil: hierarchic self-interest<br />

and right-wing extremism among East and West German youth. Social Science<br />

Research, 28(2), 162 – 183.<br />

Haller, M. (Hrsg.) (2013). Rechtsterrorismus in den Medien. Der Mörder Breivik in Norwegen<br />

und die Terrorzelle NSU in Deutschland – Wie die Journalisten damit umgingen und<br />

was sie voneinander lernen können. Berlin u. a.: LIT Verlag.<br />

Heer, G. & Boehnke, K. (1995). <strong>Rechtsextremismus</strong> bei Jugendlichen: Schulerfolg als<br />

Quelle sozialen Kapitals. In E. Witruk, G. Friedrich, B. M. Sabisch B & D. M. Kotz<br />

(Hrsg.). Pädagogische Psychologie im Streit um ein neues Selbstverständnis. Bericht<br />

über die 5. Tagung der Fachgruppe Pädagogische Psychologie in der Deutschen Gesellschaft<br />

für Psychologie e.V. in Leipzig 1995, Landau: Verlag Empirische Pädagogik.<br />

Heer, G., Boehnke, K., & Butz, P. (1999). Zur Bedeutung der Familie für die Genese von<br />

Fremdenfeindlichkeit bei Jugendlichen : Eine Längsschnittanalyse. Zeitschrift Für Soziologie<br />

Der Erziehung Und Sozialisation, 19(1), 72 – 87.<br />

Hegel, G. W. F. (1986). Wissenschaft der Logik, Werke. Band 5, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.<br />

Heiland und Lüdemann (Hrsg.) (1996). Soziologische Dimensionen des <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Heitmeyer, W. (1989). Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Empirische<br />

Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation. (2.<br />

Auage). Weinheim, München: Juventa.<br />

Heitmeyer, W., Buhse, H., Liebe-Freund, J., Möller, K., Müller, J., Ritz, H., Siller, G. & Vossen,<br />

J. (1992). Die Bielefelder <strong>Rechtsextremismus</strong>-Studie. Erste Langzeituntersuchung<br />

zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher. Weinheim und München: Juventa.<br />

Heitmeyer, W. (1993). Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse als Ursache von fremdenfeindlicher<br />

Gewalt und politischer Paralysierung. Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft<br />

2-3, 3 – 13.<br />

Heitmeyer, W. & Heyder, A. (2002). Autoritäre Haltungen. Rabiate Forderungen in unsicheren<br />

Zeiten. In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.<br />

Heitmeyer, W. & Möller, R. (1995). Gewalt in jugendkulturellen Szenen. In: W. Ferchhoff,<br />

U. Sander, & R. Vollbrecht (Hrsg.). Jugendkulturen – Faszination und Ambivalenz.<br />

Weinheim, München: Juventa.<br />

Heitmeyer, W. & Möller, J. (1995). Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen. Biogra -<br />

sche Hintergründe, soziale Situationskontexte und die Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen.<br />

Godesberg: Forum Verlag.


82<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Heitmeyer, W. (2002 bis 2012). Deutsche Zustände Folge 1 bis 10. Frankfurt am Main bzw.<br />

Berlin: Suhrkamp.<br />

Heitmeyer, W. (2002). Rechtsextremistische Gewalt. In W. Heitmeyer & J. Hagan, Internationales<br />

Handbuch der Gewaltforschung (S. 501 – 546). Wiesbaden: VS Verlag für<br />

Sozialwissenschaften.<br />

Held, J., Horn, H., Leiprecht, R. & Marvakis, A. (1991). „Du musst so handeln, dass Du<br />

Gewinn machst...“. Empirische Untersuchungen und theoretische Überlegungen zu politisch<br />

rechten Orientierungen jugendlicher Arbeitnehmer. Paed.extra & Demokratische<br />

Erziehung, 19(5), 4 – 15.<br />

Held, J., Horn, H.W. & Marvakis, A. (1996). Gespaltene Jugend. Politische Orientierungen<br />

jugendlicher ArbeitnehmerInnen. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Held, J., Bibouche, S., Dinger, G., Merkle, G., Schork, C. & Wilms, L, (2008). <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und sein Umfeld. Eine Regionalstudie. Hamburg: VSA-Verlag.<br />

Hellmann, K.-U. (1995). Soziale Bewegungen und kollektive Identität: Zur Latenz, Krise<br />

und Reexion sozialer Milieus. Neue Soziale Bewegungen, 8,1, 68 – 81.<br />

Hellmann, K.-U. (1998). Paradigmen der Bewegungsforschung. Forschungs- und Erklärungsansätze<br />

– ein Überblick. In R. Koopmans (Hrsg.), Paradigmen der Bewegungsforschung.<br />

Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.<br />

Herrmann, Th. (1979). Zur Tauglichkeit psychologischer Theorien. In Albert, H. & K. H.<br />

Stapf (Hrsg.). Theorie und Erfahrung. Beiträge zur Grundlagenproblematik der Sozialwissenschaften.<br />

Stuttgart: Klett-Cotta.<br />

Herrmann, Th. (1983). Forschungsprogramme. In C. F. Graumann u. a. (Hrsg.), Enzyklopädie<br />

der Psychologie, Themenbereich B, Band 1. Göttingen, Toronto, Zürich: Hogrefe<br />

Verlag für Psychologie.<br />

Hewstone, M., Rubin, M. & Willis, H. (2002). Intergroup bias. Annual Review of Psychology,<br />

53, 575 – 604.<br />

Heyder, A. & Gassner, A. (2012). Deprivation, Anomia, and Value Orientation as Predictors<br />

for Right-wing Extremism. A Representative Study from Germany. Österreichische Zeitschrift<br />

für Politikwissenschaft, 41, 3, 277 – 297.<br />

Heyder, A., & Schmidt, P. (2002). Autoritarismus und Ethnozentrismus in Deutschland:<br />

Ein Phänomen der Jugend oder der Alten?. In K. Boehnke, D. Fuß, J. Hagan (Eds.) ,<br />

Jugendgewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Soziologische und psychologische Analysen in<br />

internationaler Perspektive (S. 119 – 142). Weinheim: Juventa.<br />

Hirscher, G. & Jesse, E. (Hrsg.) (2013). Extremismus in Deutschland. Baden-Baden: Nomos.<br />

Hirsch-Hoefer, S., Canetti, D. & Pedahzur, A. (2010). Two of a kind? Voting motivations<br />

for populist radical right and religious fundamentalist parties. Electoral Studies, 29, 4,<br />

678 – 690.<br />

Hoffmann-Lange, U. (1996). Determinanten politischer Gewaltbereitschaft Jugendlicher in<br />

Deutschland. In W. Edelstein & D. Sturzbecher (Hrsg.), Jugend in der Krise. Ohnmacht<br />

der Institutionen. (S. 131 – 152). Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg.<br />

Holtz, P., & Wagner, W. (2009). Essentialism and attribution of monstrosity in racist discourse:<br />

Righting internet postings about Africans and Jews. Journal of Community &<br />

Applied Social Psychology, 19(6), 411 – 425<br />

Hopf, C. (1993). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Beziehungserfahrungen. Zeitschrift für Soziologie,<br />

22, 6, 449 – 463.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

83<br />

Hopf, W. (1994). <strong>Rechtsextremismus</strong> von Jugendlichen: Kein Deprivationsproblem? Zeitschrift<br />

für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 14(3), 194 – 211.<br />

Hopf, C., Rieker, P., Sanden-Marcus, M. & Schmidt, C. (1995). Familie und <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Familiale Sozialisation und rechtsextreme Orientierungen junger Männer. Weinheim,<br />

München: Juventa.<br />

Hoyningen-Huene v., St. (2003). Religiosität bei rechtsextremen Jugendlichen. Münster:<br />

LIT.<br />

Hundseder, F. (1992). Medien und Rechtsradikalismus. Zwischen Sensationsgier und Ignoranz.<br />

In Vorgänge, 118 (4), 1 – 4.<br />

Hundseder, F. (1993). Wie Medien mit dem Thema <strong>Rechtsextremismus</strong> umgehen. In K.<br />

Faller, R. Hahn & R. Zeimentz (Hrsg.), Dem Haß keine Chance. Wie ist die Gewalt zu<br />

stoppen? (S.81 – 89) Köln: Papyrossa.<br />

Inglehart, R. (1977). The Silent revolution: Changing Values and Political Styles among<br />

Western Publics. Princeton: University Press.<br />

Institut für Sozialforschung (Hrsg.) (1994). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit.<br />

Studien zur aktuellen Entwicklung. Frankfurt a.M. und New York: Campus.<br />

Jäggi C.G. & Krieger D.J. (1991). Fundamentalismus. Ein Phänomen der Gegenwart . Zürich/Wiesbaden:<br />

Orell & Füssli.<br />

Jäger, J. (2002). Die rechtsextreme Versuchung. Münster: LIT.<br />

Jäger, S. & Link, J. (1993). Die vierte Gewalt. Rassismus und die Medien. Duisburg.<br />

Jäger, S. (1997). Die Anstifter der Brandstifter? Zum Anteil der Medien an der Eskalation<br />

rassistisch motivierter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland. In B. Scheffer (Hrsg.).<br />

Medien und Fremdenfeindlichkeit. Alltägliche Paradoxien, Dilemmata, Absurditäten<br />

und Zynismus (S. 73 – 98). Opladen: Leske + Budrich.<br />

Jäger, U. (1993). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Gewalt . Tübingen: Verein für Friedenpädagogik<br />

e.V. Tübingen.<br />

Jäger, M. (1999). Inländische und ausländische Straftäter in deutschen Printmedien: Ergebnisse<br />

einer Untersuchung und Vorschläge zur Verbesserung der Berichterstattung. In<br />

Butterwegge, C.; Hentges, G. & Sarigöz, F. (Hrsg.), Medien und multikulturelle Gesellschaft<br />

(S. 109 – 122). Opladen: Leske + Budrich.<br />

Jaschke, H.-G. (1993). Rechtsradikalismus als soziale Bewegung. Was heißt das? Vorgänge,<br />

122, 105 – 116.<br />

Jaschke, H.-G. (1994). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit . Opladen: Westdeutscher<br />

Verlag.<br />

Jennes, V. & Grattet, R. (2002). Die amerikanische Bewegung gegen Hate-Crimes: Rechtssoziologische<br />

Überlegungen zu Entstehungszusammenhängen und Entwicklungsgeschichte.<br />

In K. Boehnke, D. Fuß, J. Hagan (Eds.), Jugendgewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Soziologische und psychologische Analysen in internationaler Perspektive (S. 49 – 78).<br />

Weinheim: Juventa.<br />

Johansson, S. (2011). „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“: Eine Rezension der empirischen<br />

Langzeitstudie „Deutsche Zustände“, Folge 1 bis 8. Rechte der Jugend und des<br />

Bildungswesens, 2, 261 – 279.<br />

Kahane, A. (2012). Das Konzept Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Praxis.<br />

Segen und Fluch der Komplexität. In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände 10. Berlin:<br />

Suhrkamp.<br />

Klärner, A. & Kohlstruck, M. (Hrsg.). (2006). Moderner <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland.<br />

Hamburg: Hamburger <strong>Edition</strong>.


84<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Klärner, A. (2008). Zwischen Militanz und Bürgerlichkeit. Selbstverständnis und Praxis<br />

der extremen Rechten. Hamburg: Hamburger <strong>Edition</strong>.<br />

Kleeberg-Niepage, A. (2012). Zur Entstehung von <strong>Rechtsextremismus</strong> im Jugendalter –<br />

oder: Lässt sich richtiges politisches Denken lernen? Journal für Psychologie, 20, 2, 1 –<br />

30.<br />

Kleger, H. (1996). Bürgerbewegungen gegen Fremdenhass. Von den Lichterketten zum Kirchenasyl.<br />

Berliner Debatte INITIAL, 1, 55 – 72.<br />

Klein, L. (2003). <strong>Rechtsextremismus</strong> und kollektive Identität. Christian-Albrecht-Universität<br />

Kiel: unveröffentlichte Dissertationsschrift.<br />

Klein, L., & Simon, B. (2006). Identity in German right-wing extremism: Levels, functions<br />

and processes. In B. Klandermans, N. Mayer (Eds.), Extreme right activists in Europe.<br />

Through the magnifying glass (S. 224 – 247). London: Routledge.<br />

Klein-Allermann, E., Wild, K.-P., Hofer, M., Noack, P. & Kracke, B. (1995). Gewaltbereitschaft<br />

und rechtsextreme Einstellungen Jugendlicher als Folge gesellschaftlicher, familiärer<br />

und schulischer Belastungen. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische<br />

Psychologie, 27, 191 – 209.<br />

Klemm, J., Strobl, R. & Würtz, St. (2006). Die Aktivierung einer demokratischen Stadtkultur<br />

– Erfahrungen von zwei Kleinstädten im lokalen Umgang mit <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

In A. Klärner & M. Kohlstruck (Hrsg.), Moderner <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland .<br />

Hamburg: Hamburger <strong>Edition</strong>.<br />

Kliche, T. (1996). Interventionen, Evaluationsmaßstäbe und Artefaktbildung. Zehn Thesen<br />

zur Konstruktion von <strong>Rechtsextremismus</strong>. In H. G. Heiland & C. Lüdemann (Hrsg.), Soziologische<br />

Dimensionen des <strong>Rechtsextremismus</strong> (S. 57 – 84). Opladen: Westdeutscher<br />

Verlag.<br />

Kliche, Th. (1994). Interventionen, Evaluationsmaßstäbe und Artefaktbildung. Zehn Thesen<br />

zur gesellschaftlichen Konstruktion von <strong>Rechtsextremismus</strong>. Vortrag zur Arbeitstagung<br />

„<strong>Rechtsextremismus</strong> als Soziale Bewegung?“ der DGS-Sektion Soziale Probleme<br />

und soziale Kontrolle, EMPAS, Universität Bremen, 21. u. 22. Oktober 1994.<br />

Knapp, G.-A. (1993). Frauen und <strong>Rechtsextremismus</strong>: „Kampfgefährtin“ oder „Heimchen<br />

am Herd“?. In H. Welzer (Hrg.). Nationalsozialismus und Moderne. Tübingen: edition<br />

diskord.<br />

Kohlstruck, M., Krüger, D., & Münch, A. V. (2007). Berliner Projekte gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Forschungsbericht an die Landeskommission Berlin gegen Gewalt. In Landeskommission<br />

Berlin gegen Gewalt. (Hrsg.). Berliner Forum Gewaltprävention. Nr. 30.<br />

Berliner Projekte gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>. Forschungsbericht des Zentrums für Antisemitismusforschung,<br />

Arbeitsstelle Jugendgewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong> an der TU<br />

Berlin. Berlin: Landeskommission Berlin gegen Gewalt.<br />

König, H.-D. (1997). Beru iche „Normalbiograe“ und jugendlicher <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Kritik der Heitmeyerschen Desintegrationstheorie aufgrund einer tiefenhermeneutischen<br />

Sekundäranalyse. Zeitschrift für Politische Psychologie, 5(3+4), 381 – 402.<br />

König, H.-D. (1998). Arbeitslosigkeit, Adoleszenzkrise und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Eine Kritik<br />

der Heitmeyerschen Sozialisationstheorie aufgrund einer tiefenhermeneutischen Sekundäranalyse.<br />

In H.-D. König (Hrsg.), Sozialpsychologie des <strong>Rechtsextremismus</strong> (S. 279 –<br />

319). Frankfurt/Main: Suhrkamp Taschenbuch.<br />

König, H.-D. (2008). Die Wirkung von Fernsehdokumentationen zum <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

auf die seismographische Funktion der Adressaten. In H. Bondafelli, K. Imhof, R. Blum


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

85<br />

& O. Jarren (Hrsg.), Seismographische Funktion von Öffentlichkeit im Wandel (S. 320 –<br />

344). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Koopmans, R. (1995). Bewegung oder Erstarrung? Bestandsaufnahme der deutschen Bewegungsforschung<br />

in den letzten Jahren. Neue Soziale Bewegungen, 8,1, 90 – 96.<br />

Koopmans, R. (2001). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland: Probleme<br />

von heute – Diagnosen von gestern. Leviathan, 29,4, 469 – 483.<br />

Köttig, M. (2004). Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter Mädchen und junger Frauen.<br />

Biographische Verläufe im Kontext der Familien- und Gruppendynamik. Gießen:<br />

Psychosozial-Verlag.<br />

Kowalsky, W. (1993). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Anti-<strong>Rechtsextremismus</strong> in der modernen<br />

Industriegesellschaft. Das Parlament, 8. Januar 1993.<br />

Kowalsky, W. & Schroeder, W. (Hrsg.) (1994). <strong>Rechtsextremismus</strong>. Eine Einführung in die<br />

Forschungsbilanz. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.<br />

Kreis, J. (2007). Zur Messung von rechtsextremer Einstellung: Probleme und Kontroversen<br />

am Beispiel zweier Studien. Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum Berlin, Nr. 12.<br />

Krüger, H.-H., Fritzsche, S., Pfaff, N. & Sandring, S. (2003). Rechte politische Orientierungen<br />

bei Schülern im Rahmen schulischer Anerkennungsbeziehungen. Erste Ergebnisse<br />

einer Studie zu Jugendlichen in Ost- und Westdeutschland. Zeitschrift für Pädagogik,<br />

49, 6, 797 – 816.<br />

Krüger, C. (2008). Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen allgemeiner Gewaltbereitschaft<br />

und rechtsextremen Einstellungen. Godesberg: Forum Verlag.<br />

Kuhn, T. (1976, Original: 1962). Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt<br />

a.M.: Suhrkamp.<br />

Kumiega, L. (2013). Das Dispositiv des Politischen am Beispiel des <strong>Rechtsextremismus</strong> in<br />

Deutschland. In J. Caborn Wengler, B. Hoffarth & L. Kumiega (Hrsg.), Verortung des<br />

Dispositiv-Begriffs. Wiesbaden: Springer VS.<br />

Kujath, J. (2013). Die Medienöffentlichkeit im „NSU-Prozess“, Zur Vergabe von Medienplätzen<br />

im Strafprozess, AFP. Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht. 269 –<br />

276.<br />

Küpper, B. & Zick, A. (2008). Soziale Dominanz, Anerkennung und Gewalt. In W. Heitmeyer<br />

(Hrsg.), Deutsche Zustände 6 (S. 116 – 134). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.<br />

Lakatos, I. (1971). History of Science and its Rational Reconstructions. Boston Studies in<br />

the Philosophy of Science Volume, 8, 91 – 136.<br />

Lakatos, I. (1974). Falsi kation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme.<br />

In I. Lakatos & A. Musgrave (Eds.). Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig:<br />

Vieweg.<br />

Lamnek, S. (1990). Kriminalitätsberichterstattung in den Massenmedien als Problem. In<br />

Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 73 (3), 163 – 176.<br />

Lamnek, S., Fuchs, M. & Wiederer, R. (Hrsg.) (2002). Querschläger. Jugendliche zwischen<br />

rechter Ideologie und Gewalt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Lamy, P. (1996). Millennium Rage. New York. Springer US.<br />

Landua, D., Harych, P. & Schutter, S. (2002). Politische Einstellungen, Ausländerfeindlichkeit,<br />

Antisemitismus und <strong>Rechtsextremismus</strong>. In D. Sturzbecher (Hrsg.), Jugendtrends<br />

in Ostdeutschland: Bildung, Freizeit, Politik, Risiken. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Langenbacher, N. & Schellenberg, B. (Hrsg.) (2011). Europa auf dem „rechten“ Weg?.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und Rechtspopulismus in Europa. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.


86<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Lederer, G. (2000). Autoritarismus und Fremdenfeindlichkeit im deutsch-deutschen Vergleich:<br />

Ein Land mit zwei Sozialisationskulturen. In S. Rippl, Chr. Seipel & A. Kindervater<br />

(Hrsg.), Autoritarismus. Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung<br />

(S. 199 – 214). Opladen: Leske + Budrich.<br />

Leggewie, C. (1994). <strong>Rechtsextremismus</strong> – eine soziale Bewegung? In W. Kowalsky & W.<br />

Schröder (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong>. Eine Einführung in die Forschungsbilanz. Wiesbaden:<br />

Westdeutscher Verlag.<br />

Leggewie, C. (1998). Neo-Kapitalismus und Neue Rechte. Sozialstrukturelle Voraussetzungen<br />

radikaler rechter Bewegungen. In K.-U. Hellmann & R. Koopmans (Hrsg.), Paradigmen<br />

der Bewegungsforschung (S. 131 – 148). Opladen, Wiesbaden. Westdeutscher<br />

Verlag.<br />

Lenk, K. (1994). Rechts, wo die Mitte ist. Studien zur Ideologie: <strong>Rechtsextremismus</strong>, Nationalsozialismus,<br />

Konservatismus. Baden-Baden: Nomos.<br />

Lerner, M.J. (1980). The Belief in a Just World: A Fundamental Delusion. New York: Springer.<br />

Lessenich, S. (2013). <strong>Rechtsextremismus</strong> als deutsch-deutscher Einsatz und Effekt. In I.<br />

Schmincke & J. Siri (Hrsg.), NSU-Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Bielefeld:<br />

transcript.<br />

Lipset, S. M. & Raab, E. (1978. The Politics of Unreason: Right-Wing Extremism in America,<br />

1790-1977. 2. Auage. Chicago: University of Chicago Press.<br />

Lohl, J. (2010). Gefühlserbschaft und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Gießen: Psychosozial-Verlag.<br />

Loos, P. (1996). Lebenslage und politische Einstellung. Hintergründe rechter Orientierungsmuster.<br />

In H. G. Heiland & C. Lüdemann (Eds.), Soziologische Dimensionen des<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>. (S. 85 – 100). Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Lüdemann, C. (1995). Fremdenfeindliche Gewalt und Lichterketten. In G. Lederer & P.<br />

Schmidt (Hrg.). Autoritarismus und Gesellschaft. Trendanalysen und vergleichende Jugenduntersuchungen<br />

1945 – 1993 (S. 355 – 381). Opladen: Leske + Budrich.<br />

Lundberg, V. (2011). The white eld. Contemporary research on right-wing extremism.<br />

Malmö: Scandia.<br />

Lützinger S. (2010). Die Sicht der Anderen. Eine qualitative Studie zu Biographien von<br />

Extremisten und Terroristen. Köln: Luchterhand.<br />

Maaz, H.-J. (1990). Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. Berlin: Argon.<br />

Maaz, H.-J. (1993). Gewalt, Rassismus und <strong>Rechtsextremismus</strong> in den östlichen Bundesländern.<br />

In H.-U. Otto & R. Merten, Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland.<br />

Jugend im Umbruch (S. 176 – 181). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Schriftenreihe<br />

Band 319.<br />

Mackie, D. M., Smith, E. R., & Ray, D. G. (2008). Intergroup emotions and intergroup relations.<br />

Social And Personality Psychology Compass, 2(5), 1866 – 1880.<br />

Matthes, J. & Marquardt, F. (2013). Werbung auf niedrigem Niveau? Die Wirkung negativ-emotionalisierender<br />

politischer Werbung auf Einstellungen gegenüber Ausländern,<br />

Publizistik, Jg. 58, Nr. 3, 247 – 266.<br />

McCleary, D. F., Quillivan, C. C., Foster, L. N., & Williams, R. L. (2011). Meta-analysis of<br />

correlational relationships between perspectives of truth in religion and major psychological<br />

constructs. Psychology of Religion and Spirituality, 3(3), 163 – 180.<br />

McDevitt, J. & Williamson, J. (2002). Hate Crimes: Gewalt gegen Schwule, Lesben, bisexuelle<br />

und transsexuelle Opfer (S. 1000 – 1019). In W. Heitmeyer & J. Hagan (Hrsg.),<br />

Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

87<br />

McDevitt, J., Levin, J. & Bennett, S. (2002). Hate crime offenders: An expanded typology.<br />

Journal of social Issues, 58, 2, 303 – 317.<br />

McFarland, S. (1998). Communism as religion. International Journal for the Psychology<br />

of Religion, 8(1), 33 – 48.<br />

McGuire, W. J. (1986). The vicissitudes of attitudes and similar representational constructs<br />

in twentieth century psychology. European Journal of Social Psychology, 16(2), 89 – 130.<br />

McLaren, L. M. (1999). Explaining right-wing violence in Germany: A time series analysis.<br />

Social Science Quarterly, 80(1), 166 – 180.<br />

Mecklenburg, J. (Hrsg.) (1996). Handbuch deutscher <strong>Rechtsextremismus</strong>. Antifa <strong>Edition</strong>.<br />

Berlin : Elefanten-Press.<br />

Meloen, J. (1991). The forthieth anniversary of „The Authoritarian Personality“. Politics<br />

and the Individual, 1(1). 119 – 127.<br />

Melzer,W. (1992). Jugend und Politik in Deutschland. Gesellschaftliche Einstellungen, Zukunftsorientierungen<br />

und <strong>Rechtsextremismus</strong>-Potential Jugendlicher in Ost- und Westdeutschland.<br />

Opladen: Leske + Budrich.<br />

Melzer, W., Schröder, H. & Schubarth W. (1992). Jugend und Politik in Deutschland Gesellschaftliche<br />

Einstellungen, Zukunftsorientierungen und <strong>Rechtsextremismus</strong>potential<br />

Jugendlicher in Westdeutschland. Opladen: Leske und Budrich.<br />

Melzer, W. & Schubarth, W. (1993, 1995). Das <strong>Rechtsextremismus</strong>syndrom in Ost- und<br />

Westdeutschland. In W. Schubarth & W. Melzer (Hrsg.), Schule, Gewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

(S. 51 – 71). Opladen: Leske + Budrich.<br />

Melzer, R. & Serfa in, S. (2013). <strong>Rechtsextremismus</strong> in Europa: Länderanalysen, Gegenstrategien<br />

und arbeitsmarktorientierte Ausstiegsarbeit. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Menschik-Bendele, J. & Ottomeyer, K. (1998). Sozialpsychologie des <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Merton, R. K. (1957). Social theory and social structure. Glencoe, IL: Free Press.<br />

Meyer, T. (1989). Fundamentalismus: Aufstand gegen die Moderne. Reinbek bei Hamburg:<br />

Rowohlt.<br />

Meyer, T. (2011). Was ist Fundamentalismus? Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für<br />

Sozialwissenschaften.<br />

Meyer, B. (1993). Mädchen und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Männliche Dominanzkultur und weibliche<br />

Unterordnung. In H. U. Otto & R. Merten (Eds.), Rechtsradikale Gewalt im vereinigten<br />

Deutschland (S. 211 – 217). Opladen: Leske + Budrich.<br />

Michael, G., & Minkenberg, M. (2007). A continuum for responding to the extreme right:<br />

A comparison between the United States and Germany. Studies In Con ict & Terrorism,<br />

30(12), 1109 – 1123.<br />

Möller, K. & Schuhmacher, N. (2007). Rechte Glatzen. Rechtsextreme Orientierungs- und<br />

Szenezusammenhänge – Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skinheads.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Molthagen, D., Klärner, A., Korgel, L., Pauli, B. & Ziegenhagen, M. (Hrsg.) (2008). Lernund<br />

Arbeitsbuch „Gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>“: Handeln für Demokratie. Bonn : Dietz<br />

Verlag.<br />

Müller, J. (1997). Täterpro le. Hintergründe rechtsextremistisch motivierter Gewalt. Wiesbaden:<br />

Deutscher Universitätsverlag.<br />

Münch, A.V. & Glaser, M. (Hrsg.) (2011). <strong>Rechtsextremismus</strong>, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit<br />

in Europa. Halle: Deutsches Jugendinstitut e.V., Außenstelle Halle.


88<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Neidhardt, F. (2002). <strong>Rechtsextremismus</strong> – ein Forschungsfeld. Kölner Zeitschrift für Soziologie<br />

und Sozialpsychologie, Heft 4, Jg. 54, 2002, 777 – 787.<br />

Neidhardt, F. (2004). <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Ausländerfrage“ – Zum Status des Problems<br />

in Pressekommentaren. In C. Eilders, F. Neidhardt & B. Pfetsch (Hrsg.), Die Stimme der<br />

Medien (S. 337 – 357). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Neugebauer, G. (2000). Extremismus-Linksextremismus-<strong>Rechtsextremismus</strong>: Einige Anmerkungen<br />

zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen.<br />

In W. Schubarth und R. Stöss (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> in der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Eine Bilanz, Bonn: Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische<br />

Bildung, Bd. 368.<br />

Neumann, J. (2001). Aggressives Verhalten rechtsextremer Jugendlicher. Eine sozialpsychologische<br />

Untersuchung. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann.<br />

Neumann, J. & Frindte, W. (2002). Gewaltstraftaten gegen Fremde. Eine situative Analyse.<br />

Journal für Kon ikt- und Gewaltforschung, 2, 95 – 111.<br />

Nickolay, B. (2000). <strong>Rechtsextremismus</strong> im Internet. Würzburg: Ergon-Verlag.<br />

Niebergall, B. (1995). Der mädchenspezi sche Umgang mit Gewalt innerhalb rechter Jugendcliquen.<br />

In W. Frindte (Hrsg.). Jugendlicher <strong>Rechtsextremismus</strong> und Gewalt zwischen<br />

Mythos und Wirklichkeit. Münster, Hamburg.<br />

Noack, P. & Wild, E. (1999). Überlegungen zur Entwicklung von aggressiven und rechtsextremen<br />

Einstellungen. In M. Schäfer & D. Frey (Hg.), Aggression und Gewalt unter<br />

Kindern und Jugendlichen (S. 107-134). Göttingen: Hogrefe.<br />

Oemichen, E.; Horn, I. & Mosler, S. (2005). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fernsehen: Inhaltsund<br />

Rezeptionsanalysen der Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. In:<br />

Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Forschungsgruppe Politik (Hrsg.), Strategien gegen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> (S. 146 – 207). Band 1: Ergebnisse der Recherchen. Gütersloh: Verlag<br />

Bertelsmann Stiftung.<br />

Oepke, M. (2005). <strong>Rechtsextremismus</strong> unter ost- und westdeutschen Jugendlichen. Ein-<br />

üsse von gesellschaftlichem Wandel, Familie, Freunde und Schule. Opladen: Verlag<br />

Barbara Budrich.<br />

Oesterreich, D. (1993). Autoritäre Persönlichkeit und Gesellschaftsordnung. Der Stellenwert<br />

psychischer Faktoren für politische Einstellungen – eine empirische Untersuchung<br />

von Jugendlichen in Ost und West. Weinheim: Juventa.<br />

Oesterreich, D. (1996). Flucht in die Sicherheit. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Oesterreich, D. (2005a). Autoritäre Persönlichkeitsmerkmale, politische Einstellungen und<br />

Sympathie für politische Parteien. Zeitschrift für Politische Psychologie, 13(1-2), 213 –<br />

229.<br />

Oesterreich, D. (2005b). Flight into Security: A New Approach and Measure of the Authoritarian<br />

Personality. Political Psychology, 26(2), 275 – 297.<br />

Ohlemacher, T. (1993). Gewalt gegen Ausländer. Mitteilungen des Wissen schaftszentrums<br />

Berlin für Sozialforschung (WZB-Miteilungen). März 1993, 26 – 29.<br />

Ohlemacher, T. (1996). Medien und Gewalt. BILD in der Zeit ausländerfeindlicher Gewalttaten.<br />

In H.-G. Heiland & C. Lüdemann (Hrsg.), Soziologische Dimensionen des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

(S. 137 – 159). Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Ohlemacher, T. (1998). Fremdenfeindlichkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Mediale Berichterstattung,<br />

Bevölkerungsmeinung und deren Wechselwirkung mit fremdenfeindlichen<br />

Gewalttaten 1991-1997. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Forschungsbericht<br />

Nr. 72.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

89<br />

Ohlemacher, T. (1999). Fremdenfeindlichkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Mediale Berichterstattung,<br />

öffentliche Meinung und deren Wirkungen. In F. Dünkel (Ed.), <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Fremdenfeindlichkeit – Bestandsaufnahmen und Interventionsstrategien<br />

Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg.<br />

Otto, H. U. & Merten, R. (Hrsg.) (1993). Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland.<br />

Jugend im gesellschaftlichen Umbruch. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Parker, K. (2002). <strong>Rechtsextremismus</strong> im Internet. In Th. Grumke & B. Wagner (Hrsg.),<br />

Handbuch Rechtsradikalismus: Personen – Organisationen – Netzwerke: vom Neonazismus<br />

bis in die Mitte der Gesellschaft (S. 129 – 140). Opladen: Leske + Budrich.<br />

Pettigrew, T. F. (1996). How to think like a social scientist. New York: Harper Collins.<br />

Pettigrew, T. F. (1998a). Intergroup contact theory. Annual Review of Psychology, 49, 65 –<br />

85.<br />

Pettigrew, T. F. (1998b). Reactions toward the new minorities of Western Europe. Annual<br />

Review of Sociology, 24, 77 – 103.<br />

Pfahl-Traughber, A. (1995). <strong>Rechtsextremismus</strong>. Eine kritische Bestandsaufnahme nach<br />

der Wiedervereinigung. Bonn: Bundesministerium des Inneren.<br />

Pfahl-Traughber, A. (1998). Warum kommt es zum <strong>Rechtsextremismus</strong>? – Versuch einer<br />

Forschungsbilanz zu den Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong>. In Bundesministerium des<br />

Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutz: Bestandsaufnahme und Perspektiven (S. 56 – 100).<br />

Halle: Mitteldeutscher Verlag.<br />

Pfahl-Traughber, A. (2000). Die Entwicklung des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ost- und Westdeutschland.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 39, 3 – 14.<br />

Pfahl-Traughber, A. (2003). <strong>Rechtsextremismus</strong> als neue soziale Bewegung? Forschungsjournal<br />

Neue Soziale Bewegungen, 16, 4, 43 – 54.<br />

Pfahl-Traughber, A. (2012a). Forschungsstand und Forschungslücken zum Phänomen des<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> – ein Überblick Quelle: http://www.bka.de/nn_243818/DE/Publikationen/Herbsttagungen/2012/herbsttagung2012__node.html?__nnn=true;<br />

aufgerufen<br />

am 30.10.2013.<br />

Pfahl-Traughber, A. (2012b). Die Besonderheiten des „neuen“ <strong>Rechtsextremismus</strong> – Der<br />

„Nationalsozialistische Untergrund“ in vergleichender Perspektive. In G. Hirscher & E.<br />

Jesse (Hrsg.). Extremismus in Deutschland. Baden-Baden: Nomos.<br />

Pfeiffer, Chr. (1999). Interview mit „Der Spiegel“, 12/1999.<br />

Pfeiffer, T. (2000). Medien einer neuen sozialen Bewegung von rechts. Inauguraldissertation.<br />

Bochum: Ruhr-Universität; aufrufbar: http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/dissts/<br />

Bochum/Pfeiffer2001.pdf (24.2.2014).<br />

Pfeiffer, T. (2002). Für Volk und Vaterland. Das Mediennetz der Rechten – Presse, Musik,<br />

Internet. Berlin: Aufbau Verlag.<br />

Pfeiffer, T. (2004). <strong>Rechtsextremismus</strong> light? Entwicklung, Merkmale und Publizistik<br />

der Neuen Rechten in Deutschland (S. 147 – 190). In Cippitelli, C. & Schwanebeck, A.<br />

(Hrsg.), Die neuen Verführer? Rechtspopulismus und <strong>Rechtsextremismus</strong> in den Medien,<br />

München: Verlag Reinhard Fischer.<br />

Pfeiffer, T. (2009). Virtuelle Gegenöffentlichkeit und Ausweg aus dem „rechten Ghetto“. In<br />

St. Braun, A. Geisler & M. Gerster (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Wiesbaden:<br />

VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Pfeiffer, T. (2013). Menschenverachtung mit Unterhaltungswert. In St. Glaser & T. Grumke<br />

(Hrsg.). Erlebniswelt <strong>Rechtsextremismus</strong>. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.


90<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Pfeiffer, T.; Jansen, K.; Stegmann, T. & Tepper, S. (2002). Vom Aufstand der anständigen<br />

Presse. <strong>Rechtsextremismus</strong>-Berichterstattung in deutschen Tageszeitungen. In C. Butterwegge,<br />

J. Cremer, A. Häusler, G. Hentges, T. Pfeiffer, C. Reißlandt & S. Salzborn (Hrsg.),<br />

Themen der Rechten – Themen der Mitte. Zuwanderung, demogra scher Wandel und<br />

Nationalbewusstsein (S. 267 – 288). Opladen: Leske + Budrich.<br />

Pfetsch, B. & Weiß, H.J (2000). Die kritische Rolle der Massenmedien bei der Integration<br />

sozialer Minderheiten – Anmerkungen zu einem deutsch-israelischen Forschungsprojekt.<br />

In: H. Schatz, Ch. Holtz-Bacha, U. Nieland (Hrsg.), MigrantInnen und Medien: Neue<br />

Herausforderungen für die Integrationsfunktion von Presse und Rundfunk (S. 116 – 128).<br />

Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Pilz, G.A. (1994). Jugend, Gewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Münster, Hamburg: LIT.<br />

Pollmer, K., Reissig, M. & Schubarth, W. (1992). Ergebnisse der Jugendforschung in den<br />

neuen Bundesländern. Recht der Jugend und des Bildungswesens, 40 (3), 335 – 344.<br />

Reissen-Kosch, J. (2013). Wörter und Werte – Wie die rechtsextreme Szene im Netz um<br />

Zustimmung wirbt. In Diekmannshenke, H. & Niehr, Th. (Hrsg.), Öffentliche Wörter<br />

(S. 95 – 111). Stuttgart: ibidem.<br />

Quent, M. (2012). Mehrebenenanalyse rechtsextremer Einstellungen . Magdeburg: Meine<br />

Verlag.<br />

Quent, M. (2013). Empfehlungen des Kompetenzzentrum <strong>Rechtsextremismus</strong> der Friedrich-Schiller-Universität<br />

Jena zur Fortentwicklung des Thüringer Landesprogramms für<br />

Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit. Jena: Friedrich-Schiller-Universität Jena.<br />

Reicher, S. Spears, R., & Postmes, T. (1995). A social identity model of deindividuation phenomena.<br />

In W. Stroebe & M. Hewstone (Eds.), European Review of Social Psychology<br />

(S. 161 – 198), Vol. 6, Chichester: Wiley.<br />

Richter, K.-O. & Schmidtbauer, B. (1993). Zur Akzeptanz von Asylbewerbern in Rostock-<br />

Stadt. Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 2-3, 44 – 54.<br />

Ridgeway, J. (1990). Blood in the face: The Ku Klux Klan, Aryan Nations, Nazi Skinheads,<br />

and the Rise of a New White Culture. New York: Thunder’s Mouth.<br />

Rieker, P. (2009). <strong>Rechtsextremismus</strong>: Prävention und Intervention. Weinheim und München:<br />

Juventa.<br />

Rippl, S., Boehnke, K., He er, G. & Hagan, J. (1998). Sind Männer eher rechtsextrem und<br />

wenn ja, warum? Individualistische Werthaltungen und rechtsextreme Einstellungen.<br />

Politische Vierteljahresschrift, 39, 758 – 774.<br />

Rippl, S., Baier, D. & Boehnke, K. (2012). Desintegration, Deprivation und die Erklärung<br />

rechtsextremer Einstellungen – Befunde zur EU-Osterweiterung. In W. Heitmeyer & P.<br />

Imbusch (Hrsg.), Desintegrationsdynamiken. Wiesbaden: Springer VS.<br />

Rippl, S., & Seipel, C. (1999). Gender differences in right wing extremism: Intergroup validity<br />

of a second-order construct. Social Psychology Quarterly, 62(4), 381 – 393.<br />

Rommelspacher, B. (1992). Mitmenschlichkeit und Unterwerfung – Zur Ambivalenz der<br />

weiblichen Moral. Frankfurt, New York: Campus.<br />

Rommelspacher, B. (1993). Männliche Gewalt und gesellschaftliche Dominanz. In H.-U.<br />

Otto & R. Merten, Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland (S. 200 – 210).<br />

Opladen: Leske + Budrich,<br />

Rommelspacher, B. (1995). Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda.<br />

Rommelspacher, B. (2006). Der Hass hat uns geeint. Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg<br />

aus der Szene. Frankfurt a.M.: Campus.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

91<br />

Röpke, A. & Speit, A. (2013). Blut und Ehre: Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in<br />

Deutschland. Berlin: Links Verlag.<br />

Rosenberg, M. J., Hovland, C. I., McGuire, W. J., Abelson, R. P., & Brehm, J. W. (1960).<br />

Attitude organization and change: An analysis of consistency among attitude components.<br />

(Yales studies in attitude and communication. Vol. III.). Oxford England: Yale<br />

University Press.<br />

Rucht, D. (1994). Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich<br />

und USA im Vergleich. Frankfurt a.M. und New York: Campus.<br />

Rucht, D. (1995). Kollektive Identität: Konzeptionelle Überlegungen zu einem Desiderat der<br />

Bewegungsforschung. Neue Soziale Bewegungen, 8,1, 9 – 23.<br />

Rucht, D. (2002). <strong>Rechtsextremismus</strong> aus der Perspektive der Bewegungsforschung. In D.<br />

Grumke & B. Wagner (Hrsg.). Handbuch <strong>Rechtsextremismus</strong>. Personen – Organisationen<br />

– Netzwerke vom Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft. Opladen: Leske +<br />

Budrich.<br />

Ruhrmann, G., Kollbeck, J. & Mölltgen, W. (1996). „Fremdverstehen“, Medien, Fremdenfeindlichkeit<br />

und die Möglichkeit von Toleranzkampagnen. Publizistik, 41,1, 32 – 50.<br />

Salzborn, S. (2011). Extremismus und Geschichtspolitik. Jahrbuch für Politik und Geschichte,<br />

2, 13 – 25.<br />

Schäfer, H. (2008). Fundamentalismen in religiösem und säkularem Gewand. Der Kampf<br />

um Deutungshoheit in einer globalen politischen Kultur. In F. E. Anhelm (Hrsg.), Vernünftiger<br />

Glaube zwischen Fundamentalismus und Säkularismus. Protestanten in der<br />

globalisierten Welt (S. 19 – 42). (Loccumer Protokolle 34/08). Rehburg-Loccum: Evangelische<br />

Akademie.<br />

Scharf, W. (1993). Zur Berichterstattung über <strong>Rechtsextremismus</strong> in der deutschen Presse.<br />

Communications, 18(3), 255 – 290.<br />

Schellenberg, B. (2005). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Medien. APuZ, 42, S. 39 – 45.<br />

Schellenberg, B. (2012). Strategien gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> und Vorurteilskriminalität –<br />

Für Pluralismus und liberale Demokratie in Deutschland. In M. Glaab & K.-R. Korte<br />

(Hrsg.) Angewandte Politikforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Scherr, A. (1996). Zum Stand der Debatte über Jugend und <strong>Rechtsextremismus</strong>. In J. W.<br />

Falter, H.-G. Jaschke & J. R. Winkler (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong>. Ergebnisse und Perspektiven<br />

der Forschung (S. 97 – 120). Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Scheufele, B. (2002). Mediale Kultivierung des Fremden. Mehrstuge Klimaeffekte der Berichterstattung<br />

– Medien, Problemgruppen, öffentliche Meinung und Gewalt am Fallbeispiel<br />

„ Kurden“. In F. Esser, B. Scheufele & H.-B. Brosius (2002). Fremdenfeindlichkeit<br />

als Medienthema und Medienwirkung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.<br />

Schmincke, I. & Siri, J. (2013). NSU-Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Bielefeld:<br />

transcript.<br />

Schneider, H. (2001). Politische Kriminalität: Hassverbrechen. Fremdenfeindlichkeit im<br />

internationalen Kontext. Kriminalistik, 55(1), 21 – 28.<br />

Schoebel, C. (1997). Macht Persönlichkeit einen Unterschied? Eine empirische Analyse<br />

über das Wechselverhältnis von politischer Kultur und Persönlichkeitsstruktur. Berlin:<br />

<strong>Edition</strong> Sigma.<br />

Schoeps, J. H., Botsch, G., Kopke, Chr., Rensmann, L. (2007). <strong>Rechtsextremismus</strong> in Brandenburg.<br />

Handbuch für Analyse, Prävention und Intervention. Berlin: Verlag Berlin-<br />

Brandenburg.


92<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Schroeder, K. (2003). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Jugendgewalt in Deutschland . München:<br />

Bayerische Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit.<br />

Schubarth, W. & Melzer, W. (1993). Schule, Gewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Analyse und<br />

Prävention. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Schubarth, W. (1992). <strong>Rechtsextremismus</strong> unter ostdeutschen Jugendlichen. In W. Friedrich<br />

& W. Schneider-Deters (Hrsg.). Ausländerfeindlichkeit und rechtsextreme Orientierungen<br />

bei der ostdeutschen Jugend. Leipzig: Friedrich-Ebert-Stiftung. Büro Leipzig.<br />

Schubarth, W. & Stöss, R. (Hrsg.) (2000). <strong>Rechtsextremismus</strong> in der Bundesrepublik. Eine<br />

Bilanz. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.<br />

Schumann, S. & Winkler, J.R. (1997). Jugend, Politik und <strong>Rechtsextremismus</strong> in Rheinland-Pfalz.<br />

Frankfurt/Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang.<br />

Seehafer, S. (2003). Strafrechtliche Reaktionen auf rechtsextremistisch/fremdenfeindlich<br />

motivierte Gewaltaten – Das amerikanische „hate crime“ Konzept und seine Übertragung<br />

auf das deutsche Rechtssystem. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin; unveröffentlichte<br />

Dissertation (http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/seehafer-silvia-2003-04-28/PDF/<br />

Seehafer.pdf; 11.3.2014).<br />

Seidenstuecker, B. (1993). Jugend, Gewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Versuch eines Ost-West-<br />

Vergleiches. In H.U. Otto & R. Merten (Hrsg.). Rechtsradikale Gewalt im vereinigten<br />

Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen Umbruch, Bonn: Bundeszentrale für politische<br />

Bildung.<br />

Seipel, C., & Rippl, S. (2000). Ansätze der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung – Ein empirischer<br />

Theorienvergleich. Zeitschrift für Soziologie, der Erziehung und Sozialisation, 20(3),<br />

303 – 318.<br />

Seipel, C., Rippl, S. & Schmidt, P. (1995). Autoritiarismus, Politikverdrossenheit und rechte<br />

Orientierungen (S. 228 – 249). In G. Lederer & P. Schmidt (Hrg.). Autoritarismus und<br />

Gesellschaft. Trendanalysen und vergleichende Jugenduntersuchungen 1945 – 1993.<br />

Opladen: Leske + Budrich.<br />

Seising, R. (2011). Unscharfe Mengen, Begriffe im Fluss und die nicht-exakte Wissenschaft.<br />

In D. Fischer, W. Bonß, Th. Augustin, F. Bader, M. Pichlbauer & D. Vogl (Hrsg.), Uneindeutigkeit<br />

als Herausforderung – Risikokalkulation, Amtliche Statistik und die Modellierung<br />

des Sozialen (S. 147 – 185). Universität der Bundeswehr München: Neubiberg<br />

2011.<br />

Sidanius, J. & Pratto, F. (1999). Social dominance: An intergroup theory of social hierarchy<br />

and oppression. New York, NY, US: Cambridge University Press.<br />

Siller, G. (1994). Hindernisse und Zugangswege von jungen Frauen zu rechtsextremistischen<br />

Orientierungen. In Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V. (Hrsg.),<br />

Differenz und Differenzen: Zur Auseinandersetzung mit dem Eigenem und dem Fremden<br />

im Kontext von Macht und Rassismus bei Frauen (S. 185 – 196). Bielefeld.<br />

Siller, G. (1997). <strong>Rechtsextremismus</strong> bei Frauen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.<br />

Simon, B. (1995). Individuelles und kollektives Selbst: Sozialpsychologische Grundlagen<br />

sozialer Bewegungen am Beispiel schwuler Männer. Neue Soziale Bewegungen, 8,1, 46 –<br />

55.<br />

Sommer, B. (2010). Prekarisierung und Ressentiments. Soziale Unsicherheit und rechtsextreme<br />

Einstellungen in Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Spiegel Online (4.7.2012). Diskriminierende Bezeichnung: Wie der Begriff „Döner-Morde“<br />

entstand. Quelle: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/doener-mord-wie-dasunwort-des-jahres-entstand-a-841734.html;<br />

aufgerufen am 25.7.2012.


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

93<br />

Spöhr, H. (Hrsg.) (2010). <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland und Europa: aktuelle Entwicklungstendenzen<br />

im Vergleich. Frankfurt a.M.: Peter Lang.<br />

Stacey, M., Carbone-López, K., & Rosenfeld, R. (2011). Demographic change and ethnically<br />

motivated crime: The impact of immigration on anti-Hispanic hate crime in the United<br />

States. Journal Of Contemporary Criminal Justice, 27(3), 278 – 298.<br />

Staud, T. & Radke, J. (2012). Neue Nazis: Jenseits der NPD: Populisten, Autonome Nationalisten<br />

und der Terror von rechts. Köln: Kiepenheuer & Witsch.<br />

Stellmacher, J., Petzel, Th. & Sommer, G. (2002). Autoritarismus und Einstellungen zu<br />

Menschenrechten im Ost-West-Vergleich. In K. Boehnke, D. Fuss & J. Hagan (Hrsg.).<br />

Jugendgewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Soziologische und psychologische Analysen in<br />

internationaler Perspektive, (S. 93 – 118). Weinheim und München: Juventa Verlag.<br />

Stenke, D. (1993). Geschlechterverhältnis und <strong>Rechtsextremismus</strong>, In Institut für Sozialpädagogische<br />

Forschung Mainz Rassismus – Fremdenfeindlichkeit- <strong>Rechtsextremismus</strong>:<br />

Beiträge zu einem gesellschaftlichen Diskurs, Bielefeld: Boellert.<br />

Stiehm, E. (2012). Rechtsextreme Jugendliche: Erkennungsmerkmale, Begriffe, Erklärungsansätze<br />

und schulische Handlungsmöglichkeiten. Hamburg Diplomica Verlag.<br />

Stone, W.F., Lederer, G. & Christie, R. (Hrsg.). (1993). Strength and weakness. The authoritarian<br />

personality today. New York.<br />

Stöss, R. (1993). <strong>Rechtsextremismus</strong> in Berlin 1990. Berliner Arbeitshefte und Berichte zur<br />

sozialwissenschaftlichen Forschung, 80. Berlin: Freie Universität – Zentralinstitut für<br />

sozialwissenschaftliche Forschung.<br />

Stöss, R. (2000). <strong>Rechtsextremismus</strong> im vereinten Deutschland. Berlin: Friedrich-Ebert-<br />

Stiftung.<br />

Stöss, R. (2010). <strong>Rechtsextremismus</strong> im Wandel. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Strobl, R., Lobermeier, O., Heitmeyer, W. (2012). Evaluation von Programmen und Projekten<br />

für eine demokratische Kultur. Dordrecht: Springer.<br />

Sturzbecher, D. & Landua, D. (2001). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Ausländerfeindlichkeit unter<br />

ostdeutschen Jugendlichen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung<br />

Das Parlament. Heft 46. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. S. 6 – 15.<br />

Sturzbecher, D. (1997). Jugend und Gewalt in Ostdeutschland. Lebenserfahrungen in<br />

Schule, Freizeit und Familie. Göttingen: Verlag für Angewandte Psychologie.<br />

Sturzbecher, D., Dietrich, P. & Kohlstruck, M. (1994). Jugend in Brandenburg 93. Potsdam:<br />

Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung.<br />

Sundermeyer, O. (2012). Rechter Terror in Deutschland: Eine Geschichte der Gewalt.<br />

München: C.H.Beck.<br />

Tajfel, H. & Turner, J. C. (1979). An integrative theory of intergroup con ict. In W. G.<br />

Austin & S. Worchel (Eds.), The social psychology of intergroup relations (S. 33 – 47).<br />

Monterey, CA: Brooks-Cole.<br />

Tajfel, H. & Turner, J. C. (1986). The social identity theory of intergroup behavior. In: S.<br />

Worchel & W.G. Austin (eds.). Psychology of intergroup relations (S. 7 – 24). Chicago:<br />

Nelson-Hall.<br />

Tajfel, H.E. (1978). Differentiation between social groups: Studies in the social psychology<br />

of intergroup relations. New York, Academic Press.<br />

Tedeschi, J.T. & Felson, R.B. (1995). Violence, aggression, and coercive actions. (2 ed.).<br />

Washington: American Psychological Association.<br />

Teo, T. (1993). Zur Differentialsemantik im Begriffsfeld des Rassismus. Vortrag auf der 6.<br />

Tagung Friedenspsychologie, 25.- 27. Juni 1993 in Berlin.


94<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

Teo, T. (1995). Rassismus: Eine psychologisch relevante Begriffsanalyse. Journal für Psychologie,<br />

3(3), 24 – 32.<br />

Turner, J. C., Hogg, M. A., Oakes, P. J., Reicher, S. D. & Wetherell, M. S. (1987): Rediscovering<br />

the social group. A Self-Categorization Theory. New York, NY: Basil Blackwell.<br />

Udris, L. (2007). <strong>Rechtsextremismus</strong> in der öffentlichen Kommunikation. Gestiegene Resonanzchancen<br />

und schwieriger Umgang. In Medienheft. Zu nden unter: http://www.<br />

medienheft.ch/kritik/bibliothek/k07_UdrisLinards.pdf.<br />

Udris, L. (2011). Politischer Extremismus und Radikalismus – Problematisierung und diskursive<br />

Gelegenheitsstrukturen in der öffentlichen Kommunikation der Deutschschweiz.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Utzmann-Krombholz, H. (1994). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Gewalt: Afnitäten und Resistenzen,<br />

von Mädchen und jungen Frauen – Ergebnisse einer empirischen Studie. Zeitschrift<br />

für Frauenforschung, 12 (1-2), 6 – 31.<br />

Van Hiel, A. (2012). A psycho-political pro le of party activists and left-wing and rightwing<br />

extremists. European Journal of Political Research, 51, 2, 166 – 203.<br />

Van Hiel, A., & Mervielde, I. (2005). Authoritarianism and social dominance orientation:<br />

Relationships with various forms of racism. Journal of Applied Social Psychology,<br />

35(11), 2323 – 2344.<br />

Verfassungsschutzberichte (1990-2012). Bonn/Berlin: Bundesministerium des Innern.<br />

Veugelers, J.W.P. (2000). Right-wing extremism in contemporary France: A “silent counterrevolution”?<br />

Sociological Quarterly, 41, 1, 19 – 40.<br />

Virchow, F. (Hrsg.) (2012). Handbuch <strong>Rechtsextremismus</strong>: Band 1: Analysen. Wiesbaden:<br />

VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Volmerg, B., Bensch, B. & Kirchhoff, D. (1995). <strong>Rechtsextremismus</strong>, kein Thema für Angestellte?<br />

Journal für Psychologie, 3-4 (4-1), 85 – 94.<br />

Von Berg, H. L. & Roth, R. (2003). Maßnahmen und Programme gegen <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

wissenschaftlich begleitet. Wiesbaden: Springer Fachmedien.<br />

Wagner, U. (2013). <strong>Rechtsextremismus</strong>. Ein öffentliches Thema aus psychologischer Sicht.<br />

Psychologische Rundschau, 64 (4), 244 – 250.<br />

Wahl, K. (1993). Fremdenfeindlichkeit, <strong>Rechtsextremismus</strong>, Gewalt. Eine Synopse wissenschaftlicher<br />

Untersuchungen und Erklärungsansätze. In. Deutsches Jugendinstitut<br />

(Hrsg.). Gewalt gegen Fremde. Rechtsradikale, Skinheads und Mitläufer( S. 11 – 67).<br />

Verlag Deutsches Jugendinstitut, München.<br />

Wahl, K. (Hrsg.) (2002 ). Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, <strong>Rechtsextremismus</strong>. Drei<br />

Studien zu Tatverdächtigen und Tätern. Berlin: Bundesministerium des Innern.<br />

Wahl, K. (Hrsg.) (2003). Skinheads, Neonazis, Mitläufer. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Wasmuth, U. (1997). <strong>Rechtsextremismus</strong>: Bilanz und Kritik sozialwissenschaftlicher Erklärungen.<br />

Leviathan, 1, 107 – 137.<br />

Watts, M.-W. (1996). Political xenophobia in the transition from socialism: Threat, racism<br />

and ideology among East German youth. Political Psychology, Vol 17(1), 97 – 126.<br />

Weiß, H.-J. & Spallek, C. (2002). Fallstudien zur Fernsehberichterstattung über den<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland 1998-2001. Düsseldorf: Landesanstalt für Medien<br />

Nordrhein-Westfalen, Band 23.<br />

Weiss, K., Mibs, M. & Brauer, J. (2002). Links-Rechts-Konzepte unter Brandenburger<br />

Jugendlichen. In K. Boehnke, D. Fuß & J. Hagan (Hrsg.), Jugendgewalt und Rechts-


Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />

95<br />

extremismus. Soziologische und psychologische Analysen in internationaler Perspektive<br />

(S. 209 – 223). Weinheim, München: Juventa.<br />

Wenzler, T. (2001). Jugendlicher <strong>Rechtsextremismus</strong> in politischer und pädagogischer<br />

Übersicht – Ein Überblick. Münster: LIT.<br />

Wetzel, W. (2013). Der NSU-VS-Komplex: wo beginnt der nationalsozialistische Untergrund<br />

– wo hört der Staat auf? Münster: Unrast Verlag.<br />

Wetzels, P. & D. Enzmann (1999). Die Bedeutung der Zugehörigkeit zu devianten Cliquen<br />

und der Normen Gleichaltriger für die Erklärung jugendlichen Gewalthandelns. DVJJ-<br />

Journal, 10, 116 – 131.<br />

Wetzels, P. & Greve, W. (2001). Fremdenfeindliche Gewalt – Bedingungen und Reaktionen.<br />

Zeitschrift für Politische Psychologie, 9(2+3), 7 – 23.<br />

Willems , H. (1994). Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. Anmerkungen zum ge genwärtigen<br />

Gewaltdiskurs. In R. Harnischmacher (Hrsg.), Angriff von Rechts. <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Neonazismus unter Jugendlichen Ostber lins. Rostock: Hanseatischer Fachverlag für<br />

Wirtschaft.<br />

Willems, H. (1996). Kollektive Gewalt gegen Fremde. Entwickelt sich eine soziale Bewegung<br />

von Rechts? In H. G. Heiland & C. Lüdemann (Hrsg.), Soziologische Dimensionen<br />

des <strong>Rechtsextremismus</strong> (S. 27-56). Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Willems, H., Eckert, R., Würtz, S. & Steinmetz, L. (1993). Fremdenfeindliche Gewalt. Einstellungen,<br />

Täter, Kon ikteskalation. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Willems, H. & Steigleder, S. (2003). Täter-Opfer-Konstellationen und Interaktionen im<br />

Bereich fremdenfeindlicher, rechtsextremistischer und antisemitischer Gewaltdelikte.<br />

Trier: Abschlussbericht eines Projekts des LKA Nordrhein-Westfalen.<br />

Winkler, J.R. (1996). Bausteine einer allgemeinen Theorie des <strong>Rechtsextremismus</strong>. Zur<br />

Stellung und Integration von Persönlichkeits- und Umweltfaktoren. In J. W. Falter, H.-G.<br />

Jaschke & J. R. Winkler (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong>. Ergebnisse und Perspektiven der<br />

Forschung. (S. 25 – 48). Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Winkler, J.R. (2001). <strong>Rechtsextremismus</strong>. In W. Schubarth & R. Stöss (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

in der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Wippermann, C., Zarcos-Lamolda, A. & Krafeld, F. J. (2004). Auf der Suche nach Thrill<br />

und Geborgenheit. Lebenswelten rechtsradikaler Jugendlicher und neue pädagogische<br />

Perspektiven. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Wojcieszak, M. E. (2011). Computer-mediated false consensus: Radical online groups, social<br />

networks and news media. Mass Communication & Society, Vol. 14(4), 527 – 546.<br />

Würtz, St. (2000). Wie fremdenfeindlich sind Schüler? Eine qualitative Studie über Jugendliche<br />

und ihre Erfahrungen mit Fremden. Weinheim und München: Juventa.<br />

Zick, A. (1997). Vorurteile und Rassismus. Eine sozialpsychologische Analyse. Münster,<br />

Berlin, New York: Waxmann.<br />

Zick, A. (2004). Psychologie des <strong>Rechtsextremismus</strong>. In G. Sommer, A. Fuchs (Hrsg.),<br />

Krieg und Frieden – Handbuch der Kon ikt- und Friedenspsychologie (S. 263 – 276).<br />

Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union.<br />

Zick, A. & Wagner, B. (1995). Soziale Identität und Gruppenverhalten: Sozialpsychologische<br />

Beiträge zur Analyse sozialer Bewegungen. Neue Soziale Bewegungen, 8,1, 55 – 67.<br />

Zick, A., & Küpper, B. (2009). <strong>Rechtsextremismus</strong>. Erscheinungsformen, Strategien und<br />

Ursachen. In A. Beelmann, K. J. Jonas (Hrsg.) , Diskriminierung und Toleranz. Psycholo-


96<br />

Wolfgang Frindte et al.<br />

gische Grundlagen und Anwendungsperspektiven (S. 283 – 302). Wiesbaden: VS Verlag<br />

für Sozialwissenschaften.<br />

Zick, A. & Küpper, B. (2013). Von hohem Ausgrenzungswert. Menschenfeindlichkeit und<br />

antidemokratischen Mentalitäten in Deutschland. In St. Glaser & Th. Pfeiffer (Hrsg.),<br />

Erlebniswelt <strong>Rechtsextremismus</strong>. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.<br />

Zick, A. Küpper, B. & Legge, S. (2009). Nichts sehen, nichts merken, nichts tun. Couragiertes<br />

Eintreten gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ost und West. In W. Heitmeyer (Hrsg.),<br />

Deutsche Zustände, Folge 7 (S. 168 – 189). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.<br />

Zick, A., Küpper, B., & Hövermann, A. (2011). Die Abwertung der Anderen. Eine europäische<br />

Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. Berlin:<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Zick, A., & Hövermann, A. (2012). Einstellungen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> – von aktiver<br />

Akzeptanz und passiver Ignoranz. In W. Heitmeyer & A. Grau (Hrsg.), Gruppenbezogene<br />

Menschenfeindlichkeit im sozialen Raum Weinheim: Juventa.<br />

Zick, A., Hövermann, A. & Krause, D. (2012). Die Abwertung von Ungleichwertigen. Erklärung<br />

und Prüfung eines erweiterten Syndroms der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit.<br />

In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 10 (S. 64 – 86). Berlin:<br />

Suhrkamp.


Kapitel 2<br />

Unschärfen, Befunde und Perspektiven<br />

„Die Mehrheit der Menschen, die rechtsextremen Aussagen zustimmt,<br />

wählt übrigens klassische Parteien und nicht die NPD. Ausländerfeindlichkeit ist<br />

die Einstiegsdroge zum <strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

(Elmar Brähler, Chismon 9/2005, S. 7).


Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />

Über die Gefahr, die Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

zu verschleiern<br />

Matthias Quent<br />

Ist der sich nach der deutschen Vereinigung konjunkturell vor allem durch brutale<br />

Gewalttaten in das öffentliche Bewusstsein drängende <strong>Rechtsextremismus</strong> eine<br />

Spätfolge der Sozialisation und der politischen Kultur in der ehemaligen DDR?<br />

Rostock-Lichtenhagen, Wahlerfolge der NPD, NSU und „PEGDIA“: So zuverlässig,<br />

wie der innovationsfähige <strong>Rechtsextremismus</strong> (zum Innovationsbegriff: Kollmorgen<br />

& Quent, 2014) Wege ndet, sich als Bewegung am Leben zu erhalten, seine<br />

Feinde einzuschüchtern und zu provozieren, so zuverlässig wird auch versucht,<br />

seine Ursachen im Vergangenen zu verorten. Am Beispiel der Debatte um den<br />

„Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) werden in diesem Beitrag öffentliche<br />

Argumentationsweisen der diskursiven Darstellung des <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />

eine Folgeerscheinung der DDR diskutiert und diesen Diskussionssträngen einige<br />

Befunde der empirischen Forschung gegenübergestellt.<br />

In der autobiograschen Erzählung „Eisenkinder“ thematisiert Sabine Rennefanz<br />

(2013) das Narrativ des „braunen Ostens“:<br />

„Verwahrlosung, höhere Gewaltbereitschaft und fremdenfeindliche Einstellungen<br />

waren im Kern schon vor 1989 in der DDR stärker ausgeprägt als in der Bundesrepublik‘,<br />

schreibt Klaus Schroeder im Tagesspiegel. Auch er führt das Neonazi-<br />

Potenzial auf die Vollerwerbstätigkeit der Mütter und die Einbindung in ‚staatliche<br />

Institutionen‘ zurück. Staatliche Institutionen, das klingt, als wären Kinderkrippen<br />

Gefängnisse gewesen. Ausbildungslager für kleine Neonazis. Das Tora-Bora des Ostens.“<br />

(Rennefanz, 2013, S. 6)<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


100 Matthias Quent<br />

„Die DDR sei schuld, die autoritäre Erziehung, sagten die Kollegen, außerdem wisse<br />

man ja, dass im Osten der <strong>Rechtsextremismus</strong> Mainstream sei, eine Aufarbeitung der<br />

Nazi-Zeit habe nie stattgefunden. Mich machte das wütend.“ (Ebd., S. 7)<br />

„Aus dem Osten kamen nur Nazis, Stasi-Leute und Arbeitslose.“ (Ebd.)<br />

„Dönermorde, so wurden die Verbrechen verniedlichend genannt. Türken untereinander<br />

meucheln sich, so klang das. Jetzt war es ein Problem der Ostdeutschen.<br />

Wieder hatte es nichts mit den Westdeutschen zu tun. In den folgenden Tagen achtete<br />

ich darauf, und mir el ein Muster auf. Es gab immer wieder den gleichen Re ex:<br />

Taucht ein Problem in Ostdeutschland auf, wird es gleich zum ‚typisch ostdeutschen‘<br />

Thema. Gibt es in Westdeutschland ein Problem, ist es gesamtdeutsch.“ (Ebd.)<br />

Anhand dieser (und weiterer) Beispiele drückt die in der ehemaligen DDR geborene<br />

Autorin ihr Unbehagen mit der Etikettierung der neuen Bundesländer als<br />

Hort des <strong>Rechtsextremismus</strong> aus – ohne die brutale Virulenz zu verharmlosen, mit<br />

der der <strong>Rechtsextremismus</strong> dort sichtbar wurde. Nicht in der DDR-Sozialisation,<br />

sondern in der Entsicherung, Orientierungs- und Kontrolllosigkeit der Wendejahre<br />

sieht die Autorin die ausschlaggebenden Gründe für Wut und abweichendes Verhalten<br />

der „verlorenen Generation“ (DER SPIEGEL, 46/1991) der Wendejugend.<br />

Rennefanz, ein Jahr nach dem NSU-Terroristen Uwe Mundlos geboren, wendet<br />

sich nach der Vereinigung einer christlichen Sekte zu; zufällig, wie sie rückblickend<br />

sagt – also eine Frage der Gelegenheit:<br />

„Nicht nur die anderen, die sich den Schädel rasierten und die Deutschlandkarte<br />

in den Grenzen von 1939 aufhängten, waren empfänglich für einfache Wahrheiten.<br />

Auch ich sehnte mich nach Übersichtlichkeit, nach Einfachheit, nach einer Heimat.<br />

Ich hätte wahrscheinlich auch Islamistin, Scientologin oder vielleicht, unter besonderen<br />

Umständen, Neonazi werden können. Es war nur eine Frage, wer mich zuerst<br />

ansprach.“ (Rennefanz, 2013, S. 121)<br />

Es spricht in der Tat einiges dafür, dass für Individuen systematische Zufälle ausschlaggebend<br />

dafür sein können, sich einer rechten Clique anzuschließen. Denn<br />

welche Gelegenheitsstrukturen und Sozialisationsinstanzen sich dem Einzelnen<br />

anbieten, ist für ihn zunächst kaum zu beeinussen: In welchem Ort oder Stadtteil<br />

mit Kontakt zu welchen Cliquen wächst man auf, welcher wohnortnahe Jugendtreffpunkt<br />

wird genutzt, wer ist einussreich in der Peergroup? Dennoch sind diese<br />

Gelegenheits- und Sozialisationsstrukturen politisch erzeugt, schließlich sind die<br />

Wohn- und Versorgungsqualität sowie Infrastruktur und Ausrichtung der Jugendarbeit<br />

das Resultat sozioökonomischer Entwicklungen und politischer Entscheidungen.<br />

Bereits Birgit Rommelspacher (2006) identi ziert Zufälligkeit als einen


Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />

101<br />

Faktor für das Verständnis von Einstiegsprozessen in rechtsextreme Gruppierungen<br />

und resümiert:<br />

„Wie ‚zufällig‘ auch immer die Einzelnen in die Szene hineingerutscht sein mögen,<br />

je mehr sie sich involvieren lassen und sich selbst engagieren, desto mehr stellt sich<br />

die Frage, warum sie in dieser Szene bleiben und was das Spezi sche am <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

ist, das ihn für die Jugendlichen so attraktiv macht“ (Rommelspacher,<br />

2006, S. 570).<br />

Eng damit verknüpft sind die Fragen, wie Akteure der rechtsextremen Szene sich<br />

radikalisieren oder deradikalisieren; welche Faktoren eine Eskalation politischer<br />

Gewaltbereitschaft begünstigen und was dazu führt, dass aus dem gleichen Aktivistenstamm<br />

NPD-Politiker, Rechtsterroristen, politisch Inaktive oder Aussteiger<br />

hervorgehen. Die Bedeutung der Prägung von Einstellungen und Werten durch<br />

familiäre Ein üsse und sozialpsychologische Variablen (vor allem Autoritarismus)<br />

darf dabei nicht vernachlässigt werden. Denn: „Dem Individuum obliegt ein<br />

politischer Entscheidungs- und Handlungsspielraum darüber, wie Erfahrungen,<br />

Wahrnehmungen, die eigene Sozialisation und spezi sche Situationen verarbeitet<br />

werden“ (Quent, 2012a, S. 72).<br />

Mit der Aufdeckung des – medial häug wahlweise als Jenaer oder Zwickauer<br />

Terrorzelle bezeichneten – NSU hat die Debatte um das „braune Erbe“ der DDR<br />

wieder an Fahrt gewonnen. Die Thüringer Allgemeine (Debes, 2013) titelte zum<br />

Beispiel: „War die Revolution 1989 für die NSU-Morde mitverantwortlich?“ und<br />

die Süddeutsche Zeitung meinte zu wissen: „Die Spurensuche führt zu Tugenden,<br />

die schon die erste deutsche Diktatur zusammenhielten: Überhöhung der Gemeinschaft,<br />

Einordnung in autoritäre Denkmuster […]“ (von Bullion, 2011).<br />

Diese Beispiele stehen symptomatisch für zahlreiche und notwendige Versuche,<br />

die komplexen Ursprünge des NSU in seinem zeitlichen Entstehungskontext zu<br />

betrachten. In der Debatte um das Trio hat sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit<br />

jedoch vor allem in ihren Vorurteilen vom „braunen Osten“ bestätigt gesehen,<br />

meint der Soziologe Stephan Lessenich (2013) und beobachtet, dass sich das<br />

Deutungsangebot, nach dem die „neuen Nazis die mentale Saat des untergegangenen<br />

Arbeiter- und Bauernstaats aufgehen lassen“ (Lessenich, 2013, S.141), wieder<br />

wachsender Beliebtheit erfreur. Gesellschaftspolitisch ist dieser Diskurs hochproblematisch,<br />

weil die Betonung des Sonderfalls Ost die Abgrenzung gegenüber dem<br />

vermeintlichen Normalfall West impliziert, in dem keine spezi schen begünstigenden<br />

Faktoren des <strong>Rechtsextremismus</strong> zu nden seien – zumindest keine, die<br />

der Erwähnung wert wären, und die folglich auch nicht genannt, diskutiert oder<br />

gar aufgearbeitet werden müssten. Dann dürfte allerdings beispielsweise die west-


102 Matthias Quent<br />

deutsche Stadt Dortmund heute keine „Hochburg der autonomen Nationalisten“<br />

(Luzar & Sundermeyer, 2010) sein. Mit besonderem Nachdruck wiederlegt auch<br />

die Existenz von Rechtsterrorismus in der BRD vor 1989 das Bild.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> in der alten BRD<br />

In beiden Teilen des getrennten Deutschlands existierten bereits zwischen 1945<br />

und 1990 rechtsextreme Orientierungen, Organisationen, Gewalt und rechtsextremer<br />

Terror. Für die alte Bundesrepublik liegen dazu ausführliche Darstellungen<br />

vor (zum Beispiel Greiffenhagen, 1981; Heitmeyer, 1988; Hirsch, 1989;<br />

zusammenfassend: Botsch, 2012; Stöss, 2010). Allein zwischen 1979 und 1988<br />

töteten Rechtsterroristen in der BRD 27 Menschen (Rosen, 1990, S. 49), davon<br />

13 beim Münchner Oktoberfestattentat im September 1980. Im Kontext der Genese<br />

einer neonazistischen Szene in den 1970er Jahren entwickelten sich rechtsterroristische<br />

Strukturen, zum Beispiel die „Nationalsozialistische Kampfgruppe<br />

Großdeutschland“, die zeitweise über 400 Personen umfassende paramilitärische<br />

Kampfgruppe „Wehrsportgruppe Hoffmann“, die „Hepp-Kexel-Gruppe“ oder die<br />

„Deutschen Aktionsgruppen“ um Manfred Roeder (Pfahl-Traughber, 2001, S. 85).<br />

In den 1960er Jahren zog die NPD als neu gegründete Sammelpartei alter und<br />

neuer Nazis in mehrere Landesparlamente ein – vor dem gesellschaftspolitischen<br />

Hintergrund der ersten Wirtschaftskrise der Bundesrepublik und Tendenzen einer<br />

politischen Polarisierung der Gesellschaft durch die Große Koalition. 1969 war<br />

die NPD mit 4,3 Prozent der Stimmen einem Einzug in den Deutschen Bundestag<br />

so nah wie nie wieder. Die Wahlen leiteten eine Trendwende ein, in deren Folge<br />

die NPD bis Mitte der 1990er Jahre in der parlamentarischen Bedeutungslosigkeit<br />

versank.<br />

Die SINUS-Studie (1981) über rechtsextremistische Einstellungen bei den<br />

Deutschen unter dem Titel „5 Millionen Deutsche: Wir sollten wieder einen Führer<br />

haben …“ lieferte erstmalig empirisches Material über das rechtsextreme Einstellungspotenzial<br />

in der damaligen Bundesrepublik. Der Befund, nach dem mehr<br />

als 13 Prozent der westdeutschen Bevölkerung über ein rechtsextremes Weltbild<br />

verfügte, erregte große öffentliche und wissenschaftliche Beachtung. Ab Mitte der<br />

1980er Jahre gewannen DIE REPUBLIKANER mit offen ausländerfeindlicher<br />

Programmatik an Bedeutung; 1989 konnten sie erst- und einmalig in das Europäische<br />

Parlament einziehen.


Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />

103<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> in der DDR<br />

Aufgrund der Zensur in der DDR ist die Quellenlage hierzu weitaus bescheidener.<br />

Ab 1989 erschienen die ersten ausführlichen Darstellungen zum <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

in der DDR. Ergebnisse einer Studie des Zentralinstituts für Jugendforschung<br />

Leipzig von 1988 konnten erst nach dem Fall der Mauer publiziert werden. Sie<br />

erlauben einen Einblick in die Mentalitäten junger DDR-Bürger und deren Einstellungen<br />

gegenüber Faschismus, Nationalismus und Migration. Durch eine Wiederholung<br />

der Befragung im Jahr 1990 lassen sich Veränderungen in der Wendezeit<br />

identizieren. 1988 stimmten 12 Prozent der befragten Schüler und 15 Prozent der<br />

Lehrlinge der Aussage zu: „Der Faschismus hatte auch seine guten Seiten“. 1990<br />

waren die Werte nur leicht erhöht (Schüler: 14 Prozent, Lehrlinge unverändert).<br />

Deutlicher war die Zunahme chauvinistischer Einstellungen von 12 auf 23 Prozent<br />

unter den Schülern und von 15 auf 20 Prozent unter den Lehrlingen, welche die<br />

Einschätzung teilten, dass „[d]ie Deutschen schon immer die Größten in der Geschichte<br />

[waren]“ (Heinemann, Schubarth & Brück, 1992, S. 20ff.). 1988 stimmten<br />

44 Prozent der Schüler, 67 Prozent der Lehrlinge und 20 Prozent der Abiturienten<br />

der Aussage „Deutschland den Deutschen!“ zu. Zwischen 12 (Abiturienten) und 46<br />

(Lehrlinge) Prozent forderten „Ausländer raus!“ (Heinemann et al., 1992, S. 87).<br />

Ein menschenfeindliches Fundament war bereits in der DDR vorhanden. Bekannt<br />

sind Schlägereien, nazistische und antisemitische Aktionen sowie Schmierereien<br />

und Friedhofsschändungen (Quent, 2012b). Darüber hinaus gab es terroristische<br />

Anschläge mit zumindest vermutetem „faschistischem“ Hintergrund, vor<br />

allem gegen die sowjetische Besatzungsarmee. Die umfassende Aufarbeitung der<br />

rechtsextremen Gewalt und der möglichen Verquickung der Staatssicherheit in<br />

rechtsextreme Terrorgruppen der BRD (zum Beispiel des Rechtsterroristen und<br />

Stasiagenten Odfried Hepp) steht noch aus.<br />

In den 1970er Jahren traten die neuen subkulturell geprägten Rechtsextremen<br />

in der DDR sichtbar in Erscheinung. Dafür ernteten sie bei ihren „Kameraden“<br />

in der BRD Staunen und Anerkennung. Mitte der 1980 Jahre wurde in der neonazistischen<br />

Publikation „Klartext“ – dem Organ der 1992 verbotenen Partei „Nationalistische<br />

Front“ – über offene Verharmlosung des Nationalsozialismus durch<br />

Fangruppen ostdeutscher Fußballvereine berichtet:


104 Matthias Quent<br />

„Berlin (Ost): Nach dem Pokalspiel Union Berlin – Chemie Leipzig zogen Fangruppen<br />

durch die geteilte Stadt. In Sprechchören forderten sie die Freiheit für<br />

Deutschland. Unter Absingen der Nationalhymne und anderer nationalistischer Lieder<br />

bewiesen sie, dass nicht alle Jugendliche der Zone auf das ‚Gefasel‘ der dort<br />

Herrschenden hereinfallen. (Genau wie hier in der ‚BRD‘) Erstaunlich für unsere<br />

teilnehmenden Kameraden war die sehr gute Kenntnis von alten nationalsozialistischen<br />

Kampiedern, – und die außerordentliche Zurückhaltung der Ostpolizei!“<br />

(Fromm, 1993, S. 72)<br />

Wie in der BRD entwickelten sich in der DDR nicht konforme Jugendkulturen.<br />

Die Punks und Skinheads differenzierten sich mit der Zeit aus – zum Beispiel<br />

in die antirassistischen „Red-Skins“, vorgeblich unpolitische „Oi-Skins“, rechte<br />

Skinheads und die am stärksten politisierten „Faschos“. Letztere distanzierten<br />

sich zum Teil vom Skinlook und legten stattdessen auf ein diszipliniertes Äußeres<br />

Wert und stellten das Politische in ihren Werten vor das Subkulturelle. Die rechten<br />

Skinheads in der DDR waren überaus antisemitisch und ausländerfeindlich eingestellt.<br />

Dies wird unter anderem in ihren Gesängen deutlich. Beliebt war in Bezug<br />

auf das NS-Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar zum Beispiel der Slogan:<br />

„Hast du Hunger, ist dir kalt, dann geh zurück nach Buchenwald. Dort werden wir<br />

uns ein Süppchen kochen, aus Judeneisch und Russenknochen. Ofen sieben, Klappe<br />

acht – ach, wie hat das Spaß gemacht!“ (Heinemann et al., 1992, S. 43)<br />

Ofziell gab es so etwas in der DDR nicht. Noch im August 1989 behauptete die<br />

staatliche DDR-Nachrichtenagentur ADN, Vorstellungen über neonazistische Tendenzen<br />

in der DDR seien „purer Unsinn“ (Siegler & Bittermann, 1991, S. 37).<br />

Diese kategorische Abwehr geht auf den ideologischen Legitimationsmythos<br />

der DDR und ihr orthodox-kommunistisches Faschismusverständnis in Kategorien<br />

der 1930er Jahre zurück, welches freilich erweitert und als Monopolgruppentheorie<br />

ausdifferenziert wurde. Dahinter stand die Vorstellung, der Faschismus sei „die<br />

offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten<br />

imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (Dimitrov, 1935). Mit Bodenreform<br />

und Enteignungen, so die SED-Logik, seien die Wurzeln des Faschismus in<br />

der DDR beseitigt worden – im Gegensatz zur BRD, wo der Kapitalismus jederzeit<br />

wieder unmaskiert seinen faschistischen Charakter hätte offenbaren können.<br />

Mit der realen Gestalt des Nationalsozialismus als Massenbewegung hatte diese<br />

Sicht wenig gemein. Auch die nicht seltenen rechtsextremen, rassistischen und<br />

antisemitischen Vorfälle in der DDR führten nicht zu einer Revision dieser Perspektive.<br />

Nach dem Überfall von rechtsextremen Skinheads auf ein inof zielles<br />

Punkkonzert in der Ostberliner Zionskirche im Oktober 1987 unter den Augen der


Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />

105<br />

Volkspolizei, die nicht eingriff, wurde erstmals in der DDR-Presse über das Thema<br />

berichtet; mehrere der Angreifer wurden in der DDR verurteilt. Der Auszug<br />

einer Anklageschrift bringt das Paradox der Verurteilung von etwas, das es nicht<br />

geben darf, auf den Punkt:<br />

„Wie die Anklageschrift weiter hervorhebt, wurden während der Ausschreitungen<br />

von den Rowdys immer wieder Parolen aus der Nazizeit ausgestoßen, was in der<br />

DDR, wo der Faschismus mit all seinen Wurzeln ausgerottet ist, unter Strafe steht.“<br />

(Schumann, 1990, S. 47)<br />

Im Umgang mit neonazistischen Jugendgruppen, die in den 1970er Jahren in West<br />

wie Ost entstanden, wirkte sich die Antifaschismusdoktrin der DDR direkt aus:<br />

Politische Tatmotive blieben unaufgeklärt, rechtsextreme Straftäter wurden als<br />

„Rowdys“ abgeurteilt. Gegen solche wurden in den ausgehenden 1980er Jahren<br />

zum Teil emp ndliche Freiheitsstraften verhängt. Durch den hohen Sanktionsdruck<br />

waren die einzukalkulierenden Kosten für Rechtsextreme in der DDR hoch.<br />

Konventionelle Wege, um politisch abweichende Meinungen öffentlich zu artikulieren,<br />

beispielsweise in Form von Kundgebungen oder Publikationen, standen den<br />

Rechtsextremen in der DDR so gut wie nicht zur Verfügung. Für diese Jugendlichen,<br />

erörtern Bergmann und Erb (1994, S. 94), „stellten Gewaltaktionen bereits<br />

zu DDR-Zeiten ein zentrales Handlungsschema dar. [… ] Eine hohe Gewaltakzeptanz<br />

und -bereitschaft war also bereits in der DDR erworben worden.“ Durch diese<br />

Militanz, so Schumann (1990, S. 36), unterschied sich der Ost-<strong>Rechtsextremismus</strong><br />

von anderen „Gegenkulturen in dieser Altersgruppe“.<br />

Inwieweit die Inhaftierung von Rechtsextremen deren Resozialisierung diente,<br />

ist fragwürdig, wie die folgenden Fälle veranschaulichen:<br />

„Jene, die mit dem Gesetz kollidierten, erhielten in der Szene die Aura eines Märtyrers.<br />

Bezeichnend sich die Beobachtungen, die Oliver im Jugendstrafvollzug Ichtershausen<br />

machte. Er war 1988 zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden, weil er mit<br />

vier Freunden den jüdischen Friedhof in der Schönhäuser Allee in Berlin verwüstet<br />

hatte. Nach seiner Entlassung antwortete er im Mai 1990 auf die Frage, ob er nicht<br />

befürchte, von Skins oder Neonazis als rechter Heroe vereinnahmt zu werden: ‚Das<br />

wurden wir schon im Gefängnis. Da saßen Leute, die haben sich alle Presseausschnitte<br />

über uns an die Wand gepinnt. Da waren wir die dicken Vorbilder, die es den<br />

Juden mal gezeigt haben.‘“ (Ebd.)<br />

In einem 1990 erschienenen Leserbrief an die „Junge Welt“ gaben zwei inhaftierte<br />

Ost-Nazis, die sich als Repräsentanten dort einsitzender „Glatzen“ präsentierten,<br />

Einblicke in ihr Selbstverständnis als verfolgte Idealisten:


106 Matthias Quent<br />

„Wir sind zwei Knaster, die im Jugendhaus Halle einsitzen. Beide, knapp 19 Jahre<br />

alt, haben wir zwar keine Neger und Punks geklatscht, aber Schwule. Da wir beide<br />

Deutsche sind, können wir homosexuelle Personen nicht tolerieren. Immer mehr<br />

Ausländer überschwemmen Deutschland, vergewaltigen deutsche Frauen, doch das<br />

wird in den Medien totgeschwiegen. Über uns Skins wird gehetzt, wir werden gehasst<br />

und gejagt. Trotz allem wird eine Glatze nie aufgeben, sich für ihre Ideale und<br />

Ziele einzusetzen. Naumann und Braun im Namen aller einsitzenden Glatzen des<br />

Jugendhauses Halle.“ (Ebd.)<br />

Ein beteiligter Skin des Überfalls auf die Zionskirche in Berlin, für den er zu<br />

einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, schilderte ebenfalls, sein Gefängnisaufenthalt<br />

habe bestärkend auf seine politischen Überzeugungen und seine<br />

emotionale Ablehnung gewirkt:<br />

„Seit dem Knast habe ich einen dermaßen Haß auf dit ganze System hier, dermaßen<br />

Haß auf alles was rot ist oder links ist. Das hat sich so reingefressen, also das ist im<br />

Prinzip extrem“ (Heinemann et al., 1992, S. 53).<br />

Spätestens mit dem Gefängnisaufenthalt, resümieren die Autoren des Buches „Der<br />

Antifaschistische Staat entlässt seine Kinder“, begriff der Skin, „daß in der DDR<br />

Skinhead zu sein, mehr ist als nur Mode und Protest“ (ebd.). Nach der Haftentlassung<br />

setzte der Gewalttäter seine politische Karriere in der NPD fort (ebd.).<br />

Derartige Beispiele ließen sich fortsetzen – die Dunkelziffer der Rechtsextremen<br />

in Ost- und Westdeutschland, welche Gefängnisse auf einer höheren Radikalisierungsebene<br />

verlassen als betreten haben, dürfte erheblich sein. Gefängnisaufenthalte<br />

wurden gezielt dazu genutzt, um Netzwerke zu knüpfen und um<br />

straffälligen Szeneangehörigen das Gefühl zu vermitteln, sie seien gesellschaftlich<br />

ausweglos isoliert, während einzig die rechtsextreme Szene Verständnis, Kameradschaft<br />

und Unterstützung aufbringen würde. Das war auch die wichtigste<br />

Aufgabe der 1979 in der alten Bundesrepublik gegründeten „Hilfsorganisation für<br />

nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ (HNG), die im September<br />

2011 verboten wurde. Seitdem wird die Unterstützungsarbeit unter dem Namen<br />

„Gefangenenhilfe“ mit ofziellem Sitz in Schweden weitergeführt – auch für Beschuldigte<br />

im NSU-Prozess.<br />

Im Rahmen des Häftlingsfreikaufs wurde auch eine unbekannte Zahl inhaftierter<br />

DDR-Nazis von der BRD freigekauft: darunter 1974 der aus Pößneck stammende<br />

Rechtsextremist Uwe Behrendt. Im Westen suchte er Kontakt zu rechtsextremistischen<br />

Organisationen und zur paramilitärischen „Wehrsportgruppe<br />

Hofmann“. Im Dezember 1980 erschoss Behrendt in Erlangen den Rabbiner Shlomo<br />

Lewin und dessen Frau Frieda Poeschke. Ein Jahr später beging der mithil-


Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />

107<br />

fe der palästinensischen Fatah in den Libanon ge ohene Behrendt Suizid. Einige<br />

der freigekauften DDR-Häftlinge fungierten als Vermittler zwischen Ost-Nazis<br />

und der BRD-Szene (Bergmann & Erb, 1994, S. 84). Gründungsmitglieder des<br />

„Thüringer Heimatschutz“ unterhielten beispielsweise Kontakte zum führenden<br />

West-Neonazi Arnulf Priem, der in der DDR wegen neofaschistischer Betätigung<br />

verhaftet und 1968 von der BRD freigekauft wurde.<br />

In der DDR waren die Skingruppen spätestens ab 1988 untereinander städteübergreifend<br />

vernetzt, wie aus einem Bericht der Kriminalpolizei von 1990 hervorgeht<br />

(Schumann, 1990, S. 142ff.). Die Kripo attestierte der Szene zudem „republikweite<br />

konspirative Vernetzungen“ und ein „starkes Bestreben […], Waffen zu<br />

erlangen, sich wehrsportlich zu trainieren, um erforderlichenfalls nicht einsichtige<br />

‚Andersdenkende‘ zu disziplinieren sowie mit diesen Mitteln in einem Nationalsozialistischen<br />

Deutschland zu agieren“ (ebd.). Nach den polizeilichen Erkenntnissen<br />

rekrutieren sich die „Personen der neofaschistisch orientierten Szene […]<br />

aus allen Klassen und Schichten der Bevölkerung der DDR“. Bildungsweg und<br />

Qualikation, Familie der Eltern und allgemeine Lebensumstände entsprachen<br />

dem Querschnitt dessen, was in der Gesellschaft anzutreffen war (ebd.) – auch<br />

Professorenkinder: zum Beispiel der Jenaer Uwe Mundlos, der bereits ab 1988,<br />

knapp 15-jährig, mit kurz geschorenen Haaren, Bomberjacke und Springerstiefeln<br />

in die Schule kam und im Werkunterricht Hakenkreuze ritzte. Die DDR kritisierte<br />

er in der Schule öffentlich und stellte ihr die „guten Seiten“ des „Dritten Reichs“<br />

entgegen.<br />

Der vorhandene <strong>Rechtsextremismus</strong> in der DDR zeigte sich bis zu deren Ende.<br />

Als die Bevölkerung ihrer Wut und ihrem Frust über das SED-Regime bei den<br />

Montagsdemonstrationen vielerorts Luft machten und das Ende der DDR einläuteten,<br />

witterten auch rechtsextreme Gruppen Morgenluft. 1989 traten zum Beispiel<br />

bei den Leipziger Demonstrationen massiv und offen rechtsextreme Gruppen auf<br />

und verteilten unter anderem Materialien von NPD, DVU, REPUBLIKANERN<br />

und der 1995 verbotenen FAP (Heinemann et al., 1992, S. 49; Schumann, 1990,<br />

S. 93).<br />

„Viele Möglichkeiten“<br />

Unmittelbar nach der Wende agierten größere subkulturelle rechte Skingruppen<br />

überall im Osten. Allein in Thüringen fanden zahlreiche rechtsextreme Konzerte<br />

mit bis zu 700 Teilnehmern statt. Rechte Skinbands, die aus der BRD zu den<br />

Auftritten in die neuen Länder kamen, schätzen die Auftrittsmöglichkeiten sowie<br />

fehlende öffentliche wie behördliche Sanktionen. Der Journalist Rainer Fromm


108 Matthias Quent<br />

interviewte in dieser Phase die neonazistische Skinband „Kraftschlag“, die 1992<br />

das Album „Live in Weimar“ veröffentlichte, auf dessen Cover ein Reichsadler mit<br />

Hakenkreuz abgebildet ist. Auf der indizierten Platte des im thüringischen Weimar<br />

aufgezeichneten Konzertes singen Band und Publikum unter anderem Zeilen<br />

wie „Gegen Rassenvermischung“, „Sieg Heil!“, „Deutschland den Deutschen –<br />

Ausländer raus!“, „Deutschland erwache“, „Scheiß auf die 6-Millionenlüge – Juden<br />

raus!“, „Radikal für Deutschland ist das Gebot der Zeit, sammelt euch auf<br />

der Straße, seid zum Rassenkrieg bereit“ und „Deutsche Frau halt dein Blute rein<br />

vor dem Ausländerschwein“ (Kraftschlag, 1992). Im Interview mit Rainer Fromm<br />

äußerte sich die Band „begeistert“ über einen Auftritt in Thüringen:<br />

„Wir würden jederzeit wieder dort spielen.“ Der Unterschied zwischen neuen<br />

und den alten Bundesländern sei,<br />

„[d]a [im Osten, MQ] kann man seine Musik viel freier der Öffentlichkeit präsentieren,<br />

die fragen da nicht so dumm. [...] In den neuen Bundesländern gibt es viele Möglichkeiten<br />

für Konzerte. Dort kriegt man fast jeden Saal. Hier blocken die meisten<br />

ab, das ist drüben anders. Da kriegen wir Hallen bis zu 2000 Personen. Das ist auch<br />

billiger“ (Fromm, 1993, S. 106).<br />

Neben Rechtsrockbands warben verschiedene rechtsextreme Parteien um die<br />

Gunst der jungen Neonazis im Osten, so auch die NPD. Deren damaliger Bundesvorsitzender<br />

Günther Decker bereiste den Freistaat Thüringen im Februar 1992<br />

erstmals anlässlich von Demonstrationen in Gera. Um lokale Parteistrukturen aufzubauen,<br />

übernahmen westdeutsche Kreisverbände der NPD „Patenschaften“ für<br />

die NPD-Zusammenschlüsse im Osten. Verbände aus Hessen und Bayern sicherten<br />

zum Beispiel den nanziellen, logistischen und ideologischen Aufbau der Partei<br />

in Thüringen. Verbal stand die NPD der Skinszene kaum an Radikalität nach.<br />

Die „Infozeitung“ des Thüringer Landesverbandes titelte 1992: „Asylbetrüger und<br />

Invasoren vergiften unser Trinkwasser“ (Fromm, 1993, S. 60).<br />

In den Folgejahren pro tierten die Rechtsextremen von „Legitimationsgewinnen“<br />

(Willems, zitiert in: Funke, 2012, S. 14) im Zuge der bundesweiten Gewalteskalation<br />

gegen Asylsuchende in den Jahren 1991 bis 1993. Mit der medial und<br />

politisch aufgeheizten Stimmung in der sogenannten Asyldebatte wurde den rechten<br />

Gewaltgruppen ein neues Angriffsziel präsentiert, welches<br />

„im Gegensatz zu bisherigen Opfern (Polen, Vietnamesen, Russen) noch weniger<br />

integriert und noch weiter außerhalb der ‚span of sympathy‘ […] lag und in den man<br />

die ‚Ursachen‘ für die wahrgenommenen sozialen Missstände direkt und erfolgreich<br />

angreifen konnte“ (Bergmann & Erb, 1994b, S. 89).


Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />

109<br />

Parolen wie „Ausländer raus“ und „Deutsche zuerst“ boten Lösungsmöglichkeiten,<br />

die in Handlungen übersetzt werden konnten und für die Gewaltakteure doppelt<br />

legitimiert erschienen: einerseits durch die Zustimmung in Teilen der Bevölkerung,<br />

als deren ausführendes Organ sie sich fühlten und andererseits durch die<br />

Radikalisierung ihrer Zuwanderungsfurcht zu einer generellen Überfremdungsangst<br />

(Bergmann & Erb, 1994b). Diese Bedingungen ermöglichten zu Beginn der<br />

1990er die Konsolidierung des rechtsextremen Potenzials in den neuen Ländern<br />

sowie in den folgenden Jahren den quantitativen Anstieg und die Radikalisierung<br />

der Bewegung.<br />

Rechtsextreme Parteien waren bei Wahlen bis in die Mitte der 1990er Jahre in<br />

den westlichen Bundesländern erfolgreicher als in den östlichen. Erst mit der Bundestagswahl<br />

1998 verschob sich der Schwerpunkt gen Osten. Dieser Verlagerung<br />

folgten die rechtsextremen Parteistrukturen (beispielsweise Parteizentrale und<br />

Verlag der NPD) und Organisationsschwerpunkte (Quent, 2012c). Nach der deutschen<br />

Vereinigung herrschte in einigen Teilen Deutschlands eine rassistische und<br />

ausländerfeindliche „Pogromstimmung“, wie die Investigativjournalistin Andrea<br />

Röpke vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages erläuterte (Deutscher<br />

Bundestag, 2013). Während 1990 380 Gesetzesverletzungen mit rechtsextremistischem<br />

Bezug (davon 128 Gewaltdelikte) erfasst wurden, lag die Zahl 1991<br />

um das Fünffache höher. Vor allem rechtsextremistische Brand- und Sprengstoffanschläge<br />

nahmen zu. 1991 und 1992 kam es zu massiven rassistischen Ausschreitungen:<br />

Im sächsischen Hoyerswerda wurden im September 1991 vor Asylbewerberwohnheimen<br />

Molotowcocktails geworfen und Polizeibeamte mit Stahlkugeln<br />

beschossen. Die Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, wo<br />

über 4.000 Gewalttäter und Unterstützer die Flüchtlingsunterkunft attackierten,<br />

dauerten mehrere Tage an. Schlussendlich mussten die Asylsuchenden aus den<br />

Unterkünften evakuiert werden. Somit hatte der rassistische Mob sein Ziel, ‚die<br />

Ausländer zu vertreiben‘, erreicht. Im ganzen Bundesgebiet folgten Nachahmungstaten<br />

mit mehreren Todesopfern. Am 23. November 1992 wurden im schleswigholsteinischen<br />

Mölln Brandanschläge auf zwei bewohnte Mehrfamilienhäuser<br />

verübt, in deren Folge drei Menschen starben, mehrere Personen erlitten zum Teil<br />

schwere Verletzungen. 1993 wurde in Solingen ein von türkischen Migranten bewohntes<br />

Mehrfamilienhaus angezündet – zwei Frauen und drei Kinder kamen ums<br />

Leben.<br />

Nach der deutschen Vereinigung wurden rechtsextreme Orientierungen in Ost<br />

und West systematisch erhoben und verglichen: Die erste bundesweite Messung<br />

rechtsextremer Einstellungen im vereinigten Deutschland stellte im Frühjahr 1994<br />

in Westdeutschland ein mehr als doppelt so großes rechtsextremistisches Einstellungspotenzial<br />

fest als im Osten. Erst bei einer Folgeuntersuchung 1998 wurden


110 Matthias Quent<br />

mehr rechtsextremistische Einstellungen im Osten gemessen (Stöss, 2000, S. 30).<br />

Die repräsentativen Erhebungen der Leipziger Forschungsgruppe um Elmar Brähler<br />

und Oliver Decker weisen in den Jahren 2002, 2004 und 2006 höhere Prozentwerte<br />

von Befragten mit „geschlossenem rechtsextremen Weltbild“ in den<br />

westlichen Bundesländern gegenüber den östlichen aus (Decker, Kiess & Brähler,<br />

2012, S. 54). Zuletzt wussten die Autoren zu berichten, dass die „Häu gkeit von<br />

Menschen mit geschlossenem rechtsextremen Weltbild […] sich 2014 nicht signikant<br />

zwischen Ost- und Westdeutschland [unterscheidet]“ (Decker, Kiess &<br />

Brähler, 2014, S. 57). Empirisch gesicherte Unterschiede lassen sich wiederholt vor<br />

allem hinsichtlich der deutlich höheren Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland<br />

beobachten (ebd., S. 61).<br />

Der Exkurs zeigt, dass der <strong>Rechtsextremismus</strong> auch nach 1990 weder im Wahlverhalten<br />

noch auf der Ebene der Einstellungen eine originär ostdeutsche Erscheinung<br />

ist. Dennoch bestehen ostdeutsche Besonderheiten.<br />

Differenzierung ist vonnöten<br />

Die eingangs zitierten Aussagen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> als Folgeerscheinung<br />

der DDR-Sozialisation sind symptomatisch für viele häug zu kurz greifende Zuordnungen<br />

und Interpretationen. Sie repräsentieren den Versuch, Ursachen von<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und rassistischer Gewalt unter dem Vorsatz der Aufarbeitung<br />

zu historisieren bzw. die Verantwortung dafür einem überlebten Gesellschaftssystem<br />

zuzuschreiben. Welchen Erklärungswert hat die These vom kausalen Zusammenhang<br />

von DDR-Diktatur und Naziterror für die Genese des NSU, des modernen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und für die Beschaffenheit des gegenwärtigen Diskurses<br />

tatsächlich?<br />

Differenzierung ist vonnöten. Wendeerfahrungen und -folgen, wie „politische<br />

Umwälzung“ und „Schulreform“, die unter anderen von der Mutter des NSU-Terroristen<br />

Böhnhardt als Ursachen für die Radikalisierung ihres Sprösslings verantwortlich<br />

gemacht werden (zitiert in: Debes, 2013), liegen nicht in der Beschaffenheit<br />

des diktatorischen Systems der DDR begründet. Vielmehr sind sie Ausdruck<br />

gesellschaftlicher Transformationsprozesse und der damit einhergehenden Verunsicherungen.<br />

Deren Auswirkungen auf die Gesellschaftsmitglieder hängen nicht<br />

primär mit der vorherigen Verfasstheit einer (Teil-)Gesellschaft zusammen, sondern<br />

mit den sozioökonomischen Rahmenbedingungen, der Steuerung, Moderation<br />

und Anerkennung des Wandels und des neuen Systems. Empirisch messbar<br />

verschob sich die übergroße <strong>Rechtsextremismus</strong>belastung in den Mentalitäten der<br />

Bevölkerung erst dann in die neuen Länder, als klar wurde, dass die von Hel-


Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />

111<br />

mut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ ausblieben. Wie Individuen<br />

Transformation wahrnehmen und bewerten, hängt dabei auch mit sozialisierten<br />

Deutungs- und Verarbeitungsweisen zusammen.<br />

Wird, wie mit dem Verweis auf die „DDR-Diktatur“ angedeutet, ein Kausalverhältnis<br />

behauptet zwischen persönlichen Erfahrungen („Töpfchen-These 1 “), politischen<br />

Einüssen („verordneter Antifaschismus“, vgl. unter anderem Heitmann,<br />

1997, S. 93) und den Ausprägungen politischer Einstellungen und Verhaltensweisen,<br />

werden systembedingte Sozialisationsein üsse für die Bevölkerung der ehemaligen<br />

DDR bis 1989/1990 betont. Diese, so die Annahme, ließen sich auf die<br />

Prägung des Alltags durch die diktatorische Gesellschaftsordnung zurückführen<br />

und führten in der Nachwendegesellschaft dazu, dass Ostdeutsche häu ger Af-<br />

nitäten zum <strong>Rechtsextremismus</strong> zeigten als Westdeutsche. Dem sozialisationstheoretischen<br />

Ansatz folgend habe die DDR-Sozialisation mentale Deformation<br />

zur Folge, welche sich in antidemokratischen Einstellungen, Fremdenfeindlichkeit,<br />

Autoritarismus und fehlender Eigeninitiative äußere. Bürger in den neuen Bundesländern<br />

seien demnach aufgrund ihrer Sozialisation in der DDR deutlich autoritärer<br />

geprägt als im Westen Deutschlands (als Überblick: Bulmahn, 2000).<br />

Empirisch ist diese Annahme bereits mehrfach widerlegt. So ist die Tendenz zu<br />

autoritären Orientierungen in den alten und neuen Bundesländern ähnlich (Sommer,<br />

2010). Regionale Unterschiede in der Verbreitung rechtsextremer Einstellung<br />

resultieren nicht aus der Herkunft aus einem ost- oder westdeutschen Bundesland,<br />

sondern sind unter anderem auf die aktuelle sozioökonomische Lage im nahen<br />

Wohn- und Lebensumfeld zurückzuführen. Unter der Wohnbevölkerung wirtschaftlich<br />

abdriftender Regionen sind – unabhängig von den Ost-West-Variablen –<br />

rechtsextreme Einstellungen stärker ausgeprägt als in stabilen und prosperierenden<br />

Gegenden. Unterschiede in den politischen Mentalitäten können sich demzufolge<br />

erst dann au ösen, wenn sich die Lebensbedingungen in West- und Ostdeutschland<br />

angleichen (Quent, 2012a).<br />

Wenn es nicht um mögliche Ursachen persönlicher Einstellungs- und Verhaltensdispositionen<br />

in der Vergangenheit (also vor 1989) geht, sondern wie im von<br />

1 Schochow (2013) fasst die Diskussion um die überspitzt als „Töpfchen-These“ bezeichnete<br />

Debatte zusamen. Zugrunde liegt eine These von Christian Pfeiffer: „Ostdeutsche,<br />

so der Kriminologe Christian Pfeiffer in einem viel beachteten Spiegel-Artikel<br />

zehn Jahre nach der friedlichen Revolution, wurden langfristig von einer DDR-spezifischen<br />

Erziehungslogik geprägt. Man sei nämlich in DDR-Krippen und -Kindergärten<br />

‚nur wenig auf die Bedürfnisse der Kinder eingegangen und habe zu wenig Raum für<br />

deren Entfaltung gelassen.‘ Diese Kälte führe später zu Fremdenfeindlichkeit“ (ebd.,<br />

S. 175). Kindergartenkinder in der DDR mussten nach Pfeiffer immer gemeinsam aufs<br />

Töpfchen gehen, woraus ihre autoritäre Prägung erwachsen sei.


112 Matthias Quent<br />

Brigitte Böhnhardt aufgeworfenen Beispiel um Folgen sozialer Wandlungsprozesse,<br />

die sich bei ihrem Auftreten unmittelbar auf die biogra sche Lage der Individuen<br />

auswirken, ist von situativen Effekten die Rede: Reaktionen, die in der gesellschaftlichen<br />

Lage begründet liegen – und nicht in der Sozialisation der Personen.<br />

‚Gelernte‘ (oder eben auch nicht gelernte) Deutungsweisen und Mechanismen zur<br />

Verarbeitung von krisenhaften Situationen können beim Eintreten einer solchen<br />

‚Krise‘ aktiviert oder neu adaptiert werden. ‚Verlierer‘ kapitalistischer Modernisierung<br />

weisen – nach individueller und milieuspezi scher Lage – unterschiedliche<br />

Verarbeitungsmuster der eigenen Desintegration auf. Dazu kann die Unterstützung<br />

autoritärer, abwertender und rechtsextremer Axiome der Politik zählen – im<br />

Osten und im Westen. Darauf hinzuweisen ist vor allem deswegen relevant, weil<br />

die Transformation der bundesdeutschen Gesellschaft keineswegs abgeschlossen,<br />

sondern eher ein Dauerprozess ist.<br />

Problematische Entlastung<br />

Der Verweis auf die „braunen Ursprünge“ des <strong>Rechtsextremismus</strong> im DDR-System<br />

fungiert diskursiv entlastend gegenüber den aktuellen Ungleichheitsmechanismen,<br />

welche heute die Entstehung des <strong>Rechtsextremismus</strong> begünstigen. Die Bedeutung<br />

spezischer, in der DDR vermittelter politischer Mentalitäten prägte die Sozialisation<br />

der Jugendgeneration, zu der Mitglieder und Unterstützer der NSU-Gewaltgruppe<br />

gehörten. Für die Generation der heute unter 25-Jährigen hat sie dagegen<br />

allenfalls Bedeutung durch die Vermittlung und Weitergabe von Erfahrungen und<br />

Werten der Eltern- und Großelterngeneration. Dies bedeutet allerdings nicht, dass<br />

jene gesellschaftlichen Momente, die <strong>Rechtsextremismus</strong> als individuelle Bewältigungsstrategie<br />

begünstigen, ebenfalls verschwunden sind:<br />

„Wahrgenommene Desintegration, Deprivation und Anerkennungsprobleme bilden<br />

den Nährboden für eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, in deren Folge Angehörige<br />

schwacher Gruppen abgewertet und/oder in diskriminierender Weise behandelt<br />

werden“ (Mansel & Spaiser, 2010, S. 74).<br />

Diese objektiv erfahrenen oder subjektiv erlebten Gefährdungen des eigenen sozialen<br />

Status haben in den vergangenen 20 Jahren nicht an Bedeutung verloren:<br />

Die Differenz der höheren Arbeitslosenquote im Osten nimmt im Zeitverlauf<br />

gegenüber dem Westen kaum ab, vielmehr sind Parallelentwicklungen zu beobachten.<br />

Es zeichnet sich ein erhöhtes Risiko dafür ab, dass sich auch Menschen in<br />

den westlichen Bundesländern nicht mehr als geachtete und wertvolle Mitglieder


Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />

113<br />

der Gesellschaft erfahren oder wahrnehmen. Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland<br />

und innerhalb der Landesteile hat sich die soziale Ungleichheit zwischen<br />

1993 und 2004 deutlich verschärft (Heitmeyer, 2009, S. 26). Neuere Ansätze<br />

plädieren daher für eine mikroregionale Differenzierung, beispielsweise zwischen<br />

abgehängten und prosperierenden Regionen, welche in Ost- und Westdeutschland<br />

anzutreffen sind. Deren sozioökonomische Lage wirkt sich auf die Virulenz<br />

rechtsextremer Einstellungen, Wahlergebnisse rechtsextremer Parteien sowie Geländegewinne<br />

informeller rechtsextremer Gruppen aus (Grau & Heitmeyer, 2013;<br />

Legge, Reinecke & Klein, 2009; Marth, Grau & Legge, 2010; Quent, 2012a).<br />

Weder die Wende- noch die DDR-Sozialisationserfahrungen können als maßgeblich<br />

für die Eskalation der Gewalt des NSU im Untergrund ab 2000 angesehen<br />

werden. Die Mitglieder und Unterstützer der Gewaltgruppe teilen ihre Transformations-<br />

und Desintegrationserfahrungen mit zehntausenden Jugendlichen, von<br />

denen sich zwar zahlreiche der rechtsextremen Szene angeschlossen haben, aber<br />

niemand eine vergleichbare Mordserie zu verantworten hat. Tausende Rechtsextreme<br />

gibt es noch heute – in Ost und West. Eine Neuau age rechtsextremen<br />

Terrors kann nicht ausgeschlossen werden. Umso essenzieller ist es deshalb, die<br />

wirklichen Faktoren für die Eskalation und Rechtsradikalisierung bis zum Kulminationspunkt<br />

Terrorismus zu erforschen und zu problematisieren.<br />

Fazit<br />

Es wurde beschrieben, dass <strong>Rechtsextremismus</strong> weder ein originär ost- noch<br />

ein einzig westdeutsches Phänomen darstellt. Monokausale Erklärungsansätze<br />

sind populär, aber ungenügend. Es lassen sich Besonderheiten im ostdeutschen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> identi zieren, die ihre Ursache im DDR-System haben und<br />

die rechtsextreme Bewegung nach der Vereinigung bundesweit verändert haben:<br />

Herausstechen dabei vor allem die hohe Gewaltafnität der meist jugend- und subkulturell<br />

geprägten Rechtsextremen. Unbenommen der notwendigen Differenzierungen<br />

wurde gezeigt, dass der Fall der Mauer ein Möglichkeitsfenster öffnete, in<br />

dem die Bedingungen für ein Erstarken des <strong>Rechtsextremismus</strong> außerordentlich<br />

günstig waren. Gleichwohl müssen sowohl die jeweils handelnden Akteure als<br />

auch die vorherrschenden politischen Gelegenheitsstrukturen betrachtet werden,<br />

um das Auftreten unterschiedlicher Erscheinungsformen politischer Aktionsformen,<br />

beispielsweise von Gewalt, zu erklären. Mit der Asyldebatte zu Beginn der<br />

1990er Jahre verbesserten sich die Gelegenheitsstrukturen für die Rechtsextremen<br />

bundesweit. Insbesondere die Sanktions- und Restriktionsarmut und -unfähigkeit,<br />

die aus der Schwäche der staatlichen Strukturen in der Übergangszeit in den neuen


114 Matthias Quent<br />

Bundeslän dern und der Unterstützung durch etablierte Strukturen aus den alten<br />

Ländern resultierte, ermöglichte der rechtsextremen Szene eine nahezu ungehinderte<br />

Ausbreitung.<br />

Über 20 Jahre nach der Vereinigung existieren in ost- und westdeutschen<br />

Regionen etablierte rechtsextreme Strukturen, deren konkrete Gestalt variiert.<br />

Permanente Anpassungserfordernisse an die Individuen durch gesellschaftliche<br />

Modernisierungsprozesse und vor allem die in Folge der ansteigenden weltweiten<br />

Fluchtmigrationsbewegungen neu entfachte Asyldebatte bieten der rechtsextremen<br />

Szene vielfältige Anknüpfungspunkte. Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft<br />

sind gut beraten, wenn sie die neuerliche Zunahme gewalttätiger und agitatorischer<br />

Aktivitäten gegen ‚Fremde‘ als permanente Herausforderung für die Demokratie<br />

ernst nehmen, anstatt den <strong>Rechtsextremismus</strong> als sozialen ‚Restmüll‘ der DDR zu<br />

historisieren.


Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />

115<br />

Literatur<br />

Bergmann, W. & Erb, R. (1994). Eine soziale Bewegung von rechts? Entwicklung und Vernetzung<br />

einer rechten Szene in den neuen Bundesländern. Forschungsjournal NSB, 2,<br />

80 – 99.<br />

Botsch, G. (2012). Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland. 1949 bis heute.<br />

Darmstadt: WBG Wiss. Buchges.<br />

Bulmahn, T. (2000). Das vereinte Deutschland – eine lebenswerte Gesellschaft? Zur Bewertung<br />

von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit in Ost und West. Kölner Zeitschrift<br />

für Soziologie und Sozialpsychologie, 52, 405 – 427.<br />

Debes, M. (2013, November 23). War die Revolution 1989 für die NSU-Morde mitverantwortlich?<br />

Thüringer Allgemeine. Zugriff am 20.01.2014 http://www.thueringer-allgemeine.de<br />

Decker, O., Brähler, E. & Kiess, J. (2012). Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen<br />

in Deutschland 2012. Bonn: Dietz.<br />

Decker, O., Brähler, E. & Kiess, J. (2014). Die stabilisierte Mitte – Rechtsextreme Einstellung<br />

in Deutschland 2014. Leipzig: Universität.<br />

Deutscher Bundestag (2013). Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses<br />

nach Artikel 44 des Grundgesetzes. Drucksache 17/14600. Berlin.<br />

Dimitrov, G. (1935). Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen<br />

Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus.<br />

Bericht, erstattet am 2. August 1935 auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen<br />

Internationale. In G. Dimitrov (1960), Ausgewählte Werke. Soa: Fremdsprachenverlag.<br />

Fromm, R. (1993). <strong>Rechtsextremismus</strong> in Thüringen. 2. Au. Marburg: Schüren.<br />

Funke, H. (2012). Vorwort. In M. Baumgärtner & M. Böttcher (Hrsg.), Das Zwickauer Terror-Trio.<br />

Ereignisse, Szene, Hintergründe (S. 10 – 17). Berlin: Das Neue Berlin.<br />

Grau, A. & Heitmeyer, W. (Hrsg.). (2013). Menschenfeindlichkeit in Städten und Gemeinden.<br />

Weinheim: Beltz Juventa.<br />

Greiffenhagen, M. (Hrsg.). (1981). 5 Millionen Deutsche: „Wir sollten wieder einen Führer<br />

haben …“. Die SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen.<br />

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.<br />

Heinemann, K., Schubarth, W. & Brück, W. (1992). Der Antifaschistische Staat entlässt<br />

seine Kinder. Jugend und <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland. Köln: Papyrossa.<br />

Heitmann, H. (1997). Außerschulische politische Jugendbildung in den neuen Bundesländern.<br />

In B. Hafeneger & G. Brenner (Hrsg.), Handbuch politische Jugendbildung (S. 81 –<br />

101). Schwalbach/Ts.: Wochenschau.<br />

Heitmeyer, W. (1988). Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. 2. Au .<br />

Weinheim, München: Juventa-Verlag.<br />

Heitmeyer, W. (2009). Deutsch-deutsche Zustände. 20 Jahre nach dem Mauerfall. Bonn:<br />

Bundeszentrale für Politische Bildung.<br />

Hirsch, K. (1989). Rechts von der Union. Personen, Organisationen, Parteien seit 1945.<br />

München: Knesebeck u. Schuler.<br />

Kollmorgen, R. & Quent, M. (2014). Zur Bedeutung von sozialen Innovationsbeziehungen<br />

in der Entwicklung des <strong>Rechtsextremismus</strong>. Berliner Debatte Initial, 25, 3 – 15.<br />

Koopmans, R. & Rucht, D. (1996). Rechtsradikalismus als soziale Bewegung? In J. Falter,<br />

H. Jaschke & J. Winkler (Hrsg.). <strong>Rechtsextremismus</strong>. Ergebnisse und Perspektiven der<br />

Forschung (S. 265 – 287). Opladen: Westdeutscher Verlag.


116 Matthias Quent<br />

Legge, S., Reinecke, J. & Klein, A. (2009). Das Kreuz des Wählers. Die Auswirkungen von<br />

politischer Entfremdung und Fremdenfeindlichkeit auf das Wahlverhalten in abgehängten<br />

Regionen. In W. Heitmeyer (Hrsg.). Deutsche Zustände (S. 53 – 72). Frankfurt am<br />

Main: Suhrkamp.<br />

Lessenich, S. (2013). Brauner Osten? <strong>Rechtsextremismus</strong> als deutsch-deutscher Einsatz und<br />

Effekt. In I. Schmincke & J. Siri (Hrsg.). NSU-Terror: Ermittlungen am rechten Abgrund<br />

(S. 135 – 143). Bielefeld: transcript.<br />

Luzar, C. & Sundermeyer, O. (2010). Gewaltige Energie. Dortmund als Hochburg der Autonomen<br />

Nationalisten. In W. Heitmeyer (Hrsg.). Deutsche Zustände. Folge 9 (S. 49 – 71).<br />

Berlin: Suhrkamp.<br />

Mansel, J. & Spaiser, V. (2010). Ängste und Kontrollverluste. Zusammenhänge mit Gruppenbezogener<br />

Menschenfeindlichkeit. In W. Heitmeyer (Hrsg.). Deutsche Zustände. Folge<br />

8. (S. 49 – 71). Berlin: Suhrkamp.<br />

Marth, J., Grau, A. & Legge, S. (2010). Fremdenfeindlichkeit: Warum der lokale Kontext<br />

einen Unterschied macht. In W. Heitmeyer (Hrsg.). Deutsche Zustände. Folge 9 (S. 61 –<br />

81). Berlin: Suhrkamp.<br />

Neureiter, M. (1996). <strong>Rechtsextremismus</strong> im vereinten Deutschland. Eine Untersuchung sozialwissenschaftlicher<br />

Deutungsmuster und Erklärungsansätze. Marburg: Tectum-Verl.<br />

Pates, R. & Schochow, M. (Hrsg.). (2013). Der „Ossi“. Mikropolitische Studien über einen<br />

symbolischen Ausländer. Wiesbaden: Springer.<br />

Pfahl-Traughber, A. (2001). Der organisierte <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland. In W.<br />

Schubarth & R. Stöss (Hrsg.). <strong>Rechtsextremismus</strong> in der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Eine Bilanz (S. 71 – 100). Opladen: Leske + Budrich.<br />

Quent, M. (2012a). Mehrebenenanalyse rechtsextremer Einstellungen. Magdeburg: Meine<br />

Verlag.<br />

Quent, M. (2012b). Antisemitismus in der DDR. In Kokont (Hrsg.). Antisemitismus am Beispiel<br />

Thüringen und Jena (S. 59 – 62). Jena.<br />

Quent, M. (2012c). <strong>Rechtsextremismus</strong> – ein ostdeutsches Phänomen? Aus Politik und Zeitgeschichte,<br />

16-17, 38 – 42.<br />

Rennefanz, S. (2013). Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration. 2. Au. München:<br />

Luchterhand.<br />

Rommelspacher, B. (2006). „Der Hass hat uns geeint“. Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg<br />

aus der Szene. Frankfurt/Main: Campus.<br />

Rosen, K. (1989). Rechtsterrorismus. Gruppen, Täter, Hintergründe. In G. Paul (Hrsg.). Hitlers<br />

Schatten verblaßt (S. 49 – 78). Bonn: Dietz.<br />

Rucht, D. (1994). Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich<br />

und USA im Vergleich. Frankfurt & New York: Campus.<br />

Schumann, F. (1990). Glatzen am Alex. <strong>Rechtsextremismus</strong> in der DDR . Berlin: Ed. Fischerinsel.<br />

Siegler, B & Bittermann, K. (1991). Auferstanden aus Ruinen. Rechtextremismus in der<br />

DDR. Berlin: Tiamat.<br />

Sommer, B. (2010). Prekarisierung und Ressentiments. Wiesbaden: VS Verlag.<br />

Stöss, R. (2000). <strong>Rechtsextremismus</strong> im vereinten Deutschland. Bonn: Friedrich-Ebert-<br />

Stiftung.<br />

Stöss, R. (2010). <strong>Rechtsextremismus</strong> im Wandel. 3. Au . Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

Forum Berlin.


Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />

117<br />

v. Bullion, C. (2011, November 23). Ursachensuche nach Neonazi-Morden – Gift der Diktatur.<br />

Süddeutsche Zeitung. Zugriff am 16. Februar 2015 http://www.sueddeutsche.de<br />

Zick, A., Küpper B. & Hövermann, A. ( 2011). Die Abwertung der Anderen. Eine europäische<br />

Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. Berlin:<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin.


T rends und Ursachen<br />

des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland 1<br />

Heinrich Best<br />

Seit den ersten Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung wird der <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

als ein besonderes Problem Ostdeutschlands wahrgenommen. Obwohl<br />

Westdeutschland keineswegs Immunität gegenüber rechtsextremen Tendenzen<br />

für sich beanspruchen kann, gibt es doch einige empirische Evidenz für die<br />

Annahme, der <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland sei sowohl seiner Quantität<br />

als auch seiner Qualität nach ein spezi sches Phänomen (vgl. Best, Salheiser &<br />

Salomo, 2014). Dies betrifft die wiederholten Wahlerfolge rechtsextremer Parteien<br />

und ihren Einzug in ostdeutsche Landtage, die im Vergleich zur gesamtdeutschen<br />

Statistik in Ostdeutschland signi kant häuger dokumentierten Gewaltstraftaten<br />

mit ausländerfeindlichen bzw. rassistischen Tatmotiven sowie die bei ostdeutschen<br />

Befragten erhöhten Zustimmungswerte zu ausländerfeindlichen, nationalistischen<br />

und diktaturaf nen Positionen, die dem rechtsextremen Einstellungssyndrom<br />

zugerechnet werden (vgl. von Berg, 1994; Borstel, 2012; Pfahl-Traughber, 2009;<br />

Wagner, 2000). Jüngst haben islamfeindliche und europaskeptische soziale Bewegungen<br />

und Parteien wie Pegida und AfD in Ostdeutschland ihre bisher größten<br />

Mobilisierungs- und Wahlerfolge erzielt.<br />

In den frühen neunziger Jahren galten ausgeprägte rechtsextreme Tendenzen<br />

in Ostdeutschland jedoch als Paradox, denn in der DDR hatte die SED versucht,<br />

1 Eine frühere Fassung dieses Beitrages wurde im Juli 2014 unter dem Titel „Trends and<br />

Causes of Right Wing Extremism in East Germany“ auf dem Annual Scientific Meeting<br />

of the International Society of Political Psychology (ISPP) in Rom präsentiert. Die<br />

Übersetzung ins Deutsche besorgte Axel Salheiser.<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


120 Heinrich Best<br />

ihren Herrschaftsanspruch mit dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu<br />

legitimieren, in welcher der „Faschismus auf deutschem Boden“ im festen Bündnis<br />

mit der Sowjetunion für immer besiegt worden sei. Dies blieb der Gründungsmythos<br />

der DDR und ihre Staatsräson bis zum Ende der SED-Herrschaft (vgl.<br />

Ahbe, 2007; Danyel, 1999). Allerdings war im Westen bereits vor 1990 bekannt<br />

gewesen oder zumindest vermutet worden, dass die Herrschaftspraxis der SED<br />

der ofziellen Antifaschismus-Ideologie in wichtigen Bereichen wie z. B. der Rekrutierung<br />

des eigenen Führungspersonals widersprach (vgl. Best, 2010; Best &<br />

Salheiser, 2006; Salheiser, 2010). Als sich nach der Wende die Aktenschränke und<br />

Archive Ostdeutschlands für die historische und soziologische Forschung öffneten,<br />

bestätigten sich jene Vermutungen. So waren beispielsweise gut ein Sechstel<br />

der SED-Parteisekretäre in Thüringen in den fünfziger Jahren ehemalige Mitglieder<br />

der NSDAP gewesen, ein weiteres Drittel ehemalige Mitglieder „faschistischer<br />

Organisationen“ (vgl. Best, 2003; Meenzen, 2010). Entgegen der Propaganda der<br />

SED überschattete die NS-Vergangenheit nicht nur die Bundesrepublik, sondern<br />

auch die DDR-Gesellschaft und das SED-Regime selbst. Als Anfang 1990 die<br />

ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR vorbereitet wurden, sahen sich die<br />

dafür zuständigen Behörden gezwungen, „faschistische Organisationen“ von der<br />

Wahlteilnahme auszuschließen. Sie befürchteten offenbar ein erhebliches Gefährdungspotential<br />

durch einen autochthonen <strong>Rechtsextremismus</strong> der DDR unter den<br />

Bedingungen der neu gewonnenen demokratischen Freiheitsrechte und der Ein-<br />

ussnahme westdeutscher rechtsextremer Organisationen und Medien.<br />

Die ober ächliche Entnazizierungspraxis in der DDR der späten vierziger<br />

und frühen fünfziger Jahre (vgl. Kappelt, 1997) ist jedoch keine hinreichende<br />

Erklärung dafür, dass seit den neunziger Jahren rechtsextreme Parteien in Ostdeutschland<br />

Wahlerfolge erzielt haben und dass fremdenfeindliche, rassistische<br />

und antidemokratische Einstellungen überdurchschnittlich häu g auftreten. Die<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung hat stattdessen eine Vielzahl weiterer Erklärungsansätze<br />

hervorgebracht, bei denen sich grundsätzlich zwei Kausalfaktoren unterscheiden<br />

lassen:<br />

• die Wahrnehmung kollektiver Diskriminierung und relativer Deprivation der<br />

Ostdeutschen in Folge der Wiedervereinigung,<br />

• der Fortbestand antidemokratischer, antipluralistischer und antikapitalistischer<br />

Einstellungen und Normen, die sich vor allem auf eine Sozialisation im autoritären<br />

Sozialismus sowjetischer Prägung zurückführen lassen.<br />

Wenn davon auszugehen ist, dass sowohl die Gründe für die relative Deprivation<br />

als auch sozialistische Sozialisationsmuster weiterwirken bzw. reproduziert wer-


Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland<br />

121<br />

den, dann können diese beiden Kausalfaktoren zur Erklärung der langfristigen<br />

Entwicklung des ostdeutschen <strong>Rechtsextremismus</strong> nach der Wiedervereinigung<br />

herangezogen werden.<br />

Nachfolgend möchte ich untersuchen, inwieweit die gerade skizzierten Ansätze<br />

geeignet sind, das Auftreten rechtsextremer Einstellungen in der ostdeutschen<br />

Bevölkerung zu erklären. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei der Frage zu widmen,<br />

inwieweit rechtsextreme Einstellungen mit der Bewertung der DDR und der<br />

sozialistischen Ordnung verknüpft sind, weil die DDR ihrem Anspruch nach und<br />

in der Vorstellung vieler Ostdeutscher bis heute als antifaschistisches und „linkes“<br />

Gesellschaftsprojekt gilt. Als empirische Basis meiner Untersuchung dienen die<br />

Daten des THÜRINGEN-MONITORs, einer jährlich stattndenden Repräsentativbefragung<br />

der wahlberechtigten Bevölkerung des Freistaates Thüringen mit jeweils ca.<br />

1.000 Befragten (vgl. Best, 2012; Best et al., 2013). Die Datenreihe des T HÜRIN-<br />

GEN-MONITORs dokumentiert die Anteile rechtsextrem eingestellter Thüringer und<br />

Thüringerinnen von 2001 bis 2014 fast lückenlos, nur im Jahr 2009 fand keine Erhebung<br />

statt. Initiiert wurde die Befragung in Folge des Brandanschlages auf die<br />

Synagoge in der Landeshauptstadt Erfurt im Jahr 2000. Von Seiten der Politik und<br />

der Öffentlichkeit im Freistaat hat seitdem großes Interesse bestanden, die Entwicklung<br />

rechtsextremer Einstellungen im weiteren Kontext der politischen Kultur<br />

Thüringens wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Dies wurde auch besonders<br />

deutlich nach dem Bekanntwerden der Verbrechen des „Nationalsozialistischen<br />

Untergrundes“ (NSU), dessen (mutmaßliche) Mitglieder alle aus der thüringischen<br />

Universitätsstadt Jena stammen. Wobei es aus wissenschaftlicher Perspektive nicht<br />

unproblematisch ist, die ausländerfeindlich und rassistisch motivierten Gewaltexzesse<br />

des NSU mit den Einstellungen in der allgemeinen Bevölkerung in Bezug zu<br />

setzen. Seit 2012 wird der T HÜRINGEN-MONITOR unter meiner Leitung am Institut<br />

für Soziologie der Friedrich Schiller-Universität Jena erstellt und ausgewertet.<br />

Den Kern der indikatorengestützten Messung rechtsextremer Einstellungen<br />

bieten im T HÜRINGEN-MONITOR zehn Zustimmungsitems, die zu einer <strong>Rechtsextremismus</strong>skala<br />

verrechnet werden. Der Grundstein für dieses Messkonzept wurde<br />

2001 gelegt, als eine Gruppe deutscher Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen<br />

eine „Konsensde nition“ des <strong>Rechtsextremismus</strong> erarbeitete. Die<br />

„Konsensdenition“ besitzt mittlerweile quasi-of ziellen Charakter, da sie von<br />

der wissenschaftlichen Forschung ausgehend auch Eingang in die politischen Programme<br />

zur Bekämpfung des <strong>Rechtsextremismus</strong> auf Länder- und Bundesebene<br />

gefunden hat. Demnach ist <strong>Rechtsextremismus</strong> ein Einstellungssyndrom, das<br />

Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus, die Af nität zur (nationalen) Diktatur, die<br />

Verharmlosung des Nationalsozialismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus<br />

umfasst. Jeder dieser sechs Dimensionen – oder besser: Facetten – des Rechtsex-


122 Heinrich Best<br />

tremismus wurden Items aus einem umfangreichen und größtenteils bis dato bereits<br />

forschungserprobten Fragenkatalog zugeordnet. Die Mehrheit der deutschen<br />

Befragungsstudien zu rechtsextremen Einstellungen seit 2001 folgen der Konsensdenition<br />

insofern, dass Items aus dem vereinbarten Fragenkatalog Verwendung<br />

fanden, die Auswahl der einzelnen Indikatoren und deren jeweilige Anzahl variierte<br />

indessen beträchtlich. Im THÜRINGEN-MONITOR werden seit 2001 die gleichen<br />

zehn Indikatoren zur Messung rechtsextremer Einstellungen genutzt (vgl. Tabelle<br />

1). Während in anderen Studien teilweise auch fünfstu ge Antwortskalen eingesetzt<br />

werden, wurde für den T HÜRINGEN-MONITOR eine vierstu ge Antwortskala 2<br />

ohne Mittelkategorie gewählt. Die aus den zehn Items gebildete Summenskala<br />

rangiert folglich zwischen 10 und 40 Punkten. Ab einem Punktwert von 26 wurden<br />

Befragte als rechtsextrem eingestuft, ab einem Punktwert von 30 dem „harten<br />

Kern“ der Personen mit verfestigten rechtsextremen Einstellungen zugerechnet.<br />

2 Antwortkategorien: „stimme voll und ganz zu“ (4 Punkte), „stimme überwiegend zu“<br />

(3), „lehne überwiegend ab“ (2), „lehne völlig ab“ (1).


Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland<br />

123<br />

Tabelle 1 Die Messung rechtsextremer Einstellungen im Thüringen-Monitor nach der<br />

“Konsensdenition” des <strong>Rechtsextremismus</strong> (Thüringen-Monitore 2001–2014;<br />

Zustimmungswerte 2013)<br />

Fremdenfeindlichkeit<br />

„Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen<br />

Maße überfremdet.“<br />

„Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen.“<br />

„Ausländer sollten grundsätzlich ihre Ehepartner unter den eigenen<br />

Landsleuten auswählen.“<br />

Sozialdarwinismus<br />

„Es gibt wertvolles und unwertes Leben.“ 32<br />

„Wie in der Natur sollte sich auch in der Gesellschaft immer der 31<br />

Stärkere durchsetzen.“<br />

Nationalismus und Chauvinismus<br />

„Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches 45<br />

Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.“<br />

„Andere Völker mögen Wichtiges vollbracht haben, an deutsche 41<br />

Leistungen reicht das aber nicht heran.“<br />

Verharmlosung des Nationalsozialismus<br />

„Der Nationalsozialismus hat auch seine guten Seiten.“ 21<br />

Antisemitismus<br />

„Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an 15<br />

sich und passen nicht so recht zu uns.“<br />

Rechte Diktatur<br />

„Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine 12<br />

Diktatur die bessere Staatsform.“<br />

Zustimmung<br />

(in %)<br />

42<br />

44<br />

21<br />

Allerdings haben unsere eigenen Untersuchungen zur Validität und Reliabilität<br />

einige Schwächen des Messinstrumentes offengelegt: So musste insbesondere die<br />

Annahme zurückgewiesen werden, die zehn Items bildeten eine eindimensionale<br />

Skala. Eine Hauptkomponentenanalyse wies zwei Faktoren aus, die ihrerseits wiederum<br />

auf die Existenz zweier Varianten des <strong>Rechtsextremismus</strong> hindeuteten: den<br />

„Neo-Nationalsozialismus“ sowie den „Ethnozentrismus“. Als forschungspraktische<br />

Konsequenz dieser Erkenntnis wurde ein neuer gewichteter Mittelwertindex<br />

berechnet, der die alte, auf der Eindimensionalitätsannahme beruhende Summenskala<br />

ablöst (vgl. Best & Salomo, 2014). Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse<br />

aus den älteren T HÜRINGEN-MONITORen und anderen Studien zu gewährleisten,<br />

soll an dieser Stelle zunächst die alte Summenskala interpretiert werden, die den


124 Heinrich Best<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> als ein einheitliches Muster von Einstellungen und Ideologemen<br />

modelliert und abbildet.<br />

Die Befragungen des T HÜRINGEN-MONITORs zeigen, dass bestimmte Facetten<br />

des <strong>Rechtsextremismus</strong> (nach der „Konsensde nition“) hohe Zustimmungswerte<br />

unter der Thüringer Bevölkerung erzielen. 2013 stimmten vier von zehn Befragten<br />

fremdenfeindlichen und nationalistischen Aussagen zu, drei von zehn Befragten<br />

stimmten sozialdarwinistischen Positionen zu, jeweils ein Fünftel unterstützte<br />

Aussagen, in denen der Nationalsozialismus verharmlost und ethnisch homogene<br />

Ehen gefordert werden. Jeweils mehr als ein Zehntel der Befragten zeigte Af nität<br />

zu einer nationalen Diktatur und vertrat antisemitische Vorurteile. Nach Addition<br />

der einzelnen Zustimmungswerte zur <strong>Rechtsextremismus</strong>skala wurden ca.<br />

zwölf Prozent der Befragten als rechtsextrem klassi ziert; ein Wert, der bereits<br />

2012 gemessen wurde. Ungefähr fünf Prozent der Befragten wurden entsprechend<br />

ihrem Zustimmungsverhalten 2013 dem „harten Kern“ zugerechnet. Obwohl diese<br />

Anteile gegenüber den Spitzenwerten in der ersten Dekade des Jahrhunderts auf<br />

die Hälfte gesunken sind, werden sie dennoch mit Besorgnis betrachtet: Rechtsextreme<br />

Einstellungen in der Bevölkerung mögen den Nährboden für Wahlerfolge<br />

rechtsextremer Parteien bereiten oder ein gesellschaftliches Klima erzeugen, in<br />

dem sich fremdenfeindliche und rassistische Gewalt Bahn bricht. Damit ist die<br />

Suche nach dem Wesen und den Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> nicht nur von<br />

akademischer oder theoretischer Bedeutung, vielmehr sollte die Forschung auch<br />

wichtige Erkenntnisse liefern, die in die zivilgesellschaftliche Praxis (wie Landesprogramme<br />

und Aktionspläne gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>), Demokratiepädagogik<br />

sowie in den politischen Diskurs einießen können.<br />

Eine umfassende und detaillierte Kausalanalyse zu rechtsextremen Einstellungen<br />

ist möglich, weil der THÜRINGEN-MONITOR eine breite Auswahl soziodemographischer<br />

und sozialpsychologischer Variablen bietet, die als mögliche Ursachen<br />

infrage kommen, und weil diese Variablen jedes Jahr erhoben wurden. Somit kann<br />

auch eine valide, sinnvolle Datenakkumulation und -aggregation statt nden. Auf<br />

der Basis eines Gesamtdatensatzes mit ca. 6000 Befragten aus den T HÜRINGEN-<br />

MONITORen 2001–2013 wurde eine Pfadanalyse berechnet, die die <strong>Rechtsextremismus</strong>skala<br />

als abhängige Variable und eine Vielzahl von Indikatoren als unabhängige<br />

Variablen einschließt (vgl. Tabelle 2). An dieser Stelle werden die Beta-Effekte<br />

(B) solcher Erklärungs- bzw. Prädiktorvariablen dargestellt und interpretiert, die<br />

direkt oder indirekt, also über andere Variablen vermittelt, auf die abhängige Variable<br />

wirken und dabei auf dem höchsten Signikanzniveau (p 0.001) eine substanzielle<br />

Effektstärke (B = 0.075) aufweisen.


Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland<br />

125<br />

Tabelle 2 Überblick angenommener Erklärungsfaktoren und ihr empirischer Ein uss<br />

auf rechtsextreme Einstellungen (Datenbasis: Thüringen-Monitore 2001–2013,<br />

n=5.981; zur Modellspezikation der Pfadanalyse vgl. Best et al., 2014, S. 157 f.).<br />

Erklärungsfaktor Operationalisierung Beta-Effekte<br />

direkt/indirekt<br />

Soziodemogra e eschlecht – weiblich) ( G<br />

– Lebensalter (älter)<br />

– formales Bildungsniveau (niedriger)<br />

Ökonomische Deprivation<br />

Individuell<br />

Kollektiv<br />

Ostdeutsche Deprivation<br />

Individuell<br />

Kollektiv<br />

Politische Entfremdung<br />

– Arbeitslosigkeit oder<br />

– unsicher wahrgenommener Arbeitsplatz<br />

– subjektiv schlechte nanzielle Situation<br />

– Eindruck, nicht den gerechten Anteil zu<br />

erhalten<br />

– Angst vor Statusverlust (ab 2007 erhoben)<br />

– schlechte Bewertung der Thüringer<br />

Wirtschaft<br />

– negativer Vergleich Thüringens mit den<br />

alten<br />

– und den neuen Bundesländern<br />

– Bewertung der deutschen Einheit als<br />

nachteilig<br />

– Wahrnehmung der Diskriminierung Ostdeutscher<br />

durch Westdeutsche<br />

– geringe Eigenwirksamkeitsüberzeugung<br />

– geringes Vertrauen in politische Institutionen<br />

– Unzufriedenheit mit demokratischer<br />

Praxis<br />

-<br />

-<br />

0,189 / 0,200<br />

-<br />

-<br />

0 / 0,147<br />

0 / 0,093<br />

Ostdeutsche Vergangenheit – positive DDR-Bewertung 0,152<br />

(politische) Werte – Autoritarismus 0,461<br />

Erklärte Varianz rechtsextremer Einstellungen<br />

davon durch effektstärkstes Merkmal Autoritarismus<br />

0,139 / 0,107<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

0,151 / 0,154<br />

-<br />

-<br />

-<br />

46 %<br />

16 %<br />

Zunächst zeigt die Analyse, dass die (objektive) soziale Situation der Befragten<br />

wenig oder keinen Einuss auf das Antwortverhalten hat; einzig höhere formale<br />

Bildung senkt tendenziell den <strong>Rechtsextremismus</strong>-Skalenwert. Überraschenderweise<br />

hat Arbeitslosigkeit keinen signikanten Effekt. Faktoren der subjektiven<br />

Wahrnehmung sozialer Benachteiligung indessen erhöhen deutlich die Neigung<br />

zu rechtsextremen Einstellungen: Dazu zählen die Angst, Verlierer der gesell-


126 Heinrich Best<br />

schaftlichen Entwicklung zu werden; die Auffassung, im Vergleich zu anderen<br />

weniger als den gerechten Anteil zu erhalten und die Meinung, dass Ostdeutsche<br />

von Westdeutschen diskriminiert würden (vgl. Best et al., 2014, S. 154). Alle<br />

diese Faktoren verweisen direkt oder indirekt auf den sozio-historischen Kontext<br />

Ostdeutschlands, auf die Position der Befragten in diesem Kontext und auf<br />

ihre biographischen Erfahrungen in der postsozialistischen Gesellschaftstransformation.<br />

Von besonderer Bedeutung ist, dass rechtsextreme Einstellungen und eine<br />

positive Bewertung der DDR positiv assoziiert sind (vgl. Best et al., 2014, S. 159).<br />

Demnach sind Thüringer Rechtsextreme häu ger als andere Befragte der Meinung,<br />

dass die DDR mehr gute als schlechte Seiten hatte, ungeachtet des Widerspruchs<br />

zwischen dem legitimatorischen Antifaschismus der DDR einerseits und<br />

der Verharmlosung des Nationalsozialismus als einer der zentralen De nitionsbestandteile<br />

des <strong>Rechtsextremismus</strong> andererseits. Bezüglich der Bewertung der<br />

beiden unterschiedlichen historischen Diktaturen bildet sich in den Daten eine<br />

starke positive Assoziation ab; offenbar sind in den Köpfen nicht weniger Befragter<br />

NS-Verharmlosung und DDR-Nostalgie nicht nur kompatibel, sondern miteinander<br />

verknüpft. Eine Erklärung für diesen paradox anmutenden Befund liefert<br />

möglicherweise eine weitere signi kante unabhängige Variable im Pfadmodell:<br />

Autoritarismus, hier operationalisiert als (kumulative) Zustimmung zu den Aussagen<br />

„Wer seine Kinder zu anständigen Bürgern erziehen will, muss von ihnen vor<br />

allem Gehorsam und Disziplin verlangen.“ sowie „In diesen Zeiten brauchen wir<br />

unbedingt eine starke Hand.“ Auf dieser Grundlage sind 46 Prozent der Befragten<br />

als autoritär einzustufen. Der Faktor Autoritarismus hat mit Abstand den stärksten<br />

Einuss aller unabhängigen Variablen im Modell. Beide deutschen Diktaturen basierten<br />

(neben all ihren Unterschieden) auf autoritären Prinzipien und setzten diese<br />

durch, womit eine Verbindung zwischen ihrer jeweiligen Verharmlosung bzw.<br />

Idealisierung bei Teilen der Befragten plausibel erscheint.<br />

Eine weitere paradoxale Assoziation zwischen den Bewertungen der beiden<br />

deutschen Diktaturen manifestiert sich in der Af nität der entsprechenden Befragten<br />

zur „sozialistischen Ordnung“ (vgl. Best et al., 2014, S. 160). 44 Prozent<br />

der als rechtsextrem eingestuften Thüringer und Thüringerinnen befürworten eine<br />

Rückkehr zum Sozialismus, unter nicht-rechtsextremen Befragten sind es lediglich<br />

14 Prozent. Der Anteil der DDR-Nostalgiker unter denen, die die „Rückkehr<br />

zur sozialistischen Ordnung“ befürworten, beträgt 81 Prozent (gegenüber 42 Prozent<br />

der Befragten insgesamt). Der Anteil derer, die den Nationalsozialismus verharmlosen,<br />

unter denen, die die „Rückkehr zur sozialistischen Ordnung“ befürworten,<br />

beträgt 64 Prozent (gegenüber 11 Prozent der Befragten insgesamt; alle<br />

Prozentangaben für 2013). Offenbar verschmelzen hier politische Positionen und


Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland<br />

127<br />

Ideologeme miteinander, die im Diskurs traditionell als „typisch links“ oder „typisch<br />

rechts(-extrem)“ gelten.<br />

Diese Inkonsistenz macht es auch plausibel, dass sich nur eine kleine Minderheit<br />

der Befragten als rechtsextrem bezeichnet, wenn man sie zu einer Selbstpositionierung<br />

im politischen Spektrum auffordert. Die große Mehrheit derer, die aufgrund<br />

ihres Antwortverhaltens als rechtsextrem einzustufen sind, nämlich zwischen drei<br />

Viertel und vier Fünftel der rechtsextremen Befragten, verortet sich selbst in der<br />

politischen Mitte oder links der Mitte. In einigen Befragungswellen des T HÜRIN-<br />

GEN-MONITORs verorteten sich sogar mehr Rechtsextreme selbst im linken Flügel<br />

des politischen Spektrums (einschließlich sehr weit links) als im rechten Flügel<br />

(einschließlich sehr weit rechts). Es kann angezweifelt werden, dass solche widersprüchlichen<br />

Selbstattributionen aus vorsätzlichen Falschpositionierungen resultieren.<br />

Denn Personen, die sich selbst als rechts oder rechtsextrem einordnen und<br />

die in der Befragung – tabubesetzte – rassistische oder neonazistische Positionen<br />

offen vertreten, werden kaum wegen sozialer Erwünschtheit davor zurückscheuen,<br />

sich selbst auch als rechts oder rechtsextrem zu bezeichnen. Vielmehr kann davon<br />

ausgegangen werden, dass die Mehrheit der rechtsextrem Eingestellten sich selbst<br />

als authentische Anhänger der politischen Mitte oder der politischen Linken auffasst,<br />

weil in der Vorstellungswelt dieser Befragten heterophobe und autoritäre<br />

Ideologeme mit egalitären Positionen verknüpft sind und sie das Gefühl haben,<br />

einem Mainstream anzugehören.<br />

Diese Annahme bestätigt sich auch in einer Faktorenanalyse der zehn Indikatoren<br />

der <strong>Rechtsextremismus</strong>skala. Wie bereits erwähnt wurde, konnten dabei<br />

zwei Faktoren identi ziert werden: „Neo-Nationalsozialismus“ und „Ethnozentrismus“.<br />

Der Faktor „Neo-Nationalsozialismus“ umfasst die Indikatoren des Sozialdarwinismus,<br />

des (deutschnationalen) Chauvinismus, der Verharmlosung des<br />

Nationalsozialismus, des Rassismus und teilweise auch des Antisemitismus. Der<br />

Faktor „Ethnozentrismus“ umfasst hingegen Items, die sich auf die vermeintliche<br />

Überfremdung Deutschlands durch massenhafte Zuwanderung, auf den vermeintlichen<br />

Missbrauch des Wohlfahrtsstaates durch Ausländer und auf die energische<br />

Durchsetzung deutscher Interessen beziehen. Wenn die Items der DDR-Nostalgie<br />

sowie der „Rückkehr zur sozialistischen Ordnung“ in die Faktorenanalyse einbezogen<br />

werden, laden diese Variablen auf dem Faktor „Neo-Nationalsozialismus“.<br />

DDR-Nostalgie und Sozialismusafnität können demnach als Indikatoren für neonationalsozialistische<br />

Einstellungen gelten.<br />

In der Zusammenfassung dieser Befunde ist zunächst festzuhalten, dass der<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und insbesondere dessen neo-nationalsozialistische Ausprägung<br />

eine signikante „linke“ Komponente besitzen, wenn man die DDR und ihre<br />

„sozialistische Ordnung“ als ein linkes Projekt betrachtet. Hinzu kommt die Tat-


128 Heinrich Best<br />

sache, dass rechtsextrem eingestellte Befragte sich selbst mehrheitlich nicht als<br />

rechtsextrem im politischen Spektrum verorten. Dies impliziert jedoch, dass der<br />

öffentliche Diskurs gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> – darunter staatliche Landesprogramme<br />

und Aktionspläne – einen großen Teil ihrer eigentlichen Zielgruppe verfehlen:<br />

Die Mehrheit der Rechtsextremen nimmt sich selbst und ihre Einstellungen<br />

nicht als rechtsextrem wahr. Manche von ihnen sehen sich sogar als „Antifaschisten“;<br />

ungefähr ein Drittel erklärte in der Befragung 2013, dass sie sich vorstellen<br />

könnten, an Demonstrationen gegen Neonazis teilzunehmen, fünf Prozent gaben<br />

sogar an, dies bereits getan zu haben.<br />

Eine weitere Frage war, ob es sich beim hier untersuchten <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

im innerdeutschen Vergleich um ein spezi sch ostdeutsches Phänomen handelt.<br />

Eine solche Feststellung ist insofern gerechtfertigt, dass nur in Ostdeutschland das<br />

gesellschaftliche und politische Regime des „Realsozialismus“ existierte, bis heute<br />

in der kollektiven Erinnerung präsent ist und durch Sozialisationsmuster, (kollektiv-)biographische<br />

Erfahrungen und normative Orientierungen fortwirkt (vgl.<br />

Best et al., 2014, S. 163f.) Im Kollektivgedächtnis erscheint die sozialistische Ordnung<br />

als egalitär, homogen und autoritär – eine Assoziation, die sich auch für die<br />

Repräsentation des Nationalsozialismus nden lässt. In diesem Sinne sind DDR-<br />

Nostalgie und NS-Verharmlosung offensichtlich bei einigen (Ost-)Deutschen plausibel<br />

miteinander assoziiert. Die Amalgamierung ultranationalistischer und rassistischer<br />

Positionen mit Sympathien für die soziale Ordnung des „Realsozialismus“<br />

verbindet den ostdeutschen <strong>Rechtsextremismus</strong> stärker mit der politischen Kultur<br />

in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas als mit der des Westens. In den Ländern<br />

Mittel- und Osteuropas ist die Verschmelzung linker und rechter Positionen<br />

populär und bereitet einen Nährboden für rechtsextreme und „nationalkommunistische“<br />

Parteien und Bewegungen. Besonders in Russland treten faschistische<br />

Kräfte auf, die sich als antifaschistisch maskieren (vgl. Kelimes, 2012). Sieben<br />

Jahrzehnte nach dem Sieg über den Nationalsozialismus und zwei Jahrzehnte nach<br />

dem Untergang des Kommunismus scheinen neue bedrohliche Gespenster in Mittel-<br />

und Osteuropa umzugehen; beim genaueren Hinsehen erweisen sie sich jedoch<br />

als Amalgame des Bekannten.


Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland<br />

129<br />

Literatur<br />

Ahbe, Th. (2007). Der DDR-Antifaschismus. Diskurse und Generationen – Kontexte und<br />

Identitäten. Ein Rückblick über 60 Jahre. Texte zur politischen Bildung, H. 39. Leipzig:<br />

Rosa-Luxemburg-Stiftung.<br />

Best, H. (2003). Parteiherrschaft und Kaderpolitik. Ein kollektivbiographisches Portrait der<br />

Spitzenkader der SED in den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl 1952-1989. In H. Best &<br />

H. Mestrup (Hrsg.), Die Ersten und Zweiten Sekretäre der SED. Machtstrukturen und<br />

Herrschaftspraxis in den thüringischen Bezirken der DDR (S. 485–508). Weimar u. Jena:<br />

Hain Verlag.,<br />

Best, H. (2010). The Formation of Socialist Elites in the GDR: Continuities with National<br />

Socialist Germany. Historical Social Research, 35, 3, 36–46.<br />

Best, H. (2012). Politische Kultur im Freistaat Thüringen. Thüringen International: Weltoffenheit,<br />

Zuwanderung und Akzeptanz. Ergebnisse des THÜRINGEN-MONITORs 2012. Erfurt:<br />

Drucksache des Thüringer Landtags 5/5244.<br />

Best, H. & Salheiser, A. (2006). Shadows of the Past: National Socialist Backgrounds of the<br />

GDR’s Functional Elites. German Studies Review, XXIX, 3, 589–602.<br />

Best, H., Salheiser, A. & Salomo, K. (2014). Demokratie mit doppelter Diktaturvergangenheit.<br />

Überlegungen und Befunde zur Ausprägung eines typisch ostdeutschen <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

In E. Brähler & W. Wagner (Hrsg.), Kein Ende mit der Wende? Perspektiven<br />

aus Ost und West (S. 149–167). Gießen: Psychosozial-Verlag.<br />

Best, H. & Salomo, K. (2014). Expertise zur Güte und Reichweite der Messung des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

im Thüringen-Monitor 2000 bis 2013. Jena.<br />

Best, H., Dwars, D., Salheiser, A. & Salomo, K. (2013). Politische Kultur im Freistaat Thüringen.<br />

„Wie leben wir? Wie wollen wir leben?“ – Zufriedenheit, Werte und gesellschaftliche<br />

Orientierungen der Thüringer Bevölkerung. Ergebnisse des THÜRINGEN-MONITORs<br />

2013. Erfurt: Drucksache des Thüringer Landtags 5/7051.<br />

Borstel, D. (2012). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Demokratieentwicklung in Ostdeutschland.<br />

Eine Zwischenbilanz nach zehn Jahren. In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände.<br />

Folge 10. (S. 246 – 260). Frankfurt a. M.: <strong>Edition</strong> Suhrkamp.<br />

Danyel, J. (1999). Die unbescholtene Macht. Zum antifaschistischen Selbstverständnis der<br />

ostdeutschen Eliten. In P. Hübner (Hrsg.), Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte<br />

der DDR (S. 67–85). Köln / Weimar / Wien: Böhlau.<br />

Kappelt, O. (1997). Die Entnazi zierung in der SBZ sowie die Rolle und der Ein uß ehemaliger<br />

Nationalsozialisten in der DDR als ein soziologisches Phänomen. Hamburg:<br />

Verlag Dr. Kova.<br />

Kelimes, D. (2012). Recht. Rechter. <strong>Rechtsextremismus</strong>: Tritt der russische <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

aus seinem subkulturellen Schatten heraus? Stuttgart: Ibidem.<br />

Meenzen, S. (2010). „Gutes Klassenbewusstsein, Parteiverbundenheit und Prinzipienfestigkeit“:<br />

SED-Sekretäre mit NSDAP-Vergangenheit in Thüringen. Historical Social Research,<br />

35, 3, 47–78.<br />

Pfahl-Traughber, A. (2009). Die Besonderheiten des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland.<br />

Eine Analyse gesellschaftlicher und lagerinterner Bedingungsfaktoren. Vorgänge 48 (3),<br />

94–108.<br />

Salheiser, A. (2010). Social Inequality, Mobility, and the Illegitimate Inheritance of Status:<br />

Recruitment and Career Patterns of GDR Business Elites. Historical Social Research,<br />

35, 3, 117–133.


130 Heinrich Best<br />

von Berg, H. L. (1994). <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland seit der Wende, In W. Kowalsky<br />

& W. Schröder (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong>. Einführung und Forschungsbilanz<br />

(S. 103–126). Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Wagner, B. (2000). Zur Auseinandersetzung mit <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rassismus in den<br />

neuen Bundesländern. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39.


<strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und pauschalisierende Ablehnungen<br />

Alte Probleme mit neuen Herausforderungen<br />

Kurt Möller<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> ist in Deutschland – und nicht nur hier – ein gesellschaftliches<br />

Problem, das mit unterschiedlichen Konjunkturen seit Jahrzehnten andauert<br />

und bislang anscheinend nicht hinreichend in den Griff zu bekommen ist. Manch<br />

eine(r) mag den Diskurs darüber kaum noch verfolgen, weil er/sie seine Beiträge<br />

allzu häug als Neuauage von bereits Bekanntem einstuft und die durch sie angeregte<br />

Bearbeitung der <strong>Rechtsextremismus</strong>-Problematik als wenig zielführend<br />

wahrnimmt.<br />

Ähnlich verhält es sich mit den öffentlichen und (inter)disziplinären Debatten<br />

um die Verbreitung von weiteren, auch außerhalb des rechtsextremen Spektrums<br />

schwelenden oder zu Tage tretenden Phänomenen wie feindselige Vorurteile<br />

gegenüber (relativ) machtlosen Gruppierungen und ihren Angehörigen, auf sie zielende<br />

Diskriminierung[sbereitschaft]en und damit verbundene Gewaltförmigkeiten.<br />

Auch diesbezüglich handelt es sich scheinbar um altbekannte Probleme, deren<br />

hartnäckige Fortexistenz bzw. deren punktuelles und temporäres Auf ackern ein<br />

demokratisches und friedvolles Zusammenleben zwar unterminieren, aber gerade<br />

angesichts ihrer Verstetigungen im Alltag nicht selten fatalistisches Achselzucken<br />

hervorrufen.<br />

Wissenschaftlich betrachtet werfen diese Einschätzungen eine Reihe von Fragen<br />

auf. Ohne sie selbst in Zweifel zu ziehen, ist in einem ersten Zugriff zumindest<br />

zu klären, ob es sich eigentlich tatsächlich um ‚alte’ Probleme handelt oder ob<br />

sich die augenscheinlich ‚alten’ Probleme nicht vielfach in erneuerter Gestalt darstellen.<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


132 Kurt Möller<br />

Um zur Klärung dieser Frage beizutragen, versucht der vorliegende Beitrag in<br />

einem ersten Schritt, die in Rede stehenden Phänomene begrif ich adäquat zu<br />

fassen. Er informiert danach im zweiten Schritt über die wichtigsten Aspekte ihres<br />

empirischen Ausmaßes sowie über ihre Entwicklung innerhalb der letzten Jahrzehnte<br />

und markiert im Zuge dessen alte und neue Herausforderungen, die sie in<br />

sich bergen.<br />

1 „<strong>Rechtsextremismus</strong>“, „Rechtsradikalismus“,<br />

„Rassismus“, „Neonazismus“<br />

„Menschenfeindlichkeit“, „Vorurteile“ oder was?<br />

Die Vorstellungen von Gegenständen und das Sprechen über sie bestimmen bekanntlich<br />

deren Wahrnehmung, Deutung, Bewertung und Behandlung mit. Die<br />

Phänomene, um die es hier geht, angemessen begrifich zu fassen, ist mithin eine<br />

wesentliche Voraussetzung ebenso für die tragfähige Auseinandersetzung über sie<br />

wie für den Umgang mit ihnen.<br />

Indem wir den Problemkomplex ‚<strong>Rechtsextremismus</strong>’ schon am Anfang dieses<br />

Beitrags begrifich eingeführt haben, gilt es nun zu bestimmen, was darunter zu<br />

verstehen ist und wieso dieser Terminus gegenüber anderweitig ins Spiel gebrachten<br />

Alternativbegriffen Vorteile besitzt.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> meint in der hier vorgeschlagenen Verwendung einen Komplex<br />

von Phänomenen, der inhaltlich durch sechs Komponenten bestimmt wird:<br />

• Nationalismus bzw. nationalen Chauvinismus,<br />

• Antisemitismus,<br />

• Fremden- bzw. Ausländerfeindlichkeit,<br />

• Sozialdarwinismus bzw. Rassismus,<br />

• die Befürwortung autoritärer politischer Strukturen und<br />

• die Verharmlosung des Nationalsozialismus. 1<br />

1 Wenn in dieser Aufzählung die Formulierung „bzw.“ auftaucht, so weist sie darauf<br />

hin, dass auch bei den Anhänger/innen der Konsensdefinition teilweise bei Teilaspekten<br />

nicht immer dieselben Begrifflichkeiten benutzt werden. Festzuhalten ist<br />

diesbezüglich insbesondere: „Rassismus“ wird hier im Gegensatz zum weiter unten<br />

ausgeführten Verständnis „rassismuskritischer“ Wissenschaftler/innen als Teilaspekt<br />

von <strong>Rechtsextremismus</strong> verstanden und meint die abwertende Unterscheidung von<br />

Menschen oder Menschengruppen entlang biologischer oder angeblich biologischer<br />

(biologistischer) Differenzen. Manche Vertreter/innen der Konsensdefinition bevorzugen<br />

auf dieser Dimension den Begriff des „Sozialdarwinismus“, weil er über die


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

133<br />

Diese an die sog. „Konsens-Formel“ (vgl. Stöss, 2010, S. 57f.; Decker, Brähler &<br />

Geißler, 2006, S. 20f.; Decker u. a., 2010, S. 18; Decker, Kiess & Brähler, 2014)<br />

angelehnte Denition hat den Vorteil, sich einer weit ächigen Übereinstimmung<br />

innerhalb der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung sicher sein zu können – dies selbst<br />

dann, wenn man seine Problematiken einräumt. Zu diesen gehören: a) die Positionierung<br />

der mit ihm beschriebenen Phänomene auf einem deutlich markierten<br />

Pol der an sich immer weniger aussagefähigen Rechts-Links-Topographie politischer<br />

Positionen, b) eine damit unterstellte Bagatellisierung und erleichterte Ausblendung<br />

der Existenz mancher seiner Kernelemente auch z. B. in der ‚Mitte’ des<br />

politischen Spektrums, c) die dem Begriff als Kompositum inhärente Nutzung des<br />

„Extremismus“-Begriffs, der ohne den Zusatz „Rechts…“ auch zur Bezeichnung<br />

gänzlich anders gelagerter politischer Phänomene wie vor allem Islamismus und<br />

markante linke politische Positionen Anwendung ndet und in Gefahr gesehen<br />

werden kann, durch diese Begriffskomponente die Suggestion einer Gleichsetzbarkeit<br />

mit derartigen Phänomenen zu befördern und die Normalisierungen rechtsextremer<br />

Haltungen zu kaschieren, d) die sicherheitsbehördliche Verwendung dieses<br />

Terminus in einer Weise, die eher staatsgefährdende Bestrebungen sowie stärker<br />

Verfassungs- als Personenschutz in den Mittelpunkt rückt und in dieser Einseitigkeit<br />

mit seinem oben benannten wissenschaftlichen Gebrauch nicht deckungsgleich<br />

ist, e) eine gewisse Substanzlosigkeit der Bezeichnung selbst, die eher eine Verortung<br />

politischer Positionierung (eben am äußersten ‚rechten’ Rand des politischen<br />

Spektrums) als eine inhaltliche Qualität zum Ausdruck bringt (vgl. u. a. zu diesen<br />

Kritikpunkten als Überblick die Beiträge in Forum, 2011). Wenn „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

sich dennoch als Leitbegriff der thematisch einschlägigen Forschung halten<br />

kann, dann im Wesentlichen deshalb, weil der Terminus sich als theoretisch hinrei-<br />

Bezugnahme auf Rassendifferenz hinausragt und auch die Ablehnung, Diskriminierung<br />

oder gar Vernichtung von ‚unwertem Leben’ generell beinhaltet. Der Terminus<br />

„Chauvinismus“ wird in der Konsensdefinition gegenüber „Nationalismus“ präferiert,<br />

meint aber wie die gängige Verwendung dieses Begriffs eine übersteigerte Bezugnahme<br />

auf die ‚eigene’ Nation, die über Patriotismus und nationale Gesinnungen, die<br />

nicht demokratiewidrig sind, hinausgeht. Als exklusiver Nationalismus propagiert und<br />

betreibt er die Überhöhung der ‚eigenen’ Nation bei Abwertung (im Extremfall bis<br />

hin zu Auslöschung) anderer Nationen und ihrer Angehörigen. Selbst als inklusiver<br />

Nationalismus, der sich eine Integrationsfunktion für verschiedene Teilgruppierungen<br />

einer Gesellschaft attestiert, erhebt er ein „Loyalitäts- und Deutungsmonopol“, das<br />

allein die Nation zum allen anderen Integrationsbezügen (Sprache, Region etc.) übergeordneten<br />

identitätsstiftenden Referenzpunkt stilisiert (vgl. Wehler, 1987, S. 508).<br />

„Ausländerfeindlichkeit“ erscheint als ein überholter Begriff, weil das, was mit ihm<br />

bezeichnet werden soll, häufig auch „fremd“ erscheinende (post)migrantische Personen(gruppierungen)<br />

mit deutscher Staatsangehörigkeit trifft.


134 Kurt Möller<br />

chend abgeklärt und empirisch gut operationalisiert darstellt und zugleich auch im<br />

öffentlichen Raum als Problematisierungsformel verstanden wird. Wer ihn vertritt,<br />

argumentiert jedoch zumeist mit Recht, dass der normative <strong>Rechtsextremismus</strong>begriff<br />

mindestens soweit ergänzt werden muss, dass auch die Gegnerschaft zum<br />

Republik-, Bundesstaats- und Sozialstaatsprinzip erfasst werden kann (vgl. z. B.<br />

Jaschke, 1991), rekurriert aber daneben in erster Linie auf Heitmeyers, erstmals<br />

1987 formuliertes Verständnis des „soziologischen <strong>Rechtsextremismus</strong>“. Danach<br />

liegt <strong>Rechtsextremismus</strong> dann vor, wenn seine zwei Kernelemente, nämlich zum<br />

ersten Ungleichheitsideologien (bzw. -vorstellungen ‚unterhalb’ ideologisch ausgearbeiteter<br />

Konzepte und Ungleichbehandlung[sforderung]en; vgl. Möller, 2000)<br />

und zum zweiten Gewaltakzeptanz, zusammenießen. Erst in Verbindung mit Gewaltakzeptanz<br />

liegt nach dem hier vertretenen Verständnis im konkreten Fall bei<br />

Ungleichheitsvorstellungen <strong>Rechtsextremismus</strong> – gleichsam ‚im Vollbild’ – vor.<br />

Unter ‚Gewaltakzeptanz’ ist dabei eine Orientierung zu verstehen, die die aktive<br />

Seite von Gewaltbetroffenheit – im analytischen Gegensatz dazu steht ‚Gewalterleiden’<br />

als Opfer – bezeichnet. Im Einzelnen handelt es sich dabei um eine der<br />

folgenden Gewaltformen:<br />

• eigene Gewalttätigkeit,<br />

• Bereitschaft zu eigener Gewalttätigkeit,<br />

• Drohung mit Gewalt,<br />

• Propagierung, Stimulation, Billigung oder Duldung fremdausgeübter Gewalt in<br />

konkreten Situationen,<br />

• generelle, d. h. auch: nicht nur die eigene Person betreffende Befürwortung von<br />

Gewalt als Verhaltens- bzw. Handlungsoption.<br />

Gewalt wird dabei nicht nur als die intentionale physische Schädigung von Personen<br />

oder Sachen verstanden. Eingeschlossen ist auch eine psychische Schädigung<br />

von Menschen. Gewalt wird zudem nicht nur als personal ausagiert und verantwortet<br />

gesehen, sondern ihre Akzeptanz wird auch in ihren strukturellen bzw.<br />

institutionellen (z. B. obrigkeitsstaatlich-repressiven) Aspekten einbezogen.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> wird auch aufgrund dieser de nitorischen Bestimmungen<br />

nicht (nur) als eine Einstellung begriffen. Ebenso wenig wird er – umgekehrt –<br />

auf eine politische Verhaltensweise reduziert. <strong>Rechtsextremismus</strong> wird vielmehr<br />

als eine Haltung verstanden, innerhalb derer Orientierungsaspekte (Einstellungsmomente,<br />

Ressentiments, Mentalitäten 2 etc.) und Aktivitätsaspekte (Verhaltens-<br />

2 Mit Theodor Geiger (1932, S. 77ff.) sind darunter zu verstehen „die nicht systematisierten<br />

oder wenig systematisierten Gefühle, Gedanken und Stimmungen…, die die


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

135<br />

weisen, Handlungen) analytisch unterscheidbar sind und zusammen ießen (vgl.<br />

Möller, 2000; Möller & Schuhmacher, 2007).<br />

Werden die Begriffe „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Rechtsradikalismus“ im öffentlichen<br />

Diskurs heute noch oft als Synonyme verwendet, so ist darauf zu verweisen,<br />

dass der „Radikalismus“-Begriff einen etymologischen und begriffsgeschichtlichen<br />

Ballast mitschleppt, der ihn ungeeignet erscheinen lässt, das zu<br />

bezeichnen, was er bezeichnen soll: Zum einen spricht die etymologische Herleitung<br />

des Begriffs vom lateinischen „radix“ = die Wurzel gegen eine Bezeichnung<br />

rechtsextremer Haltungen und Bestrebungen als radikal, kann doch die ihnen zugrundeliegende<br />

politische Ideologie gerade dahingehend kritisiert werden, dass<br />

sie den Dingen nicht analytisch ‚an die Wurzel’ geht. Er wurde zum anderen im<br />

19. Jahrhundert in erster Linie von strukturkonservativer Seite zunächst – etwa<br />

im Vormärz – gegen Demokratiebewegungen überhaupt, später dann gegen die<br />

‚gemeingefährlichen Bestrebungen der Socialdemokratie’ und ‚Communisten-<br />

Verschwörungen’ eingesetzt und erst beim Aufkommen des Nationalsozialismus<br />

auch auf politische Gegner von rechtsaußen angewendet. Wo der „Rechtsradikalismus“-Begriff<br />

dennoch in wissenschaftlichen Kontexten und/oder in Praxen der<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>-Entgegnung auftaucht, wird er entweder als Kennzeichnung<br />

für ein besonders aggressives und gewaltförmiges Auftreten der extremen Rechten<br />

benutzt 3 oder er wird – wie bei Stöss (vgl. 2010, S. 14) – als Übergangsbereich<br />

zwischen demokratischer Mitte und <strong>Rechtsextremismus</strong> verstanden, wobei diesem<br />

dann, anders als dem „<strong>Rechtsextremismus</strong>“, noch Verfassungskonformität zugeschrieben<br />

wird. Sein Gebrauch in der Forschung ist also hochgradig inkonsistent.<br />

gegebene Gesellschaft, Klasse, Gruppe, Profession usw. aufweist“.<br />

3 In diesem Sinne wird „Radikalisierung“ als Prozessbegriff auch in der neueren Debatte<br />

um Tier(rechts)schutzaktivismus, vor allem aber um Islamismus (vgl. auch die<br />

„Initiative Sicherheitspartnerschaft“ des BMI) und Terrorismus generell verwendet,<br />

wobei der Begriff auch hier wenig Kontur gewinnt, wenn er z. B. wie bei McCauley<br />

und Moskalenko (2011) als „eine erhöhte Bereitschaft, sich an politischen Konflikten<br />

zu beteiligen“ (S. 219) definiert und auf verschiedene Formen und Richtungen politischen<br />

Engagements bezogen wird (vgl. im Überblick auch das Heft von „Der Bürger<br />

im Staat“ 4/2011). Der Terminus „De-)Radikalisierung“ erhält auch im neuen Bundesprogramm<br />

„Demokratie leben! Aktiv gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“<br />

einen prominenten Stellenwert. Fast will es scheinen, als würde er<br />

‚hinterrücks’ den undifferenzierten „Extremismus“-Begriff in neuem Gewande erneut<br />

einführen (wollen).


136 Kurt Möller<br />

Als Begriffsalternative bringen sich des Weiteren aktuell und teils schon seit<br />

längerem vor allem der „Rassismus“-Begriff und die Bezeichnung „Neonazismus“<br />

ins Gespräch. 4<br />

Forscherinnen und Forscher, die den „Rassismus“-Begriff bevorzugen, argumentieren,<br />

dass er eher in der Lage ist, die Gesamtheit jener Phänomene und Dimensionen<br />

zu erfassen, die ihres Erachtens das damit bezeichnete Problemfeld<br />

real aufweist (vgl. dazu z. B. Kapalka & Räthzel, 1994; Rommelspacher, 1995; Mecheril<br />

u. a., 2010). Mit dem „<strong>Rechtsextremismus</strong>“-Begriff werde die weit über extremistische<br />

Kreise hinausreichende, „unsere ganze Lebensweise“ prägende „Dominanzkultur“<br />

der Verwendung von „Kategorien der Über- und Unterordnung“<br />

(Rommelspacher, 1995, S. 22) ausgeblendet. Vielfach angeregt durch Arbeiten<br />

von marxistisch orientierten Denkern wie Balibar (1990), Hall (1994) und Miles<br />

(1991) und mit Verweis auf seine Verwendung im französischsprachigen sowie<br />

angelsächsischen Raum wird deshalb als übergeordneter Begriff für den Terminus<br />

des („strukturellen“; Rommelspacher, 1995 und/oder auch „kulturellen“; Balibar,<br />

1990) „Rassismus“ (franz.: „racisme“; engl.: „racism“) plädiert. „Rassismus(kritische)“-Forschung<br />

hat aus dieser Sicht gesellschaftliche Praxen zum Untersuchungsgegenstand<br />

zu machen, die erkennbare Differenzen zwischen Menschen<br />

über Abstammungsmerkmale und kulturell-territoriale Zugehörigkeiten konstruieren,<br />

den so entstehenden Konstruktionen einheitliche und stabile mentalitäre<br />

Eigenschaften zuschreiben, in dieser Weise über Prozesse des „othering“ (Said,<br />

1995) eine(n) „Andere(n)“ produzieren und ihm/ihr als negativ betrachtete Eigenschaften<br />

bzw. Nicht-Zugehörigkeit zuordnen. Rassismuskritische Praxis gilt demgemäß<br />

als gesellschaftliche, politische und „pädagogische Querschnittsaufgabe“<br />

(Mecheril u. a., 2010, S. 168), nicht allein als Herausforderung für den Umgang mit<br />

politisch Randständigen.<br />

Entgegengehalten wird dem „Rassismus“-Begriff in dieser Fassung und Formatierung<br />

nicht nur Moralismus, Essentialismus und Reduktionismus (vgl. dazu<br />

selbstkritisch Mecheril u. a., 2010, S. 170ff.), sondern vor allem auch eine uferlose,<br />

zumindest aber kaum noch zu operationalisierende Ausweitung der mit dem Begriff<br />

belegten Erscheinungen und ihrer Hintergründe.<br />

Erheblich kleinformatiger nimmt sich der „Neonazismus“-Begriff aus. Mit<br />

ihm werden neben Verharmlosungs- und Verherrlichungstendenzen des Natio-<br />

4 Der Vorschlag, statt von „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ von der „extremen Rechten“ zu<br />

sprechen, weicht weder terminologisch noch inhaltlich stark vom klassischen<br />

„<strong>Rechtsextremismus</strong>“-Begriff ab, auch wenn er inhaltlich argumentiert, indem er die<br />

Rechte als krassen Widerpart der Durchsetzung der Ideale von Freiheit und Gleichheit<br />

betrachtet (vgl. Hüttmann, 2011).


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

137<br />

nalsozialismus Ideologien der Ungleichwertigkeit, das Ziel der Errichtung einer<br />

‚deutschen Volksgemeinschaft’ und diesem Ziel dienende Organisationen umfasst<br />

(vgl. z. B. Kausch & Wiedemann, 2011). In diesem Zuschnitt wird mit ihm freilich<br />

eine Differenzierung fallengelassen, die der (wissenschaftlich benutzte wie auch<br />

behördlich-ofzielle, etwa vom Verfassungsschutz gebrauchte) „<strong>Rechtsextremismus</strong>“-Begriff<br />

beinhaltet, wenn er neonazistische Bestrebungen dieser inhaltlichen<br />

Ausrichtung als Sonderform rechtsextremen Denkens und Verhaltens auffasst.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung nimmt, auch wenn sie sich der Konsens-Formel<br />

verpichtet sieht, aus gegebenem Anlass (aktuelle Stichworte: Flüchtlingszuwanderung,<br />

Pegida) zunehmend auch weitere Aspekte der Ablehnung von Minderheiten<br />

bzw. relativ machtloser Gruppierungen in den Blick wie etwa Islamfeindschaft,<br />

Asylbewerberabwertung und Antiziganismus (vgl. z. B. Decker, Kiess & Brähler,<br />

2014). Noch weiter stellt die Forschung zur sog. „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“<br />

(GMF) ihren Fokus ein, wenn sie gegenwärtig 12 Facetten dieses<br />

„Syndroms“ untersucht und als deren verbindenden „Kern“ die „Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit“ ausmacht (vgl. v. a. Heitmeyer, 2002-2012; Zick, Küpper &<br />

Hövermann, 2011; Mansel & Spaiser, 2013; Zick & Klein, 2014):<br />

• Rassismus (im Sinne der o. g. engen Rassismus-Denition),<br />

• Fremdenfeindlichkeit,<br />

• Antisemitismus,<br />

• Antiziganismus,<br />

• Islamfeindlichkeit,<br />

• Sexismus,<br />

• Reklamation von Etabliertenvorrechten,<br />

• Abwertung von Menschen mit homosexueller Orientierung,<br />

• Abwertung von wohnungslosen Menschen,<br />

• Abwertung von behinderten Menschen,<br />

• Abwertung von Langzeitarbeitslosen,<br />

• Abwertung von Asylsuchenden.<br />

Diese als relativ stabil verstandenen und zugleich negativ wertenden „feindseligen“<br />

„Einstellungen“ werden innerhalb der GMF-Forschung auch als stark affektiv<br />

verankerte „Vorurteile“ verstanden, die die fälschliche Übertragung von wahrgenommenen<br />

bzw. unterstellten Gruppeneigenschaften auf Individuen und eine<br />

damit verbundene generelle Tendenz zur Abwertung eint (vgl. z. B. Klein, 2014;<br />

Zick, Küpper & Heitmeyer, 2011).


138 Kurt Möller<br />

Das begrifiche GMF-Konzept wirft allerdings eine Reihe von Fragen auf. Zu<br />

den wichtigsten gehören die folgenden drei (zur detaillierteren Kritik vgl. Möller<br />

u. a., 2015):<br />

• Existieren die „Gruppen“, die als Adressaten der „Feindseligkeiten“ gelten, tatsächlich<br />

als soziale Einheiten mit essentieller Substanz oder werden sie nicht<br />

vielmehr erst durch Prozesse der Konstruktion zu solchen erklärt? Müssten also<br />

nicht einmal zunächst die Prozesse der Gruppierung, also der Herstellung von<br />

Vorstellungen über bestimmte soziale Gebilde analysiert werden? Gibt es denn<br />

die Homosexuellen oder die Muslime als jeweilige Gruppen überhaupt? Oder<br />

sind sie nicht vielmehr Resultate von gruppierenden Konstruktionsleistungen,<br />

in die bereits vorhandene, nicht zuletzt schon von Ablehnungen geprägte Vorstellungen<br />

eingehen?<br />

• Sind es immer unmittelbar Menschen, die abgelehnt werden? Sind es nicht<br />

auch abstraktere Zusammenhänge, etwa Religionen wie der Islam oder Weltanschauungen<br />

insgesamt, oder auch Lebenspraxen, etwa von Wohnungslosen, die<br />

Gegenstand der Ablehnung werden?<br />

• Können zentral gesetzte Begriffe wie „Feindlichkeit“ und „Abwertung“ überhaupt<br />

hinreichend das Spektrum von Ablehnungen erfassen, das in negativen<br />

Generalisierungen zum Ausdruck gelangt? Was ist z. B. mit Forderungen nach<br />

Ungleichbehandlung bestimmter Gruppierungen, die sich von Ungleichwertigkeitsunterstellungen<br />

absetzen (Etwa: „Ich habe nichts gegen Flüchtlinge. Sie<br />

sind Menschen wie wir. Sie sollen nur nicht in meiner Wohngegend untergebracht<br />

werden.“)?<br />

Vor dem Hintergrund solcher Fragen entsteht die Herausforderung, zunächst einmal<br />

die unterschiedlichen Ausdrucksformen von solchen Ablehnungen differenziert<br />

zu erfassen, die auf Pauschalisierungen beruhen und eben sie auf Prozesse<br />

ihrer biograschen Konstruktion sowie deren Kontextuierung zu untersuchen. Es<br />

stellt sich mithin die zentrale Frage: Wie ist das Entstehen und die Entwicklung<br />

(ggf. auch – was hier allerdings nicht das Thema ist – die Distanzierung) von pauschalisierenden<br />

Ablehnungskonstruktionen (PAKOs) zu erklären?<br />

Doch verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über das Ausmaß und zentrale<br />

Entwicklungen von <strong>Rechtsextremismus</strong> und darüber hinausgehenden Ablehnungsfacetten<br />

selbst.


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

139<br />

2 Entwicklungen und neue Herausforderungen<br />

durch <strong>Rechtsextremismus</strong> und weitere Ablehnungshaltungen<br />

Die Ausmaße und wichtigsten Entwicklungen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland<br />

lassen sich unter Berücksichtigung von vier Dimensionen für die hier verfolgten<br />

Zwecke hinreichend differenziert erfassen. Es handelt sich um das Wahlverhalten<br />

(1), das rechtsextremistische Personenpotenzial (2), die Zahl der Straf- und<br />

Gewalttaten (3) sowie rechtsextreme Einstellungsaspekte (4).<br />

Hinsichtlich des Wahlverhaltens (1) weisen die Daten des statistischen Bundesamtes<br />

den Zuspruch zu rechtsextremen Parteien seit Bestehen der Bundesrepublik<br />

Deutschland wie folgt aus:<br />

Abbildung 1 Wahlergebnisse rechtsextremistischer Parteien (DRP, SRP, NPD, DVU,<br />

REP, Pro deutschland) bei Landtags-, Bundestags- und Europawahlen zwischen<br />

1949 und 2014 (kumulierte Ergebnisse über 3%), eigene Darstellung.<br />

Bemerkenswert sind im Zusammenhang dieser Daten zunächst vorrangig drei Punkte:<br />

Zum Ersten zeigt sich, dass <strong>Rechtsextremismus</strong> seit 1949 ein andauerndes Problem<br />

darstellt. Zum Zweiten hat dieses Problem erkennbar unterschiedliche Konjunkturen<br />

durchlaufen. Zum Dritten dokumentieren die Diagramm-Balken eine<br />

deutliche Verdichtung der Problematik bei gleichzeitiger Konsolidierung und mit<br />

besonders hohen Ausschlägen in den letzten 25 Jahren.


140 Kurt Möller<br />

Eine etwas genauere Wähleranalyse lässt zudem erkennen, dass es – anders<br />

als zu Zeiten der Gründung der Republik und auch noch in der zweiten Hälfte der<br />

1960er Jahre – längst nicht mehr die sog. „Ewiggestrigen“ sind, die die Problematik<br />

tragen. Stärkste Wählergruppierung der extremen Rechten sind inzwischen<br />

vielmehr junge Leute – größtenteils solche, die nicht mehr im Nationalsozialismus,<br />

aber auch nicht mehr zu Zeiten der Existenz der DDR politisch sozialisiert<br />

worden sind. Zwei Drittel von ihnen sind männlich. Die Dimension der Problematik<br />

und ihre Folgen für die Zukunft der repräsentativen Demokratie werden vor<br />

allem deutlich, wenn man erkennt: Hätten z. B. bei den letzten Landtagswahlen in<br />

Ostdeutschland nur die jungen Männer zwischen 18 und 24 Jahren wählen dürfen,<br />

hätte die NPD überall etwa den drei- bis vierfachen prozentualen Stimmerfolg<br />

einfahren können und dort vielfach deutlich den (z. T. knapp verpassten) Einzug in<br />

die Landtage geschafft.<br />

Wer rechtsextrem wählt, muss nicht unbedingt in rechtsextreme Kreise involviert<br />

sein oder rechtsextrem konturierte Kriminalität begangen haben. Obwohl<br />

aus wissenschaftlicher Sicht zu Recht erhebliche methodische Bedenken gegen die<br />

Datenerhebungsmethoden polizeilicher Stellen und gegen die Rechercheweisen<br />

des Verfassungsschutzes und damit auch ihre Resultate geltend gemacht werden<br />

können, ist in Ermangelung vergleichbarer (Langzeit-)Studien mit wissenschaftlichen<br />

Standards hier in Hinsicht auf das rechtsextreme Personenpotenzial und das<br />

Aufkommen an Straf- und Gewalttaten, die als Verdachtsfälle von extrem rechter<br />

Kriminalität berichtet werden, Folgendes festzuhalten:<br />

Das rechtsextreme Personenpotenzial (2) nimmt nach einem vorübergehenden<br />

Anstieg auf einen Höchstwert im Jahre 1993, einer folgenden leichten Abschwächung<br />

und einem Wiederanstieg bis 1998 kontinuierlich ab (vgl. Abbildung 2). Relativ<br />

besonders stark trifft der Abschwung die rechtsextremen Parteien. Zugleich<br />

kommen jedoch zunehmend neue Organisationsformen auf: szeneförmige Zusammenschlüsse<br />

von Neonazis und (subkulturell) Gewaltbereiten, etwa in Gestalt von<br />

sog. „freien Kameradschaften“ oder „autonomen Nationalisten“. Zusammen mit<br />

der in den letzten Jahren beobachtbaren Bündelung parteigebundener bzw. parteinaher<br />

Kräfte in der NPD sind sie für eine qualitative Verschiebung im rechtsextremen<br />

Personen- und Organisationsspektrum verantwortlich zu machen, die Bagatellisierungs-<br />

und Entdramatisierungseinschätzungen, die auf den quantitativen<br />

Niedergang des rechtsextremen Personen- und Organisationspotenzials verweisen,<br />

entgegensteht: die Zunahme von Gewaltbereitschaft, die sich nicht allein an vereinzelten<br />

Aktionen und Straftaten, etwa bei der Mordserie des sog. „Nationalsozialistischen<br />

Untergrunds“ zeigt. Vielmehr wird sie inzwischen bei rund 45% der<br />

extrem Rechten festgestellt. Der Löwenanteil (rund 75%-90%, je nach Szene bzw.<br />

Organisation und Funktionsniveau unterschiedlich) des rechtsextremen Personen-


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

141<br />

potenzials, mehr noch seines gewaltbereiten Teils (rund 90%), ist männlich. Etwa<br />

drei Viertel des Letzteren sind im Alter unter Mitte 20.<br />

Abbildung 2 Rechtsextremistisches Personenpotenzial und rechtsextreme Organisationsformen<br />

1985 – 2013, eigene Darstellung.<br />

Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung der Zahlen derjenigen, die diese Bereitschaften<br />

bereits in Taten umgesetzt haben oder in anderer Weise rechtsextrem<br />

straffällig wurden (3), so ist zu registrieren (vgl. Abbildung 3), dass, entgegen der<br />

in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Ansicht, extrem rechte Kriminalität habe<br />

ihren Zenit in den Jahren der Ereignisse von Mölln, Rostock-Lichtenhagen und<br />

Solingen, also 1992/93, erreicht, erst danach bis weit hinein in die 2000er Jahre<br />

weitere Gipfelpunkte erreicht wurden. Festzustellen ist für die letzten 10 Jahre<br />

eine Stabilisierung auf einem Niveau von rechtsextremen Straftaten, das zwischen<br />

15.000 und 20.000 Taten jährlich pendelt.<br />

Die Zahlen der Gewalttaten hingegen entwickeln sich so, wie zumeist angenommen<br />

wird: Sie haben ihren Höhepunkt 1993 erreicht. Im Laufe der 1990er<br />

Jahre bis heute haben sie sich allerdings auf einem Niveau stabilisiert, das um etwa<br />

das Vierfache (bei den rechtsextremen Straftaten insgesamt ist es das rund 10-fache)<br />

die Anzahl entsprechender Taten in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in der<br />

BRD übertrifft (bei einem Bevölkerungszuwachs um etwa ¼ durch die Vereinigung<br />

1990). Allein über 180 Mordopfer – und damit ein Vielfaches der Mordzahlen<br />

des linken Terrorismus der RAF und seiner Nachfolgeorganisationen – haben


142 Kurt Möller<br />

rechtsextreme Täter seitdem nach einer Zählung der Amadeu-Antonio-Stiftung zu<br />

verantworten (vgl. http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990/).<br />

Ganz aktuell<br />

ist ein erheblicher Anstieg der Übergriffe speziell auf Asylsuchende zu registrieren:<br />

150 Übergriffe in 2014 sind dreimal so viele wie 2013 und sechsmal so viele<br />

wie in 2012 (vgl. BDrs. 18/3964). Auch bei den Tätern fallen Merkmalsballungen<br />

auf, die sich zugespitzt formuliert mit den Adjektiven skizzieren lassen: jung,<br />

männlich, eher ungebildet. Geograsch betrachtet sind die östlichen Bundesländer<br />

überproportional belastet.<br />

Abbildung 3<br />

Rechtsextreme Straf- und Gewalttaten 1985 – 2013, eigene Dar stellung.<br />

Zahlen über Wahlerfolge, Personenzusammenschlüsse und Straf- und Gewalttaten<br />

rechtsextremer Couleur vermögen allerdings nicht das abzubilden, was an<br />

rechtsextrem konturiertem Alltagsverhalten praktiziert wird. Hierzu liegen Daten<br />

in Bezug auf Jugendliche vor. Nach einer großen Studie mit insgesamt über 20.000<br />

deutschen 15- bis 16-Jährigen (Baier u. a., 2009) zeigt z. B. mehr als ein Viertel der<br />

Neuntklässler nach eigenem Bekunden rechtsextremes Verhalten; während etwa<br />

nur ein Zehntel von ihnen als rechtsextreme Straftäter auffällt und ca. ein weiteres<br />

Zehntel Gewalt anwendet, ohne bereits gerichtsauffällig geworden zu sein,<br />

drücken die anderen doch immerhin ihre Sympathie für rechtsextreme Positionen<br />

durch gewaltverherrlichendes Verhalten – menschenverachtende Ausdrücke, Sym-


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

143<br />

bolverwendungen (z. B. Aufnäher) und Konsum von einschlägigen Musikstücken –<br />

aus; Jungen sind dabei um ein Vielfaches mehr belastet als gleichaltrige Mädchen.<br />

Den zeitlich umfassendsten Überblick über das Ausmaß und die Entwicklung<br />

rechtsextremer Einstellungen vermag aktuell die repräsentative Leipziger Zeitreihen-Studie<br />

zu liefern. Sie registriert für 2014 die folgenden Zustimmungen zu<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>-Facetten bei ab 14-Jährigen:<br />

Tabelle 1 Elemente rechtsextremer Einstellung in Deutschland 2014 (in %). (Quelle: Decker,<br />

Kiess & Brähler, 2014, S. 38)<br />

Gesamt<br />

Ost<br />

(N=503)<br />

West<br />

(N=1.929)<br />

Befürwortung Diktatur** 3,6 5,6 3,1<br />

Chauvinismus** 13,6 15,8 13<br />

Ausländerfeindlichkeit 18,1 22,4 17<br />

Antisemitismus 5,1 4,5 5,2<br />

Sozialdarwinismus* 2,9 4,6 2,5<br />

Verharmlosung Nationalsozialismus 2,2 1,2 2,5<br />

Signikante Unterschiede nach Pearson: *< .05; **p< .01<br />

Der Vergleich der Daten über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt hinweg<br />

zeigt insgesamt einen Rückgang der Zustimmungswerte.<br />

18,0<br />

16,0<br />

15,8<br />

14,0<br />

Anteil in %<br />

12,0<br />

10,0<br />

8,0<br />

6,0<br />

11,3<br />

10,1<br />

9,7<br />

9,8<br />

8,1 8,3<br />

9,1<br />

8,6<br />

6,6<br />

10,5<br />

7,9<br />

9,0<br />

8,2<br />

7,6<br />

7,5 7,6 7,3<br />

7,4<br />

5,6<br />

4,0<br />

5,2<br />

2,0<br />

0,0<br />

2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014<br />

Gesamt Ost West<br />

Abbildung 4 Manifest rechtsextreme Einstellung im Zeitverlauf (Quelle: Decker, Kiess<br />

& Brähler, 2014, S. 48)


144 Kurt Möller<br />

Auch wenn manifest rechtsextreme Einstellungen aktuell im Rückgang be ndlich<br />

zu sein scheinen, verbleibt zum einen ein nicht unbedeutender Sockelsatz an<br />

Menschen mit einem sog. geschlossenen rechtsextremen Weltbild, also mit Zustimmungen<br />

zu allen der sechs Elemente von <strong>Rechtsextremismus</strong>, und zum anderen<br />

der Befund, wonach sich nach wie vor extrem rechte Einstellungsbestände<br />

keineswegs nur bei den Sympathisantinnen und Sympathisanten rechtsextremer<br />

und rechtspopulistischer Parteien nden, sondern auch bei den Anhängerinnen<br />

und Anhängern der großen Volksparteien in etwa in dem Maße vertreten sind<br />

wie es die in Tabelle 1 präsentierten Durchschnittswerte ausweisen. Zudem dürfte<br />

fraglich sein, ob nicht gerade in jüngeren Generationen sich Effekte sozialer Erwünschtheit<br />

einstellen, wenn Befragungsstudien (wie z. B. auch die von Decker<br />

u. a.) mit klassischen Items operieren wie beispielsweise „Der Nationalsozialismus<br />

hatte auch seine guten Seiten“.<br />

Nimmt man weitere GMF-Phänomene zusätzlich in den Blick, so zeigen sich<br />

aktuell z. T. erhebliche Ablehnungsbestände innerhalb der west-, aber vor allem<br />

innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung (vgl. Tabelle 2).<br />

Tabelle 2 Prozentuale Zustimmungen zu Facetten Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit<br />

in Deutschland 2014 (Quelle: Zick & Klein 2014, S. 73)<br />

Gesamt<br />

(n=1.915)<br />

Ost<br />

(n=385)<br />

West<br />

(n=1.483)<br />

Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen 47,8 55,4 46,3<br />

Rassismus 8,7 11 8,1<br />

Fremdenfeindlichkeit 20 26,9 18,2<br />

Antisemitismus 8,5 11,6 7,8<br />

Abwertung behinderter Menschen 4,1 4 4<br />

Abwertung homosexueller Menschen 11,8 15,3 10,5<br />

Abwertung wohnungsloser Menschen 18,7 22,9 17,1<br />

Etabliertenvorrechte 38,1 41,6 37,6<br />

Sexismus 10,8 10,2 10,9<br />

Abwertung asylsuchender Menschen 44,3 52,8 42,2<br />

Abwertung von Sinti und Roma 26,6 35,1 24,5<br />

Islamfeindlichkeit 17,5 23,5 16<br />

Zu denken gibt hier u. a. insbesondere, dass zum einen Ablehnungshaltungen wie<br />

die in Tabelle 2 angeführten sich in erheblichem Ausmaß auch bei Personen nden,<br />

die sich selbst der politischen Mitte zurechnen und dass zum anderen jüngere<br />

Menschen (16- bis 30-Jährige) in größerem Ausmaß antihomosexuelle, fremden-


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

145<br />

feindliche, islamfeindliche, rassistische und sexistische Haltungen besitzen als die<br />

Gruppierung der 30- bis 60-Jährigen und noch stärker als die über 60-Jährigen<br />

Langzeitarbeitslose ablehnen – offenbar aufgrund gerade bei ihnen stark ausgeprägter<br />

ökonomistischer Einstellungen (vgl. Zick & Klein 2014, S. 75ff.). Hohe<br />

Belastungen junger Menschen, speziell Jugendlicher von 15 bzw. 16 Jahren, stellt<br />

auch die Studie von Baier u. a. (2009) fest: Danach sind bei über 40% von ihnen<br />

ausländerfeindliche Einstellungen zu registrieren. Bei 12,7% dieser Gruppierung<br />

ndet sich außerdem Antisemitismus. Muslimfeindlichkeit weisen 37,7% auf.<br />

Dabei sind die Jungen, vor allem unter den „sehr“ Ausländerfeindlichen und den<br />

Personen mit antisemitischen Orientierungen doppelt so stark vertreten wie die<br />

Mädchen (vgl. zum Komplex geschlechtsspezischer Anfälligkeiten für und Ausprägungen<br />

von <strong>Rechtsextremismus</strong> zusammenfassend und im Überblick die Sammelbände<br />

von Birsl, 2011 und Claus u. a., 2010).<br />

Alles in allem bleibt festzuhalten: <strong>Rechtsextremismus</strong> ist ein strukturelles und<br />

kein konjunkturelles Problem. Das, was ihm auf entscheidende Weise Kontinuität<br />

sichert, ist dabei weniger sein organisiertes Auftreten als seine Fortexistenz im<br />

Bereich der Orientierungen – auch innerhalb der nachwachsenden Generation(en).<br />

Die Orientierungen wiederum, also Einstellungen, Meinungen, Mentalitäten, politische<br />

Gestimmtheiten, einschlägig aufgeladene symbolische Repräsentationen<br />

etc. scheinen sich in bestimmten Segmenten zu popularisieren und zu normalisieren.<br />

Gesellschaftlich kursierende Deutungsmuster mit Facetten pauschalisierender<br />

Ablehnungen wie Islamfeindlichkeit, (Hetero-)Sexismus u. a. stellen dabei<br />

offensichtliche zusätzliche Begünstigungsfaktoren – und auch für sich genommen<br />

dringlich zu bearbeitende Herausforderungen – dar. Insofern wird ein Abbau von<br />

un- und antidemokratischen Tendenzen dieser Couleur solange erfolglos bleiben,<br />

wie die Attraktivität dieser Orientierungen für die sie tragenden Subjekte nicht<br />

entschlüsselt und durch funktionale Äquivalente ersetzt werden kann (vgl. dazu<br />

Möller in diesem Band).


146 Kurt Möller<br />

Literatur<br />

Baier, D., Pfeiffer, C., Simonson, J. & Rabold, S. (2009). Jugendliche in Deutschland als<br />

Täter und Opfer von Gewalt. Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt<br />

des Bundesministeriums der Innern und des KFN. Forschungsbericht Nr. 107.<br />

Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen.<br />

Balibar, E. (1990). Rassismus und Nationalismus. In E. Balibar, & I. Wallerstein (Hrsg.),<br />

Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten. (S. 49 – 84). Hamburg: Argument Verlag.<br />

Birsl, U. (Hrsg.). (2011). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Gender. Opladen, Farmington Hills: Verlag<br />

Barbara Budrich.<br />

Claus, R., Lehnert, E. & Müller, Y. (Hrsg.). (2010). „Was ein rechter Mann ist...“ Männlichkeiten<br />

im <strong>Rechtsextremismus</strong>. Berlin: Dietz.<br />

Decker, O., Brähler, E. & Geißler, N. (2006). Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen<br />

und ihre Ein ussfaktoren in Deutschland. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Decker, O., Weißmann, M., Kiess, J. & Brähler, E. (2010). Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme<br />

Einstellungen in Deutschland 2010. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2012). Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen<br />

in Deutschland 2012. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2014). Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung<br />

in Deutschland 2014. Leipzig: Universität Leipzig. Online verfügbar unter http://<br />

www.uni-leipzig.de/~kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf (Zugriff am 20.01.2015).<br />

Deutscher Bundestag, Drucksache 18/3964 v. 06.02.2015: Antwort der Bundesregierung<br />

auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Annette Groth,<br />

weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Proteste gegen und Übergriffe auf<br />

Flüchtlingsunterkünfte im vierten Quartal 2014.<br />

Forum für kritische <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung (Hrsg.). (2011). Ordnung. Macht. Extremismus.<br />

Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells. Wiesbaden: VS Verlag für<br />

Sozialwissenschaften.<br />

Geiger, Th. (1932). Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch<br />

auf statistischer Grundlage. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.<br />

Hall, St. (1994). Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg:<br />

Argument Verlag.<br />

Heitmeyer, W. (1987). Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Weinheim<br />

und München: Juventa.<br />

Heitmeyer, W. (Hrsg.). (2002-2012). Deutsche Zustände. 10 Folgen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.<br />

http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990/<br />

Hüttmann, J. (2011). Extreme Rechte – Tragweite einer Begriffsalternative. In Forum für<br />

kritische <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung (Hrsg.), Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte<br />

und Alternativen des Extremismus-Modells (S. 327-346). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Jaschke, H.-G. (1991). Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Kapalka, A. & Räthzel, N. (1994). Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Rassismus in<br />

Politik, Kultur und Alltag. Köln: Dreisam.


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

147<br />

Kausch, St. & Wiedemann, G. (2011). Zwischen „Neonazismus“ und „Ideologien der<br />

Ungleichwertigkeit“. Alternative Problematisierungen in einem kommunalen Handlungskonzept<br />

für Vielfalt und Demokratie. In Forum für kritische <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />

(Hrsg.), Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells<br />

(S. 286-306). Wiesbaden: VS.<br />

Klein, A. (2014). Toleranz und Vorurteil. Zum Verhältnis von Toleranz und Wertschätzung<br />

zu Vorurteilen und Diskriminierung. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.<br />

Mansel, J. & Spaiser, V. (2013). Ausgrenzungsdynamiken. In welchen Lebenslagen Jugendliche<br />

Fremdgruppen abwerten. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.<br />

McCauley, C. & Moskalenko, S. (2011). Mechanismen der Radikalisierung von Individuen<br />

und Gruppen. Der Bürger im Staat 2011, 4, 219-224.<br />

Mecheril, P. u. a. (2010). Migrationspädagogik. Weinheim, Basel: Beltz.<br />

Miles, R. (1991). Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs .<br />

Hamburg: Argument.<br />

Möller, K. (2000). Rechte Kids. Eine Langzeitstudie über Auf- und Abbau rechtsextremistischer<br />

Orientierungen bei 13-bis 15jährigen. Weinheim und München: Juventa.<br />

Möller, K., Grote, J., Nolde, K. & Schuhmacher, N. (2015). „Die kann ich nicht ab!“ – Ablehnung,<br />

Diskriminierung und Gewalt bei Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft.<br />

Wiesbaden: Springer VS (i.V.).<br />

Möller, K. & Schuhmacher, N. (2007). Rechte Glatzen. Rechtsextreme Orientierungs- und<br />

Szene zu sammen hänge – Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skinheads.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Rommelspacher, B. (1995). Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda<br />

Frauenverlag.<br />

Said, E. (1995). Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London: Penguin (1. ed.<br />

1978).<br />

Stöss, R. (2010). <strong>Rechtsextremismus</strong> im Wandel. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Wehler, H.-U. (1987). Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band: Vom Feudalismus<br />

des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung 1700-1815. München: C.H. Beck.<br />

Zick, A. & Klein, A. (2014). Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen<br />

in Deutschland 2014. Bonn: Dietz.<br />

Zick, A., Küpper, B. & Heitmeyer, W. (2011). Vorurteile als Elemente Gruppenbezogener<br />

Menschenfeindlichkeit – eine Sicherung der Vorurteilsforschung und ein theoretischer<br />

Entwurf. In A. Pelinka (Hrsg.), Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung (S. 287-316).<br />

Berlin, Boston: de Gruyter.<br />

Zick, A., Küpper, B. & Hövermann, A. (2011). Die Abwertung der Anderen. Eine europäische<br />

Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. Berlin:<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung.


Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />

und <strong>Rechtsextremismus</strong> aus der Sicht<br />

der Theorie eines identitätsstiftenden<br />

politischen Fundamentalismus<br />

Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

1 Ausgangspunkte und ein neuer Problemraum<br />

Betrachtet man die verschiedenen Ansätze, <strong>Rechtsextremismus</strong> begrif ich zu<br />

fassen, so lassen sich zumindest drei „Suchstrategien“ (Klix, 1971, S. 644ff.) im<br />

Sinne einer komplexen Problemlösung unterscheiden: A) Dominant sind im Zeitraum<br />

2001 bis 2013 vor allem Strategien, mit denen der Problem- oder Suchraum<br />

eingeschränkt wurde. Zu diesen Strategien gehören jene Ansätze, in denen auf<br />

der Grundlage der „Konsensdenition“ ausgewählte Dimensionen rechtsextremer<br />

Einstellungen untersucht werden (z. B. Decker, Kiess & Brähler, 2012). Das heißt,<br />

auf die Einbeziehung der Gewaltdimension zur Bestimmung und empirischen<br />

Untersuchung rechtsextremer Phänomene wurde dabei verzichtet. Auch die Ansätze,<br />

in denen auf den Rassismus-Begriff insistiert wurde (z. B. Butterwegge, 2000),<br />

haben letztlich den Problemraum eingeschränkt. Rassismus ist sicher ein wichtiges<br />

Merkmal von <strong>Rechtsextremismus</strong>, aber nicht das hinreichende. Das gilt auch<br />

für die Überlegungen, die Hate-Crime-Forschung in die <strong>Rechtsextremismus</strong>-Forschung<br />

zu integrieren. Hass und Wut spielen in rechtsextremen Ausschreitungen<br />

häug, aber nicht immer eine tragende Rolle. B) Mit einer Erweiterung des Problemraums<br />

arbeiten schließlich jene Wissenschaftler, die sich der „vergleichenden<br />

Extremismusforschung“ verschrieben haben (z. B. Backes & Jesse, 1993) – mit den<br />

entsprechenden und kritisierten Folgen. C) Eine völlige Neude nierung des Problemraums<br />

versucht hingegen die soziologische Bewegungsforschung (Klärner &<br />

Kohlstruck, 2006).<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


150 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Diese dritte Suchstrategie hat aber auch ihre Tücken: Die Grenzen eines möglichen<br />

Problemraums, um dem <strong>Rechtsextremismus</strong> empirisch auf die Spur zu<br />

kommen, sind diffus und nur schwer zu erkennen. Klärner und Kohlstruck (2006)<br />

machen auf diese Tücke aufmerksam, wenn sie schreiben:<br />

„Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich diese politischen wie kulturellen<br />

Aktivitäten (des politischen <strong>Rechtsextremismus</strong>; W.F., D.G.) bringen lassen, ist der<br />

Wille und Wunsch nach einer spezi schen Antimoderne in der Moderne“ (Klärner<br />

& Kohlstruck, 2006, S. 32).<br />

In einem interessanten Beitrag beschreibt Richard Münch (1994) die antimodernen<br />

Bewegungen als jene Gruppierungen, die sich wehren „gegen die Au ösung<br />

traditioneller Lebenswelten und Glaubensbestände durch die umfassende Ökonomisierung,<br />

Politisierung und Rationalisierung (Säkularisierung) des modernen<br />

Lebens“ (S. 30). Als Beispiele nennt Münch u. a. kleinbürgerliche Schichten<br />

(z. B. Bewegungen des Handwerks, die sich gegen die Industrie wehren), Arbeiterschichten<br />

(die sich für Arbeitsplatzgarantien einsetzen), industrielle Schichten<br />

(die sich gegen die wachsende ausländische Konkurrenz richten), Bildungsschichten<br />

(die gegen die Verdrängung der Hochkultur durch die Massenkultur kämpfen)<br />

usw.<br />

Sicher mögen diese und andere Schichten nicht gegen den Ein uss rechtsextremer<br />

Tendenzen gefeit sein. Die „Mitte-Studien“ belegen das (z. B. Decker et<br />

al., 2012). Ob Teile dieser Schichten aufgrund der von Münch (1994) genannten<br />

Motive per se als rechtsextrem zu bezeichnen sind, dürfte aber bezweifelt werden.<br />

Kurz und gut: Die Differenz von Moderne und Antimoderne scheint zunächst<br />

nicht sonderlich hilfreich zu sein, um den Problemraum zu markieren, innerhalb<br />

dessen der <strong>Rechtsextremismus</strong> verortet werden kann. Allerdings sprechen Klärner<br />

und Kohlstruck (2006, S. 32) vom „Wunsch nach einer spezi schen Antimoderne<br />

in der Moderne“ (Hervorhebung, W.F., D.G.), der den kleinsten gemeinsamen<br />

Nenner bezeichnet, durch den sich die verschiedenen rechtsextremen Bewegungen<br />

auszeichnen. Diese Spezi k müsste also genauer bestimmt werden, um vielleicht<br />

doch noch einen hilfreichen Problemraum zur Bestimmung des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

aufspannen zu können.<br />

Anregungen zu einer solchen Spezi zierung fanden wir bei Thomas Grumke<br />

(2001. Grumke analysiert den <strong>Rechtsextremismus</strong> in den USA und stützt sich<br />

dabei auch auf die zivilisationstheoretische Untersuchung fundamentalistischer<br />

Bewegungen in der Moderne von Shmuel Eisenstadt (1998). Die Ideologie (Eisenstadt<br />

spricht von „antimoderne(r) Einstellung“; 1998, S. 84) der fundamentalistischen<br />

Bewegungen ist „… nicht einfach nur eine Reaktion traditioneller Gruppen


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

151<br />

auf die Verführung durch neue Lebensstile, sondern eine militante Ideologie, die<br />

grundlegend in eine hochmoderne Struktur eingebunden ist“.<br />

Auch hier spielt also der Widerspruch zwischen Moderne und Antimoderne<br />

eine Rolle. „Die Grundideologie des Fundamentalismus“, so Eisenstadt (1998,<br />

S.77), „ist antimodern, stellt eine Negation der Grundsätze der Moderne als Kultur<br />

dar, jedoch nicht notwendigerweise ihrer technologischen und organisatorischen<br />

Aspekte“. Eisenstadt illustriert diese Dialektik zwar überwiegend an Beispielen<br />

des religiösen Fundamentalismus (im Islam, dem Judentum), verweist aber auch<br />

auf Parallelen zwischen diesen Fundamentalismen und kommunistischen bzw. totalitären<br />

Regimes (z. B. Eisenstadt, 1998, S. 82f.). Die damit quasi angedeutete<br />

Brücke zu politisch-fundamentalistischen Strömungen und Bewegungen könnte –<br />

im Sinne der o. g. Neude nierung des Problemraums – durchaus hilfreich sein,<br />

einen neuen und differenzierten Blick auf den <strong>Rechtsextremismus</strong> zu werfen. Mit<br />

der im Folgenden vorgestellten Theorie und den sich anschließenden drei empirischen<br />

Sekundärstudien soll ein solcher Blick versucht werden.<br />

2 Postulate einer Theorie eines identitätsstiftenden<br />

politischen bzw. religiösen Fundamentalismus (TIF)<br />

2.1 Absichten<br />

Vorgestellt wird im Folgenden eine sozialpsychologische Theorie, mit der eine<br />

neue und u. U. erweiterte empirische Perspektive auf rechtsextreme Tendenzen<br />

verbunden ist. Mit dieser Theorie wird allerdings nicht der Anspruch erhoben,<br />

generelle und über die sozialwissenschaftlichen Grenzen hinausgehende Erklärungen<br />

des <strong>Rechtsextremismus</strong> nden zu wollen. Interdisziplinäre Anknüpfungspunkte<br />

und Anschlüsse sind indes erwünscht und angestrebt. Abbildung 1 illustriert<br />

die Grundstruktur der Theorie, die im Folgenden erklärt wird.


152 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Potentielle<br />

Prädiktoren<br />

Potentielle<br />

Mediatoren<br />

Potentielle Kriterien<br />

Makro-soziale<br />

Makro-soziale<br />

Bedingungen für<br />

B edingungen für<br />

recht sextreme<br />

rechtsextreme<br />

Tendenzen<br />

Tendenzen<br />

Gewaltbereitschaft,-<br />

akzeptanz- und<br />

handeln<br />

Meso- soziale<br />

Bedingungen für<br />

recht sextreme<br />

Tendenzen<br />

Soziale bzw.<br />

Kollektive Identität<br />

als Identifikation mit<br />

relevanten<br />

Bezugsgruppen<br />

Fundamentalistische<br />

Ideologien der<br />

Ungleichwertigkeit<br />

Mikro-soziale<br />

Bedingungen für<br />

recht sextreme<br />

Tendenzen<br />

Negative<br />

Intergruppen-<br />

Emotionen<br />

Abbildung 1 Grundstruktur der Theorie eines identitätsstiftenden politischen bzw. religiösen<br />

Fundamentalismus (TIF).<br />

2.2 Das Explanandum: <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

Die potentiellen Kriterien des Problemraums, also die zu erklärenden Variablen,<br />

bilden rechtsextreme Tendenzen. Damit sind fundamentalistische Ideologien (der<br />

Ungleichwertigkeit) in Verbindung mit Gewaltpotentialen und negativen Gruppenemotionen<br />

gemeint.<br />

Ad 1.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine Ideologie<br />

Ideologien werden nach wie vor produziert und konstruiert. Ihre Lebendigkeit<br />

verdanken sie der aktuellen Relevanz des Globalen und dem vielstimmigen<br />

Reden über die Globalisierung. Ideologien im nachideologischen Zeitalter<br />

weisen zumindest folgende Merkmale auf: Sie sind gruppenspezische soziale<br />

Bezugssysteme, um Vergangenes zu analysieren, Diagnosen über Gegenwärtiges<br />

zu formulieren und Prognosen über Zukünftiges zu entwerfen. Ideologien<br />

stellen somit Konstruktionen bereit, um die Unvorhersagbarkeit von Welt zu<br />

reduzieren.


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

153<br />

Ideologien eignen sich offenbar als „Feste Punkte“, als übergreifende Bezugssysteme<br />

zur Orientierung in einer komplexen Welt (vgl. auch Jost, 2006). Auch<br />

der <strong>Rechtsextremismus</strong> scheint in diesem Sinne geeignet zu sein, als übergreifendes<br />

und gruppenspezisches Bezugssystem zur Orientierung in einer komplexen<br />

Welt zu fungieren.<br />

Ad 2.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine fundamentalistische Ideologie<br />

Ideologien wirken in den jeweiligen Gruppierungen und Gemeinschaften als<br />

Facetten des kulturellen Systems. Diverse Gruppierungen und Gemeinschaften<br />

gehen hausieren mit ihren Ideologien, die dem gemeinschaftsinternen Konsens<br />

und/oder den Vorstellungen ihrer Wortführer entsprechend als normative Leitlinien<br />

von Welt- und Lebensbegründungen zu gelten haben. In diesem Sinne<br />

versuchen Gruppierungen und Gemeinschaften u. U., konkurrierende Ideologien<br />

zu unterdrücken und/oder aus dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu<br />

vertreiben, um an deren Stelle ihre eigenen Welt- und Lebensbegründungen zu<br />

etablieren.<br />

Aus dieser Perspektive macht es durchaus Sinn vom „falschen Bewusstsein“<br />

(Marx & Engels, MEW, Band 39, S. 97) 1 zu sprechen, das durch Ideologie konstruiert<br />

wird. Falsches Bewusstsein spiegelt eine Ideologie dann wider, wenn<br />

eine soziale Gemeinschaft a) die eigenen Leitideen oder Ideologien für allgemein<br />

gültig auch für andere, oder alle anderen sozialen Gemeinschaften erklärt,<br />

b) die Leitideen oder Ideologien anderer Gemeinschaften abwertet und c)<br />

unter Umständen zu bekämpfen versucht. Dann wird Ideologie zum politischen<br />

Fundamentalismus.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine fundamentalistische Ideologie im mehrfachen Sinne:<br />

a) <strong>Rechtsextremismus</strong> richtet sich gegen die „Fundamente“, „die den Kern<br />

der Moderne ausmachen und in den universellen Grundrechten ihren Ausdruck<br />

nden“ (Meyer, 2011, S. 28). b) <strong>Rechtsextremismus</strong> tritt mit dem Anspruch auf,<br />

die eigene Ideologie für allgemein gültig zu erklären. c) Diejenigen Gemeinschaften,<br />

die sich nicht der rechtsextremen Ideologie unterordnen und die nicht<br />

1 Fälschlicher Weise wird häufig angenommen, die Aussage von der Ideologie als „falsches<br />

Bewusstsein“ sei von Marx und Engels bereits in der „Deutschen Ideologie“<br />

(MEW, Bd. 3) getroffen worden. Tatsächlich taucht die Aussage vom „falschen Bewusstsein“<br />

aber erst in einem Brief auf, den Engels am 14. Juli 1893 an Franz Mehring<br />

geschrieben hat.


154 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

den rechtsextremen Norm- und Wertvorstellungen entsprechen, werden abgewertet,<br />

diskriminiert und u. U. mit Gewalt bekämpft.<br />

Ad 3.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine militante Ideologie<br />

Die militante fundamentalistische Ideologie des <strong>Rechtsextremismus</strong> dient – ebenso<br />

wie andere Fundamentalismen – als grundlegendes Bezugssystem, mit dem<br />

sich die Anhänger identizieren (im Sinne der sozialen Identität; Tajfel & Turner,<br />

1986) und als soziale Bewegung (Rucht, 2002) bzw. soziale Milieus organisieren.<br />

Über den Zusammenhang zwischen rechtsextremer fundamentalistischer Ideologie<br />

(operationalisiert im Sinne der Ideologie der Ungleichwertigkeit, nach<br />

Heitmeyer und Kollegen, Heitmeyer et al., 1992) und der Gewaltdimension gibt<br />

es in der Literatur nach wie vor unterschiedliche Auffassungen und empirische<br />

Befunde (z. B. Fischer, 2006; Fuchs, 2003 ; Giddens, 1997). Möglicherweise –<br />

so ist auf der Basis bisheriger Studien zu vermuten – wirken rechtsextreme fundamentalistische<br />

Ideologien im Sinne der Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />

einerseits als Legitimationsinstanzen für Gewalttendenzen; andererseits entfalten<br />

sie ihre Wirkung vor allem dann, wenn sie funktional für die Identikation<br />

mit relevanten Bezugsgruppen sind.<br />

Ad 4.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine fundamentalistische und militante Ideologie und<br />

legitimierendes Bezugssystem für Gruppenemotionen<br />

Dass rechtsextreme Aktionen, Tendenzen und Ideologien auf der Seite der Akteure<br />

mit starken Emotionen verknüpft sein können, lässt sich nicht bezweifeln<br />

(Frindte & Neumann, 2002; Möller & Schuhmacher, 2007; Willems, Eckert,<br />

Würtz & Steinmetz, 1993; u. v. a.). Auch die „Hate-Crime“-Forschung macht<br />

auf die Verknüpfung von rechtsextremen Gewaltafnitäten und emotionale Beteiligung<br />

aufmerksam (vgl. z. B. Disha, Cavendish & King, 2011).<br />

Frindte und Neumann (2002) fanden in ihren Interviews mit fremdenfeindlichen<br />

Gewalttätern Hinweise, dass die Gewalttaten der Interviewten von starken<br />

Emotionen begleitet werden. Quantitativ überwiegen in den Schilderungen der<br />

Interviewten eher negative Emotionen (57 %), während ein Viertel der Befragten<br />

eher positive Emotionen berichteten. Auch in der Benennung von Einzelemotionen<br />

steht Hass an erster Stelle. In der Rangreihe folgen nach Spaß und<br />

Glück Wut, Ärger und Angst. Auffällig ist auch ein signi kanter Unterschied<br />

zwischen ost- und westdeutschen Tätern. In neun von zehn westdeutschen Ta-


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

155<br />

ten lassen sich Aussagen negativer Emotionen nden, aber nur in weniger als<br />

der Hälfte der ostdeutschen Fälle. Knapp 30 % der ostdeutschen Täter äußern<br />

dagegen einen mit der Tat verbundenen positiven Affekt, während dies nur jeder<br />

zehnte Westdeutsche beschreibt.<br />

Wenn Emotionen Begleiterscheinungen rechtsextremer Aktionen und rechtsextremer<br />

Ideologien sind und solche Aktionen und Ideologien in der Regel<br />

durch Gruppen oder Gemeinschaften ausgeübt bzw. vertreten werden, so ist<br />

zu vermuten, dass die beteiligten Akteure sich mit diesen Gruppenaktionen<br />

und -ideologien identi zieren. Smith (1993) hat darauf aufmerksam gemacht,<br />

dass unter solchen oder ähnlichen Umständen die Akteure weitgehend ähnliche<br />

Emotionen („social emotions“ oder Intergruppengefühle) teilen. Intergruppengefühle<br />

sind Emotionen, die in Intergruppenkontexten ausgelöst, von den Mitgliedern<br />

einer Ingroup geteilt und gegenüber den Mitgliedern einer Fremdgruppe<br />

geäußert werden. Dazu gehören nach Smith (1993, S. 306) sowohl mildere<br />

Gefühle, wie Furcht und Ekel, als auch starke negative Gefühle, wie Verachtung,<br />

Neid, Wut oder Hass.<br />

Zwischenfazit:<br />

In der Konsequenz von Ad 1 bis Ad 4 wird <strong>Rechtsextremismus</strong> als Triple-Phänomen<br />

(Dreikomponenten-Ansatz) konzipiert: als fundamentalistische Ideologie (der<br />

Ungleichwertigkeit), durch die Gewaltpotentiale (Gewaltakzeptanz, -bereitschaft<br />

und -handeln) und negative Gruppenemotionen legitimiert werden können.<br />

2.3 Makro-Meso-Mikro-Prädiktoren<br />

Wird <strong>Rechtsextremismus</strong> als fundamentalistische Ideologie mit Gewaltpotential<br />

und verknüpften negativen Intergruppenemotionen begriffen, so bieten die in den<br />

letzten 25 Jahren durchgeführten empirischen Studien zum <strong>Rechtsextremismus</strong> und<br />

zum Fundamentalismus 2 sowie die Hate-Crime-Forschung profunde Hinweise auf<br />

mögliche Prädiktoren rechtsextremer Tendenzen. Dabei handelt es sich nicht nur<br />

um individuelle Ursachen bzw. Prädiktoren, sondern, wie Miles Hewstone (2004)<br />

in einem Vortrag im Wissenschaftszentrum für Sozialforschung feststellte:<br />

2 McCleary und Kollegen (2011) analysierten 28 Studien, in denen psychologische Variablen<br />

und deren Zusammenhänge mit fundamentalistischen Einstellungen untersucht<br />

wurden. Besonders starke signifikante Zusammenhänge zeigten sich dabei mit<br />

Autoritarismus, Ethnozentrismus, Militarismus und generellen Vorurteilen gegenüber<br />

Homosexuellen. Die Parallelen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> sind also auffallend.


156 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

„Die Hauptursachen von Vorurteilen und Diskriminierung gegenüber Zuwanderern<br />

scheinen wirtschaftliche Probleme bei einem gleichzeitigen Anstieg der Zuwandererzahlen<br />

sowie Verhaltensweisen von Angehörigen politischer Eliten, die Minderheiten<br />

zu Sündenböcken machen, zu sein. Um diesen Zusammenhang noch näher zu<br />

erforschen, bedarf es einer Analyse, in die Erkenntnisse aus den Wirtschafts- und<br />

Politikwissenschaften, der Soziologie und der Sozialpsychologie einießen müssen“<br />

(Hewstone, 2004, S. 8).<br />

Eine solch interdisziplinäre Analyse, wie sie von Hewstone gefordert wird, kann<br />

und soll an dieser Stelle nicht geleistet werden. Die sozialpsychologische Perspektive,<br />

die mit der angestrebten Theorie eines identitätsstiftenden politischen bzw.<br />

religiösen Fundamentalismus (TIF) eingenommen wird, schließt den Ein uss<br />

wirtschaftlicher, politischer und allgemeiner Faktoren auf rechtsextreme Tendenzen<br />

zwar nicht aus, betrachtet deren Wirkung aber (entsprechend dem methodologischen<br />

Individualismus der Sozialpsychologie) als Folge individueller und/oder<br />

gruppenspezischer Wahrnehmungen, Bewertungen und Attributionen.<br />

Für die Analyse dieser Prädiktoren wurde das an Pettigrews (1996) angelehnte<br />

Mehrebenen-Konzept bereits eingeführt (siehe den Beitrag von Frindte et al. in<br />

diesem Band), welches wir nun beispielhaft – und ohne Anspruch auf Vollständigkeit<br />

– mit theoretischen Konzepten und empirischen Befunden unterlegen:<br />

Ad 1. Auf Prädiktoren, die auf einer Makroebene angesiedelt sind, verweisen<br />

die Befunde, in denen ökonomische und politische Kontextbedingungen als relevante<br />

Einussfaktoren identiziert wurden (z. B. Vereinzelungs-, Ohnmachts- und<br />

Handlungsunsicherheitserfahrungen in Folge individueller bzw. gruppenspezi -<br />

scher Desintegrationserscheinungen, z. B. Heitmeyer et al., 1992; Decker et al.,<br />

2012) oder „Medien“ in ihrer Funktion als „Interpretationsrahmen“ oder „diskursive<br />

Gelegenheitsstrukturen“ eine gewichtige Rolle spielen (z. B. Klärner, 2008;<br />

Frindte & Haußecker, 2010).<br />

Ad 2. Auf einer Mesoebene lassen sich jene sozialpsychologischen und soziologischen<br />

Prädiktoren verorten, die sich auf diverse Sozialisationseinüsse beziehen<br />

(z. B. Heer, Boehnke & Butz, 1999), das Agieren rechtsextremer Gruppierungen,<br />

Milieus, Organisationen und Bewegungen und deren Konikte mit „gegnerischen“<br />

Milieus etc. beschreiben (z. B. Möller & Schuhmacher, 2007), sich im Rahmen der<br />

Bewegungsforschung als relevant zeigen (vgl. Grumke, 2013), bzw. im Allgemeinen<br />

auch als Bedingungen für Intergruppen-Kon ikte identiziert wurden (u. a.<br />

die Integrated Threat Theory, Stephan & Stephan, 2000).<br />

Ad 3. Auf der Mikroebene nden sich u. a. die psychologischen Prädiktoren,<br />

die auf den Einuss von Selbstkonzept-Variablen (z. B. He er & Boehnke, 1995),<br />

auf die Rolle zentraler Wertorientierungen (z. B. Götz, 1997), auf „generalisierte


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

157<br />

Einstellungen“ 3 (wie Autoritarismus und Soziale Dominanzorientierung, vgl. z. B.<br />

Duckitt & Sibley, 2010; Seipel, Rippl & Schmidt, 1995), auf die Verortung im<br />

politischen Spektrum (Best et al., 2013) oder auf andere individuelle Prädiktoren<br />

rechtsextremer Tendenzen verweisen.<br />

2.4 Vermittlungsinstanzen oder Mediatoren<br />

Ob und inwieweit die Prädiktoren fundamentalistische Ideologien (der Ungleichwertigkeit)<br />

beeinussen, hängt ganz entschieden davon ab, ob sich Personen mit<br />

fundamentalistischen Gruppen, Gemeinschaften oder Bewegungen identi zieren<br />

und mit diesen sozialen Gruppen, Gemeinschaften oder Bewegungen relevante<br />

soziale Vorstellungen teilen.<br />

Die damit angesprochenen sozialen Konstruktionen deniert Klandermans folgendermaßen<br />

(2014):<br />

„Social identity concerns the socially constructed cognitions of an individual about<br />

his membership in one or more groups. Collective identity concerns cognitions<br />

shared by members of a single group about the group of which they are a member”<br />

(Klandermans, 2014, S. 3; Hervorh. Im Original).<br />

Das heißt, wir haben es theoretisch zumindest mit zwei „Entitäten“, Beschaffenheiten<br />

oder Konstruktionen zu tun, deren Differenzierung in der klassischen<br />

Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1986) so explizit noch nicht vorgenommen<br />

wurde, aber in neueren Arbeiten (vor allem im Kontext politischer Aktionen<br />

und sozialer Bewegungen) eine wichtige Rolle spielt (z. B. Aroopala, 2012;<br />

Klandermans, Sabucedo, Rodriguez & Weerd, 2002): a) die Identi kation einer<br />

Person mit relevanten sozialen Bezugsgruppen und b) die interindividuell mehr<br />

oder weniger übereinstimmenden sozialen Konstruktionen der Mitglieder dieser<br />

Bezugsgruppen. Die empirische Differenzierung beider Konstruktionen dürfte allerdings<br />

– nicht zuletzt wegen den sehr unterschiedlichen Operationalisierungen –<br />

nicht leicht sein (vgl. Ashmore, Deaux & McLaughlin-Volpe, 2004; Jackson &<br />

Smith, 1999). Von diesen methodischen Schwierigkeiten und begrif ichen Unterschieden<br />

sehen wir zunächst ab:<br />

3 Autoritäre Überzeugungen und Soziale Dominanzorientierung werden in der sozialpsychologischen<br />

Literatur in Anlehnung an Allport (1935) auch als generalisierte Einstellungen<br />

(Six , 1996) oder als ideological beliefs bezeichnet (Jost, 2006).


158 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Ad 1. Unter sozialer Identität einer Person verstehen wir – im Sinne der Theorie<br />

der sozialen Identität (SIT, Tajfel & Turner, 1986) – die Summe der Identi kationen<br />

mit bestimmten sozialen Kategorien (Gruppen, Gemeinschaften, Milieus<br />

oder sozialen Bewegungen) und die mit diesen Kategorien assoziierten Werte und<br />

Eigenschaften. Die soziale Identität einer Person konstituiert mit der personalen<br />

Identität (die Summe der persönlichen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften)<br />

das Selbstkonzept einer Person. Identi kation mit sozialen Kategorien bedeutet<br />

hier die subjektive Bedeutsamkeit diese Kategorien für die soziale Identität.<br />

Ad 2. Entsprechend der SIT ist davon auszugehen, dass Menschen bestrebt sind,<br />

eine positive soziale Identität zu erlangen. In Abhängigkeit vom sozialen Kontext<br />

(und den Erfahrungen im Umgang mit den Kontextbedingungen) kann sich eine<br />

Person mit unterschiedlichen sozialen Kategorien identi zieren und auf unterschiedlichen<br />

Abstraktionsniveaus selbst kategorisieren. Im Ergebnis der Identi -<br />

zierungs- und Kategorisierungsprozesse wird eine positive Abgrenzung der Eigengruppen<br />

(der relevanten Bezugsgruppen) zu relevanten Fremdgruppen angestrebt.<br />

Die soziale Identität ist einerseits Ergebnis der Interaktion mit den sozialen Kontextbedingungen<br />

und fungiert andererseits als individuelles Bezugssystem, um<br />

die soziale Umwelt (und die damit verbundenen Kontextbedingungen) danach zu<br />

beurteilen und zu bewerten, inwieweit sie selbstwertdienlich oder selbstwertbeeinträchtigend<br />

sind.<br />

Ad 3. Die soziale Identität, die als Folge derartiger Identi zierungs- und Kategorisierungsprozesse<br />

konstruiert wird, fungiert als Vermittler bzw. Mediator<br />

zwischen den wahrgenommenen (selbstwertdienlichen bzw. selbstwertbeeinträchtigenden)<br />

Kontextbedingungen und den Bewertungs- und Handlungsstrategien im<br />

Umgang mit diesen Kontextbedingungen (z. B. dann, wenn die Kontextbedingungen<br />

die soziale Identität und somit auch das Selbstkonzept einer Person zu beeinträchtigen<br />

bedrohen; vgl. auch Amiot, Terry & McKimmie, 2012).<br />

Ad 4. <strong>Rechtsextremismus</strong> als fundamentalistische Ideologie (der Ungleichwertigkeit),<br />

durch die Gewaltpotentiale (Gewaltakzeptanz, -bereitschaft und –handeln)<br />

und negative Gruppenemotionen legitimiert werden können, betrachten wir in diesem<br />

Sinne als eine funktionale Ideologie. Funktional ist diese Ideologie deshalb,<br />

weil sie (sozial geteilte) Bewertungs- und Handlungsstrategien im Umgang mit<br />

den selbstwertdienlichen bzw. selbstwertbeeinträchtigenden Kontextbedingungen<br />

nahelegt (die Prädiktoren auf makro-, meso- und mikrosozialer Ebene). Die soziale<br />

Identität fungiert als Vermittler bzw. Mediator zwischen den wahrgenommenen<br />

Kontextbedingungen und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit,<br />

den Gewaltpotentialen und den Gruppenemotionen. Das heißt, welchen Ein-<br />

uss die (in zahlreichen Studien nachgewiesenen) Prädiktoren auf die fundamentalistische<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit, die Gewaltpotentiale und negativen


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

159<br />

Gruppenemotionen haben, hängt nicht ausschließlich, aber im hohen Maße von<br />

der Identikation mit relevanten Bezugsgruppen (und damit von Aspekten der sozialen<br />

Identität) ab.<br />

Abbildung 2 illustriert diese Annahmen – ergänzt um mögliche Variablen,<br />

durch die die Prädiktoren und das Explanandum operationalisiert werden können<br />

(ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Die starken schwarzen Linien sollen die<br />

angenommenen Mediatorprozesse verdeutlichen und die schwachen Linien zwischen<br />

den Prädiktoren und dem Explanandum die durchaus ebenfalls zu vermutenden<br />

direkten Relationen.<br />

Potentielle Prädiktoren<br />

Potentielle<br />

Mediatoren<br />

Potentielle Kriterien<br />

Wahrnehmung & Bewertungen<br />

ökonomischer Kontexte<br />

Wahrnehmung & Bewertung<br />

politischer K ontexte<br />

Makro-soziale<br />

Bedingungen;<br />

gesellschaftlic he<br />

Strukturen<br />

und Prozesse<br />

Gewaltpotentiale<br />

Akzeptanz<br />

Bereitschaft<br />

Wahrnehmung & Bewertung<br />

medialer Kontexte<br />

Handeln<br />

Rassismus<br />

Wahrnehmung und Bewertung<br />

von Intergruppen-Wettbewerb<br />

Wahrnehmung und Bewertung<br />

von Intergruppen-Konflikte<br />

Wahrnehmung und Bewertung<br />

von Intergruppen-Bedrohungen<br />

Fremdenfeindlichkeit<br />

Antisemit ismus<br />

Isl amfeindlichkeit<br />

Abwertung von<br />

Asy lbewerbern<br />

Meso- sozial e<br />

Bedingungen:<br />

Gruppen- und<br />

Intergruppen-<br />

Beziehungen<br />

Soziale Identität als<br />

Identifikation mit<br />

relevanten<br />

Bezugsgruppen<br />

F undamentalistische<br />

Ideologien der<br />

Ungleichwertigkeit<br />

Auoritarismus<br />

Etabliertenvorrechte<br />

Soziale Dominanzorientierung<br />

Wertorientierungen<br />

Religiosität<br />

Mikro-soziale<br />

Bedingungen:<br />

Individuelle<br />

Dispositionen und<br />

Orientierungen<br />

Intergruppen-<br />

Emotionen<br />

Hass<br />

Wut<br />

Verachtung<br />

Politische Or ie ntierung<br />

Abbildung 2<br />

Theorie eines identitätsstiftenden politischen bzw. religiösen Fundamentalismus<br />

(TIF) mit Operationalisierungsmöglichkeiten.<br />

Die Kernhypothese der TIF ist relativ simpel: Die soziale Identität als Identikation<br />

mit relevanten Bezugsgruppen fungiert als Mediator zwischen den<br />

Kontextbedingungen und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit,<br />

den Gewaltpotentialen und den Gruppenemotionen.


160 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Dass die soziale Identität als Prädiktor z. B. für kollektive Aktionen zu wirken<br />

scheint, lässt sich empirisch ziemlich gut belegen (vgl. z. B. Cakal, Hewstone,<br />

Schwär & Heath, 2011). Auch dass makro-soziale Belastungen (z. B. gruppenbezogene<br />

relative Deprivation in Folge gravierender gesellschaftlicher Veränderungen)<br />

das individuelle Erleben in Abhängigkeit von der sozialen Identität beein ussen,<br />

ist empirisch nachweisbar (z. B. Grant, 2008). Problematisch dürfte unsere Kernhypothese<br />

aber dann sein, wenn – wie wir es tun – angenommen wird, auch der<br />

Einuss mikro-sozialer Bedingungen (wie autoritäre oder sozial-dominante Überzeugungen)<br />

auf das Ausmaß rechtsextremer Tendenzen (fundamentalistische Ideologie<br />

der Ungleichwertigkeit, Gewaltpotentiale und Gruppenemotionen) werde<br />

über die Identi kation mit relevanten Bezugsgruppen mediiert. Die empirischen<br />

Befunde scheinen eher dafür zu sprechen, dass die Identi kation mit relevanten<br />

Bezugsgruppen (z. B. die Identikation mit der eigenen Nation als nationale Identität)<br />

individuelle Variablen, wie autoritäre Überzeugungen oder soziale Dominanzorientierung,<br />

beeinusst (z. B. Liu, Huang & McFedries, 2008) bzw. die nationale<br />

Identität nicht als Mediator-, sondern als Moderatorvariable 4 wirkt.<br />

Die Kernhypothese ist somit noch teilweise empirisch unbestimmt. Deshalb<br />

werden im folgenden Abschnitt die Datensätze eigener Studien genutzt, um empirische<br />

Belege zu präsentieren, mit denen die TIF fundiert werden kann.<br />

3 Empirische Belege<br />

Bei den folgenden Auswertungen handelt es sich um Sekundäranalysen von Studien,<br />

die im Zeitraum von 1998 bis 2011 durchgeführt wurden. Insofern stehen<br />

die diesen Studien ursprünglich zugrundeliegenden theoretischen Annahmen, die<br />

darauf aufbauenden Operationalisierungen und die methodischen Realisierungen<br />

nicht im direkten Zusammenhang mit der Konzeptualisierung der TIF und der o. g.<br />

Kernhypothese. Dennoch enthalten die Datensätze dieser Studien Variablen, deren<br />

Operationalisierung genutzt werden kann, um diese Kernhypothese zu prüfen.<br />

4 Eine Mediatorvariable vermittelt den statistischen Zusammenhang zwischen zwei<br />

anderen Variablen, und repräsentiert dabei den ablaufenden Prozess. Zum Beispiel:<br />

Man nimmt an, dass Menschen mit zunehmendem Alter autoritärer werden, weil sie<br />

nach und nach mehr Verantwortung übernehmen müssen. Eine weitere Annahme lautet,<br />

dass höherer Autoritarismus mit höherer Ausländer-Ablehnung einhergeht. Somit<br />

müsste höheres Alter (Prädiktor X) zu höherer Ausländer-Ablehnung führen (Kriterium<br />

Y), vermittelt über den ansteigenden Autoritarismus (Mediator Z) (vgl. Riepl,<br />

29.06.2012). Eine Moderatorvariable beeinflusst die Art des Zusammenhangs zwischen<br />

einer unabhängigen und einer abhängigen Variablen.


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

161<br />

In den Studien wird die soziale Identität, die in der Kernhypothese der TIF<br />

als Mediator zwischen den Kontextbedingungen und der fundamentalistischen<br />

Ideologie (der Ungleichwertigkeit) konzeptualisiert ist, in drei unterschiedlich abstrakten<br />

Operationalisierungen genutzt: a) als Identi kation mit rechten Cliquen<br />

als unmittelbare Bezugsgruppe, b) als Identi kation mit rechten Subkulturen und<br />

Milieus als übergeordnete soziale Kategorie und c) als Identikation mit der eigenen<br />

Nation.<br />

In dieser Reihenfolge werden die Studien auch vorgestellt.<br />

3.1 Fremdenfeindliche Gewalttäter<br />

(Frindte & Neumann, 2002)<br />

Um empirische Belege und Illustrationen der Kernhypothese der TIF zu nden,<br />

haben wir in einem ersten Schritt Interviews mit fremdenfeindlichen Straftätern,<br />

die wir in den Jahren 1999/2001 bundesweit durchgeführt haben, einer Sekundäranalyse<br />

unterzogen. Interviewt wurden 105 fremdenfeindliche männliche Straftäter.<br />

Diese Interviews wurden als qualitative, leitfadenorientierte und als standardisierte<br />

Befragungen durchgeführt (gemeinsam mit H. Willems und K. Wahl vom<br />

Deutschen Jugendinstitut e.V., München; vgl. auch Frindte & Neumann, 2002).<br />

3.1.1 Eine Auswahl aus den ursprüngliche Befunden<br />

Die individuellen Sozialisationen der Straftäter bis zur eigentlichen fremdenfeindlichen<br />

Gewalttat verlaufen in der Regel mehrphasig: In der familiären Sozialisation<br />

(meist typische broken-home-Konstellationen, Heimerfahrungen) wird Gewalt als<br />

Hauptmittel zur Regulation alltäglicher Situationen erlebt und angeeignet. Eindeutige<br />

ideologische Einstellungs- und Wertaneignungen passieren in diesem Kontext<br />

kaum. Die schulische Sozialisation zeichnet sich durch zunehmendes Leistungsversagen,<br />

Schulabbruch und delinquentes Verhalten aus (86 % der Interviewten<br />

elen bereits bis zur mittleren Schulzeit durch Gewaltanwendung auf; multiple<br />

Delinquenz bei ca. 95 % der Interviewten vor der Strafmündigkeit). Eine Gruppensozialisation<br />

in jugendlichen Cliquen beginnt relativ frühzeitig und nimmt<br />

eine zentrale Rolle ein. Durch die Integration in jugendliche Cliquen beginnt eine<br />

zunehmende, ideologisch rechtsextreme Sozialisation. Die Identi kation mit der<br />

Clique wird zum entscheidenden Bezugssystem für die individuelle Übernahme<br />

fundamentalistischer Ideologien der Ungleichwertigkeit und die darauf basierende<br />

Gewaltbereitschaft. Für die Sekundäranalyse greifen wir zunächst auf die quantitativen<br />

Daten der standardisierten Befragung zurück.


162 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

3.1.2 Methodische Vorbemerkungen<br />

Die Interviews wurden in der Mehrzahl in den Justizvollzugsanstalten durchgeführt<br />

und dauerten zwischen 3,5 und 8 Stunden. Für die nachfolgende Sekundäranalyse<br />

relevant sind drei Variablen, die im standardisierten Fragebogen im Originaldatensatz<br />

bereits als Operationalisierungen vorliegen, und zwar:<br />

• Die Links-Rechts-Orientierung als politische Selbstkategorisierung auf einer<br />

9-stugen Skala (von 1 = linksradikal bis 9 = rechtsradikal).<br />

• Fundamentalistische Ideologie der Ungleichwertigkeit (mit den Subskalen<br />

„Manifester Antisemitismus“ 5 (Cronbach‘s Alpha 6 = .87), „Ausländerfeindlichkeit“<br />

7 (Cronbach‘s Alpha = .83), „Führer-Gefolgschaft-Ideologien“ 8 (Cronbach‘s<br />

Alpha = .61), „Nationalistische Orientierungen“ 9 (Cronbach‘s Alpha =<br />

.72). Mit den insgesamt 24 Items aus diesen vier Subskalen wurde zunächst eine<br />

exploratorische Faktoranalyse mit Hauptkomponentenanalyse und Varimax-<br />

Rotation gerechnet. Die Faktoranalyse extrahierte entsprechend dem Kaiser-<br />

Guttman-Kriterium >1 einen Faktor, der 76,33 % Varianz aufklärt (Guttman,<br />

1954), so dass eine eindimensionale Gesamtskala gebildet wurde (Cronbach’s<br />

Alpha = .89).<br />

• Identi kation mit rechter Clique: Es handelt sich ebenfalls um eine eindimensionale<br />

Skala, die nach Faktoranalyse (63,27 % Varianzaufklärung) aus den<br />

Variablen „Die Clique bietet mir emotionale Unterstützung“, „Die Clique bietet<br />

mir praktische Unterstützung“ und „Ich bin gut in der Clique integriert“ gebildet<br />

wurde (Cronbach’s Alpha = .71).<br />

Für die folgenden Berechnungen wurden die so operationalisierten Variablen erfolgreich<br />

auf Normalverteilung geprüft und anschließend z-transformiert.<br />

5 Itembeispiel: „Es wäre besser für Deutschland, keine Juden im Land zu haben“.<br />

6 Cronbach’s Alpha ist ein statistisches Maß für die Reliabilität (d. h. die Zuverlässigkeit)<br />

einer Skala aus verschiedenen Items, das Werte zwischen 0 und 1 annehmen kann.<br />

Es gibt an, inwiefern die verwendeten Items das gleiche dahinterliegende Konstrukt<br />

messen, wobei hohe Werte (nahe 1) eine zuverlässige Messung signalisieren.<br />

7 Itembeispiel: „In Deutschland sollten nur Deutsche leben“.<br />

8 Itembeispiel: „Die Unterordnung unter eine Gemeinschaft ist wichtiger als die Entfaltung<br />

der Individualität“.<br />

9 Itembeispiel: „Ein guter Deutscher muss bereit sein, alles für sein Vaterland zu geben“.


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

163<br />

3.1.3 Mediatoranalysen<br />

Der Datensatz, der in der Interviewstudie mit fremdenfeindlichen Gewalttätern<br />

erstellt wurde, ist insofern relevant, weil es sich um eine sehr exklusive Stichprobe<br />

erwachsener fremdenfeindlicher Straftäter handelt. Die zwar begrenzte Anzahl<br />

relevanter Variablen und deren Beziehungen zueinander sind im Hinblick auf die<br />

Kernhypothese der TIF aus folgendem Grunde von Bedeutung: Sie erlauben die<br />

Möglichkeit, mit der Variable Identi kation mit der rechten Clique eine Mediatorvariable<br />

einzuführen, mit der der Ein uss der Gruppen-Identi kation als Teil<br />

der sozialen Identität auf die Beziehung zwischen Links-Rechts-Orientierung und<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit geprüft werden kann.<br />

Vor dem Hintergrund dieser Frage haben wir folgende Ausgangsthese formuliert:<br />

Die Links-Rechts-Orientierung beeinusst/fördert Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />

vor allem, wenn es identitätsfördernd ist, wenn also dadurch die Identi-<br />

kation (mit rechten Cliquen) gestützt wird. Die Identikation mit rechten Cliquen<br />

wird somit zum Vermittler, Mediator für die Beziehung zwischen Links-Rechts-<br />

Orientierungen und Ideologien der Ungleichwertigkeit. Gerechnet wurde mit dem<br />

Statistikprogramm SPSS und dem Skript „PROCESS“ von Andrew Hayes (2013;<br />

www.afhayes.com).<br />

Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle und der anschließen Abbildung<br />

wiedergegeben. Der Sobel-Z-Test ergab einen signi kanten indirekten Effekt der<br />

Links-Rechts-Orientierung über Identi kation mit Clique auf die Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit, Z = 1.94, p < .05.


164 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Identifikation mit<br />

Clique<br />

(Index; z-Wert)<br />

.50***<br />

.17*<br />

L inks-Rechts-<br />

Orientierung<br />

(z-Wert)<br />

.60***<br />

(.59***)<br />

Fundamentalistische<br />

Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit<br />

(z-Wert)<br />

Abbildung 3 Mediation der Beziehung zwischen Links-Rechts-Orientierung und fundamentalistischer<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit über die Identi kation<br />

mit rechter Clique (Anmerkung: Links-Rechts-Orientierung von 1 =<br />

„linksradikal“ bis 9 = „rechtsradikal“).<br />

Tabelle 1<br />

Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse<br />

Prädiktorvariable Z p BootLLCI BootULCI<br />

Links-Rechts-Orientierung 1.9402 .05 .0161 .2031<br />

Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = Signi kanzniveau, BootLLCI =<br />

untere Grenze des Kon denzintervalls (lower level con dence interval);<br />

BootULCI = obere Grenze des Kondenzintervalls (upper level condence<br />

interval)<br />

3.1.4 Fazit<br />

Die direkte Wirkung des Prädiktors (hier die Links-Rechts-Orientierung) bleibt<br />

auch in der Mediatoranalyse erhalten. Die Analyse macht aber auch auf den signikanten<br />

indirekten Wirkungspfad über den Mediator aufmerksam. Die<br />

Links-Rechts-Orientierung beeinusst in der Stichprobe der fremdenfeindlichen<br />

Gewalttäter die Ideologie der Ungleichwertigkeit vor allem dann, wenn es identitätsfördernd<br />

ist, wenn also dadurch die Identi kation (mit rechten Cliquen) gestützt<br />

wird. Die Identi kation mit rechten Cliquen fungiert somit als Vermittler<br />

für die Beziehung zwischen Links-Rechts-Orientierungen und Ideologien der Ungleichwertigkeit.


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

165<br />

Auch in den qualitativen Interviews, die wir mit den fremdenfeindlichen Gewalttätern<br />

geführt haben, stießen wir immer wieder auf die herausragende Rolle<br />

der Identikation mit der eigenen rechten Clique: So geben fast 80 % der Befragten<br />

im Interview an, dass sie durch ihre Clique ideologisch beein usst wurden.<br />

Dass diese Ideologisierung eine solche Wirksamkeit hat, könnte vor allem damit<br />

zusammenhängen, dass die befragten Täter etwas erfahren, was sie bislang nur<br />

eingeschränkt erlebt hatten: soziale Unterstützung und dies vor allem im emotionalen<br />

Bereich. Zwei Drittel geben an, durch ihre Clique emotionale Unterstützung<br />

zu erhalten, womit überwiegend ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Akzeptanz und<br />

Anerkennung verbunden ist. Somit schätzen auch 88 % der Täter ein, dass die<br />

Clique eine große Bedeutung für ihr Leben habe (zum Vergleich: Mutter knapp<br />

50 %, Väter: 30 %).<br />

Auch die Taten waren überwiegend Gruppentaten. Die Mittäter entstammten<br />

zumeist der eigenen Clique und nahmen aktiv an der Gewalttat teil. Für eine hohe<br />

gruppeninterne Normierung spricht die hohe Identi kation mit der Gruppe während<br />

des Tatverlaufs. Tatbegünstigend wirkte weiterhin, dass sich die Täter von<br />

den Opfern zumeist als anonyme Cliquenmitglieder wahrgenommen fühlten.<br />

Die Interviewergebnisse unterstreichen somit die Bedeutung, die die Clique,<br />

aber auch übergeordnete soziale Kategorien (Skinhead, Rechter, Nazi etc.) für das<br />

Verhalten der Täter besitzen. Diese Identi kation mit der Clique und den übergeordneten<br />

sozialen Kategorien scheint sich zumindest auf zwei Prozesse auszuwirken:<br />

Einerseits fundiert sie die Übernahme gruppeninterner Normen und<br />

andererseits fördert sie einen Zustand von Anonymität (Depersonalisation), der es<br />

dem Gruppenmitglied leichter ermöglicht, ohne Rücksicht auf eventuelle personale<br />

Einwände der Gruppenmeinung und -handlung zu folgen (vgl. dazu Reicher,<br />

Spears & Postmes, 1995).<br />

3.2 Ausgangslagen und Entwicklungen rechtsextremer<br />

Einstellungen bei jungen Menschen (Neumann, 2001)<br />

3.2.1 Methodische Vorbemerkungen<br />

Es handelt sich um eine Regionalstudie, die 1998/1999 im Auftrag des Thüringer<br />

Ministeriums für Soziales und Gesundheit und in Zusammenarbeit mit dem Institut<br />

für Sozialpädagogik und Sozialarbeit Frankfurt/Main durchgeführt wurde. Im<br />

Rahmen dieser Studie wurden mittels standardisierter Befragung fremdenfeindliche<br />

und rechtsextreme Einstellungen von Jugendlichen untersucht. Insgesamt<br />

gingen in die Analyse 1.033 verwertbare Fragebögen ein. Das Alter der Befragten


166 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

lag zwischen 12 und 23 Jahren mit einer Häufung bei 15 und 16 Jahren (M = 15.55;<br />

SD = 1.77). Von den 1.033 Befragten waren 533 (52,0 %) weiblich und 492 (48,0 %)<br />

männlich (bei 8 fehlenden Angaben). 460 (44,5 %) Befragte gingen in eine Regelschule,<br />

401 (38,8 %) in ein Gymnasium und 172 (16,7 %) in eine Berufsschule.<br />

Der in der Befragung eingesetzte standardisierte Fragebogen war zuvor bereits<br />

in einer deutschlandweiten Studie (Frindte, 1999) getestet und erfolgreich eingesetzt<br />

worden. Dieser Fragebogen enthielt u. a. folgende Skalen:<br />

• „Fundamentalistische Ideologie der Ungleichwertigkeit “ mit den Subskalen<br />

„Manifester Antisemitismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Führer-Gefolgschaft-<br />

Ideologien“, „Nationalistische Orientierungen“ (die Items der Subskalen sind<br />

identisch mit jenen, die auch in der o. g. Studie mit den fremdenfeindlichen Gewalttätern<br />

eingesetzt wurden). Für die Reliabilität der Gesamtskala ergab sich<br />

in der Regionalstudie ein Cronbach’s Alpha = .86.<br />

• „Gewaltbereitschaft“ (Cronbach’s Alpha = .70). 10<br />

• „Allgemeine Gewaltbewertung“ (Cronbach’s Alpha = .89), bestehend aus einem<br />

fünfstugen semantischem Differential. 11<br />

• „Gewalthandeln“ (Cronbach’s Alpha = .61). 12<br />

• „Mangelnde emotionale Handlungskontrolle (in gewalthaltigen Situationen)“<br />

mit zwei Items (r = .61), die aus der Copingskala von Carver, Scheier und Weintraub<br />

(1989) entnommen wurden. 13<br />

• „Autoritäre Überzeugungen“ – angelehnt an Funke (2005), Cronbach’s Alpha<br />

= .72. 14<br />

• „Ablehnung der Demokratie“ (zwei Items; r = .67). 15<br />

• „Zufriedenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung“ (Single-Item).<br />

• „Zufriedenheit mit sich selbst“ (als Aspekt des Selbstbildes, Single-Item).<br />

10 Beispielitem: „Wenn es notwendig wäre, würde ich Gewalt anwenden“.<br />

11 Beispiel: „Die Anwendung von Gewalt ist meiner Meinung nach… gut oder schlecht“.<br />

12 Beispiel: „Haben Sie in den letzten 12 Monaten ... jemanden geschlagen oder verprügelt?“.<br />

13 Beispiel: „Ich gehöre zu denen, die sich vor Wut häufig nicht beherrschen können.“<br />

14 Beispielitems: „Gehorsam und Achtung vor der Autorität sind die wichtigsten Tugenden,<br />

die Kinder lernen sollten“; „Die wahren Schlüssel zum guten Leben sind Gehorsam,<br />

Disziplin und Prinzipienfestigkeit“; „Was unser Land wirklich braucht, ist<br />

eine starke, entschlossene Autorität, die uns sagt, was wir zu machen haben und wo es<br />

langgehen muss“; „Was wir in unserem Land wirklich brauchen, ist eine anständige<br />

Portion Recht und Ordnung anstatt mehr Bürgerrechte“.<br />

15 Beispiel: „Die Idee der Demokratie ist gut.“ (umgekehrt codiert)


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

167<br />

• „Einschätzung der nanziellen Situation der eigenen Familie“ (Single-Item; 1<br />

= „viel schlechter als der Durchschnitt“; 5 = „viel besser als der Durchschnitt“).<br />

• „Links-Rechts-Orientierung“ (Single-Item: „Würden Sie sich eher als links<br />

oder rechts bezeichnen?“, 1 = „links“, 5 = „rechts“).<br />

• Außerdem wurden diverse soziodemogra sche Merkmale (z. B. Alter, angestrebter<br />

Schulabschluss, Arbeitslosigkeit der Eltern) erhoben.<br />

Für die Sekundäranalyse wurden aus den vorliegenden Items der Originalstudie<br />

zwei weitere Skalen erstellt:<br />

• Eine Skala zur Erfassung der „ Identi kation mit rechten Subkulturen und Milieus“<br />

wurde gebildet, indem zunächst danach gefragt wurde, inwieweit sich die<br />

befragten Personen mit „rechten Subkulturen“ (Faschos, Neonazis, Skinheads,<br />

Hooligans, Nazi-Skins) identizieren und zum anderen anzugeben war, inwieweit<br />

die Mitgliedschaft in solchen Subkulturen wichtig für die eigene Identität<br />

ist („Mitgliedschaft spiegelt gut wieder, wer ich bin“). Aus diesen Angaben<br />

wurde ein Index als Operationalisierung für die Skala „Identikation mit rechten<br />

Subkulturen und Milieus“ gebildet.<br />

• Eine einfaktorielle Skala „ Gewalttendenzen gegenüber Ausländern“ wurde<br />

mit den folgenden Items erstellt: „Durch Gewalt kann man zeigen, dass<br />

deutsche Jugendliche besser kämpfen können als Ausländer“, „Durch Gewalt<br />

kann man Gerechtigkeit herstellen dafür, dass viele Deutsche arbeitslos sind,<br />

während Ausländer nicht arbeitslos sind“, „Haben Sie in den letzten zwölf<br />

Monaten Ausländer vorsätzlich geschlagen oder verprügelt?“ (Cronbach’s Alpha<br />

= .66).<br />

3.2.2 Eine Auswahl aus den ursprünglichen Befunden<br />

Rechtsextremistische Orientierungen setzen sich nach Heitmeyer et al. (1992) aus<br />

einer Ideologie der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der Gewaltaf nität<br />

(bis hin zu gewalttätigem Handeln) zusammen. Beide Dimensionen wurden in<br />

einschlägigen Publikationen durch Subdimensionen mit verschiedenen Facetten<br />

untergliedert und operationalisiert. Nach anfänglicher Euphorie und umfangreicher<br />

Rezeption gerieten in den 1990er Jahren sowohl die Heitmeyersche <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition<br />

als auch der von ihm und Kollegen vorgelegte Erklärungsansatz<br />

in die Kritik (vgl. den Abschnitt von Frindte et al. in diesem Buch).<br />

Die von Neumann (2001) ermittelten Befunde verweisen darauf, dass die ursprüngliche<br />

Annahme von zwei Dimensionen, durch die sich rechtsextreme Tendenzen<br />

auszeichnen, durchaus empirisch gehaltvoll und begründbar ist. Im Er-


168 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

gebnis einer kon rmatorischen Faktoranalyse 16 zeigte sich ein Zweifaktormodell<br />

mit korrelierten Faktoren als das Modell, das den empirischen Daten am besten<br />

angepasst ist (Abbildung; siehe Neumann, 2001, S. 127).<br />

Ausländerfeindlichkeit<br />

Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit<br />

.87<br />

.64<br />

.78<br />

.87<br />

Führer-Gefolgschafts-<br />

Ideologie<br />

Nationalistische<br />

Orientierungen<br />

Antisemitismus<br />

.50<br />

Gewaltbewertung<br />

Gewaltdimension<br />

.73<br />

.81<br />

G ewaltbereitschaft<br />

.66<br />

G ewalthandeln<br />

Abbildung 4 Statistisches Modell „<strong>Rechtsextremismus</strong> – korrelierte Zweifaktorstruktur“<br />

( 2 = 73,386; df=13; p=.000; NFI=.995; RMSEA=.067; CFI=.996).<br />

Es handelt sich – wie weiter oben erwähnt – um eine normale Stichprobe von<br />

Schuljugendlichen, so dass auch wir der Neumannschen Interpretation folgen wollen<br />

und seine Befunde als empirischen Beleg für die zweidimensionale Rechtsext-<br />

16 Für diese konfirmatorische Faktoranalyse wurde eine Second-Order-Analyse auf der<br />

Basis von Strukturgleichungsmodellen mit dem Programm LISREL 8.30 durchgeführt.<br />

Es wurden drei Modelle spezifiziert, deren Passfähigkeit mit den empirischen<br />

Daten getestet wurde: eine Einfaktorlösung, eine Zweifaktorlösung mit unabhängigen<br />

Faktoren und eine Zweifaktorlösung mit korrelierten Faktoren.


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

169<br />

remismus-Denition von Heitmeyer und Kollegen ansehen. In dieser Regionalstudie<br />

nden sich leider keine Variablen, die sich nutzen ließen, um auch die von uns<br />

angenommene dritte Facette rechtsextremer Tendenzen zu operationalisieren – die<br />

negativen Intergruppen-Emotionen (s. o.).<br />

Dass die Akzeptanz und die Orientierung an fundamentalistischen Ideologien<br />

der Ungleichwertigkeit und den damit verbundenen Gewaltpotentialen auch mit<br />

starkem emotionalen Involvement einhergehen, lässt sich aber nicht bestreiten. Zumindest<br />

nden sich im besagten Datensatz dafür gewisse Hinweise. Auf der Basis<br />

der Copingskala von Carver et al. (1989) wurde nämlich eine Variable speziziert,<br />

mit der die „mangelnde emotionale Handlungskontrolle“ im Fragebogen abgefragt<br />

werden sollte. Wie die folgende Tabelle zeigt, korreliert diese Variable signi -<br />

kant positiv sowohl mit der Gesamtskala zur Erfassung der fundamentalistischen<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit, mit den entsprechenden Subskalen „Manifester<br />

Antisemitismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Nationalistische Orientierungen“<br />

und „Führer-Gefolgschaft-Ideologien“ als auch mit den Gewaltfacetten (Gewaltbewertung,<br />

-bereitschaft und -handeln).


170 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Tabelle 2 Korrelationen zwischen Ideologie der Ungleichwertigkeit, den dazugehörigen Facetten und emotionaler Handlungskontrolle<br />

Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit<br />

Ausländerfeindlichkeit<br />

Antisemitismus<br />

Nationalismus<br />

Führer-<br />

Gefolgschaft<br />

Gewaltbereit-schaft<br />

Gewaltbewertung<br />

Gewalthandeln<br />

Mangelnde<br />

emotionale<br />

Handlungskontrolle<br />

.20**<br />

.15** .89**<br />

.17** .89** .76**<br />

.17** .85** .69** .65**<br />

.20** .705** .48** .53** .50**<br />

.22** .36** .30** .33** .32** .23**<br />

Führer-<br />

Gefolgschaft<br />

.25** .56** .47** .50** .49** .40** .61**<br />

Ideologie<br />

der<br />

Ungleichwertigkeit<br />

Ausländerfeindlichkeit<br />

Antisemitismus<br />

Nationalismus<br />

Gewaltbereitschaft<br />

Gewaltbewertung<br />

.24** .30** .23** .26** .27** .23** .56** .48**<br />

Anmerkung: Die Korrelationen sind auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signikant.


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

171<br />

Aus diesen Befunden zu schließen, dass die Zustimmungen zur Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />

und zu ihren Facetten sowie zu den Gewaltdimensionen offenbar<br />

mit geringerer emotionaler Handlungskontrolle einhergehen und somit emotional<br />

negativ aufgeladen sind, ist sicher nicht unangebracht. Und vielleicht ist dieser<br />

Befund auch ein zaghafter Hinweis auf die Verknüpfung der Ideologie- und der<br />

Gewaltdimension mit den von uns vermuteten negativen Emotionen.<br />

3.2.3 Mediatoranalyse – eine Prüfung der Kernhypothese der TIF<br />

Um die Kernhypothese der TIF noch einmal in Erinnerung zu rufen: Die soziale<br />

Identität als Identi kation mit relevanten Bezugsgruppen fungiert als Mediator<br />

zwischen den Kontextbedingungen und der fundamentalistischen Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit, den Gewaltpotentialen und den Gruppenemotionen.<br />

Um diese Hypothese am Datensatz der Regionalstudie aus den Jahren<br />

1998/1999 zu prüfen, wurden zunächst die Variablen, die mit den o. g. Skalen bzw.<br />

Items operationalisiert wurden, z-transformiert und auf Normalverteilung geprüft.<br />

Anschließend wurden Mediatoranalysen gerechnet, auf die noch einzugehen sein<br />

wird. Als unabhängige bzw. Prädiktorvariablen wurden dafür zunächst folgende<br />

ausgewählt: Links-Rechts-Orientierung, autoritäre Überzeugungen, Ablehnung<br />

der Demokratie, Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung, Zufriedenheit<br />

mit sich selbst, nanzielle Situation der eigenen Familie, Alter, angestrebter<br />

Schulabschluss (Regelschule, Gymnasium, Berufsschule) und Arbeitslosigkeit<br />

der Eltern. Die folgende Tabelle zeigt die Korrelationen zwischen den ausgewählten<br />

Prädiktoren und der Kriteriumsvariable Ideologie der Ungleichwertigkeit.


172 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Tabelle 3 Korrelationen zwischen Ideologie der Ungleichwertigkeit und potentiellen Prädiktoren<br />

Alter Angestrebter<br />

Schulabschluss<br />

Links-Rechts-<br />

Orientierung<br />

(je höher desto<br />

rechter)<br />

.59**<br />

Ideologie<br />

der<br />

Ungleichwertigkeit<br />

Links-<br />

Rechts-<br />

Orientierung<br />

(je<br />

höher desto<br />

rechter)<br />

Autoritarismus .69** .37 **<br />

Ablehnung der .14** .08 * .10 **<br />

Demokratie<br />

Unzufriedenheit<br />

mit der gesellschaftlichen<br />

Entwicklung<br />

Zufriedenheit<br />

mit sich selbst<br />

Finanzielle<br />

Situation der<br />

Familie<br />

-.06 -.02 -.10 ** .03<br />

.11** .13 ** .11 ** -.03 -.09 *<br />

.06 .04 .04 .00 -,06 ,09 *<br />

Autoritarismus<br />

Ablehnung<br />

der<br />

Demokratie<br />

Unzufriedenheit<br />

mit der<br />

gesellschaftlichen<br />

Entwicklung<br />

Zufriedenheit<br />

mit<br />

sich selbst<br />

Finanzielle<br />

Situation<br />

der<br />

Familie<br />

Identikation<br />

mit<br />

rechten<br />

Subkulturen


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

173<br />

Tabelle 3 (Fortsetzung)<br />

Identikation<br />

mit rechten Subkulturen<br />

Ideologie<br />

der<br />

Ungleichwertigkeit<br />

Links-<br />

Rechts-<br />

Orientierung<br />

(je<br />

höher desto<br />

rechter)<br />

Autoritarismus<br />

Ablehnung<br />

der<br />

Demokratie<br />

Unzufriedenheit<br />

mit der<br />

gesellschaftlichen<br />

Entwicklung<br />

Zufriedenheit<br />

mit<br />

sich selbst<br />

.52** ,47 ** .30 ** .16 ** .09 * .15 ** .04<br />

Finanzielle<br />

Situation<br />

der<br />

Familie<br />

Alter -.17** .02 -.14** -.02 .09* .03 -.03 .00<br />

Identikation<br />

mit<br />

rechten<br />

Subkulturen<br />

Alter Angestrebter<br />

Schulabschluss<br />

Angestrebter -.37** -.17** -.24** .11** .08* -.10* -.02 -.25** .18**<br />

Schulabschluss<br />

Arbeitslosigkeit der Eltern<br />

.05 .00 .10** .02 -.02 -.01 -.24** .00 .05 .05<br />

Anmerkungen: ** Die Korrelationen sind auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signikant; * Die Korrelationen sind auf dem Niveau von<br />

0,05 (2-seitig) signikant.


174 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Zur Vorprüfung wurde eine schrittweise Regressionsanalyse gerechnet, um die<br />

Vorhersagekraft der ausgewählten Prädiktoren abschätzen zu können. Dabei erwiesen<br />

sich – siehe Tabelle 4 – nur ein Teil der ausgewählten Prädiktoren als signi-<br />

kante Vorhersager für die fundamentalistische Ideologie der Ungleichwertigkeit.<br />

Tabelle 4<br />

Ergebnisse der Regressionsanalyse<br />

R 2 = .68<br />

Standardisierte Signikanzniveau<br />

Koefzienten Beta<br />

Autoritäre Überzeugungen .522 .000<br />

Links-Rechts-Orientierung .364 .000<br />

(je höher desto rechter)<br />

Angestrebter Schulabschluss -.167 .000<br />

Lebensalter der Befragten -.070 .001<br />

Ablehnung der Demokratie .058 .006<br />

Anmerkungen: Abhängige Variable: Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />

Die Zustimmung zu fundamentalistischen Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />

nimmt in der untersuchten Schülerstichprobe mit der Stärke autoritärer Überzeugungen,<br />

der Demokratieablehnung und mit zunehmender Rechts-Orientierung zu<br />

und mit der Höhe des angestrebten Schulabschlusses und dem Lebensalter ab.<br />

Diese fünf Variablen wurden anschließend als Prädiktoren in die schon erwähnten<br />

Mediatoranalysen eingeführt. Die oben genannte Variable „Identikation<br />

mit rechten Subkulturen und Milieus“ fungierte dabei als Mediatorvariable; die<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit (Gesamtskala) bildete die abhängige bzw. Kriteriumsvariable.<br />

Gerechnet wurde wiederum mit dem Statistikprogramm SPSS<br />

und dem Skript „PROCESS“ von Andrew Hayes (2013; www.afhayes.com). 17 Die<br />

folgende Abbildung und die anschließende Tabelle geben die Ergebnisse zusammenfassend<br />

wieder.<br />

17 In der Berechnung folgten wir dem Hinweis von Hayes „If your IV has k categories,<br />

construct k-1 dummy variables and then run INDIRECT or PROCESS k-1 times.<br />

With each run, make one dummy variable the IV and the other one(s) the covariate(s)”<br />

(http://www.afhayes.com/macrofaq.html; 22.9.2014).


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

175<br />

Links-Rechts-<br />

Orientierung<br />

(z-Wert)<br />

Autoritäre<br />

Überzeugungen<br />

(z-Wert)<br />

Identifikation mit<br />

rechten<br />

Subkulturen<br />

(Index; z-Wert)<br />

.35*** .20**<br />

.12*<br />

.09*<br />

.33*** (.40***)<br />

.45*** (.50***)<br />

.08* (.10*)<br />

Fundamentalistische<br />

Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit<br />

(z-Wert)<br />

Ablehnung der<br />

Demokratie<br />

(z-Wert)<br />

-.20**<br />

-.21** (-.26**)<br />

A ngestrebter<br />

Schultyp<br />

(z-Wert)<br />

-.06 n.s.<br />

-.03 n.s. (-.05 n.s.)<br />

Alter<br />

(z-Wert)<br />

Abbildung 5 Mediation der Beziehungen zwischen fünf potentiellen Prädiktoren und<br />

fundamentalistischer Ideologie der Ungleichwertigkeit über die Identikation<br />

mit rechten Subkulturen.<br />

Tabelle 5<br />

Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse<br />

Prädiktorvariable Z p BootLLCI BootULCI<br />

Links-Rechts-Orientierung 5.8754 .0000 .2832 .3815<br />

Autoritäre Überzeugungen 2.9184 .0035 .4070 .5052<br />

Ablehnung der Demokratie -2.4193 .0155 -.0325 -.0048<br />

Angestrebter Schultyp -3.4171 .0006 -.2899 -.1441<br />

Alter 1.8907 .0687 -.0703 .0043<br />

Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = Signi kanzniveau, BootLLCI =<br />

untere Grenze des Kon denzintervalls (lower level con dence interval);<br />

BootULCI = obere Grenze des Kondenzintervalls (upper level condence<br />

interval)<br />

Die Ergebnisse scheinen durchaus geeignet zu sein, die o. g. Kernhypothese der<br />

TIF zu stützen. Der vermutete vermittelnde Einuss der Mediatorvariable „Identi-<br />

kation mit rechten Subkulturen“ ist als indirekter Effekt nachweisbar. Die direkten<br />

Pfade zwischen den Prädiktoren (bis auf die Altersvariable) und der funda-


176 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

mentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit werden schwächer, bleiben aber<br />

noch signikant.<br />

Wie lassen sich diese indirekten Effekte erklären und einordnen?<br />

• Die politische Selbsteinordnung im Links-Rechts-Spektrum ist in zahlreichen<br />

Studien zum <strong>Rechtsextremismus</strong> als wichtige Erklärungsvariable genutzt und<br />

bestätigt worden (z. B. Bauer-Kaase, 2001; Decker, Brähler & Geißler, 2006;<br />

Weiss, Mibs & Brauer, 2002). Diese Selbsteinordnung wird aber offenbar in<br />

ihrem Einuss auf die Zustimmung zu Ideologien der Ungleichwertigkeit teilweise<br />

durch die Identikation mit rechten Subkulturen oder Milieus vermittelt.<br />

Zumindest legen das unsere Befunde nahe.<br />

• Auch die autoritären Überzeugungen sind in zahlreichen Studien als robuste<br />

Prädiktoren für rechtsextreme und fremdenfeindliche Tendenzen nachgewiesen<br />

worden (s. o. und z. B. Frindte & Zachariae, 2005; Seipel et al., 1995;<br />

Van Hiel & Mervielde, 2005; u. v. a.). Dass die autoritären Überzeugungen,<br />

wie unsere Befunde zeigen, ebenfalls mit der Identi kation mit rechten Subkulturen<br />

zusammenhängen und von diesen teilweise in ihrer Wirkung auf die<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit mediiert werden, scheint auf ähnliche Prozesse<br />

zu verweisen, wie sie etwa von Feldman (2003), Oesterreich (1996) oder<br />

Stellmacher (2004) beschrieben und empirisch nachgewiesen wurden. Autoritäre<br />

Überzeugungen werden in diesen Arbeiten nicht ausschließlich als stabile<br />

Persönlichkeitsvariablen, sondern als situations- bzw. gruppenspezi sche<br />

Reaktionen konzipiert. Stellmachers (2004) Modell eines Autoritarismus als<br />

Gruppenphänomen scheint dabei unseren Annahmen am nächsten zu kommen.<br />

Die Grundannahme dieses Modells ist, dass dann, wenn sich Personen stark<br />

mit relevanten Bezugsgruppen identi zieren und diese Identi kation für den<br />

Einzelnen bedrohlich sein kann (z. B. durch damit verbundene Abwertungen,<br />

Stigmatisierungen etc.), vor allem Personen mit autoritären Prädispositionen<br />

autoritäre Reaktionen zeigen. Stellmacher geht also von bedrohlichen Situationen<br />

und von einer Interaktion zwischen autoritären Reaktionen und der Identi-<br />

kation mit sozialen Bezugsgruppen aus. Auch wir meinen, dass die autoritären<br />

Überzeugungen in ihrem Einuss auf die Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />

dann bedeutsam und funktional sind, wenn dadurch wichtige Aspekte der sozialen<br />

Identität (hier: die Identi kation mit rechten Subkulturen und Milieus)<br />

gefördert, unterstützt bzw. geschützt werden können.<br />

• Die Ablehnung der demokratischen Grundordnung und der Demokratie insgesamt<br />

ist Teil (und u. U. auch Bedingung oder Folge) rechtsextremer und fremdenfeindlicher<br />

Bestrebungen (vgl. z. B. Best, et al., 2013; Klein & Heitmeyer,<br />

2012). Im Datensatz der vorliegenden Regionalstudie erweist sich die Demo-


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

177<br />

kratieablehnung zum einen als Prädiktor für die Zustimmung zu Ideologien<br />

der Ungleichwertigkeit; zum anderen scheint die Demokratieablehnung über<br />

die Identikation mit rechten Subkulturen die Akzeptanz von Ideologien der<br />

Ungleichwertigkeit zu befördern.<br />

• Der angestrebte Schulabschluss spiegelt eine wichtige Bedingung in den Erklärungen<br />

von Fremdenfeindlichkeit, <strong>Rechtsextremismus</strong> und Ideologien der<br />

Ungleichwertigkeit wider. Die zahlreichen empirischen Befunde weisen darauf<br />

hin, dass Personen mit Hauptschulabschluss offenbar eher Ideologien der<br />

Ungleichwertigkeit zustimmen als Personen mit gymnasialem Schulabschluss<br />

(vgl. z. B. Heer & Boehnke, 1995; Sturzbecher, 1997). Die Ergebnisse der Mediatoranalyse<br />

zeigen aber auch, dass der Ein uss des (angestrebten) Schulabschlusses<br />

auf derartige Ideologien kein ausschließlicher ist, sondern durch die<br />

Identikation mit rechten Subkulturen vermittelt wird.<br />

• Das Alter der Befragten hat indes keinen Effekt.<br />

Bevor wir zu einem Zwischenfazit kommen, wollen wir aber noch eine zusätzliche<br />

Frage stellen und nach empirischen Antworten suchen. Die naheliegende Frage<br />

lautet: Lässt sich der indirekte Pfad von der Identi kation mit rechten Subkulturen<br />

über die Ideologie der Ungleichwertigkeit weiter verfolgen bis zur Gewaltbereitschaft?<br />

Um diese Frage zu beantworten, wurde eine zweite Mediatoranalyse gerechnet.<br />

In diese Analyse gingen die Identi kation mit rechten Subkulturen (Index) nun<br />

als Prädiktor (UV) und die Ideologie der Ungleichwertigkeit als Mediator ein,<br />

um die Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern vorauszusagen (AV; Kriterium).<br />

Die Analyse erfolgte wieder mit z-standardisierten Werten mit dem Statistikprogramm<br />

SPSS und dem Skript „PROCESS“ von Andrew Hayes (2013; www.afhayes.com).<br />

Die Ergebnisse der statistischen Prüfungen sind in folgender Abbildung<br />

und der anschließenden Tabelle dargestellt.


178 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Identifikation mit<br />

rechten Subkulturen<br />

(Index; z-Wert)<br />

.28***<br />

(.60***)<br />

Gewaltbereitschaft<br />

gegen Ausländer<br />

(z-Wert)<br />

.53***<br />

Fundamentalistische<br />

Ideologie<br />

(der<br />

Ungleichwertigkeit,<br />

z-Wert)<br />

.59***<br />

Abbildung 6 Mediation der Beziehung zwischen Identikation mit rechten Subkulturen<br />

und Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern über die fundamentalistische<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />

Tabelle 6<br />

Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse<br />

Mediatorvariable Z p BootLLCI BootULCI<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit 12.67 .0000 .2696 .3535<br />

Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = Signikanzniveau, BootLLCI<br />

= untere Grenze des Kon denzintervalls (lower level con dence<br />

interval); BootULCI = obere Grenze des Kon denzintervalls<br />

(upper level condence interval)<br />

Die Ideologie der Ungleichwertigkeit fungiert als Mediator zwischen der Identi -<br />

kation mit rechten Subkulturen und der Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern.<br />

3.2.4 Fazit<br />

Die nachfolgende Abbildung fasst die berichteten (signikanten) Befunde der Sekundäranalyse<br />

aus dem Datensatz der Regionalstudie von 1998/1999 noch einmal<br />

zusammen. Die als Prädiktoren für die Zustimmung zu Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />

ausgewählten Variablen illustrieren ansatzweise die im eigentlichen<br />

Modell der TIF konzipierten potentiellen Prädiktoren für fundamentalistische<br />

Ideologien der Ungleichwertigkeit (vgl. Abbildung 2). Die Operationalisierung der<br />

sozialen Identität als Identikation mit relevanten Bezugsgruppen (im Sinne eines


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

179<br />

potentiellen Mediators) mag man kritisieren; deutlich wird aber die postulierte<br />

Vermittlungs- und Mediatorfunktion dieser operationalisierten Variable. Die soziale<br />

Identität als Identi kation mit rechten Subkulturen bzw. Milieus fungiert<br />

zwar nicht als ausschließlicher Mediator zwischen den ausgewählten Prädiktoren<br />

und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit, sondern vor allem<br />

als partieller Mediator. Das heißt, neben dem vermittelnden Prozess über die Identikation<br />

mit rechten Subkulturen nden möglicherweise noch andere mediierende<br />

Prozesse statt, die hier nicht betrachtet wurden.<br />

Identifikation mit<br />

recht en Subkulturen<br />

(Index; z-Wert)<br />

Identifikation mit<br />

rechten Subkulturen<br />

(Index; z-Wert)<br />

.28*** (.60***)<br />

Gewaltbereitschaft<br />

gegen Ausländer<br />

(z-Wert)<br />

.35*** .20**<br />

Links-Rechts-<br />

Orientierung<br />

(z-Wert)<br />

Autoritäre<br />

Überzeugungen<br />

(z-Wert)<br />

.12*<br />

.45*** (.50***)<br />

.33*** (.40***)<br />

Fundamentalistische<br />

Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit<br />

(z-Wert)<br />

.53***<br />

Fundamentalistische<br />

Ideologie<br />

(der<br />

Ungleichwertigkeit,<br />

z-Wert)<br />

.59***<br />

.09*<br />

.08* (.10*)<br />

Ablehnung der<br />

Demokratie<br />

(z-Wert)<br />

-.20**<br />

-.21** (-.26**)<br />

Angestrebter<br />

Sch ultyp<br />

(z-Wert)<br />

Abbildung 7<br />

Zusammenfassung der Mediatoranalysen<br />

Wir nehmen aber an, dass diese partiellen Mediationen Hinweise darauf sind, dass<br />

die geprüften Prädiktoren zunächst einmal in einem funktionalen oder instrumentellen<br />

Verhältnis zu den operationalisierten Aspekten der sozialen Identität stehen<br />

und über dieses Verhältnis die Zustimmung zu Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />

befördern. Die Identikation mit rechten Subkulturen fungiert darüber hinaus<br />

über die Ideologie der Ungleichwertigkeit verstärkend auf die Gewaltbereitschaft<br />

gegenüber Ausländern.


180 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

3.3 Identifikation mit Deutschland –<br />

Sekundäranalyse einer Teilstichprobe aus dem Projekt<br />

„Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“<br />

3.3.1 Hintergrund<br />

Der Titel dieses Abschnitts ist etwas irreführend. Es geht im Folgenden nicht um<br />

junge Muslime, sondern um junge Deutsche und deren Vorurteile und Ideologien<br />

der Ungleichwertigkeit im Umgang mit Muslimen. Die Grundlage der folgenden<br />

und letzten Sekundäranalyse bildet ein Projekt, in dem junge Muslime in Deutschland<br />

in einer Panelstudie zu zwei Zeitpunkten interviewt und befragt wurden (vgl.<br />

Frindte, 2013). Die Ergebnisse wurden mit den Befunden einer parallel durchgeführten<br />

Panelstudie mit deutschen Nichtmuslimen im Alter zwischen 14 und<br />

32 Jahren (erste Welle mit N = 200; zweite Welle mit N = 98) verglichen. Auf<br />

den Datensatz dieser deutschen, nichtmuslimischen Teilstichprobe bezieht sich die<br />

folgende Sekundäranalyse.<br />

3.3.2 Methodische und empirische Vorbemerkungen<br />

In der Panelstudie wurden auch Vorurteile von Nicht-Muslimen gegenüber Muslimen,<br />

Juden und Ausländern analysiert. Dies geschah mit einer einfaktoriellen<br />

Skala, die aus folgenden Subskalen bestand: „Vorurteile gegenüber Juden und Israel“<br />

18 , „Vorurteile gegen Ausländer“ 19 und „Vorurteile gegenüber Muslimen“ 20 .<br />

In einer Faktoranalyse (Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation) zeigte<br />

sich, dass diese drei Subskalen (erhoben in Welle 1) mit einer Varianzaufklärung<br />

von 69,81% auf einem Faktor laden. Deshalb wurden alle drei Subskalen zu einer<br />

Gesamtskala zusammengefasst und für die Operationalisierung der fundamentalistischen<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit genutzt (Cronbach‘s Alpha = .74). Die<br />

mit dieser Skala operationalisierte Variable „ Fundamentalistische Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit“ ist das Kriterium, also die abhängige Variable, in den nachfolgenden<br />

Mediatoranalysen. Als mögliche Prädiktoren für die Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />

wurden die in folgender Tabelle aufgeführten Variablen mit den<br />

angegebenen Items bzw. Skalen operationalisiert.<br />

18 Beispielitem: „Es wäre besser, wenn die Juden den Nahen Osten verlassen würden“.<br />

19 Beispielitem: „Es leben zu viele Ausländer in Deutschland.“<br />

20 Beispielitem: „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“.


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

181<br />

Tabelle 7<br />

Reliabilität der Variablen<br />

Variable<br />

Mediennutzung<br />

– Einzelitems<br />

Items<br />

fünfstuge Likertskala<br />

„In welchem Ausmaß nutzen Sie die folgenden<br />

deutschen Fernsehsender, um sich über aktuelle<br />

Ereignisse zu informieren (z. B. Nachrichten<br />

oder Magazine)?“ Mit vier Unteritems: ARD,<br />

ZDF, RTL, Sat.1; Antwortmöglichkeiten: 1 =<br />

„gar nicht“, …, 5 = „sehr häug“)<br />

Präferenzen für deutsches öffentliches Fernsehen<br />

(ARD, ZDF)<br />

Retest-Stabilität a<br />

zwischen<br />

Welle 1 &<br />

Welle 2 bzw.<br />

Cronbachs alpha<br />

ARD: .71**<br />

ZDF: .75**<br />

RTL: .72**<br />

Sat.1: .59**<br />

.76**<br />

Präferenzen für privates Fernsehen (RTL, Sat.1) .71**<br />

Autoritäre Überzeugungen<br />

–<br />

Skala mit sechs<br />

Items (gekürzte<br />

RWA 3 D-Skala;<br />

Funke, 2002) b<br />

„Die Abkehr von der Tradition wird sich eines<br />

Tages als fataler Fehler herausstellen.“<br />

„Gehorsam und Achtung vor der Autorität sind<br />

die wichtigsten Tugenden, die Kinder lernen<br />

sollten.“<br />

„Was wir in unserem Lande anstelle von mehr<br />

„Bürgerrechten“ wirklich brauchen, ist eine anständige<br />

Portion Recht und Ordnung.“<br />

„Tugendhaftigkeit und Gesetzestreue bringen<br />

uns auf lange Sicht weiter, als das ständige<br />

Infragestellen der Grundfesten unserer Gesellschaft.“<br />

„Die wahren Schlüssel zum „guten Leben“ sind<br />

Gehorsam, Disziplin und Tugend.“<br />

„Was unser Land wirklich braucht, ist ein<br />

starker, entschlossener Führer, der das Übel zerschlagen<br />

und uns wieder auf den rechten Weg<br />

bringen wird.“<br />

Cronbachs Alpha:<br />

.79<br />

a Damit sind die Korrelationen zwischen den jeweils identischen Items oder Skalen von<br />

Welle 1 und 2 gemeint (*: p < .05; **: p < .01).<br />

b Aus forschungspraktischen (zeitlichen) Gründen konnten die Items zur Erfassung autoritärer<br />

Überzeugungen den Befragten nur in der zweiten Erhebungswelle vorgelegt<br />

werden. Allerdings gehen wir davon aus, dass die damit gemessenen autoritären Überzeugungen<br />

als generalisierte Einstellungen nicht nur persönlichkeitsnahe, sondern<br />

auch relativ zeitstabile Dispositionen darstellen (vgl. auch Duckitt, 2001; Frindte, 2013;<br />

Frindte & Haußecker, 2010; Six, 1996).


182 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Mit Hilfe von Cross-Lagged-Regression Analysen (Cook & Campell, 1979) wurde<br />

zunächst nach Wirkungszusammenhängen (Kausalitäten) zwischen diesen Prädiktoren<br />

und der Ideologie der Ungleichwertigkeit gefahndet. Die Befunde zeigten, je<br />

ausgeprägter die „Autoritären Überzeugungen“ sind und je häuger RTL und Sat.1<br />

zur politischen Information genutzt werden, umso negativer sind die Einstellungen<br />

gegenüber Muslimen.<br />

Prädiktoren für Ideologie der Ungleichwertigkeit – Kausalanalysen (Cross- Lagged):<br />

Deutsche Nicht-Muslime (Panelstichp robe; N = 97)<br />

Prädiktoren<br />

(Welle 1)<br />

Indikatoren für mögliche<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />

(Welle 2)<br />

Autoritäre<br />

Überzeugungen<br />

Präferenzen für<br />

deutsches Privat-TV<br />

.18*<br />

.15*<br />

Vorurteile gegenüber Juden,<br />

Muslimen, Ausländer<br />

Abbildung 8 Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der einzelnen Cross-Lagged-Panel-Analysen<br />

für deutsche Nicht-Muslime. Anmerkungen: Es sind<br />

nur signi kante Pfade dargestellt. Umgekehrte Pfade wurden der Übersichtlichkeit<br />

halber nicht aufgeführt.<br />

Autoritäre Überzeugungen werden im Umgang mit unsicheren, ambivalenten Situationen<br />

gelernt (siehe auch Abschnitt 3.2.). In solchen Situationen orientieren sich<br />

Menschen an sozialen Bezugssystemen bzw. Ideologien, die – nach Oesterreich<br />

(1996) – Sicherheit bieten können. Oesterreich nennt diese Orientierung „Flucht in<br />

die Sicherheit“. Hinter dieser Orientierung steht – psychologisch betrachtet – das<br />

Grundmotiv nach Ordnung, Struktur und nach Vermeidung von Unsicherheit und<br />

in zugespitzter Weise die Intoleranz gegenüber ambivalenten Situationen. Sicherheit<br />

in diesem Sinne können die Familie, die Freundesgruppe, die Religion, eine<br />

(rechtsextreme) Partei oder eine Herrschafts- und Machtideologie bieten. Ob diese<br />

oder andere soziale Instanzen als Schutz bietende Bezugssysteme in Frage kommen,<br />

hängt allerdings auch davon ab, ob und inwieweit sich eine einzelne Person<br />

über jene Schutz gewährenden Instanzen informieren kann, die nicht zum sozialen<br />

Nahraum dieser Person gehören. Und an dieser Stelle kommt der zweite Prädiktor<br />

für Ideologien der Ungleichwertigkeit ins Spiel: die Mediennutzung, hier: die Präferenzen<br />

für die deutschen, privaten Fernsehsender, um sich politisch zu informieren.


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

183<br />

Diese beiden Variablen, autoritäre Überzeugungen und Präferenzen für deutsches<br />

Privatfernsehen, wurden als Prädiktoren für die anschließenden Mediatoranalysen<br />

ausgewählt. Um Aspekte der sozialen Identität, als Mediator bzw.<br />

Vermittler, zu operationalisieren, und somit erneut die Kernhypothese der TIF zu<br />

prüfen, nutzten wir das Item „Deutscher/Deutsche sein, ist ein wichtiger Teil, von<br />

dem, was ich bin“ (erhoben nur in Welle 2). Mit diesem Item sollte die Identi kation<br />

mit den Deutschen erhoben werden. Außerdem nutzten wir das folgende Item<br />

zur Erfassung der Gewaltbereitschaft gegenüber dem Islam (erhoben nur in Welle<br />

2): „Die Bedrohung der westlichen Welt durch den Islam rechtfertigt, dass sich die<br />

westliche Welt mit Gewalt verteidigt“.<br />

3.3.3 Mediatoranalyse<br />

Gerechnet wurde wiederum mit dem Statistikprogramm SPSS und dem Skript<br />

„PROCESS“ von Andrew Hayes (2013). Die Prädiktor-, Mediator- und Kriteriumsvariablen<br />

wurden zuvor z-transformiert. Die Ergebnisse nden sich in Abbildung<br />

9 und Tabelle 8; auf die möglichen Interpretationen gehen wir weiter unten ein.<br />

Identifikation mit<br />

Deutschland<br />

(Welle 2; Index; z-<br />

Wert)<br />

Autoritäre<br />

Überzeugungen<br />

(Welle 1; z-Wert)<br />

Präferenz für<br />

deutsches<br />

Privatfernsehen<br />

.28** .17*<br />

.53*** (.59***)<br />

.14 n.s.<br />

.19* (.22*)<br />

Fundamentalistische<br />

Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit<br />

(Welle 2; z-Wert)<br />

Abbildung 9<br />

Mediation der Beziehung zwischen autoritären Überzeugungen und Präferenz<br />

für deutsches Privatfernsehen und fundamentalistischer Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit über Identikation mit Deutschland.


184 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Tabelle 8<br />

Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse<br />

Mediatoren Z p BootLLCI BootULCI<br />

Autoritäre Überzeugungen 1.5960 .0500 .0101 .1148<br />

Präferenz für deutsches<br />

Privatfernsehen<br />

1.0458 .0504 .0093 .1878<br />

Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = Signi kanzniveau, BootLLCI =<br />

untere Grenze des Kon denzintervalls (lower level con dence interval);<br />

BootULCI = obere Grenze des Kondenzintervalls (upper level condence<br />

interval)<br />

In einer weiteren Mediatoranalyse prüften wir, ob sich auch in diesem Fall der<br />

indirekte Pfad von der Identi kation mit Deutschland über die Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />

weiter bis zur Gewaltbereitschaft verfolgen lässt?<br />

In dieser Analyse (mit z-transformierten Werten aus der 2. Erhebungswelle)<br />

fungierte die Identikation mit Deutschland als Prädiktor (UV) und die Ideologie<br />

der Ungleichwertigkeit als Mediator, um die Gewaltbereitschaft gegenüber dem<br />

Islam vorauszusagen (AV; Kriterium; siehe die Abbildung 10 und Tabelle 9).<br />

Identifikation mit<br />

Deutschland<br />

(z-Wert)<br />

.13 n.s. (.24 *)<br />

Gewaltbereitschaft<br />

gegen dem Islam<br />

(z-Wert)<br />

.19*<br />

.53**<br />

Fundamentalistische<br />

Ideologie (der<br />

Ungleichwertigkeit,<br />

z-Wert)<br />

Abbildung 10 Vollständige Mediation der Beziehung zwischen Identi kation mit<br />

Deutschland und Gewaltbereitschaft gegen den Islam über fundamentalistische<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit.


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

185<br />

Tabelle 9<br />

Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse<br />

Mediatorvariable Z p BootLLCI BootULCI<br />

Ideologie der Ungleichwertigkeit 2.1636 .0305 .0210 .2058<br />

Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = Signi kanzniveau, BootLLCI =<br />

untere Grenze des Kon denzintervalls (lower level con dence interval);<br />

BootULCI = obere Grenze des Kondenzintervalls (upper level condence<br />

interval)<br />

Interpretation:<br />

Auch in dieser dritten Sekundäranalyse nden wir empirische Hinweise, die die<br />

Kernhypothese der Theorie eines identitätsstiftenden politischen Fundamentalismus<br />

(TIF) zu stützen vermögen. Nicht nur die Identi kation mit rechten Cliquen<br />

oder mit rechten Subkulturen bzw. Milieus, auch die starke Identi kation mit<br />

Deutschland (im Sinne von „Deutschsein ist ein wichtiger Teil von mir“) spiegelt<br />

zum einen wichtige Aspekte der sozialen Identität wider und wirkt zum anderen<br />

als Mediator zwischen den potentiellen Prädiktoren (hier den autoritären Überzeugungen<br />

und spezischen Fernsehpräferenzen) und der fundamentalistischen Ideologie<br />

der Ungleichwertigkeit. Außerdem lässt sich auch in dieser Sekundäranalyse<br />

ein Pfad von der Identi kation mit Deutschland mediiert über die Ideologie der<br />

Ungleichwertigkeit zur Gewaltbereitschaft gegenüber dem Islam nachweisen.<br />

Dass die nationale Identität (als Deutsche bzw. Deutscher) Teil der sozialen<br />

Identität sein kann, ist in verschiedenen Studien ausgiebig empirisch überprüft<br />

worden (z. B. Esses, Wagner, Wolf, Preiser & Wilbur, 2006; Koschate, Hofmann<br />

& Schmitt, 2012). Der Ein uss der nationalen Identität auf Vorurteile gegenüber<br />

Muslimen (z. B. Tausch, Spears & Christ, 2009) lässt sich ebenso nachweisen wie<br />

der positive Zusammenhang zwischen starker Identikation mit der deutschen Nation<br />

(im Sinne eines Nationalismus) und fremdenfeindlichen Vorurteilen (Schnöckel,<br />

Dollase & Rutz, 1999). Auch im Thüringen-Monitor aus dem Jahre 2013<br />

(Best et al., 2013, S. 105) erwies sich der Ethnozentrismus, also die Abwertung des<br />

„Fremden“ bei gleichzeitiger Überhöhung der eigenen nationalen und ethnischen<br />

Identität, als ein wichtiger Faktor für rechtsextreme Orientierungen.<br />

Allerdings ist in diesem Kontext auch der häug betonte Unterschied zwischen<br />

nationalistischer und patriotischer Identi kation mit der eigenen Nation nicht zu<br />

vernachlässigen (vgl. z. B. Blank & Schmidt , 2003; Heyder & Schmidt , 2002). So<br />

konnten Heyder und Schmidt (2002) in einer Erhebung im Rahmen des Projekts<br />

„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ empirisch belegen, dass durch nationalistische<br />

Identi zierungen auch antisemitische, fremdenfeindliche und islamfeindliche<br />

Einstellungen verstärkt werden. Patriotische Einstellungen hingegen<br />

reduzieren in dieser Studie die Abwertung von „Fremdgruppen“. Mummendey,


186 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Klink und Brown (2001) sehen im Patriotismus und im Nationalismus ebenfalls<br />

unterschiedliche Formen der kollektiven Selbstbewertung. Soziale Vergleiche mit<br />

anderen Nationen seien eng mit Nationalismus oder „blindem“ Patriotismus verknüpft.<br />

Temporale Vergleiche der eigenen Nation zu unterschiedlichen Zeitpunkten<br />

hingegen würden eher dem Muster eines „konstruktiven“ Patriotismus entsprechen.<br />

In Kommentaren zur Arbeit von Mummendey et al. (2001) bezweifeln z. B.<br />

Hopkins (2001) und Condor (2001) allerdings die Angemessenheit der Unterscheidung<br />

von Patriotismus und Nationalismus auf der Basis der untersuchten sozialen<br />

und temporalen Vergleichsprozesse. In Anlehnung an Billig (1995) können sowohl<br />

der Patriotismus als auch der Nationalismus als ideologisch aufgeladene soziale<br />

Konstruktionen betrachtet werden. Manchmal fördere – so Billig (1995) – eine<br />

solche Konstruktion die soziale Diskriminierung, manchmal verhindere sie derartige<br />

Ablehnungen aber auch, je nachdem wie und zu welchem Zwecke sie von<br />

politischen Eliten eingesetzt werden. Identikation mit der Nation schließe sowohl<br />

temporale wie soziale (also Intergruppen-)Vergleiche ein und es sei fraglich, ob<br />

eine Trennung zwischen beiden Vergleichsprozessen ökologisch valide sei, das<br />

heißt, außerhalb eines sozialpsychologischen Experiments überhaupt anzutreffen<br />

ist. Letztlich habe jedes Verweisen auf eine nationale Zugehörigkeit das Potential,<br />

als nationalistisch oder patriotisch interpretiert zu werden.<br />

Vielleicht, so ließe sich auf der Basis unserer Befunde vermuten, hängen Vorurteile<br />

gegenüber Fremden (also Ideologien der Ungleichwertigkeit) nicht primär<br />

von der (nationalistischen versus patriotischen) Identi kation mit der eigenen<br />

(deutschen) Nation ab, sondern von anderen Prädiktoren (z. B. autoritären Überzeugungen)<br />

und deren Mediation bzw. Vermittlung durch die nationale Identität.<br />

4 Schlussfolgerungen<br />

Im Sinne von Thomas Meyer (2011, S. 63ff.) betrachten wir den <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

als eine Form des Ethno-Fundamentalismus . <strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine<br />

militante Ideologie, die zur Grundlage von negativen Gefühlen und Gewaltbereitschaft<br />

gegenüber all jenen werden kann, die diese Ideologie nicht befürworten<br />

bzw. ablehnen.<br />

Die Prädiktoren, also die Aussagen über die Verursachung und Entwicklung,<br />

des <strong>Rechtsextremismus</strong> sind komplex und vielfältig. Sie nden sich auf den mikro-,<br />

meso- und makro-sozialen Strukturebenen; z. B. als Beschaffenheiten autoritärer<br />

Überzeugungen oder als Ein uss der medialen Berichterstattung. Entscheidend<br />

für die Wirkung dieser und anderer Prädiktoren ist aber – nach unserer Auffassung<br />

– die funktionale Passung mit der Suche, Fundierung und Stabilisierung der


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

187<br />

sozialen Identität: Sofern die entsprechenden Prädiktoren nützlich sind, um die<br />

soziale Identität der betreffenden Akteure zu stützen, haben diese Prädiktoren vermittelt<br />

über die entsprechenden Aspekte der sozialen Identität (bzw. der sozialen<br />

Identikation mit relevanten Bezugsgruppen) auch einen fördernden Einuss auf<br />

die Akzeptanz der fundamentalistischen Ideologie.<br />

Das heißt, die in den diversen Studien nachgewiesenen Prädiktoren für <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

wirken. Ihre Wirkung wird aber nur verständlich, wenn sie im Kontext<br />

der besagten funktionalen Passung mit den Bestrebungen nach positiver sozialer<br />

Identität interpretiert werden. Mit der Kernhypothese der TIF haben wir diese<br />

funktionale Passung zu beschreiben versucht: Die soziale Identität als Identikation<br />

mit relevanten Bezugsgruppen fungiert als Mediator zwischen den Kontextbedingungen<br />

und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit und<br />

den Gewaltpotentialen. 21<br />

Die diesen Analysen zugrundeliegenden Studien wurden allerdings nicht vor<br />

dem Hintergrund der TIF konzipiert. Insofern haben unsere Illustrationen auch<br />

ihre Grenzen, die sich u. a. in den Operationalisierungen der verschiedenen Prädiktoren<br />

und Mediatoren zeigen. Hier ist zukünftige Forschung gefragt.<br />

21 Inwieweit mit der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit und den Gewaltpotentialen<br />

auch spezifische (negative) Intergruppen-Emotionen verknüpft sind,<br />

wie in der TIF angenommen, konnten wir auf der Grundlage der vorliegenden Sekundäranalysen<br />

nicht prüfen.


188 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Literatur<br />

Allport, G. W. (1935). Attitudes. In C. Murchinson (Hrsg.), Handbook of Social Psychology<br />

(pp. 798–884). Worcester, MA: Clark University Press.<br />

Amiot, C. E., Terry, D. J., & McKimmie, B. M. (2012). Social identity change during an<br />

intergroup merger: The role of status, similarity, and identity threat. Basic and Applied<br />

Social Psychology, 34(5), 443-455.<br />

Aroopala, C. (2012). Mobilizing collective identity: Frames & rational individuals. Political<br />

Behavior, 34(2), 193-224.<br />

Ashmore, R.D., Deaux, K. & McLaughlin-Volpe, T. (2004). An Organizing Framework for<br />

Collective Identity: Articulation and Signicance of Multidimensionality. Psychological<br />

Bulletin, 130, 1, 80-114.<br />

Backes, U. & Jesse, E. (1993). Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Köln: Verlag Wissenschaft und Politik.<br />

Bauer-Kaase, P. (2001). Politische Ideologie im Wandel? – Eine Längsschnittanalyse der<br />

Inhalte der politischen Richtungsbegriffe ‚links‘ und ‚rechts‘. In H.D. Klingemann &<br />

M. Kaase (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1998.<br />

Wiesbaden: Westdeutscher Verlag (S. 207-243).<br />

Best, H., Dwars, D., Salheiser, A. & Salomo, K. (2013). „Wie leben wir? Wie wollen wir<br />

leben?“ – Zufriedenheit, Werte und gesellschaftliche Orientierungen der Thüringer Bevölkerung;<br />

Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2012. Online verfügbar unter www.thueringen.de/imperia/md/content.<br />

Billig , M. (1995). Banal nationalism. London: Sage.<br />

Blank , Th. & Schmidt , P. (2003). National identity in a united Germany: Nationalism or<br />

patriotism? An empirical test with representative data. Political Psychology, 24, 289-312.<br />

Butterwegge, C. (2000). Entschuldigung oder Erklärung für <strong>Rechtsextremismus</strong>, Rassismus<br />

und Gewalt? In C. Butterwegge & G. Lohmann (Hrsg.), Jugend, <strong>Rechtsextremismus</strong> und<br />

Gewalt. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Cakal, H., Hewstone, M., Schwär, G., & Heath, A. (2011). An investigation of the social<br />

identity model of collective action and the ‘sedative’ effect of intergroup contact among<br />

Black and White students in South Africa. British Journal of Social Psychology, 50(4),<br />

606-627.<br />

Carver, C., Scheier, M., & Weintraub, J. (1989). Assessing coping strategies: A theoretically<br />

based approach. Journal of Personality and Social Psychology, 56(2), 267-283.<br />

Condor , S. (2001). Commentary – Nations and nationalisms: Particular cases and impossible<br />

myths. British Journal of Social Psychology, 40, 177–181.<br />

Cook, T. D., & Campbell, D. T. (1979). Quasi-experimentation: Design and analysis issues<br />

for eld settings. Boston, MA: Houghton Mifin.<br />

Decker, O., Brähler, E. & Geißler, N. (2006). Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellung<br />

und ihre Ein ussfaktoren in Deutschland. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Decker, O. & Brähler, E. (2008). Bewegung in der Mitte. Rechtsextreme Einstellungen in<br />

Deutschland 2008. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Decker, O., Weißmann, M., Kiess, J. & Brähler, E. (2010). Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme<br />

Einstellungen in Deutschland 2010. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2012). Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen<br />

in Deutschland 2012. Bonn: Dietz. Online verfügbar unter http://www.fes-gegenrechtsextremismus.de/pdf_12/ergebnisse_mitte_studie_2012.pdf.


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

189<br />

Disha, I., Cavendish, J. C., & King, R. D. (2011). Historical events and spaces of hate: Hate<br />

crimes against Arabs and Muslims in post-9/11 America. Social Problems, 58(1), 21-46.<br />

Duckitt, J. (2001). A dual-process cognitive-motivational theory of ideology and prejudice.<br />

In M. P. Zanna (Ed.) , Advances in experimental social psychology, Vol. 33 (pp. 41-113).<br />

San Diego, CA, US: Academic Press.<br />

Duckitt, J., & Sibley, C. G. (2010). Personality, ideology, prejudice, and politics: A dual-process<br />

motivational model. Journal Of Personality, 78(6), 1861-1893.<br />

Eisenstadt, S. (1998). Die Antinomien der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.<br />

Esses, V. M., Wagner, U., Wolf, C., Preiser, M., & Wilbur, C. J. (2006). Perceptions of national<br />

identity and attitudes toward immigrants and immigration in Canada and Germany.<br />

International Journal Of Intercultural Relations, 30(6), 653-669.<br />

Feldman, S. (2003). Enforcing social conformity: A theory of authoritarianism. Political<br />

Psychology, 24, 41–74.<br />

Fischer, S. (2006). <strong>Rechtsextremismus</strong> bei Jugendlichen. Eine kritische Diskussion von Erklärungsansätzen<br />

und Interventionsmustern in pädagogischen Handlungsfeldern. Oldenburg:<br />

Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für Bildung und Kommunikation in<br />

Migrationsprozessen (IBKM) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Nr. 23.<br />

Frindte, W. (Hrsg.) (1999). Fremde, Freunde, Feindlichkeiten. Wiesbaden: Westdeutscher<br />

Verlag.<br />

Frindte, W. (2013). Der Islam und der Westen. Sozialpsychologische Aspekte einer Inszenierung.<br />

Wiesbaden: VS Springer.<br />

Frindte, W., & Haußecker, N. (2010). Inszenierter Terrorismus . Wiesbaden. VS Verlag für<br />

Sozialwissenschaften.<br />

Frindte, W. & Neumann, J. (Hrsg.). (2002). Fremdenfeindliche Gewalttäter: Biogra en und<br />

Tatverläufe. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Frindte, W., & Zachariae, S. (2005). Autoritarismus und soziale Dominanzorientierung als<br />

Prädiktoren für fremdenfeindliche und antisemitische Vorurteile. Zeitschrift für Politische<br />

Psychologie, 13(1+2), 83–112.<br />

Fuchs, M. (2003). <strong>Rechtsextremismus</strong> von Jugendlichen. Zur Erklärungskraft verschiedener<br />

theoretischer Konzepte. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,<br />

Heft 4, Jg. 55, S. 654-678.<br />

Funke, F. (2005). The Dimensionality of Right-Wing Authoritarianism: Lessons from the<br />

Dilemma between Theory and Measurement. Political Psychology, 26(2), pp. 195-218.<br />

Giddens, A. (1997). Jenseits von Links und Rechts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.<br />

Götz, N. (1997). Modernisierungsverlierer oder Gegner der re exiven Moderne? Rechtsextreme<br />

Einstellungen in Berlin. Zeitschrift für Soziologie, 26, 6, 393-414.<br />

Grant, P. R. (2008). The protest intentions of skilled immigrants with credentialing problems:<br />

A test of a model integrating relative deprivation theory with social identity theory.<br />

British Journal of Social Psychology, 47(4), 687-705.<br />

Grumke, T. (2001). <strong>Rechtsextremismus</strong> in den USA. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Grumke, T. (2013). <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland. Begriff – Ideologie – Struktur. In<br />

St. Glaser & T. Grumke (Hrsg.). Erlebniswelt <strong>Rechtsextremismus</strong>. Schwalbach/Ts.: Wochenschau<br />

Verlag.<br />

Guttman, L. (1954). Some necessary conditions for common factor analysis. Psychometrika,<br />

19, 149-161.<br />

Hayes, A. F. (2013). Introduction to mediation, moderation, and conditional process analysis:<br />

A regression-based approach. New York, NY, US: Guilford Press.


190 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Heer, G. & Boehnke, K. (1995). <strong>Rechtsextremismus</strong> bei Jugendlichen: Schulerfolg als<br />

Quelle sozialen Kapitals. In E. Witruk, G. Friedrich, B. Sabisch & D.M. Kotz (Hrsg.).<br />

Pädagogische Psychologie im Streit um ein neues Selbstverständnis. Bericht über die<br />

5. Tagung der Fachgruppe Pädagogische Psychologie in der Deutschen Gesellschaft für<br />

Psychologie e.V. in Leipzig 1995, Landau: Verlag Empirische Pädagogik.<br />

Heer, G., Boehnke, K., & Butz, P. (1999). Zur Bedeutung der Familie für die Genese von<br />

Fremdenfeindlichkeit bei Jugendlichen: Eine Längsschnittanalyse. Zeitschrift Für Soziologie<br />

Der Erziehung Und Sozialisation, 19(1), 72-87.<br />

Heitmeyer, W. (2002 bis 2012). Deutsche Zustände Folge 1 bis 10. Frankfurt am Main bzw.<br />

Berlin: Suhrkamp.<br />

Heitmeyer, W., Buhse, H., Liebe-Freund, J., Möller, K., Müller, J., Ritz, H., Siller, G. & Vossen,<br />

J. (1992). Die Bielefelder <strong>Rechtsextremismus</strong>-Studie. Erste Langzeituntersuchung<br />

zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher. Weinheim, München: Juventa.<br />

Hewstone, M. (2004). Neuere Forschungen über Intergruppenkon ikte: Konsequenzen für<br />

den Umgang mit Migration und Integration. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für<br />

Sozialforschung (WZB) Quelle: http://www2000.wzb.eu/alt/aki/les/hewstone_rede.pdf<br />

(12.3.2014).<br />

Heyder , A. & Schmidt , P. (2002). Deutscher Stolz. Patriotismus wäre besser. In W. Heitmeyer<br />

(Hrsg.), Deutsche Zustände (Bd. 1, S. 71-82). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.<br />

Hopkins , N. (2001). Commentary – National identity: Pride and prejudice? British Journal<br />

of Social Psychology, 40, 183–186.<br />

Jackson, J.W. & Smith E.R. (1999). Conceptualizing social identity: a new framework and<br />

evidence for the impact of different dimensions. Pers. Soc. Psychol. Bull. 25, pp. 120–35.<br />

Jost, J.T. (2006). The End of the End of Ideology. American Psychologist, 61, 7, 651-670.<br />

Klandermans, P.G. (2014). Identity politics and politicized identities: Identity processes and<br />

the dynamics of protest. Political Psychology, 35, 1, 1-22.<br />

Klandermans, B., Sabucedo, J., Rodriguez, M., & Weerd, M. (2002). Identity processes in<br />

collective action participation: Farmers’ identity and farmers’ protest in the Netherlands<br />

and Spain. Political Psychology, 23(2), 235-251.<br />

Klärner, A. (2008). Zwischen Militanz und Bürgerlichkeit. Selbstverständnis und Praxis<br />

der extremen Rechten. Hamburg: Hamburger <strong>Edition</strong>.<br />

Klärner, A. & Kohlstruck, M. (Hrsg.). (2006). Moderner <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland.<br />

Hamburg: Hamburger <strong>Edition</strong>.<br />

Klein, A. & Heitmeyer, W. (2012). Demokratie auf dem rechten Weg? Entwicklung rechtspopulistischer<br />

Orientierungen und politischen Verhaltens in den letzten zehn Jahren. In<br />

W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 10. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (S. 87-<br />

104).<br />

Klix, F. (1971). Information und Verhalten. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften.<br />

Koschate, M., Hofmann, W., & Schmitt, M. (2012). When East meets West: A longitudinal<br />

examination of the relationship between group relative deprivation and intergroup contact<br />

in reunied Germany. British Journal Of Social Psychology, 51(2), 290-311.<br />

Liu, J. H., Huang, L., & McFedries, C. (2008). Cross-sectional and longitudinal differences<br />

in social dominance orientation and right wing authoritarianism as a function of political<br />

power and societal change. Asian Journal of Social Psychology, 11(2), 116-126.<br />

Marx, K. & Engels, F. (1968). Engels an Franz Mehring. Marx-Engels-Werke, Band 39,<br />

S. 96-100. Berlin: Dietz Verlag Berlin.


Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />

191<br />

McCleary, D.F., Quillivan, C.C., Foster, L.N., & Williams, R.L. (2011). Meta-analysis of<br />

correlational relationships between perspectives of truth in religion and major psychological<br />

constructs. Psychology of Religion and Spirituality, 3(3), 163-180.<br />

Meyer, T. (2011). Was ist Fundamentalismus? Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für<br />

Sozialwissenschaften.<br />

Möller, K. & Schuhmacher, N. (2007). Rechte Glatzen. Rechtsextreme Orientierungs- und<br />

Szenezusammenhänge – Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skinheads.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Mummendey , A., Klink , A. & Brown , R. (2001). Nationalism and patriotism: National identication<br />

and out-group rejection. British Journal of Social Psychology, 40, 159–172.<br />

Münch, R. (1994). Von der Moderne zur Postmoderne? Soziale Bewegungen im Prozess der<br />

Modernisierung. Neue Soziale Bewegungen, 1994, 2, 27-39.<br />

Neumann, J. (2001). Aggressives Verhalten rechtsextremer Jugendlicher. Eine sozialpsychologische<br />

Untersuchung. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann.<br />

Oesterreich , D. (1996). Flucht in die Sicherheit. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Pettigrew , T. F. (1996). How to think like a social scientist. New York: Harper Collins.<br />

Reicher, S.D., Spears, R. & Postmes, T. (1995). A social identity model of deindividuation<br />

phenomena. In W. Stroebe & M. Hewstone (Eds.), European Review of Social Psychology<br />

(pp. 161-198). Chichester: John Wiley & Sons.<br />

Riepl, W. (29.06.2012) Mediatoranalyse [Blogeintrag]. Abgerufen von: http://statistik-dresden.de/archives/2489<br />

Rucht, D. (2002). <strong>Rechtsextremismus</strong> aus der Perspektive der Bewegungsforschung. In D.<br />

Grumke & B. Wagner (Hrsg.). Handbuch <strong>Rechtsextremismus</strong>. Personen – Organisationen<br />

– Netzwerke vom Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft. Opladen: Leske +<br />

Budrich.<br />

Schnöckel, A., Dollase, R., & Rutz, S. (1999). Sind Lokalpatrioten fremdenfeindlich?. In R.<br />

Dollase, T. Kliche, H. Moser (Hrsg.) , Politische Psychologie der Fremdenfeindlichkeit.<br />

Opfer, Täter, Mittäter (pp. 131-148). Weinheim: Juventa.<br />

Seipel, C., Rippl, S. & Schmidt, P. (1995). Autoritarismus, Politikverdrossenheit und rechte<br />

Orientierungen. In G. Lederer & P. Schmidt (Hrsg.). Autoritarismus und Gesellschaft.<br />

Trendanalysen und vergleichende Jugenduntersuchungen 1945 – 1993. Opladen: Leske<br />

+ Budrich. S. 228 – 249.<br />

Six , B. (1996). Generalisierte Einstellungen. In M. Amelang (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie<br />

(S. 1–50). Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe.<br />

Smith, E.R. (1993). Social identity and social emotions: Toward new conceptualizations of<br />

prejudice. In D. M. Mackie, D. L. Hamilton (Eds.), Affect, cognition, and stereotyping:<br />

Interactive processes in group perception (pp. 297-315). San Diego, CA, US: Academic<br />

Press.<br />

Stellmacher, J. (2004). Autoritarismus als Gruppenphänomen: Zur situationsabhängigen<br />

Aktivierung autoritärer Prädispositionen. Marburg: Tectum Verlag.<br />

Stephan, W.G., & Stephan, C.W. (2000). An integrated threat theory of prejudice. In S. Oskamp<br />

(Ed.), Reducing prejudice and discrimination (pp. 23-46). Hillsdale, NJ: Lawrence<br />

Erlbaum.<br />

Sturzbecher, D. (1997). Jugend und Gewalt in Ostdeutschland. Lebenserfahrungen in<br />

Schule, Freizeit und Familie. Göttingen: Verlag für Angewandte Psychologie.


192 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />

Tajfel, H. & Turner, J. C. (1986). The social identity theory of inter-group behavior. In S.<br />

Worchel & L. W. Austin (Eds.), Psychology of intergroup relations (pp. 7-24). Chigago,<br />

IL: Nelson-Hall.<br />

Tausch, N., Spears, R., & Christ, O. (2009). Religious and national identity as predictors of<br />

attitudes towards the 7/7 bombings among British Muslims: An analysis of UK opinion<br />

poll data. Revue Internationale De Psychologie Sociale, 22(3-4), 103-126.<br />

Van Hiel, A., & Mervielde, I. (2005). Authoritarianism and social dominance orientation:<br />

Relationships with various forms of racism. Journal Of Applied Social Psychology,<br />

35(11), 2323-2344.<br />

Weiss, K., Mibs, M. & Brauer, J. (2002). Links-Rechts-Konzepte unter Brandenburger Jugendlichen.<br />

In K. Boehnke, D. Fuß & J. Hagan (Hrsg.), Jugendgewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Soziologische und psychologische Analysen in internationaler Perspektive.<br />

Weinheim, München: Juventa. S. 209–223.<br />

Willems, H., Eckert, R., Würtz, S. & Steinmetz, L. (1993). Fremdenfeindliche Gewalt. Einstellungen,<br />

Täter, Kon ikteskalation. Opladen: Leske + Budrich.


Kapitel 3<br />

„Nationalsozialistischer Untergrund“<br />

„Man hat zu häug den Eindruck, als falle Rassismus und Fremdenfeindlichkeit<br />

durch Rechtsextremisten den Mitarbeitern mancher Sicherheitsorgane gar nicht<br />

weiter auf, als sei das normal und werde durch unsere Verfassung nicht ausgeschlossen.<br />

Das ist unmöglich und muss geändert werden.“<br />

(Herta Däubler-Gmelin, 2013).


Nicht vom Himmel gefallen<br />

Die Thüringer Neonaziszene und der NSU<br />

Stefan Heerdegen<br />

1 Einleitung<br />

Die Mobile Beratung in Thüringen (MOBIT) berät seit dem Jahr 2001 engagierte<br />

Einzelpersonen, Initiativen und Bündnisse, politische Mandatsträger, Vereine und<br />

Verbände, aber auch staatliche Institutionen im möglichst widerständigen Umgang<br />

mit extrem rechten Erscheinungsformen in Thüringen. Für die Beratungsnehmenden<br />

besteht der Mehrwert einer Beratung oft auch in der hohen Informiertheit der<br />

Berater/innen. In Anbetracht der Differenziertheit und Schnelllebigkeit der extrem<br />

rechten Szene hat Recherche für die Berater/innen einen hohen Stellenwert. Über<br />

die Jahre hat sich so eine Fachexpertise in der Bewertung der Thüringer extrem<br />

rechten bzw. neonazistischen Szene herausgebildet, die primär den Beratungsnehmenden<br />

zur Verfügung gestellt wird. Mit dem vorliegenden Beitrag soll deutlich<br />

werden, dass weder die Täter noch die Taten des sogenannten „Nationalsozialistischen<br />

Untergrunds“ (NSU), soweit diese bisher bekannt sind, eine „neue Qualität“<br />

darstellen. Sie sind zwar individuell eigen, jedoch auch typische, originäre<br />

Beispiele aus der Mitte der thüringischen extrem rechten Szene der 1990er Jahre.<br />

In den Tagen nach dem 04. November 2011 wurden sukzessive neun Morde<br />

an Migrant/innen, an einer Polizistin, Bombenanschläge und somit die Existenz<br />

einer über dreizehn Jahre unentdeckt agierenden Neonazigruppe, deren Eigenbezeichnung<br />

„Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) lautete, bekannt. Vielen<br />

Journalist/innen fehlte eine Idee eines adäquaten Umgangs; die Existenz neonazistischen<br />

Terrors war schlicht nicht vorstellbar. Manche fragten, ob es sich überhaupt<br />

um „Terror“ handelte, fehlten doch im Vergleich zu eingeübten Vorstellungen aus<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


196 Stefan Heerdegen<br />

Zeiten der Roten-Armee-Fraktion öffentliche Bekennerschreiben. Hier zeigt sich<br />

eine bräsige Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich nicht vorzustellen<br />

vermag, dass die Taten des NSU durchaus ihre öffentliche Wirkung innerhalb<br />

der Migrant/innen-Communities 1 hatten. Dabei handelt es sich bei den Taten des<br />

NSU im Grunde um die konsequente Umsetzung ihrer extrem rechten Ideologie<br />

(Gensing, 2012, S. 21ff). Andere wiederum wollten gern bestätigt bekommen, dass<br />

es sich bei den ans Licht gekommenen Taten des NSU um eine neue, bisher nicht<br />

gekannte Qualität extrem rechter Gewalt handelte, die weder die Öffentlichkeit,<br />

noch staatliche Behörden so hätten ahnen können. Die NSU-Morde und -Anschläge<br />

weisen tatsächlich ihre eigenen Spezika auf. Die Mobile Beratung in Thüringen<br />

bemüht sich seit jenen Tagen in vielen Interviews deutlich zu machen, dass, bei<br />

Kenntnis extrem rechter Ideologie, diese Taten tatsächlich nicht überraschen durften.<br />

Der vorliegende Beitrag setzt die Taten des NSU mit der extrem rechten Szene<br />

insbesondere in Thüringen in Beziehung. Vor dem Hintergrund von ideologischer<br />

Radikalität und praktischer Militanz behalten die Taten des NSU zwar ihre eigene<br />

erschreckende Kontur, heben sich jedoch weitaus weniger vom gesellschaftlichen<br />

Bild des aktuellen Neonazismus ab als oftmals angenommen. Sowenig mit der<br />

Aufarbeitung des NSU-Komplexes Befasste an eine autonom arbeitende, exklusive<br />

Zelle ohne Unterstützungsnetzwerk glauben (vgl. König & Haushold, 2014;<br />

Oppermann, Hartmann & Högl, 2012), sowenig kann die terroristische Struktur<br />

NSU ohne Beziehung zur neonazistischen Szene in Thüringen, im gesamten Bundesgebiet<br />

und zur internationalen Neonaziszene betrachtet werden.<br />

2 Demokratiefeindlich, radikal und militant –<br />

die Neonaziszene in Thüringen<br />

Während die Täter/innen des NSU im Geheimen mutmaßlich ihre Anschläge und<br />

Morde begingen, trat die Thüringer Neonaziszene öffentlich demokratiefeindlich<br />

und menschenverachtend in Erscheinung.<br />

Durch die 2000er Jahre hindurch fand in Thüringen jährlich eine Vielzahl von<br />

Demonstrationen und Kundgebungen statt, bei denen auf den Transparenten der<br />

unterschiedlichen beteiligten Gruppen, aber auch in den Redebeiträgen, immer<br />

wieder die grundsätzliche Gegnerschaft zum „System“ bekundet wurde (vgl. Abbildung<br />

1). Hierbei bildeten in Parteien organisierte und parteiunabhängig agie-<br />

1 Beispielsweise berichten Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße 2004,<br />

dass sie gegenüber den polizeilichen Ermittlern aussagten, dass sie die Täter/innen in<br />

Neonazi-Kreisen vermuten (Kölnische Rundschau, 2014).


Nicht vom Himmel gefallen<br />

197<br />

rende Neonazist/innen gemeinsam die extrem rechte bzw. neonazistische Szene in<br />

Thüringen. Eine genaue Trennung in parteiunabhängiges und in Parteienspektrum<br />

ist nur vereinzelt möglich. 2<br />

Abbildung 1 Neonazis bei einer Kundgebung am 16.04.2005 auf dem Erfurter Anger.<br />

Anmerkungen: Auf dem Transparent ist zu lesen: „Das System ist der Fehler !!! Hartz IV<br />

ein neuer Beweis ! Nationaler Widerstand Eisenach“. (Bildrechte: MOBIT)<br />

Dabei ist die Ablehnung des „Systems“ nicht auf das politische System Demokratie<br />

beschränkt. Nach extrem rechter Denkart ist eine Revision gesellschaftlicher,<br />

humanistischer Werte, die sich seit der Französischen Revolution etablierten,<br />

notwendig. Anschaulich wird das beispielsweise bei der Ablehnung des<br />

2 Beispiele für Personalunionen sind Ralf Wohlleben (Aktivist der Kameradschaft „Nationaler<br />

Widerstand Jena“ und stellvertretender NPD-Landesvorsitzender 2002-2008),<br />

Patrick Wieschke (seit Ende der 1990er Jahre Führungsfigur der westthüringischen<br />

Kameradschaftsszene und seit Anfang der 2000er Jahre in verschiedenen NPD-Ämtern,<br />

seit 2012 NPD-Landesvorsitzender) und Thorsten Heise (nach dem Verbot der<br />

Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) einer der bundesweit führenden Initiatoren<br />

einer Organisierung in Kameradschaften, führte selbst die Kameradschaft Northeim<br />

und die Kameradschaft Eichsfeld; auch er ist seit 2004 in diversen Funktionen<br />

für die NPD aktiv).


198 Stefan Heerdegen<br />

Gleichheitsgrundsatzes des Artikels 3 des Grundgesetzes. Über 200 Jahre nach<br />

der Französischen Revolution mit ihrem Leitspruch „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“<br />

ist beispielsweise der Grundsatz der Gleichwertigkeit der Menschen zum<br />

anerkannten Allgemeingut geworden. Es gehört heute zum Standard demokratischer<br />

Verfassungen und Gesetzgebungen, die Menschenrechte, hier die Gleichheit<br />

an Würde und Rechten, durchzusetzen. Die Neonaziszene geht hingegen von einer<br />

Ungleichwertigkeit von Menschen aus (Heitmeyer, 1993, S. 13). Dieses rassistische<br />

Wertigkeitsgefälle in der Weltsicht legitimiert Gewalttaten gegen Migrant/innen,<br />

politisch Andersdenkende, Behinderte, Homosexuelle und weitere abgelehnte Bevölkerungsgruppen.<br />

3 Übergriffe gegen sie erscheinen als weniger schwerwiegend<br />

als gegen Angehörige der eigenen Gruppe. Gewalt gilt der neonazistischen Szene<br />

generell als legitimes Mittel des politischen Kampfes (Röpke, 2004, S.40ff). Auch<br />

hier zeigt sich die Ablehnung gesellschaftlicher, demokratischer Konventionen, in<br />

diesem Fall des gewaltlosen Umgangs untereinander.<br />

In Schriften, Aufdrucken auf Textilien, Reden oder in Songtexten nden sich<br />

unzählige Belege für eine Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung von Zielen;<br />

Militanz und rechter Terrorismus werden sogar glori ziert. Dies beginnt bei der<br />

Verherrlichung des Vernichtungskriegs von Wehrmacht und Waffen-SS und reichte<br />

zum Zeitpunkt der Selbstenttarnung des NSU bis zu öffentlichen Sympathiebekundungen<br />

für die englische Terrorgruppe „Combat18“ oder den norwegischen<br />

Attentäter Anders Behring Breivik.<br />

2.1 Terroristische Traditionslinien<br />

In den 1990er Jahren, der Zeit, in der sich der „Thüringer Heimatschutz“ (THS)<br />

als Kameradschaftsnetzwerk bildete, und in der viele bis heute in die extrem rechte<br />

Szene Eingebundene neonazistisch sozialisiert worden waren, konnten sich auch<br />

Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, ebenso wie jede/r andere Szenegänger/in an der<br />

langen und vielfältigen Tradition rechten Terrors orientieren. Es erscheint müßig,<br />

ohne eine Aussage der Überlebenden des Trios, Beate Zschäpe, die Bezugspunkte<br />

zu nden, die bei der Bildung der NSU-Terrorzelle und für deren Vorgehensweise<br />

tatsächlich eine Rolle spielten. Auf allgemeinere Aussagen kann aber der folgende<br />

Abschnitt hinweisen.<br />

3 In unzähligen RechtsRock-Songs werden Mord- und Pogromstimmungen gegenüber<br />

diversen Gruppen besungen. Drastische Beispiele sind: Landser mit „Schlagt sie tot“,<br />

Gigi und die braunen Stadtmusikanten mit „Anne Wand“ oder SKD mit „Hängt sie<br />

auf!“.


Nicht vom Himmel gefallen<br />

199<br />

Bereits seit dem Ende des Ersten Weltkrieges existiert für die extreme Rechte<br />

eine Tradition der Militanz bestehend aus Straßenschlachten, Freikorps und politischen<br />

Morden. Auch im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland<br />

gehörte Terror als Option politischen Handelns für die neonazistische Szene zum<br />

Repertoire. Zu nennen sind: die „Wehrsportgruppe Hengst“ (1968-1971), die „Aktion<br />

Widerstand“ (1970-1971), die „Volkssozialistische Bewegung Deutschlands“<br />

(1971-1982), die „Wehrsportgruppe Hoffmann“ (1973-1980) und die „Deutschen<br />

Aktionsgruppen“ (1980). Die Eigenbezeichnung „Deutsche Aktionsgruppen“<br />

weist auf den Gedanken einer dezentralen Zellenstruktur statt großer, hierarchischer<br />

Zusammenschlüsse hin. Obwohl tatsächlich nur eine Zelle bestehend aus<br />

drei Personen Anschläge, teilweise mit Todesfolge, beging, bezifferte 1982 das<br />

Bundesinnenministerium die Anzahl der Mitglieder auf 16 (Maegerle, 2014). Generell<br />

war der Gedanke einer dezentralen Zellen-Struktur, abgekoppelt von der<br />

extrem rechten Szene, hier nicht konsequent umgesetzt worden (vgl. Pfahl-Traughber,<br />

2012).<br />

Auch in der Szene kursierende Texte belegen, dass die Vorgehensweise des<br />

NSU-Trios keineswegs exklusiv ist. Die bereits 1978 veröffentlichten „Turner Diaries“<br />

von William L. Pierce (vgl. Sanders, Stützel & Tymanova, 2014) beschreiben<br />

einen antisemitisch und rassistisch motivierten Überlebenskampf der „weißen<br />

Rasse“. Wie Gideon Botsch (2012, S.109) schreibt, rezipierten deutsche Neonazis<br />

Mitte der 1990er Jahre „angelsächsische Konzepte einer ‚leaderless resistance‘,<br />

eines ‚führerlosen Widerstands‘“, dessen Gedanke durch die „Turner Diaries“ in<br />

Form von einzelnen Einheiten in einem Netzwerk in die Neonazi-Szene eingeführt<br />

war. Der US-amerikanische Rassist Louis Beam veröffentlichte 1992 einen<br />

bereits 1983 geschriebenen Artikel in seiner Zeitschrift „The Seditionist“, in dem<br />

er ein „cell system“, ein System aus einzelnen Zellen als einer hierarchischen Organisation<br />

überlegen darstellt (vgl. Beam, 1983). Konzept und Name waren also<br />

spätestens seit Beginn der 1990er Jahre veröffentlicht und hatten in der extremen<br />

Rechten Nordamerikas einen großen Einuss (Grumke, 2001, S. 90f).<br />

2.2 Blood & Honour und der Terrorismus<br />

In europäischen Kreisen des international agierenden Neonazi-Musiknetzwerks<br />

Blood & Honour (B&H) verbreitet der norwegische Neonazi Erik Blücher unter<br />

dem Pseudonym Max Hammer (Thomas, 2000) Überlegungen zu rechtem Terrorismus.<br />

In „The way forward“ propagiert er den terroristischen Kampf und Combat18<br />

als militanten Arm von Blood & Honour (apabiz, 2000; Hammer, 2000).<br />

Im „Field Manual“ aus dem Jahr 2002 nutzt Blücher auch den Begriff „leader-


200 Stefan Heerdegen<br />

less resistance“ (Hammer, 2002). Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre<br />

diskutierte die europäische Neonazi- bzw. Blood & Honour-Szene militante<br />

Strategien (Sanders et al., 2014; Röpke, 2012, S. 51; Gensing, 2012, S.89). Nicht<br />

nachgewiesen werden kann, ob und welche Texte Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt<br />

und Beate Zschäpe selbst gelesen haben. Andrea Röpke (2012, S. 52) geht jedoch<br />

von einem „intensiven Studium konspirativer Schriften (des Trios, Anmerkung<br />

des Verfassers)“ aus. In Anbetracht der weitreichenden Vernetzung und zentralen<br />

Einbindung der drei in den Thüringer Heimatschutz erscheint es schwer vorstellbar,<br />

dass sie den damaligen Strategiediskurs um Militanz, Terrorismus und entsprechende<br />

Konzepte nicht wenigstens mittelbar erlebt hatten. Dies gilt auch für<br />

andere damals schon in Thüringen aktive Neonazis, wie beispielsweise den heutigen<br />

NPD-Landeschef Patrick Wieschke, Ralf Wohlleben und André Kapke. Alle<br />

drei Neonazis prägten und prägen mit ihren legalen Aktivitäten die thüringische<br />

extrem rechte Szene.<br />

2.3 Neonazistische Gewalt und Militanz in Thüringen<br />

Übergriffe auf Migrant/innen bzw. Menschen, die visuell nicht in die Vorstellung<br />

der Neonazis vom Deutschen passen, sind in Thüringen belegt (ezra – Mobile Beratung<br />

für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, siehe auch den<br />

Text von Geschke & Quent in diesem Band). 4 Damit ist die Schwelle von verbaler<br />

Gewaltbefürwortung und -verherrlichung zur tatsächlichen Tat überschritten. Das<br />

Spektrum reicht von Bedrohungen über Körperverletzungen bis hin zum Mord.<br />

Die Wanderausstellung „Opfer rechter Gewalt in Deutschland seit 1990“ weist<br />

in ihrer fünften Fassung derzeit 169 Morde, sechs davon in Thüringen, aus. Bei<br />

einer neuen Fassung der Ausstellung dürfte ein weiterer Mord, der 2012 verübt<br />

wurde, als siebte, belegte Tat in Thüringen aufgenommen werden (ezra – Mobile<br />

Beratung fü r Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, 2013). Es<br />

lässt sich somit konstatieren, dass es auch außerhalb der NSU-Zusammenhänge<br />

tödliche Gewalt in Thüringen gibt. Ein deutlicher Unterschied der Taten des NSU<br />

im Vergleich zu den anderen Tötungsdelikten besteht jedoch in deren akribischer<br />

Planung. Hier eskalierte nicht spontan die Gewalt. Die Morde des NSU-Trios wurden<br />

monate- bzw. jahrelang vorbereitet, dann verdeckt und kaltblütig ausgeführt.<br />

4 Aufgrund des mehrfachen Trägerwechsels bei Thüringer Beratungsprojekten für Betroffene<br />

rechter Gewalt sind die Übergriffszahlen für manche Jahre nur begrenzt aussagekräftig.


Nicht vom Himmel gefallen<br />

201<br />

2.4 Sprengstoff- und Waffenfunde<br />

Durch die 2000er Jahre hindurch ist ebenfalls ein Interesse der neonazistischen<br />

Szene in Thüringen an Waffen und Sprengstoff feststellbar. Bereits im Jahr 2000<br />

verübten Mitglieder der „Kameradschaft Eisenach“ einen Sprengstoffanschlag auf<br />

ein Imbissgeschäft eines türkischen Staatsangehörigen (Thüringer Landtag, 2001).<br />

Zusammenhänge zum NSU sind bei dieser Tat zwar nicht erkennbar, jedoch lässt<br />

diese Tat den Schluss zu, dass Anschläge auf von Migrant/innen geführte Geschäfte<br />

kein exklusives Betätigungsfeld des NSU-Trios waren. Weitere Sprengstofffunde<br />

bzw. Funde von „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“<br />

gab es nach Auskunft der Landesregierung im Jahr 1997 in Stadtroda, 2003 in<br />

Ronneburg, 2008 in Wutha-Farnroda und 2011 in Berga (Thüringer Landtag,<br />

2012). Neben Sprengstoff- und Bombenfunden sind auch wiederholt Schusswaffen<br />

bei Angehörigen der extrem rechten Szene festgestellt worden. Beim damaligen<br />

NPD-Bundesvorstandsmitglied Thorsten Heise (aktuell stellvertretender NPD-<br />

Landesvorsitzender) aus Fretterode im Eichsfeld wurde bei einer Hausdurchsuchung<br />

des Bundeskriminalamtes im Jahr 2007 beispielsweise eine Pistole, eine<br />

zerlegte Maschinenpistole sowie ein Maschinengewehr gefunden. Lediglich bei<br />

dem Maschinengewehr aus der Zeit des zweiten Weltkriegs wären „kleinere Veränderungen“<br />

(Spiegel Online, 2012) nötig gewesen, um es wieder funktionsfähig<br />

zu machen. Die anderen beiden Waffen waren also funktionsfähig bzw. die Waffenteile<br />

vollständig vorhanden. Festzuhalten bleibt, dass Waffenfunde in der thüringischen<br />

Neonaziszene sich nicht auf Schlagwaffen und Messer beschränken.<br />

Die gefundenen Waffen sind nicht selten Schusswaffen, deren Besitz in Deutschland<br />

keiner Privatperson erlaubt ist, sondern die vielmehr unter das Kriegswaffenkontrollgesetz<br />

fallen.<br />

3 Thüringer Neonaziszene damals und heute<br />

3.1 Der lange Schatten des „Thüringer Heimatschutzes“<br />

Mitte der 1990er Jahre bildete sich die Organisationsstruktur „Anti-Antifa-Ostthüringen“<br />

heraus, die sich mit zunehmender Ausbreitung „Thüringer Heimatschutz“<br />

(THS) nannte (Deutscher Bundestag, 2013). Nach Aussagen des Zeugen im Parlamentarischen<br />

Untersuchungsausschuss Tino Brandt (ehemalige Führungsgur des<br />

THS) gehörte André Kapke als damaliger Kopf der Jenaer Kameradschaft ebenfalls<br />

zum Führungszirkel des THS. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wiederum<br />

werden als Kapkes Stellvertreter, Zschäpe als Mitglied charakterisiert (Deutscher


202 Stefan Heerdegen<br />

Bundestag, 2013). In Abstufungen gehören sie alle zum Kern des zwischenzeitlich<br />

auf ca. 120 Neonazist/innen angewachsenen Kameradschaftsnetzwerks THS.<br />

Brandt sagte gegenüber dem Bundeskriminalamt (BKA) 2012 aus, dass der THS<br />

eine Vernetzungsstruktur für fast ganz Thüringen darstellte (ausgenommen Mühlhausen<br />

und Nordhausen) 5 . Der „Thüringer Heimatschutz“ hat bis heute seine Auflösung<br />

nicht erklärt, seine Kader traten Anfang der 2000er Jahre zunehmend als<br />

NPD-Funktionäre auf. Daher kann davon ausgegangen werden, dass diejenigen<br />

Neonazis, die in dieser Zeit bereits politisch aktiv waren, mit der Organisation, den<br />

Protagonisten, aber auch den damaligen politischen, wie ideologischen Positionen<br />

in Berührung gekommen sind. Ein ussreiche Führungspersonen, heute zumeist<br />

mit NPD-Zugehörigkeit, entstammen in Thüringen der freien Kameradschaftsszene<br />

und somit zumindest mittelbar dem Thüringer Heimatschutz. Das NSU-Mörder-Trio<br />

und die öffentlich und legal agierenden Personen der thüringischen extrem<br />

rechten Szene haben dieselbe neonazistische Sozialisation der 1990er Jahre,<br />

gehörten denselben Strukturen an.<br />

Die extrem rechte Szene drückt bis heute gelegentlich ihre Verbundenheit zum<br />

„Thüringer Heimatschutz“ aus. So wurde das bekannte Banner des THS beispielsweise<br />

2006 anlässlich einer Rudolf-Heß-Gedenkdemonstration mitgeführt. Im<br />

Jahr 2012, beim 10. sogenannten „Rock für Deutschland“ (RfD), einem seit 2003<br />

in Gera statt ndenden RechtsRock-Open-Air wurde sogar ein neu hergestelltes<br />

Transparent als Bühnenhintergrund verwendet. Auch beim 12. sogenannten „Thüringentag<br />

der nationalen Jugend“ (TdnJ) im Jahr 2013 in Kahla wurde es gezeigt<br />

(Abbildung 2).<br />

5 Brandt berichtet gegenüber dem BKA von den Mittwochsstammtischen im Gasthaus<br />

„Zum Goldenen Löwen“ in Rudolstadt-Schwarza, zu dem nach und nach bis zu 100<br />

Neonazist/innen zusammen kamen.


Nicht vom Himmel gefallen<br />

203<br />

Abbildung 2 Auf dem 12. sogenannten „Thüringentag der nationalen Jugend“ in Kahla<br />

im Jahr 2013 drückt die extrem rechte Szene ihre Verbundenheit mit dem<br />

Thüringer Heimatschutz aus. (Bildrechte: MOBIT)<br />

Die Beispiele aus Gera und Kahla lassen den Schluss zu, dass nach dem öffentlichen<br />

Bekanntwerden des NSU durch das Zeigen dieses in Szenekreisen bekannten<br />

Transparents eine versteckte Verbundenheit zu den NSU-Mitgliedern, die zuvor<br />

auch THS-Mitglieder waren, zum Ausdruck kommt. Für diesen Schluss spricht<br />

auch, dass in Kahla, das zum ehemaligen THS-Kerngebiet gehört, auch mehrere<br />

Konzertbesucher mit „Freiheit-für-Wolle“-T-Shirts anwesend waren. Der wegen<br />

„Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung“ verurteilte Martin Wiese<br />

(Pöhner, 2010) und ein weiterer Redner trugen dieses T-Shirt ebenfalls (siehe<br />

Abbildung 3).


204 Stefan Heerdegen<br />

Abbildung 3 Zur öffentlichen Bekundung der Solidarität mit Ralf „Wolle“ Wohlleben<br />

trugen sowohl Redner als auch Helfer beim Kahlaer „Thüringentag der<br />

nationalen Jugend“ T-Shirts mit der Aufschrift „Freiheit für Wolle“. (Bildrechte:<br />

MOBIT)<br />

Mit „Wolle“ ist Ralf Wohlleben gemeint, der Weggefährte von Zschäpe, Mundlos<br />

und Böhnhardt, der neben André Kapke die zweite Führungs gur in der Kame-


Nicht vom Himmel gefallen<br />

205<br />

radschaft Jena war und nun einer der Mitangeklagten im Münchner NSU-Prozess<br />

ist. Zwischen 2002 und 2010 war Ralf Wohlleben NPD-Mitglied, zeitweise sogar<br />

stellvertretender NPD-Vorsitzender in Thüringen (Gamma Redaktion Leipzig,<br />

2012, S. 85). Wohlleben war 2002 beim ersten „Thüringentag der nationalen Jugend“<br />

Versammlungsleiter und blieb dem TdnJ auch in den Folgejahren als Redner<br />

oder Mitorganisator verbunden. Wohlleben gehörte gemeinsam mit André Kapke<br />

und Patrick Wieschke ebenfalls zum Organisationskreis des ersten sogenannten<br />

„Fests der Völker“ 2005 in Jena (Röpke, 2005; Gensing, 2011). Dieses Rechts-<br />

Rock-Event hatte gegenüber dem bereits erwähnten TdnJ und dem Geraer RfD<br />

bei der Bandauswahl und den Rednern einen deutlichen Bezug zum verbotenen<br />

Blood & Honour-Netzwerk (Röpke, 2005). In der Person Ralf Wohlleben kumuliert<br />

der Facettenreichtum der Thüringer extrem rechten Szene. Er personi ziert<br />

ihre Charakteristika, wie die unscharfen Grenzen zwischen NPD und Kameradschaftsszene,<br />

die Sozialisierung im „Thüringer Heimatschutz“, die mittlerweile<br />

deutschlandweit ausgeprägtesten Fähigkeiten zur Organisation von neonazistischen<br />

Massenveranstaltungen und eben auch Ambitionen zu bzw. Verwicklungen<br />

in militante und rechtsterroristischen Aktionen.<br />

3.2 Die Bedeutung von Blood & Honour in Thüringen<br />

Auf eine vollständige Darstellung des Blood & Honour-Netzwerkes, seine Aktivitäten,<br />

Protagonisten etc. wird hier verzichtet. Da dieses Neonazi-Netzwerk jedoch<br />

einerseits beim Abtauchen des Jenaer Nazi-Trios eine entscheidende Rolle spielte<br />

und andererseits auch ein zentraler Bestandteil der Geschichte der Thüringer extrem<br />

rechten Szene darstellt, sollen dennoch einige Informationen einießen.<br />

Thüringen hatte seit dem Jahr 1997 bis zum Verbot des Blood & Honour-Netzwerkes<br />

im Jahr 2000 ebenso wie Sachsen eine aktive eigene Sektion. Der Sektionsleiter<br />

Thüringens Marcel Degner aus Gera fungierte auch als Kassenwart<br />

der Blood & Honour-Division Deutschland (Haskala Jugend- und Wahlkreisbüro<br />

Katharina König (MdL), 2010; Schäfer, Wache & Meiborg, 2012, S. 35f). Auch<br />

die Jugendorganisation der Blood & Honour-Division Deutschland „White Youth“<br />

wurde in Gera gegründet (Haskala, 2010). Bereits Mitte der 1990er Jahre bewegte<br />

sich Uwe Mundlos in der Sächsischen Neonaziszene und knüpfte Blood & Honour-Kontakte<br />

(Wellsow, 2012, S. 32f). Uwe Mundlos stellte die sächsischen Blood<br />

& Honour-Aktivisten André Kapke und Ralf Wohlleben vor (Schäfer et al., 2012,<br />

S. 35).<br />

Abgesehen davon, dass mit Marcel Degner eine für die bundesdeutsche Struktur<br />

Blood & Honour zentrale Figur aus Thüringen stammte, spielte das internatio-


206 Stefan Heerdegen<br />

nal agierende (Skinhead)-Musik-Netzwerk innerhalb der Thüringer Neonaziszene<br />

eine bedeutende Rolle. Da schon der britische Gründer von Blood & Honour, Ian<br />

Stuart Donaldson in Musik das ideale Mittel sah, um Jugendlichen den Nationalsozialismus<br />

näherzubringen (Langebach & Raabe, 2013, S. 8), verwundert es<br />

nicht, dass auch die thüringische Sektion Konzerte veranstaltete und die Szene mit<br />

Tonträgern versorgte (ebd., S. 8). Auch nach dem Verbot von Blood & Honour in<br />

Deutschland am 12. September 2000 waren seine Strukturen in Thüringen weiter<br />

aktiv. Beispielsweise steuerten thüringische RechtsRock-Bands über die Hälfte der<br />

Beiträge auf dem im Jahr 2003 erschienenen Blood & Honour-Sampler „Trotz<br />

Verbot nicht tot“ bei. Auch kam es am 25. November 2003 und am 07. März 2006<br />

zu Hausdurchsuchungen wegen des illegalen Fortführens von Blood & Honour<br />

in verschiedenen Orten in ganz Thüringen. Die Strategie, über das Medium Musik<br />

für Interessent/innen attraktiv zu sein und Zulauf für die thüringische extrem<br />

rechte Szene zu organisieren, wird in Thüringen weiterhin unter Verzicht auf allzu<br />

deutliche Hinweise auf Blood & Honour betrieben. Die Mobile Beratung in Thüringen<br />

verzeichnet seit 2007 jährlich zwischen 18 und 28 RechtsRock-Konzerte<br />

(MOBIT e.V., 2014). Darunter fallen auch Veranstaltungen im öffentlichen Raum<br />

wie die bereits oben benannten Großveranstaltungen. Sympathiebekundungen für<br />

das verbotene Netzwerk können sich Besucher des Geraer „Rock für Deutschland“<br />

zuweilen nicht verkneifen. Sie erscheinen mit T-Shirts auf denen oberächlich betrachtet<br />

das typische Blood & Honour-Logo gedruckt ist. Erst beim genauen Lesen<br />

merkt man, dass dort „Bart & Homer“ zu lesen ist. Auch ein vom Veranstalter,<br />

dem NPD-Kreisverband Gera, eingesetzter Ordner trug im Jahr 2012 dieses T-<br />

Shirt (siehe Abbildung 4).


Nicht vom Himmel gefallen<br />

207<br />

Abbildung 4 Zwölf Jahre nach dessen Verbot bekundet ein Ordner beim neonazistischen<br />

sogenannten „Rock für Deutschland“ in Gera seine Sympathie für<br />

das international agierende Musik-Netzwerk „Blood & Honour – Division<br />

Deutschland“. (Bildrechte: MOBIT)<br />

4 Fazit<br />

Zusammengefasst lässt sich belegen, dass:<br />

• die Täter/innen des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds gemeinsam<br />

mit wichtigen Szene-Funktionären in der thüringischen, neonazistischen<br />

Kameradschaftsszene der 1990er Jahre, im Thüringer Heimatschutz,<br />

sozialisiert und radikalisiert worden sind,<br />

• Waffen, Sprengstoffe, Wehrsport, Übergriffe und Mordanschläge fester Bestandteil<br />

des extrem rechten Aktionsrepertoires sind,<br />

• extrem rechte Ideologie in ihrer Konsequenz eine militante, terroristische und<br />

eliminatorische Komponente aufweist,<br />

• Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt direkte Verbindungen zu Blood & Honour-<br />

Strukturen hatten,<br />

• in Strategiepapieren bzw. -diskussionen von Blood & Honour die Handlungsweise<br />

des NSU als „Führerloser Widerstand“ vorskizziert war.


208 Stefan Heerdegen<br />

Das terroristische Vorgehen des NSU kann bei eingehender Betrachtung der<br />

thüringischen extrem rechten Szene nicht überraschen. In der Bereitschaft zum<br />

brutalem Agieren statt zu Argumentieren liegt der Unterschied zwischen der<br />

NSU-Zelle, bestehend aus Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos, und der übrigen neonazistischen<br />

Szene. Der Beitrag hat nachgewiesen, dass dafür notwendige inhaltliche<br />

und strukturelle Voraussetzungen nicht nur zur Zeit des Untertauchens des<br />

Jenaer NSU-Trios vorhanden waren, sondern seither auch unabhängig von Beziehungen<br />

zum Nationalsozialistischen Untergrund in Thüringen weiterhin gegeben<br />

sind. Es existiert ein mörderisches Potential, bestehend aus der Ablehnung von<br />

universeller Menschenwürde und Demokratie, ideologisierten, (potentiellen) Täter/innen,<br />

die physische Gewalt ausüben, dem Verschaffen und vorrätig halten von<br />

Tatwaffen, einem funktionsfähigen Netzwerk und einer nicht erst seit dem NSU<br />

erprobten Strategie.


Nicht vom Himmel gefallen<br />

209<br />

Literatur<br />

apabiz. Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum e.V. (2000). Pressemitteilung:<br />

Das neonazistische Netzwerk Blood & Honour ruft öffentlich zum bewaffneten Kampf<br />

auf! Hamburger Polizei leistet Beihilfe zur Organisierung der militanten Neonaziszene!:<br />

http://www.apabiz.de/publikation/pressemitteilungen/000807_BloodAndHonour.htm,<br />

Zugriff am 10. Dezember 2014.<br />

Beam, L. (1983). Leaderless Resistance : Zugriff am 10. Dezember 2014 http://www-personal.umich.edu/~satran/PoliSci%2006/Wk%2011-1%20Terrorism%20Networks%20<br />

leaderless-resistance.pdf.<br />

Botsch, G. (2012). Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute.<br />

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG).<br />

Deutscher Bundestag (2013). Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses<br />

nach Artikel 44 des Grundgesetzes. Drucksache 17/14600.<br />

ezra – Mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. (2014).<br />

Chronik – Rechte Gewalt in Thüringen – 2014: Zugriff am 05.Dezember 2014 http://<br />

www.ezra.de/chronik/.<br />

ezra – Mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. (2013).<br />

Pressemitteilung: Opferberatung registriert Todesopfer rechter Gewalt in Thüringen:<br />

„Mord erfolgte aus rechter Überzeugung“: Zugriff am 05.Dezember 2014 http://www.<br />

ezra.de/aktuell/artikel/?tx_ttnews[tt_news]=6920&cHash=5f226f4f2ce7369eba159c416<br />

37653b7.<br />

Gamma Redaktion Leipzig. (2012). Vom Thüringer Heimatschutz zum Freien Netz. Militante<br />

Neonazi-Strukturen in Thüringen und Sachsen. In Ramelow (Hrsg.) Made in Thüringen?<br />

Nazi-Terror und Verfassungsschutz-Skandal. Hamburg: VSA-Verlag.<br />

Gensing, P. (2011). Der braune Strippenzieher . Tagesschau.de: Zugriff am 11. Dezember<br />

2014 http://www.tagesschau.de/inland/rechtsextremerterror102.html.<br />

Gensing, P. (2012). Terror von Rechts. Die Nazi-Morde und das Versagen der Politik. Berlin:<br />

Rotbuch Verlag.<br />

Grumke, Th. (2001). <strong>Rechtsextremismus</strong> in den USA. Opladen: Verlag Leske + Budrich.<br />

Hammer, M. (2000). The Way Forward. : Zugriff am 10. Dezember 2014 https://archive.org/<br />

details/TheWayForword_369.<br />

Hammer, M. (2002). Field Manual. : Zugriff am 10. Dezember 2014 https://archive.org/<br />

stream/BloodAndHonourFieldMaual/BhFieldManual#page/n27/mode/2up.<br />

Haskala. Jugend- und Wahlkreisbüro Katharina König (MdL). (2010). Blood and Honour<br />

in Thüringen: Marcel „Riese“ Degner alias Quelle 2100. Zugriff am 12. Dezember 2014<br />

https://haskala.de/2012/09/10/blood-and-honour-thuringen-marcel-riese-degner-aliasquelle-2100/.<br />

Heitmeyer, W. (1993). Die Bielefelder <strong>Rechtsextremismus</strong>-Studie. Erste Langzeituntersuchung<br />

zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher. Weinheim und München:<br />

Juventa Verlag.<br />

Kölnische Rundschau (26.03.2014). „Ich will das nicht hören“. Opfer des Nagelbombenanschlags.<br />

[Online-Ausgabe]. URL: http://www.rundschau-online.de/koeln/opfer-desnagelbombenanschlags--ich-will-das-nicht-hoeren-,15185496,26667750.html.<br />

(Zugriff<br />

am 26. November 2014)


210 Stefan Heerdegen<br />

König, K. & Haushold, D. (2014). Bericht des Untersuchungsausschusses 5/1 „Rechtsterrorismus<br />

und Behördenhandeln“. Sondervotum der Abgeordneten König und Haushold<br />

(Fraktion DIE LINKE). Drucksache 5/8080.<br />

Langebach, M. & Raabe, J. (2013). RechtsRock. Made in Thüringen. Erfurt. Landeszentrale<br />

für politische Bildung.<br />

Maegerle, A. (2014). Ewiggestriger Hetzer und Rädelsführer. Auf Blick nach rechts. Zugriff<br />

am 10. Dezember 2014 http://www.bnr.de/artikel/hintergrund/ewiggestriger-hetzer-undraedelsfuehrer.<br />

MOBIT e.V. (2014). Chronik der RechtsRock-Konzerte und rechtsextremen Liederabende<br />

in Thüringen. Zugriff am 12. Dezember 2014 http://www.mobit.org/Chronik.htm<br />

Opfer rechter Gewalt seit 1990. (2014). Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland seit<br />

1990: Zugriff am 05.Dezember 2014 http://www2.opfer-rechter-gewalt.de/wp-content/<br />

uploads/2012/06/opferinfo.pdf.<br />

Oppermann, Th., Hartmann, M. & Högl, E. (2012). SPD-Eckpunkte. Den Verfassungsschutz<br />

t machen für den Schutz unserer Demokratie. Zugriff am 26. November 2014<br />

http://www.spdfraktion.de/sites/default/les/spd-reform-sicherheitsarchitektur-langfassung-20120820.pdf.<br />

Pfahl-Traughber, A. (2012). Der NSU und das Konzept „führerloser Widerstand“. Blick<br />

nach rechts: Zugriff am 10. Dezember 2014 http://www.bnr.de/artikel/hintergrund/dernsu-und-das-konzept-fuehrerloser-widerstand.<br />

Pöhner, A. (2010). Martin Wiese muss für sieben Jahre hinter Gitter. Süddeutsche.de. Zugriff<br />

am 11.12.2014 http://www.sueddeutsche.de/muenchen/neonazi-prozess-martinwiese-muss-fuer-sieben-jahre-hinter-gitter-1.754628.<br />

Röpke, A. (2012). Im Fanatischen Netz. Blood & Honour, Hammerskins und Combat18 –<br />

Spuren und ideologische Vorbilder in Europa. In Ramelow (Hrsg.) Made in Thüringen?.<br />

Nazi-Terror und Verfassungsschutz-Skandal. Hamburg: VSA-Verlag.<br />

Röpke, A. (2005) „Fest der Völkchen“ . Blick nach rechts: Zugriff am 11. Dezember 2014<br />

http://www.bnr.de/content/quotfest-der-voelkchenquot.<br />

Röpke, A. (2004). Bomben, Waffen, Terror in der Kameradschaftsszene In Röpke, A. &<br />

Speit, A. Braune Kameradschaften. Die neuen Netzwerke der militanten Neonazis. Berlin:<br />

Ch. Links Verlag.<br />

Sanders, E., Stützel, K. & Tymanova, K. (2014). Taten und Worte – Neonazistische „Blaupausen“<br />

des NSU. Zugriff am 10. Dezember 2014 http://www.nsu-watch.info/2014/10/<br />

taten-und-worte-neonazistische-blaupausen-des-nsu/.<br />

Schäfer, G., Wache, V. & Meiborg. (2012) Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden<br />

und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des „Zwickauer Trios“.<br />

Spiegel Online. (2012). Extremismus: Der Rechtsausleger: Zugriff am 08. Dezember 2014<br />

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/extremismus-der-rechtsausleger-a-818714.html.<br />

Thomas, M. (2000). Mit Blut und Ehre ist jetzt Schluss. TAZ: Zugriff am 10. Dezember 2014<br />

http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2000/09/15/a0139.<br />

Thüringer Landtag. (2014). Bericht des Untersuchungsausschusses 5/1 „Rechtsterrorismus<br />

und Behördenhandeln“. Drucksache 5/8080.<br />

Thüringer Landtag. (2012). Kleine Anfrage der Abgeordneten Renner (DIE LINKE) zu<br />

Sprengstofffunden bei Rechtsextremen in Thüringen. Drucksache 5/4246.<br />

Thüringer Landtag. (2001). Kleine Anfrage des Abgeordneten Dittes (PDS) zu <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Sprengstofffunden bzw. -anschlägen in Thüringen. Drucksache 3/1383.


Nicht vom Himmel gefallen<br />

211<br />

Wellsow, P. (2012). Unter den Augen des Staates. Der Nationalsozialistische Untergrund.<br />

In Ramelow (Hrsg.) Made in Thüringen? Nazi-Terror und Verfassungsschutz-Skandal.<br />

Hamburg: VSA-Verlag.


Uwe Böhnhardt<br />

Rekonstruktion einer kriminellen Karriere<br />

Heike Würstl<br />

1 Einleitung<br />

Ziel der Abhandlung ist es, den Subjektwerdungsprozess von Uwe Böhnhardt,<br />

einem der Kernmitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), näher<br />

zu beleuchten. Wie der Aufsatztitel erkennen lässt, sind seine rechtsextremistischen<br />

Gewalttaten in eine kriminelle Karriere eingebettet, die sich nicht ausschließlich<br />

auf den Phänomenbereich der politisch motivierten Straftaten beschränkt. Böhnhardt<br />

steigt mit Straftaten, die einen geringen Grad an Sittlichkeitsverletzung implizieren<br />

(Diebstähle, Einbrüche), in die Kriminalität ein. Der Schweregrad an<br />

sittlicher Verwer ichkeit steigert sich zunehmend und gipfelt schließlich in der<br />

Ermordung von mindestens zehn Menschen.<br />

Der Werdegang Böhnhardts fügt sich in die Ergebnisse lebenslauforientierter<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung ein, die eine hohe Af nität zwischen den Lebensläufen<br />

von Rechtsextremisten und Kriminellen, die mit unpolitischen Straftaten<br />

auffallen, herausgefunden haben (vgl. z. B. Kraus & Mathes, 2010, S. 91) und die in<br />

den Daten bestätigt fanden, dass fremdenfeindliche Gewalt zuerst Gewalt und erst<br />

dann Fremdenfeindlichkeit ist (vgl. ebd., S. 92). Willems konstatiert beispielsweise<br />

für das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit: „Die durchgehende öffentliche Thematisierung<br />

der fremdenfeindlichen Jugend-Gewalt als eine rechtsextremistische,<br />

neonazistische oder faschistische Gewalt wird (...) durch die empirischen Daten<br />

keineswegs gedeckt.“ (Willems, 1993, S. 99). Krüger kommt in ihrer biograschen<br />

Untersuchung zu dem Ergebnis, dass „vermeintlich rechte Gewalttaten entweder<br />

gar nicht oder nur teilweise durch rechte Einstellungen motiviert werden“ (Krüger,<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


214 Heike Würstl<br />

2008, S. 16). Vielmehr seien es genutzte Gelegenheiten, um persönliche, soziale<br />

und emotionale Bedürfnisse zu befriedigen.<br />

An Hand der objektiven Lebensdaten von Uwe Böhnhardt werde ich aufzeigen,<br />

welche biogra schen Entscheidungen ihm innerhalb seines sozialen und historischen<br />

Kontexts objektiv, d. h. unabhängig von deren subjektiv-intentionaler Repräsentanz,<br />

zur Verfügung standen, welche er tatsächlich realisierte bzw. nicht realisierte<br />

und welche objektive Motivation hinter seinen Entscheidungen gestanden<br />

haben könnte. 1<br />

Theoretisches Fundament meiner Darlegung bildet das Individuierungskonzept<br />

der strukturalen Soziologie (vgl. Wagner, 2004a, 2004b; Oevermann, 1979, 2009).<br />

Danach werden an das Subjekt zunächst von außen im Rahmen der sozialisatorischen<br />

Interaktion Strukturen herangetragen, die es ihm zunehmend ermöglichen,<br />

sich selbst zu konstituieren und Strukturen selbstständig zu deuten. Im Verlauf<br />

der Subjektwerdung muss es vier ontogenetisch bedingte Ablösungskrisen (Geburt,<br />

Mutter-Kind-Bindung, ödipale Krise und Adoleszenz) meistern. Der Grad,<br />

in dem dies gelingt, setzt Möglichkeiten und Grenzen für zukünftige biograsche<br />

Entscheidungen.<br />

Beginnen werde ich mit der Erörterung der familiären und historischen Kontextbedingungen.<br />

Sie sind nicht im Sinne einer Entscheidungsdetermination zu<br />

verstehen. Vielmehr stecken sie den Entscheidungsraum ab, indem sie Handlungsalternativen<br />

eröffnen oder beschränken.<br />

2 Generation, Herkunftsmilieu, Herkunftsfamilie<br />

Uwe Böhnhardt wird 1977 in Jena (DDR) geboren. Sein Vater, Jahrgang 1944,<br />

ist Ingenieur. Seine Mutter, 1948 geboren, erlernt den Beruf einer Unterstufenlehrerin<br />

und arbeitet im Bereich der Sonderschulpädagogik. Uwe Böhnhardt hat<br />

zwei ältere Geschwister. Jan, der älteste Bruder, wird 1969 geboren, Peter, der<br />

zweitälteste Bruder, 1971.<br />

Uwe Böhnhardt gehört einer Generation an, deren Angehörige zum Zeitpunkt<br />

ihrer Adoleszenz, die sie etwa zwischen 1992 und 1996 erleben, von den Erwachsenen<br />

sich selbst überlassen bleiben. Eltern, Lehrer und staatliche Akteure<br />

benden sich infolge der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft in einer<br />

Orientierungslosigkeit. Sie üben ihre Korrektivfunktion im Falle adoleszenzbedingter<br />

Normenüberschreitung nur eingeschränkt aus, weil sie selbst nicht wissen,<br />

1 Eine Darstellung der vollständigen Fallrekonstruktion des Subjektbildungsprozesses<br />

von Uwe Böhnhardt findet sich in Würstl (2015).


Uwe Böhnhardt<br />

215<br />

was in der neuen Gesellschaft als richtig oder falsch gilt. Die Identitätsentwürfe<br />

der heranwachsenden Generation gestalten sich infolgedessen diffus. Während<br />

die sogenannte Wendegeneration (1970-1975 geboren) ihre Kindheit und Jugend<br />

vollständig in der DDR erlebt, was größtenteils noch eine Identizierung als DDR-<br />

Bürger zur Folge hat, ist die Phase der primären Sozialisation bei der hier in Frage<br />

stehenden Generation fragmentiert. Jana Hensel, Jahrgang 1976, beschreibt sie in<br />

ihrem Roman „Zonenkinder“ als „zwittrige Ostwestkinder“, die im Verschwinden<br />

aufwuchsen, die weder Ostdeutsche noch Westdeutsche waren und deren Leben<br />

aus Abschieden und Brüchen, aber nicht aus Übergängen, bestand (Hensel, 2003,<br />

S. 74, 160). Die Generation Böhnhardts ist zu jung, um in das sozialistische System<br />

verstrickt gewesen zu sein und zu alt, um nichts mehr mit der DDR zu tun gehabt<br />

zu haben. Sie bendet sich damit in einer ähnlichen Lage wie ihre Großeltern nach<br />

dem Krieg, die den Nationalsozialismus zwar miterlebten, aber zu jung waren,<br />

um darin verwickelt gewesen zu sein (vgl. Bürgel, 2006, S. 171). Die sogenannte<br />

Flakhelfer-Generation kennzeichnet einen Habitus des äußerlichen Mitmachens<br />

bei innerer Gleichgültigkeit. Diese Indifferenz gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen<br />

kennzeichnet auch die Generation Böhnhardts. Sie erlebt die Ent- und<br />

Abwertung ostdeutscher Biogra en, die Deklassierung der Ostdeutschen zu Bürgern<br />

zweiter Klasse und den darauffolgenden Rückzug ihrer Eltern in eine romantisierte<br />

Ostalgie. Dieses einschneidende Erlebnis lässt ihnen eine pessimistische<br />

Grundstimmung zu eigen werden und erschwert ihnen die Ablösung aus der<br />

Herkunftsfamilie. Die Kinder der Einheitsverlierer rebellieren nicht gegen ihre<br />

niedergeschlagenen Eltern, sondern solidarisieren sich mit ihnen. Ihr Generationshabitus<br />

der Indifferenz bedeutet für die Eröffnung und Schließung zukünftiger<br />

Handlungsräume eine schwache pichtenethische und solidarische Bindung an die<br />

staatsbürgerliche Gemeinschaft.<br />

Die Eltern von Böhnhardt sind Bildungsaufsteiger ins sozialistische Establishment.<br />

Die Mutter gehört als Lehrerin dem (bürgerlich-) humanistischen Untermilieu<br />

an, welches durch Tugenden der protestantischen Ethik, durch gesellschaftliche<br />

Verantwortungsübernahme, Familien- und Traditionsbezogenheit und eine<br />

stark ausgeprägte sozialistische Grundhaltung gekennzeichnet ist (vgl. Hofmann<br />

2010, S. 11). Der Vater ist dem technokratischen Untermilieu angehörig. Efzienzund<br />

Erfolgsorientierung, Streben nach Perfektion und ein technokratisches Weltbild<br />

kennzeichnen dieses Submilieu (vgl. ebd.). Als Angehörige der sozialistischen<br />

Funktionselite fühlen sich die Eltern der DDR verpichtet und verhalten sich deshalb<br />

bis mindestens in die 1980er Jahre äußerlich systemloyal. Zumindest für den<br />

Vater ist aufgrund seiner noch bürgerlichen Erziehung – er verlässt die Schule<br />

noch vor der grundlegenden Schulreform 1959 – und seiner Zugehörigkeit zur<br />

Schicht der ideologisch distanzierten technischen Intelligenz von einer nach innen


216 Heike Würstl<br />

gekehrten systemskeptischen Haltung auszugehen. Nach der „Wende“ bricht das<br />

Herkunftsmilieu der Eltern weg. Damit entfällt für Uwe Böhnhardt die privilegierte<br />

Chance, im Milieu der sozialistischen Elite zu verbleiben. Das sozialistische<br />

Establishment rekrutierte sich ab Mitte/Ende der 1960er Jahre zunehmend aus<br />

sich selbst (vgl. Geißler, 2008, S. 289).<br />

Als Letztgeborenen kommt Uwe Böhnhardt in seiner Herkunftsfamilie die<br />

Position des Benjamins zu, der von hohen Erwartungen der Eltern weitgehend verschont<br />

bleibt und verwöhnt wird. Aufgrund des großen Altersabstands zu seinen<br />

Brüdern wächst er eher als ein Einzelkind auf. Die Geschwister sind für ihn weder<br />

Spielkameraden noch Konkurrenten, sondern tendenziell Identikations- und Bezugspersonen.<br />

3 Lebenslauf<br />

3.1 Kindheit<br />

Uwe Böhnhardt wird 1984 im Alter von sechs Jahren eingeschult. 1988 stirbt der<br />

mittlere Sohn von Familie Böhnhardt unter vermutlich ungeklärten Todesumständen.<br />

Böhnhardt bleibt in der siebenten Klasse sitzen und muss sie wiederholen.<br />

Ab 1992, da ist er 14 Jahre alt, fällt er zunächst mit kleinkriminellen Handlungen<br />

auf. Er beginnt die Schule zu schwänzen. Im Frühjahr 1992 kommt er für wenige<br />

Wochen ins Kinderheim, wird aufgrund fortgesetzter Devianz jedoch wieder nach<br />

Hause geschickt. Nachdem er in der achten Klasse erneut sitzen bleibt, wechselt er<br />

auf eine Lernförderschule. 1993 kommt er zum ersten Mal in Untersuchungshaft.<br />

Bis zum Alter von zehn Jahren verläuft das Leben von Böhnhardt unauffällig.<br />

Er wird altersgerecht mit sechs Jahren eingeschult, so dass von einem normalen<br />

Entwicklungsstand auszugehen ist. Die Polytechnische Oberschule (POS) stellt<br />

im zweigliedrigen DDR-Schulsystem den Normalfall dar. Die beiden wichtigsten<br />

Charakteristika dieser Schulform sind eine starke ideologische Erziehung im<br />

Sinne eines Freund-Feind-Schemas zwischen „sozialistischen Bruderstaaten“ und<br />

„kapitalistischen Klassenfeinden“. Das zweite Merkmal ist die Fokussierung auf<br />

naturwissenschaftliche Lehrinhalte, die für gut ausgebildete Arbeitskräfte im<br />

Arbeiter- und Bauernstaat sorgt. Mit dem Besuch der POS stehen Böhnhardt in<br />

der DDR alle Bildungswege offen.<br />

1988 gibt es mit dem Tod seines Bruders einen gravierenden Einschnitt in seinem<br />

Leben. Peter Böhnhardt, der mittlere der drei Geschwister, wird morgens tot<br />

vor der Haustür der elterlichen Wohnung aufgefunden. Die genauen Todesumstände<br />

gelten als nicht aufgeklärt. Todesursache ist eine Unterkühlung. Entscheidend


Uwe Böhnhardt<br />

217<br />

für die Persönlichkeitswerdung ist nicht der Tod an sich, sondern die subjektive<br />

Repräsentanz dieses Ereignisses. Da die Sinninterpretationskompetenz – d. h. die<br />

Fähigkeit, Ereignisse adäquat zu erfassen und zu deuten – von Uwe Böhnhardt<br />

im Alter von zehn, fast elf Jahren noch nicht vollständig ausgebildet ist, bedarf er<br />

der Deutungs- und Krisenlösungsunterstützung, vornehmlich seiner Eltern. Die<br />

ungeklärten Todesumstände, die eine vollständige Verarbeitung des Ereignisses<br />

innerhalb der Familie verhindern, lassen die Hypothese zu, dass der Tod nicht<br />

adäquat bewältigt wurde und dass die sozialisatorischen Interaktionsbedingungen<br />

spätestens ab diesem Zeitpunkt gestört sind.<br />

Die Eltern artikulieren den Tod heute als vermeintlichen Sturz ihres Sohnes<br />

von der Lobdeburg, einer Burgruine am Stadtrand Jenas. Auf ihr soll er mit Freunden<br />

umhergeklettert sein. Auch eine Fremdeinwirkung schließen sie nicht aus. Sie<br />

berichten gegenüber einer Zeitung, ihr Sohn sei mit vielfachen Knochenbrüchen<br />

und stark alkoholisiert aufgefunden worden. Freunde sollen ihn nach dem Sturz<br />

von der Lobdeburg nach Hause geschafft und vor ihrem Wohnhaus abgelegt haben.<br />

An der Artikulation des Ereignisses durch die Eltern erscheint zweifelhaft,<br />

wie und warum der im Sterben liegende Sohn durch seine Freunde transportiert<br />

wurde. Man muss sich nur einmal vorstellen, dass ein schwerstverletzter Jugendlicher<br />

– sagen wir mal, er wog 65-70 kg – durch seine Freunde mindestens einen<br />

halben Kilometer durch ein Wohngebiet getragen wurde, ohne dass sie irgendwer<br />

sah. Es war in der DDR auch nicht so, dass jeder 18-Jährige einen Pkw besaß, mit<br />

dem der Schwerverletzte hätte gefahren werden können. Ein Transport mit einem<br />

Moped erscheint nahezu unmöglich. Genauso unbeantwortet ist die Frage nach<br />

dem Motiv der Ortsverlagerung. Warum haben seine Freunde nicht anonym den<br />

Notarzt gerufen oder ihn in unmittelbarer Nähe zur Lobdeburg an eine gut einsehbare<br />

Stelle gelegt, wo er hätte gefunden werden können? Letztendlich ist eine<br />

empirisch fundierte abschließende Bewertung der Todesumstände nicht möglich,<br />

weil die polizeilichen Akten für die Analyse nicht zur Verfügung stehen, vermutlich<br />

existieren sie auch gar nicht mehr. Jedenfalls wäre es in der Kriminalgeschichte<br />

nicht der erste Fall, indem Angehörige versuchen, die wahren Todesumstände zu<br />

verheimlichen. Das kann aus den unterschiedlichsten Motiven geschehen: Scham,<br />

moralische Mitschuld oder nanzielle Motive – um nur einige zu nennen.<br />

Egal, ob die Eltern die wahren Todesumstände kannten oder ahnten oder ob die<br />

Todesumstände tatsächlich ungeklärt blieben, in jedem Fall wird die traumatische<br />

Verarbeitungskrise der Familie durch die Art und Weise des Todes verschärft. Der<br />

Hang des technokratischen Milieus zum Pragmatischen, durch den Vater vertreten,<br />

und die nahezu protestantische Ethik des bürgerlich-humanistischen Milieus,<br />

welches die Mutter verkörpert, offerieren den Eltern eine inadäquate Bewältigungsstrategie<br />

der Art „Augen zu und durch“. Sie werden mit starkem Engagement


218 Heike Würstl<br />

ihren beruichen und gesellschaftlichen P ichten nachkommen und der gemeinsamen<br />

emotionalen Verarbeitung des Traumas innerhalb der Familie wenig Raum<br />

geben. Die Interaktion wird vom Schweigen der Eltern über den Tod geprägt sein.<br />

Es ist zu erwarten, dass bei Uwe Böhnhardt Sozialisationsde zite infolge einer<br />

inadäquaten Bewältigung auftreten werden.<br />

Etwa zwei Jahre nach dem Tod des Bruders gibt es eine erste biograsche Auffälligkeit.<br />

Uwe Böhnhardt bleibt in der sechsten Klasse sitzen. Dieses Ereignis<br />

kann primär nicht mit einer Minderung in der Intelligenzleistung erklärt werden,<br />

sondern deutet eher auf Probleme in der Subjektwerdung hin. Böhnhardts altersgerechte<br />

Einschulung und bis dato fehlende Schwierigkeiten mit dem Erreichen<br />

des jeweiligen Klassenziels lassen keine kognitiven Dezite erkennen. Zwei Hypothesen<br />

für die Motivation des schulischen Einbruchs liegen nahe. Er könnte Folge<br />

der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft und der daraus resultierenden<br />

Verunsicherung der Eltern, die sich auf Böhnhardt ausgewirkt haben könnte, sein.<br />

Dagegen spricht die durchgängige Beschäftigung der Eltern während der „Wende“.<br />

Es sind keine biogra schen Brüche in ihren Lebensläufen erkennbar. Der Vater<br />

wird im neuen Gesellschaftssystem in seinem Berufsprestige und seinen Einkommensmöglichkeiten<br />

eher noch aufgewertet. Eine zweite Hypothese würde dem bisherigen<br />

Rekonstruktionsverlauf folgen. Das Sitzenbleiben könnte durch das prognostizierte<br />

Sozialisationsdezit, welches aus dem unbewältigten Tod des Bruders<br />

innerhalb der Familie resultiert, motiviert sein. Das schulische Scheitern markiert<br />

dann die individuelle Krise, in der sich Böhnhardt be ndet und die er wegen unzureichender<br />

Befähigung zu autonomem Handeln nicht selbständig lösen kann. Er<br />

verweigert sich der schulischen Leistungsethik und damit dem beruichen Bewährungsfeld<br />

der Mutter. Damit grenzt er sich einerseits von ihr ab, sichert sich aber<br />

zugleich ihre Zuwendung und konterkariert damit seinen Ablösungswunsch. Dieser<br />

Ablösungswunsch ist Folge der vom Tod des Bruders belasteten pathologischen<br />

familialen Interaktionsstruktur, aus der er ausbrechen will, und dem Voranschreiten<br />

seiner Ontogenese. Kurz: Böhnhardt will raus aus seiner Familie, vornehmlich<br />

aus seiner Mutterbindung, kann es aber nicht, weil ihm die Autonomiebefähigung<br />

dafür fehlt.<br />

An dieser Stelle des Lebenslaufs stellt sich die Frage, ob die familiale Interaktion<br />

nicht schon vor dem Tod des Bruders gestört war und damit neben den<br />

ungeklärten Todesumständen für ein Misslingen der Bewältigung des Traumas<br />

sorgte. Der Lebenslauf von Uwe Böhnhardt bietet dafür keine Anhaltspunkte. Es<br />

gibt jedoch einige Indizien in den familialen Kontextdaten, die dahingehend gedeutet<br />

werden können. Zum ersten besteht eine Hypothese hinsichtlich des großen<br />

Altersabstands von Böhnhardt zu seinen Geschwistern (6 Jahre) in ehelichen Problemen.<br />

Dem dritten Kind wäre dann die Funktion zugekommen, die Beziehung der


Uwe Böhnhardt<br />

219<br />

Eltern durch die gemeinsame Erfahrung der P ege eines Kindes zu verbessern.<br />

Zum zweiten würde der Tod von Peter Böhnhardt, wenn es ein Selbstmord war,<br />

dafür sprechen. Ein drittes Indiz ist der frühe Auszug des ältesten Sohnes im Alter<br />

von 18 Jahren und seine gescheiterte Ehe.<br />

Im September 1991 muss Böhnhardt aufgrund der Transformation des ostdeutschen<br />

Schulsystems die Schule wechseln. Er strebt nun den Realschulabschluss<br />

an. Dass er sich für den Realschul- und gegen den Hauptschulabschluss entscheidet,<br />

bekräftigt die These, dass das Sitzenbleiben nicht durch Intelligenzminderung<br />

motiviert war, denn sonst wäre der Besuch der Hauptschule rationaler gewesen.<br />

Durch den anvisierten Realschulabschluss ist Uwe Böhnhardt im Vergleich zum<br />

vorgezeichneten DDR-Bildungsweg weder besser noch schlechter gestellt, was ihn<br />

wahrscheinlich keine besonders positive oder negative Bindung an den neuen Staat<br />

ausprägen lässt.<br />

Ab 1992 wird Böhnhardt erneut auffällig. Er schwänzt die Schule und begeht<br />

kriminelle Handlungen, die sich in ihrem Grad an Sittlichkeitsverletzung permanent<br />

steigern. Er begeht zunächst Diebstähle, bricht Fahrzeuge auf und fährt in gestohlenen<br />

Autos umher. Er prügelt sich und erpresst einen Jugendlichen. Ab 1995<br />

fällt er mit politisch rechts motivierten Straftaten auf, die vor dem Hintergrund der<br />

deutschen Geschichte als besonders verwer ich gelten. Die Delinquenz lässt sich<br />

als Ausdruck der Zuspitzung der beschriebenen Ablösungsproblematik deuten.<br />

Insbesondere in seinen Spritztouren mit den gestohlenen Fahrzeugen fernab der<br />

Heimat – er wurde beispielsweise einmal an der Ostsee oder in Österreich festgestellt<br />

– manifestiert sich sein Wunsch, aus der Familie auszubrechen. Aufgrund<br />

seines Sozialisationsdezits verfügt Böhnhardt nicht über genügend Autonomie,<br />

um sich auf sozial adäquate Art und Weise aus seiner Herkunftsfamilie zu lösen.<br />

Sein Dilemma besteht darin, dass er Autonomie nur erwerben kann, indem er sich<br />

in der eigenständigen Krisenbewältigung einübt, woran ihn jedoch die starke Bindung,<br />

insbesondere an seine Mutter, hindert. Die zunehmende Aggressivität in<br />

seinen Handlungen kann als Folge seiner Verunsicherung und Frustration über<br />

seine Ablösungsschwierigkeiten gedeutet werden. Die überwiegend gemeinschaftliche<br />

Tatbegehung lässt darauf schließen, dass sich Böhnhardt einer delinquenten<br />

peer-group angeschlossen hat.<br />

Im April 1992 kommt er für wenige Wochen in ein Kinderheim. Dieses Lebensdatum<br />

offenbart das endgültige Scheitern der familialen Sozialisation. Böhnhardt<br />

wird von der Mutter ins Heim abgeschoben. Er wehrt sich dagegen, indem er fortgesetzt<br />

die Schule schwänzt und weiterhin Straftaten begeht. Damit zeigt er, dass<br />

er die Heimeinweisung auch subjektiv als Abschieben interpretiert. Er hätte die<br />

Chance gehabt, im Heim seine eingeschränkte Autonomie zu erweitern und seine<br />

Sozialisationsdezite aufzuholen. Er wird jedoch aufgrund der devianten Vor-


220 Heike Würstl<br />

kommnisse aus dem Heim verwiesen und kehrt in die Familie zurück. Nicht nur<br />

die Familie, sondern auch die staatliche Jugendhilfe, die nach alternativen Betreuungsangeboten<br />

hätte suchen können bzw. müssen, scheitert. Spätestens ab diesem<br />

Zeitpunkt kann von einem endgültigen Bruch mit den Eltern, vor allem mit der<br />

Mutter, ausgegangen werden.<br />

Ende des Schuljahres 1991/92 bleibt Böhnhardt erneut sitzen. Er wechselt daraufhin<br />

an eine Lernförderschule und wird ein weiteres Mal durch die Mutter abgeschoben<br />

und stigmatisiert. Die Mutter nimmt ihn nun unter die Fittiche ihres<br />

Berufsstandes (Sonderpädagogen) und bindet ihn damit noch stärker an sich. Sie<br />

macht ihren Sohn zum pädagogischen Fall, worin sich einmal mehr ihr Scheitern<br />

als Mutter, aber auch als Pädagogin zeigt. Sie bringt ihrem Sohn gegenüber zum<br />

Ausdruck, dass sie ihm nicht zutraut, sich auf einer Regelschule zu behaupten, was<br />

der Entstehung von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen abträglich ist und seine<br />

Autonomieentwicklung weiter behindert. Böhnhardt reproduziert seine Fallstruktur,<br />

indem er sich auch dieses Mal gegen das Abschieben in Form von Delinquenz<br />

zur Wehr setzt. Er bricht in seine Schule ein und wird erwischt. Daraufhin wird<br />

er von der Schule verwiesen und kommt kurz darauf zum ersten Mal in Untersuchungshaft.<br />

Auch hier scheitern die staatlichen Behörden an ihm und geben ihn auf. Der Jugendvollzug<br />

überstellt ihn in den Erwachsenenvollzug, weil er während der Untersuchungshaft<br />

erneut kriminelle Handlungen begeht (bastelt an einer Rohrbombe<br />

mit und ist an der Misshandlung eines Mithäftlings beteiligt).<br />

Zwischenfazit: Böhnhardts Chancen auf eine adäquate Bewältigung seines Ablösungsproblems<br />

und der beginnenden Adoleszenzkrise sind als äußerst ungünstig<br />

zu bewerten. Ihm stehen lediglich informelle, in seinem Fall deviante peer-group-<br />

Cliquen unterstützend zur Seite. Seine Eltern sind Teil seines Problems und fallen<br />

somit als Bewältigungsressource aus. Die staatlichen Behörden der Jugendhilfe<br />

und des Jugendvollzugs haben ihn aufgegeben, das Herkunftsmilieu des sozialistischen<br />

Establishments, das ihm Solidarität hätte gewähren können, existiert<br />

nicht mehr. Ihm bekannte formale Jugendorganisationen gibt es nach 1990 nicht<br />

mehr und die in Westdeutschland typische Vereinsstruktur hat sich in Ostdeutschland<br />

noch nicht etablieren können. Böhnhardt ist in dieser wichtigen Lebensphase<br />

hochgradig desintegriert und ist in seiner Entwicklungskrise, zu deren adäquaten<br />

Bewältigung ihm infolge seiner Sozialisationsde zite die Befähigung fehlt, auf<br />

sich allein gestellt. Infolge seiner fragmentierten Schulkarriere und seiner Stigmatisierung<br />

als Sitzenbleiber und Förderschüler wird er kaum Anschluss an normale<br />

peer-groups im Rahmen der Schule nden. Was bleibt, sind in erster Linie Wohngebietscliquen,<br />

die in Jena-Lobeda, dem Wohnort von Böhnhardt, zu Beginn der<br />

1990er Jahre vor allem rechtsorientiert sind, nachdem sie aus dem Stadtzentrum in


Uwe Böhnhardt<br />

221<br />

die Randgebiete verdrängt wurden (vgl. Thüringer Landtag, 2013, S. 181). Im Falle<br />

Böhnhardt kommen auch Knastgruppierungen in Frage. Jaschke u. a. führen aus,<br />

dass der Anteil an Rechtsextremen zwischen 1993 und 1995 in manchen Jugendhaftanstalten<br />

Ostdeutschlands 30 bis 50 % betragen hat (vgl. Jaschke, Rätsch &<br />

Winterberg, 2001, S. 101). D. h. Böhnhardt ist prädestiniert dafür, in eine rechte<br />

Jugendclique zu gelangen.<br />

Wie meistert Böhnhardt seine Adoleszenzkrise, nach deren Bewältigung die<br />

Formierung seiner Persönlichkeitsstruktur vorläu g abgeschlossen ist? Die Gesellschaft<br />

erwartet von ihm als Heranwachsenden, dass er die Sinnfrage für sich<br />

gelöst hat und sich in den drei Bereichen individuelle Leistung/Erwerbsleben, Elternschaft<br />

und Gemeinwohl/Staatsbürgerschaft bewährt. Von einer gelungenen<br />

Krisenbewältigung ist zu sprechen, wenn der Adoleszent in diesen drei Bewährungsfeldern<br />

einen Standpunkt gefunden hat, der sich von denen der Eltern absetzt<br />

und als gesellschaftlich akzeptiert gilt.<br />

3.2 Adoleszenz<br />

Im Alter von 16 Jahren (1994) geht Böhnhardt eine sozio-erotische Beziehung mit<br />

Beate Zschäpe ein. Zwischen 1993 und 1996 absolviert er ein Berufsvorbereitungsjahr<br />

(BVJ) und im Anschluss daran eine Lehrausbildung zum Hochbaufacharbeiter.<br />

Ab 1994/95 ist er Mitglied der Anti-Antifa Ostthüringen bzw. des Thüringer<br />

Heimatschutzes (THS). Er nimmt an Veranstaltungen der rechten Szene<br />

teil und begeht Propagandadelikte. Er wird verdächtigt, ab Oktober 1996 an der<br />

Herstellung von Briefbombenimitaten und Bombenattrappen beteiligt gewesen zu<br />

sein. 1997 wird er vom Wehrdienst ausgemustert.<br />

Mit 16 Jahren geht Böhnhardt seine vermutlich erste längerfristige sozio-erotische<br />

Beziehung ein, in der sich das Strukturmuster seiner Mutter-Kind-Bindung<br />

reproduziert. Seine Partnerin Beate Zschäpe ist ihm hinsichtlich ihres Alters, ihrer<br />

Reife und ihres Bildungsstandes überlegen. Sie ist wie seine Mutter stark p egerisch<br />

orientiert. Zschäpe wollte Kindergärtnerin werden, bekam aber keinen Ausbildungsplatz.<br />

Zum Zeitpunkt des Kennenlernens absolviert sie eine Lehre zur<br />

Gärtnerin. Sie entscheidet sich für einen Beruf in der Landschaftsp ege, nachdem<br />

ihr eine Ausbildung in der Kinderp ege verwehrt wurde. Es ist davon auszugehen,<br />

dass Zschäpe die Partnerschaft dominiert. Das bedeutet für Böhnhardt<br />

Einschränkungen in diesem Bewährungsfeld und eine tendenziell misslungene<br />

Partnerschaftswahl. Er sieht Beate Zschäpe möglicherweise als die Mutter, die er<br />

sich immer wünschte – die ihn akzeptiert und ihm die Geborgenheit gibt, die er bei<br />

seiner Mutter nicht nden konnte.


222 Heike Würstl<br />

Im beruichen Bewährungsfeld scheitert Böhnhardt. Es gelingt ihm nach einer<br />

Berufsausbildung zum Hochbaufacharbeiter aufgrund seines Ablösungsproblems<br />

nicht, eine längerfristige Anstellung zu nden. Er ist bis zu seinem „Abtauchen“<br />

im Jahr 1998 mit Ausnahme weniger Wochen Beschäftigungszeit arbeitslos, was<br />

auf der Folie seines Herkunftsmilieus mit Deprivationserfahrungen einhergehen<br />

muss. Mit seiner Ausmusterung vom Wehrdienst wegen psychisch bedingter<br />

Nichteignung wird er ein weiteres Mal als geistiger „Tiefieger“ stigmatisiert. Zudem<br />

wird ihm die Möglichkeit genommen, sein Faible für Sprengstoff und Waffen<br />

in eine sozial adäquate Form im Rahmen einer beruichen Beschäftigung bei der<br />

Bundeswehr zu kanalisieren.<br />

Im dritten Bewährungsfeld scheitert Böhnhardt ebenfalls. Er orientiert sich zunächst<br />

an einem negativen Sinnentwurf, indem er sich einer rechtsextremen Gruppierung<br />

(Anti-Antifa/Thüringer Heimatschutz) zuwendet und politisch motivierte<br />

Straftaten begeht. Der Sinnentwurf verfestigt sich über die Adoleszenz hinausgehend<br />

zu einem abweichenden, Sozialität zerstörenden Identitätsentwurf, der in der<br />

Gründung des NSU und der Ermordung von zehn Menschen gipfelt.<br />

4 Fazit<br />

Uwe Böhnhardt ist in allen von Anhut und Heitmeyer vorschlagen Integrationsdimensionen<br />

hochgradig desintegriert (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2007). 2 Bereits in<br />

der Schule bekommt er als Sitzenbleiber keine personale Anerkennung. Auch in<br />

seinem Beruf misslingt ihm eine seiner Herkunft adäquate soziale Positionierung.<br />

Er ndet nach seiner Berufsausbildung zum Baufacharbeiter keine längerfristige<br />

Anstellung. Auch auf institutioneller Ebene ist Böhnhardt desintegriert. Er ist als<br />

Vorbestrafter gelabelt. Die negativen Folgen von Etikettierungen sind durch die<br />

kriminalsoziologische Forschung hinreichend untersucht worden. Der Ausschluss<br />

vom Wehrdienst stellt vor dem Hintergrund der hegemonial-männlichkeitsorientierten<br />

rechtsextremen Szene objektiv, d. h. unabhängig von der subjektiv-intentionalen<br />

Bewertung des Ereignisses, ein weiteres Anerkennungsde zit dar. Auf<br />

sozio-emotionaler Ebene ist ebenfalls keine Integration erkennbar. Die emotionale<br />

2 Nach dem Desintegrationsansatz bedarf es der Einbindung der Gesellschaftsmitglieder<br />

auf drei Ebenen, um soziale Integration zu sichern. Der Einzelne muss sozialstrukturell<br />

eingebunden sein, damit er an den materiellen und kulturellen Gütern der<br />

Gesellschaft teilhaben kann. Er muss institutionell integriert sein, was ihm ein Ausgleich<br />

konfligierender Interessen ohne Verletzung seiner Integrität ermöglicht. Auf<br />

einer dritten Ebene bedarf es emotionaler Bindungen zwischen Personen, die vor einer<br />

Orientierungslosigkeit und Identitätskrise schützen (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2007).


Uwe Böhnhardt<br />

223<br />

Bindung zu den Eltern ist spätestens seit dem Abschieben ins Heim und auf die<br />

Förderschule gestört. Die pathologische Familiensituation zeigt sich darin, dass<br />

sich sämtliche Familienmitglieder auf unterschiedliche Weise der Familie entziehen.<br />

Der mittlere Bruder durch den Tod, der älteste Bruder durch einen frühen<br />

Auszug, der Vater durch häuge Wanderausüge und selbst die Mutter üchtet sich<br />

aus ihrer Mutterrolle in ihre beru iche Rolle als Lehrerin, indem sie ihren Sohn<br />

Uwe zum pädagogischen Fall macht. Das Herkunftsmilieu der sozialistischen<br />

Funktionselite existiert nicht mehr. Dass Böhnhardt aus der sozio-erotischen Beziehung<br />

zu Beate Zschäpe, die strukturell eher an eine Mutter-Kind-Beziehung als<br />

an eine gleichberechtigte Partnerschaftsbeziehung erinnert, Anerkennung erfährt,<br />

scheint zweifelhaft.<br />

Böhnhardt könnte diese Anerkennungsdezite kompensieren, wenn er über die<br />

entsprechenden individuellen und sozialen Kompetenzen verfügt. Infolge seines<br />

Sozialisationsdezits und der damit eingeschränkten Autonomie zur Lebensbewältigung<br />

kann er dies jedoch nicht. Stattdessen schiebt er die Verantwortung für<br />

sein Scheitern den Nichtdeutschstämmigen zu. Die rechtsextreme Ideologie ermöglicht<br />

ihm, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten und die Gewaltexzesse<br />

des NSU vor sich selbst zu rechtfertigen, von sich abzuspalten und nicht an einer<br />

damit verbundenen Schuldproblematik zu scheitern.


224 Heike Würstl<br />

Literatur<br />

Anhut, R. & Heitmeyer, W. (2007). Desintergrationstheorie – ein Erklärungsansatz. Universität<br />

Bielefeld: BI.research, 30, 55-58.<br />

Bürgel, T. (2006). Ausprägungen einer „prekären Jugendgeneration“ im Osten Deutschlands.<br />

Zum Generationsselbstverständnis der 20-25jährigen Deutschen im Ost-West-<br />

Vergleich. In T. Bürgel (Hrsg.), Generationen in den Umbrüchen postkommunistischer<br />

Gesellschaften. Erfahrungstransfers und Differenzen vor dem Generationenwechsel in<br />

Russland und Ostdeutschland. Universität Jena, SFB 580, Heft 20, 167-181.<br />

Geißler, R. (2008). Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung<br />

mit einer Bilanz zur Vereinigung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Heitmeyer, W.(2012): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten<br />

Jahrzehnt. In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 10. (S. 15-41) Frankfurt<br />

am Main: Suhrkamp.<br />

Hensel, J. (2003). Zonenkinder. Reinbek: Rohwolt.<br />

Hofmann, M. (2010). Soziale Strukturen in der DDR und in Ostdeutschland . URL: http://<br />

www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47261/soziale-strukturen?p=all<br />

[Zugriff am 11.Dezember 2013].<br />

Jaschke, H.-G., Rätsch, B. & Winterberg, Y. (2001). Nach Hitler. Radikale Rechte rüsten<br />

auf. München: Bertelsmann.<br />

Kraus, B. & Mathes C. (2010). Soziale Auffälligkeiten in den Biogra en „rechtsmotivierter“<br />

Straftäter. In S. Lützinger (Hrsg.), Die Sicht der Anderen. Eine qualitative Studie zu<br />

Biographien von Extremisten und Terroristen (S. 79-92). Köln: Leuchterhand,.<br />

Krüger, Chr. (2008). Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen allgemeiner Gewaltbereitschaft<br />

und rechtsextremen Einstellungen. Eine kriminologische Studie zum Phänomen<br />

jugendlicher rechter Gewaltstraftäter. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg.<br />

Oevermann, U. (1979). Sozialisationstheorie. Ansätze zu einer soziologischen Sozialisationstheorie<br />

und ihre Konsequenzen für die allgemeine soziologische Analyse. In G. Lüschen<br />

(Hrsg.), Deutsche Soziologie seit 1945. Entwicklungsrichtungen und Praxisbezug<br />

(Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 21, S. 143-168.).<br />

Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Oevermann, U. (2009). Biographie, Krisenbewältigung und Bewährung. In S. Bartmann, A.<br />

Fehlhaber, S. Kirsch & W. Lohfeld (Hrsg.), „Natürlich stört das Leben ständig“. Perspektiven<br />

auf Entwicklung und Erziehung (S. 35-55). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Thüringer Landtag (2013). Zwischenbericht des Thüringer Untersuchungsausschusses 5/1.<br />

Erfurt: Drucksache 5/5810. URL: http://www.thueringer-landtag.de/imperia/md/content/landtag/drucksachen/drs55810.pdf<br />

[Zugriff am 02.Oktober 2013].<br />

Wagner, H.-J. (2004a). Sozialität und Reziprozität. Strukturale Sozialisationstheorie I.<br />

Frankfurt am Main: Humanities Online.<br />

Wagner, H.-J. (2004b). Krise und Sozialisation. Strukturale Sozialisationstheorie II. Frankfurt<br />

am Main: Humanities Online.<br />

Willems, H. (1993). Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. Anmerkungen zum gegenwärtigen<br />

Diskurs. In H.-U. Otto & R. Merten (Hrsg.), Rechtsradikale Gewalt im vereinigten<br />

Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen Umbruch (S. 88-108). Bonn: Bundeszentrale<br />

für Politische Bildung.<br />

Würstl, H. (2015). Individuierungsverlauf eines Rechtsextremisten. Rekonstruktion der objektiven<br />

Lebensdaten von Uwe Böhnhardt. Frankfurt am Main: Peter Lang.


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

Dirk Laabs<br />

Als Uwe Mundlos im November 2011 in einem Wohnmobil in Eisenach tot aufgefunden<br />

wurde, war der Mann dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) seit<br />

über 16 Jahren ein Begriff. Anfang 1995 hatte der junge Neonazi Thomas Richter<br />

aus Sachsen-Anhalt dem Bundesamt das erste Mal von Mundlos berichtet. Richter<br />

war kurz zuvor vom BfV als Informant geworben worden und wurde als Quelle<br />

Corelli geführt. Corelli sprach ausführlich über das Treffen mit Uwe Mundlos, der<br />

zu der Zeit gerade seinen Grundwehrdienst ableistete – so geht es aus dem „Treffbericht“<br />

hervor, der vom BfV über das Gespräch angelegt worden ist. 1 Der Soldat<br />

Uwe Mundlos habe ihm von der „Kameradschaft Jena“ erzählt, der 30 Mitglieder<br />

angehörten und die sich vor allem auf „Anti-Antifa-Arbeit“ konzentriere. Das<br />

BfV legte aufgrund der Meldung von Corelli eine Akte über Uwe Mundlos an. In<br />

den folgenden Jahren sollten Mitarbeiter des BfV regelmäßig Neues von Mundlos<br />

und seinen Freunden erfahren – von anderen Informanten, von der Polizei, durch<br />

eigene Maßnahmen. Das BfV begleitete die extremistische Karriere des jungen<br />

Thüringers über Jahre, ohne ihn und seine Komplizen zu stoppen oder stoppen zu<br />

können.<br />

Uwe Mundlos, Jahrgang 1973, geboren in Jena, hatte schon zu DDR-Zeiten mit<br />

rechtsradikalen Tendenzen sympathisiert, radikalisierte sich weiter nach dem Fall<br />

1 Zu Lebzeiten hatte Thomas Richter in Verhören durch das BKA bestritten, Quelle<br />

dieser Meldung sein. Tatsächlich gibt es kaum einen V-Mann im NSU-Komplex, der<br />

Meldung über Mundlos oder andere Mitglieder des NSU nach dem 04.11.2011 bestätigt<br />

hat.<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


226 Dirk Laabs<br />

der Mauer, besuchte diverse Neonazi-Konzerte, verprügelte andere Jugendliche.<br />

Noch vor seiner Bundeswehrzeit lernte Mundlos ältere Skinheads aus Chemnitz in<br />

Sachsen kennen. Die Skinheads waren als besonders brutal bekannt, in den Jahren<br />

1991, 1992 schienen sie machen zu können, was sie wollen, sie griffen Discotheken<br />

und Flüchtlingsheime an, diverse Anzeigen verliefen im Nichts. Doch 1993 griffen<br />

Polizei und Justiz schließlich durch, einige von Mundlos‘ Freunden wurden zu<br />

mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Uwe Mundlos schickte ihnen Briefe ins Gefängnis,<br />

während er selber weiter durchs Land reiste und andere Neonazis kennenlernte<br />

– wie eben jenen Thomas Richter alias Corelli. In seinem Leben sollte Uwe<br />

Mundlos ständig auf Spitzel verschiedener Verfassungsschutzbehörden treffen, die<br />

dann über ihn berichteten.<br />

Das BfV war nicht auf dem rechten Augen blind<br />

Als Mitarbeiter des BfV 1995 zum ersten Mal von Uwe Mundlos hörten, bearbeitete<br />

das Amt die rechtsextremistische Szene in Ost-Deutschland bereits seit einigen<br />

Jahren intensiv. Mit einer kurzen Verzögerung hatte das BfV auf die rechtsextremistischen<br />

Pogrome, die Angriffe auf Migranten und Andersdenkende reagiert,<br />

die seit 1990 zum deutschen Alltag gehörten. Die für die innere Sicherheit zuständigen<br />

Akteure verstanden, dass man der organisierten, rechten Gewalt etwas<br />

entgegensetzen musste – im Westen wie im Osten. Man entschied sich für einen<br />

klassischen nachrichtendienstlichen Ansatz: das BfV gründete eine neue Abteilung,<br />

die vor allem Informanten in der Szene rekrutieren wollte, man wollte sich so<br />

einen Überblick verschaffen – wie organisiert liefen die Angriffe auf Flüchtlingsheime<br />

ab? Es ging um Aufklärung, nicht notgedrungen um die Unterbindung der<br />

Straftaten, die aus der Szene heraus begangen wurden. Die Führung des Amtes rekrutierte<br />

für diese Aufgabe in den folgenden Jahren junge Mitarbeiter – man warb<br />

sie von Landesämtern für Verfassungsschutz ab oder stellte sie neu an, bildete<br />

sie dann in Kompaktkursen aus. Darunter waren Bewerber, die gerade die Schule<br />

beendet hatten. Sehr junge und unerfahrene Agenten sollten also eine Szene aufklären,<br />

die sich dadurch auszeichnete, dass die Mitglieder, Mitläufer und Mitgerissenen<br />

ebenfalls blutjung waren – schon 15-jährige begingen schwere Straftaten,<br />

überelen Migranten, verprügelten den „politischen Gegner“ oder warfen Brand-<br />

aschen auf Flüchtlingsheime.<br />

Die Rekruten des BfV wurden von einem jungen Chef geführt, damals gerade<br />

34 Jahre alt, der vom Amt den Tarnnamen Lothar Lingen bekam. Vor dem NSU-<br />

Untersuchungsausschuss des Bundestages beschrieb Lingen seine Motivation. Vor<br />

allem die Angriffe auf Flüchtlingsheime hätten ihn aufgeschreckt.


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

227<br />

„Ich hatte also am Thema <strong>Rechtsextremismus</strong> deshalb großes Interesse, weil ich<br />

einen Beitrag damals, Anfang der 90er-Jahre, leisten wollte zur Bekämpfung des<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>. Mag sich vielleicht ein bisschen pathetisch anhören, aber die<br />

Tatsache, dass ich hier eingesetzt war in der sehr gesellschaftsrelevanten Bekämpfung<br />

des <strong>Rechtsextremismus</strong>, war mir stets auch eine große Ehre.“ 2<br />

Das BfV wurde damals von Eckart Werthebach als Präsident geführt, der das<br />

Amt wieder stärken wollte, nachdem es vor allem von Agenten des Ministeriums<br />

für Staatssicherheit der DDR unterwandert und vorgeführt worden war. Als der<br />

Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entfü hrt wurde, hatte<br />

Werthebach in einem Krisenstab des Innenministeriums gearbeitet. Ihn frustrierte<br />

damals, dass eine kleine Zahl von Terroristen die Regierungsgeschäfte nahezu<br />

zum Erliegen bringen konnte. Sein Rezept um Terrorismus in Zukunft wirkungsvoller<br />

bekämpfen zu können: mehr und bessere menschliche Quellen zu „werben“,<br />

ankiert von wirkungsvolleren technischen Abhörmethoden. Daran hielte sich<br />

auch die Abteilung von Lingen, wie er dem NSU-Ausschuss in Berlin erklärte:<br />

„Ich habe mich damals fü r den Bereich Beschaffung beworben, weil dort – natü rlich,<br />

klar – ein Referatsleiter gesucht wurde und mich auch die Aufgabe gereizt hat, eben<br />

V-Leute anzuwerben, um von ihnen Informationen zu bekommen. Das war damals<br />

fü r mich Neuland, der ich fü nf Jahre in der Auswertung gesessen habe. Wir haben<br />

damals einen sehr großen Personalkörper gehabt. Wir hatten zwei ausgeprägt große<br />

Werbungsreferate, und die Politik unserer Amtsleitung ging dahin, zunächst mal Informationen<br />

zu beschaffen, und das in der Breite, um dann später den Auswertungsbereich<br />

zu stärken. Die Abteilung 2 ist da innerhalb eines Jahres, anderthalb Jahren<br />

um das Doppelte gewachsen.“<br />

Die „Beschaffer“ in den „Werbungsreferaten“ rekrutierten die Informanten, die<br />

von V-Mann-Führern abgeschöpft wurden; am Ende der Kette standen – und stehen<br />

bis heute – die „Auswerter“, sprich die Analysten des BfV. Sie werteten über<br />

Jahre zig Berichte von Informanten aus, lasen Skinzines und die Protokolle von<br />

Abhör- und Observationsmaßnahmen, vergaben neue Aufträge zur Informationsbeschaffung.<br />

Nicht zuletzt durch das systematische Auswerten von Polizeiinformationen<br />

sammelten die BfV-Analysten einen riesigen Informationsschatz über<br />

die rechtsextremistische Szene in Deutschland an. Da das BfV immer dann zuständig<br />

ist, wenn rechte Gruppen überregional extremistisch tätig werden oder<br />

wenn sie sich zu einer terroristischen Vereinigung entwickeln könnten, bekam das<br />

2 Alle Zitate aus dem Protokoll der Aussage „Lothar Lingens“ vor dem NSU-<br />

Untersuchungsausschuss des Bundestags, 5. Juli 2012.


228 Dirk Laabs<br />

Amt von allen Landesämtern für Verfassungsschutz ebenfalls Informationen, um<br />

die potenzielle Gefahr koordiniert bekämpfen zu können. Dazu gehörten auch Berichte<br />

der V-Personen, die von den Landesämtern geworben worden waren. Die<br />

Mitarbeiter des BfV hatten so Zugriff auf eine sehr große Zahl von Spitzeln und<br />

Informanten, die auch über die späteren Mitglieder des NSU berichteten. Warum<br />

genau dieses Wissen nicht reichte oder nicht genutzt werden konnte, um den NSU<br />

zu stoppen, ist ungeklärt. Eine gängige Erklärung, „die Behörden“ seien allesamt<br />

auf dem „rechten Auge“ blind gewesen, gilt für das BfV keinesfalls.<br />

Rechter Terror wurde antizipiert und für möglich gehalten<br />

Nach spektakulären Terroranschlägen ist es nicht ungewöhnlich, dass eine Lesart<br />

von interessierter Seite lanciert wird, die in etwa besagt, „diese Tat war unvorstellbar“,<br />

„niemand konnte das voraussehen“. Nach den Anschlägen vom 11. September<br />

2001 wurde diese Sichtweise beispielsweise kolportiert, doch bald stellte sich<br />

heraus, dass die Pläne – Flugzeuge als Waffen einzusetzen – der CIA seit Jahren<br />

bekannt waren. Auch als nach der sogenannten Selbstenttarnung des NSU öffentlich<br />

wurde, wie die rechten Terroristen gemordet hatten, hieß es von staatlicher<br />

Seite vorschnell, diese Art von Terror – gezielte Morde, ausgeführt wie Hinrichtungen<br />

– habe man sich nicht vorstellen können. Diese Sicht wurde von den Kritikern<br />

der Behörden dankbar aufgegriffen – der Sicherheitsapparat habe in Gänze<br />

versagt. Insbesondere der ermittelnden Kriminalpolizei wurde von verschiedenen<br />

Seiten vorgeworfen, bei der Mordserie an Migranten nicht an rechtsradikale Täter<br />

gedacht zu haben, Nazis diese Taten nicht zugetraut zu haben. Diese Sichtweise<br />

überlagerte auch die Bewertung der Arbeit des zuständigen Inlandsgeheimdienstes,<br />

des BfV. Die Rede war davon, das BfV habe analytisch versagt, die Bedrohung<br />

nicht erkannt. Tatsächlich ist noch lange nicht abschließend geklärt, was das BfV<br />

wann über den rechten Terror im neuen Jahrtausend wusste und an welcher Stelle<br />

tatsächlich die entscheidenden Fehler gemacht wurden, wann und ob das Wissen<br />

oder die Analyse nicht weit genug reichte.<br />

Den entscheidenden Akteuren innerhalb des BfV war bewusst, dass es in den<br />

1970er Jahren bis hin zum Oktoberfestattentat 1980 diverse Anschläge durch<br />

verschiedene rechtsradikale Gruppen gegeben hat. Noch 1981 war eine rechte<br />

Terrorgruppe aktiv. Ende der 1980er Jahren kamen einige der Akteure dieser<br />

Terrorphase frei. Das BfV konnte also nicht davon ausgehen, dass es nie wieder<br />

rechtsextremistisch motivierte Anschläge in Deutschland geben würde. An diese<br />

Erkenntnis knüpfte auch die neue Generation des BfV um Lothar Lingen an, wie<br />

er vor dem Ausschuss des Bundestages erklärte.


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

229<br />

Weil rechter Terror immer vorstellbar war,<br />

war das BfV kompromisslos bei der Wahl der Mittel<br />

Eines der Haupteinsatzgebiete für die Abteilung Lingens in den frühen 1990er<br />

Jahren waren die neuen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen –<br />

hier warben Lothar Lingen und andere zentrale Informanten, die über die Jahre für<br />

das BfV und die Szene immer wichtiger wurden. Darunter jener Thomas Richter<br />

aus Halle an der Saale, der über Uwe Mundlos berichtete (Corelli), dazu kamen<br />

Ralf „Manole“ Marscher (Tarnname Primus), der in Zwickau lebte und Michael<br />

See aus Thüringen (Tarnname Tarif) – See war zentralen Kadern der verbotenen<br />

Freiheitliche Arbeiterpartei (FAP) besonders nah. Dazu gehörten Akteure, die sich<br />

bereits als Extremisten betätigt hatten, zudem berichtete See über Kontakte mit<br />

verurteilten Rechtsterroristen. Das BfV nimmt für sich in Anspruch, so geht es<br />

jedenfalls aus den Aussagen der BfV-Mitarbeitern vor dem NSU-Ausschuss hervor,<br />

dass man die eigenen V-Männer „im Griff“ hatte; dass man sie, sobald sie<br />

etwa Straftaten begingen, „abschaltete“, also nicht mehr mit ihnen als Informanten<br />

zusammenarbeitete. Auch habe man nie verurteilte Gewalttäter als Quellen geführt.<br />

Beide Behauptungen sind bei näherer Betrachtung nicht haltbar.<br />

Das BfV wollte unbedingt mitbekommen, wann sich von der diffusen Szene<br />

eine organisierte Terrorzelle abspalten würde. Um diese Informationen aus der gewaltbereiten<br />

rechten Szene zu bekommen, nahm die Führung des BfV daher viel<br />

in Kauf. So galt der Informant Ralf Marschner als besonders gewaltbereit; Antifaschisten<br />

in Zwickau kannten und fürchteten ihn. Gegen den V-Mann Michael See<br />

wurde wegen versuchten Totschlags ermittelt, er wurde schließlich wegen schwerer<br />

Körperverletzung verurteilt, im Gefängnis radikalisierte er sich weiter. Er zog<br />

scharfe Waffen und bedrohte damit politische Gegner – trotzdem wurde er nach<br />

seiner Zeit im Gefängnis als Informant geworben.<br />

Dieses Risiko zahlte sich – scheinbar – für das BfV aus. Vor allem Michael<br />

See und Thomas Richter berichten ausführlich über die rechte Szene. Sie verrieten<br />

Namen von Mitstreitern, Pläne für Aufmärsche und militante Aktionen. Das BfV<br />

beobachtete in dieser Phase allerdings ebenfalls, dass Informanten anderer Inlandsgeheimdienste<br />

weniger zuverlässig waren. Das galt vor allem für Tino Brandt<br />

aus Thüringen, Tarnname Otto, Kopf des „Thüringer Heimatschutzes“ (THS).


230 Dirk Laabs<br />

Tino Brandt soll 1994 vom Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV)<br />

geworben worden sein. Er behauptete sogar in einem heimlich aufgenommenen<br />

Gespräch, dass er sehr viel länger und schon als Minderjähriger dem Verfassungsschutz<br />

berichtet hatte – dafür gibt es jedoch keine Belege in den Akten des LfV<br />

Thüringen. 3<br />

Brandt hatte mit Wissen des LfV Thüringen den „Thüringer Heimatschutz“ gegründet.<br />

Durch die Beschäftigung mit dem THS stieß dann auch das Bundesamt<br />

für Verfassungsschutz auf Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe, Ralf<br />

Wohlleben und Holger Gerlach – alles mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer<br />

des NSU, die gemeinsam in Jena aufgewachsen waren, inzwischen entweder tot<br />

sind oder im Münchener NSU-Prozess angeklagt wurden.<br />

Ralf Wohlleben und Beate Zschäpe können dabei als formale Gründungsmitglieder<br />

des THS gelten – sie beantragten im Februar 1995 unter dem Namen<br />

„Interessengemeinschaft Thüringer Heimatschutz“ eine Demonstration durch<br />

Jena – „zur Bewahrung Thü ringer Idendität [sic] gegen die Internationalisierung<br />

durch die EG“. Man wollte also gegen die „EG“, die Europäische Gemeinschaft,<br />

demonstrieren, die sich damals allerdings schon EU nannte. Es ist das erste Mal,<br />

dass der Name „Thüringer Heimatschutz“ auftaucht.<br />

Zschäpe und Wohlleben wurden zu einem Gespräch bei der zuständigen Behörde<br />

geladen. Dort berichteten sie, dass man auch darüber nachdenke, eine Partei zu<br />

gründen. Vor allem Beate Zschäpe konnte bei dem Treffen jedoch nicht verheimlichen,<br />

dass die Demonstration fremdenfeindliche Tendenzen haben könnte. Die<br />

Thüringer Behörden, vor allem das Innenministerium, nahmen den Vorgang ernst.<br />

Die Demonstration wurde verboten, das Landeskriminalamt eingeschaltet, Informationen<br />

zusammengetragen. Das Innenministerium erfuhr, das Tino Brandt eng<br />

mit dem Anti-Antifa-Strategen Christian Worch aus Hamburg kooperiert, dass er<br />

etwa von Worch Schriftsätze in Sachen Demonstrationsanmeldung übernommen<br />

hat. Brandt wurde schnell als Kopf hinter der „Interessengemeinschaft Thüringer<br />

Heimatschutz“ erkannt und so auch in einem Vermerk beschrieben. Kurz nachdem<br />

er V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes geworden war, hatte er also<br />

begonnen, die Szene zu organisieren und strukturieren – und beides war den entsprechenden<br />

Führungspersonen im Thüringer Innenministerium bekannt.<br />

Die Reaktion der Thüringer Behörden auf die neue Gruppe um Brandt, Zschäpe,<br />

Wohlleben und andere ist durchaus typisch für die Bekämpfung der rechten<br />

Szene – man nahm die Mitglieder, obwohl sie noch sehr jung waren, ernst, schalte-<br />

3 Das BfV, so ergab die Beweisaufnahme des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages,<br />

hat mindestens in einem Fall auch einen Minderjährigen in Thüringen als<br />

V-Mann rekrutiert.


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

231<br />

te auch Behörden des Bundes ein, darunter auch das BfV – gleichzeitig verstrickte<br />

man sich durch die Rekrutierung führender Neonazis als V-Männer indirekt als<br />

Staat mit der Szene.<br />

Die „Interessengemeinschaft“ und später der „Thüringer Heimatschutz“ wurde<br />

ein behördlicher Vorgang und blieb es für viele Jahre. Fast nichts, was die jungen<br />

Thüringer Neonazis in den nächsten Jahren machten, blieb unbemerkt. Die Behörden<br />

betrieben einen gewaltigen Aufwand, um diese Szene aufzuklären – in den<br />

Griff bekam man sie dennoch nicht. Im Gegenteil.<br />

Wettstreit um Informanten – die „Operation Rennsteig“<br />

Im Nachgang der Selbstenttarnung des NSU erinnerten Antifaschisten daran,<br />

wie allein sie bei ihrem Kampf gegen die rechte Gewalt von den Behörden gelassen<br />

worden seien. Niemand habe damals, Mitte der 1990er Jahre, die Gefahr<br />

der rechten Szene erkennen wollen. Das stimmt für zwei der bekannten Mitglieder<br />

des NSU, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, in keinem Fall. Von Beginn<br />

ihrer extremistischen Karriere an gerieten sie in das Visier verschiedener Behörden<br />

– tatsächlich ist erstaunlich, mit welchem großen Aufwand allein der junge<br />

Uwe Böhnhardt von den Behörden beobachtet und verfolgt wurde. Durch sein<br />

Engagement beim „Thüringer Heimatschutz“ wurde er für das BfV, den Thüringer<br />

Verfassungsschutz und das Thüringer LKA interessant. Allerdings verfolgten die<br />

Institutionen bei ihrem Umgang mit Böhnhardt und dem Heimatschutz mitnichten<br />

die gleichen Ziele.<br />

Die „Interessengemeinschaft Thüringer Heimatschutz“ nannte sich bald nur<br />

noch „Thüringer Heimatschutz“. Ambitionen, eine Partei zu werden, hatte man<br />

nicht mehr, Tino Brandt und die anderen verlegten sich stattdessen verstärkt auf<br />

Anti-Antifa-Aktionen. Im Laufe des Jahres 1995 radikalisieren sich der THS und<br />

seine Mitglieder rasant. Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe waren bei<br />

vielen Aktionen des THS dabei – eine wurde auch vom BfV besonders beachtet:<br />

Zum Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges wurde in Rudolstadt, dem<br />

Heimatort von Tino Brandt, eine Gedenkveranstaltung am „Platz der Opfer des<br />

Faschismus“ organisiert. Bereits am Morgen hatten Heimatschü tzer eine Bombenattrappe<br />

vor einem anderen Denkmal in dem Nachbarort Saalfeld abgestellt.<br />

An einem Feuerlöscher waren Drähte und eine Armbanduhr montiert, davor ein<br />

Schild abgestellt: „Vorsicht Sprengarbeiten“. Uwe Mundlos beschrieb die weiteren<br />

Aktionen des Tages später in einem der Briefe, den er an einen Freund im Gefängnis<br />

schrieb:


232 Dirk Laabs<br />

„So hörte man …dass … Jugendliche sich frü h am Morgen trafen, um in Rudolstadt<br />

und Saalfeld irgendwelche Spinner die dort den ‚Opfern des Faschismus‘ gedenken<br />

wollten zu stören. Leider waren sie etwas spät …, so dass sie keinen mehr trafen. Nun<br />

was sollten sie machen, schnell nach Rudolstadt und dort dieses Pack schnappen (leider<br />

auch hier zu spät). Also mussten sie sich wohl damit begnü gen, den Gedenkstein<br />

mit Eiern zu bewerfen und die Kränze zu zertreten, so wie Wurfzettel zu hinterlassen,<br />

auf denen Verbesserungsvorschläge wie: Umbenennung des ‚Platzes der Opfer<br />

des Faschismus‘ in ‚Rudolf-Heß-Gedenkplatz‘ standen.“<br />

Später ndet die Polizei Tausende von Flugblättern in der Stadt: „Deutsche lernt<br />

wieder aufrecht zu gehen. Lieber sterben als auf Knien leben.“, „Schluss mit dem<br />

Holocaust oder Deutscher willst Du ewig zahlen?“<br />

Bei dieser Aktion wurden einige Freunde von Uwe Mundlos erwischt, wie er in<br />

seinem Brief weiter schrieb:<br />

„Leider … war die Kripo und die Bullerei vor Ort, so dass nicht allen die Flucht<br />

gelang. … Dummer Weise hatte man gleich in der Nähe Beate und ihren jetzigen<br />

Freund [Böhnhardt], Kapke und Hucke verhaftet. Nun versuchen die Deppen (Sklaven<br />

des Systems) uns damit im Verbindung zu bringen und das mit einer ganz schönen<br />

Hartnäckigkeit.“<br />

Die Thüringer Polizeibehörden nahmen den Vorfall in Rudolstadt in der Tat ernst –<br />

das Landeskriminalamt wurde eingeschaltet, eine Ermittlungsgruppe („Lunte“)<br />

wurde gegründet, die später in die Sonderkommission Rex („Soko Rex“) überführt<br />

wurde. Ab Ende 1995 ermittelte das LKA mit großem Aufwand gegen den<br />

„Thüringer Heimatschutz“, deren Kopf V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes<br />

war. Doch auch das BfV und die Abteilung von Lothar Lingen waren durch die<br />

Vorfälle in Rudolstadt und das folgende Ermittlungsverfahren hellhörig geworden.<br />

Das geht aus dem Abschlussbericht des NSU-Ausschusses des Bundestages hervor,<br />

der die Geheimakten des BfV zusammenfasst und die Ermittlungen nach dem<br />

Überfall von Rudolstadt als Ausgangspunkt der „Operation Rennsteig“ und damit<br />

als Auslöser für eine neue Rekrutierungswelle beschreibt:


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

233<br />

„Am 5. Januar 1996 bat die Projekteinheit II 2 C (Unorganisierte Militante, insbesondere<br />

Skinheads) im Projektbereich II 2 (Neonazistische Aktivitäten) die Beschaffungsprojekteinheit<br />

um die Werbung einer Quelle‚ im Bereich der militanten<br />

rechtsextremistischen Szene im Raum Rudolstadt/Saalfeld (Thü ringen), die unter<br />

dem Namen ‚Anti-Antifa Ostthü ringen‘ auftritt. Begrü ndet wurde der Wunsch zum<br />

einen mit der Einleitung des Ermittlungsverfahrens im Herbst 1995 wegen Bildung<br />

einer kriminellen Vereinigung, zum anderen mit Kontakten von fü hrenden Aktivisten<br />

der Gruppierung ins Ausland. Die durch eine Quelle des LfV Thü ringen (vermutlich<br />

„2045“ – Tino Brandt) beschafften Informationen seien nicht ausreichend.“ 4<br />

Ehemalige V-Mannführer von Brandt behaupten hartnäckig, dass sie ihren Informanten<br />

unter Kontrolle gehabt hätten, und betonen, dass er eine Spitzenquelle<br />

gewesen sei. Das Bundesamt für Verfassungsschutz sah das jedoch offenbar zu<br />

Recht anders. Der Vorfall in Rudolstadt hatte gezeigt, dass Brandt offenbar von<br />

den Bombenattrappen und geplanten Übergriffen wusste, den Thüringer Verfassungsschutz<br />

jedoch nicht rechtzeitig gewarnt hat. Das BfV wollte deshalb Quellen<br />

rekrutieren, um unabhängig von Tino Brandt zu werden. Verschiedene Inlandsgeheimdienste,<br />

der MAD, das BfV und das Landesamt für Verfassungsschutz in<br />

Thüringen, wollten also den THS nicht stoppen, sondern unter anderem als Reservoir<br />

für neue Informanten benutzen. Für das BfV schienen insbesondere die<br />

Kontakte des THS ins Ausland interessant gewesen zu sein – um welche Kontakte<br />

es dabei genau ging, ist bislang nicht ausreichend beleuchtet worden. In diesem<br />

Zusammenhang sind Beziehungen von Uwe Mundlos nach Belgien interessant, die<br />

aber bislang von den Ermittlern ebenfalls nicht erhellt werden konnten.<br />

Der Wunsch des BfV, Informanten zu werben, die von Brandt unabhängig berichten<br />

konnten, löste einen verdeckten Wettstreit zwischen Polizeibehörden und<br />

Geheimdiensten aus – die einen wollten Strafanzeigen, die anderen Informanten.<br />

Der THS hätte rechtzeitig zerschlagen werden können<br />

Seit der sogenannten Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wird kontinuierlich<br />

diskutiert, wie Rechtsextremisten effektiver bekämpft werden können.<br />

Mit reformiertem Verfassungsschutz, ganz ohne Verfassungsschutz, nur mit den<br />

Staatsschutzabteilungen der Polizei? Diese Frage kann an dieser Stelle nicht abschließend<br />

geklärt werden, dennoch lässt sich über die Vorphase des NSU mit<br />

Bestimmtheit eines feststellen: man hätte die Mitglieder der Gruppe allein mit<br />

polizeilichen Mitteln aufhalten und die Strukturen zerschlagen können. Ob sich<br />

4106<br />

S.


234 Dirk Laabs<br />

Schlüsselmitglieder des THS im Gefängnis oder danach allerdings trotzdem in<br />

den Untergrund begeben hätten, ist heute nicht mehr zu beantworten. Dass man<br />

aber nichts in der Hand hatte, um etwa Uwe Böhnhardt zu stoppen, oder zu behaupten,<br />

Mundlos und Böhnhardt seien „nur kleine Lichter“ in der Szene gewesen<br />

und daher nicht aufgefallen, wie es einige Zeugen vor verschiedenen Ausschüssen<br />

behauptet haben, ist absurd. Die beiden wurden gleichsam in Jena zu den „üblichen<br />

Verdächtigen“, die fast jeder Polizist und Geheimdienstler vor Ort kannte.<br />

Auch dem Thüringer Landeskriminalamt (LKA) waren die beiden schnell ein<br />

Begriff, als es im Jahr 1996 immer aktiver gegen den „Thüringer Heimatschutz“<br />

vorging. Das LKA ermittelte gegen den THS wegen der Bildung einer kriminellen<br />

Vereinigung. Telefone wurden abgehört, Treffen der Gruppe ge lmt, Mitglieder<br />

observiert. Das BfV forschte parallel zig Mitglieder des THS aus, um sie als Informanten<br />

zu rekrutieren. Mitglieder des „Heimatschutzes“ wiederum legten mehrere<br />

Bombenattrappen in Thüringen ab. Eine Bombenattrappe wurde im Jenaer<br />

Stadion während eines Bundesligaspiels unter einer Tribüne platziert, eine andere<br />

an eine Puppe gehängt, die von einer Autobahnbrücke baumelte und an der ein<br />

„Judenstern“ befestigt war. Die rechte Szene war für einige der erfahrenen LKA-<br />

Ermittler, die sich zuvor mit der organisierten Kriminalität beschäftigt hatten,<br />

dennoch nicht schwer zu knacken – die Objekte der Fahndung, die jungen Neonazis,<br />

waren Amateure, blutige Anfänger. Bald verzeichneten die Ermittler so erste<br />

Fahndungserfolge. Ein Neonazi belastete Uwe Böhnhardt, ein Mitglied des THS<br />

bot sich zudem als Informant für die Polizei an und berichtete umfassend über den<br />

„Thüringer Heimatschutz“. Er sagte gegen Tino Brandt aus, berichtete, dass der V-<br />

Mann Heimatschützer zu einer schweren Körperverletzung angestiftet haben soll.<br />

Nach wenigen Monaten Ermittlungsarbeit konnte das LKA Thüringen so ein<br />

Dossier über den THS zusammenstellen, in dem Uwe Böhnhardt, Ralf Wohlleben<br />

und Beate Zschäpe namentlich erwähnt wurden. Bereits im September 1996<br />

wurde das Dokument an das BKA und die Bundesanwaltschaft geschickt. In dem<br />

Dossier listet die Soko auf, dass der „Heimatschutz“ in gut einem Jahr 41 Straftaten<br />

begangen hatte, 80 Straftäter wurden ermittelt. Zu den Taten zählte das LKA<br />

einen Sprengstoffanschlag auf das Flü chtlingsheim in Jena, durchschnittene Kabel<br />

von Funkantennen der Polizei in Saalfeld, die Puppentorsi und Bombenattrappen.<br />

In dem Dossier waren Seiten aus dem Buch „Der totale Widerstand“ abgelichtet,<br />

das sich Tino Brandt bestellt hatte, auf den exemplarischen Seiten wurde erläutert,<br />

wie man Eisenbahnschienen sabotiert und aus Wasserleitungen Rohrbomben baut.<br />

Tino Brandt wurde mit dem lapidaren Satz zitiert: „Die Anti-Antifa kann man ruhig<br />

verbieten, damit rechnen wir, wir nennen uns dann anders und machen weiter.“<br />

Als Ziele des „Heimatschutzes“ wurden mehrere Punkte aufgefü hrt:


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

235<br />

„Organisation des nationalen und sozialistischen Widerstandes, Zermü rbung und<br />

Aufsplitterung der Behörden durch laufende und wiederholte Versammlungsanmeldungen<br />

mit Durchfechtungen in allen Rechtsinstanzen, Anzeigen und Dienstaufsichtsbeschwerden<br />

gegen Amtsträger, In ltrierung der Behörden von Gesinnungsgenossen<br />

in Sicherheitseinrichtungen wie Bundeswehr, Polizei, öffent. Verwaltung<br />

u. a.“<br />

Diese Ziele leitet die Soko im Wesentlichen aus einer Ausgabe des Neonazi-Blattes<br />

„Sonnenbanner“ ab, das der BfV-Informant Michael See mit herausgegeben<br />

hatte. Das LKA zitiert mehrmals in der Präsentation fü r das BKA aus dem „Sonnenbanner“:<br />

„Wir haben nicht hundert diffuse politische Forderungen – Wir haben nur ein Ziel!<br />

Die absolute Macht! … Politische Macht dient nur einem Zweck: Die Schaffung<br />

eines starken freien Deutschlands, das sich in allen Bereichen von Staat und Gesellschaft<br />

an der Idee des nationalen Sozialismus orientiert. … Nationaler Sozialismus<br />

ist kein politischer Gedanke, er ist eine Weltanschauung. … Die Härte der Auseinandersetzung,<br />

die Gefahren und die abverlangten und gebrachten Opfer machen uns<br />

zu einer Elite…“<br />

Die Ausrichtung des THS, die Gewaltbereitschaft der Mitglieder, das Ziel, in<br />

Deutschland erneut einen NS-Staat zu schaffen – das alles war dem LKA, dem<br />

BKA, der Bundesanwaltschaft mit diesem Dossier im September 1996 klar. Dennoch<br />

konnte die Thüringer Szene sich weiter radikalisieren – auch weil V-Männer<br />

geschützt und von den VS-Behörden nanziert wurden.<br />

„Es besteht die Gefahr, dass Quellen sich gegenseitig zu<br />

größeren Aktionen anstacheln“<br />

Das Dossier des LKA macht zudem deutlich, dass Brandt der Kopf des THS war<br />

und dabei wiederum Weisungen von Kai Dalek erhielt, einem Rechtsextremisten<br />

aus Bayern, der für das dortige Landesamt für Verfassungsschutz arbeitete. Den<br />

Beamten der Soko des LKA war zu diesem Zeitpunkt keineswegs bewusst, dass<br />

drei der in ihrem Dossier aufgeführten Schlüsselguren – See, Brandt, Dalek – als<br />

V-Männer für verschiedene Dienste arbeiteten. Dem Bundeskriminalamt dagegen,<br />

ebenfalls Adressat des Dossiers, war dagegen schon seit längerem klar, dass die<br />

militante Neonazi-Szene in Deutschland massiv von V-Männern unterwandert<br />

war, die insbesondere für das BfV arbeiteten. Es gab deswegen eine Krisensitzung<br />

der Präsidenten von BfV und BKA – als Ergebnis entstand ein „Thesenpapier“


236 Dirk Laabs<br />

des Bundeskriminalamtes, das die Problematik nahezu allgemeingültig auf den<br />

Punkt bringt:<br />

„Es besteht die Gefahr, dass der Quellenschutz eine frü hzeitige und vollständige<br />

Information, die zur Gefahrenabwehr erforderlich ist, behindert.… Vertrauenspersonen<br />

(VP)/ Quellen des Verfassungsschutzes (VS) wirken massgeblich in fü hrenden/<br />

exponierten Positionen an der Vorbereitung von Veranstaltungen/ Versammlungen/<br />

Aktionen mit. Es besteht die Gefahr, dass Quellen sich gegenseitig zu größeren Aktionen<br />

anstacheln. Somit erscheint es fraglich, ob bestimmte Aktionen oder innovative<br />

Aktivitäten dieser Quellen ü berhaupt in der späteren Form stattgefunden hätten.<br />

Auch ist der ‚Brandstifter-Effekt‘ nicht unwesentlich, da statistisch nachweisbar insbesondere<br />

nach sog. ‚Gedenktagen‘ ein Ansteigen z. B. antisemitischer Straftaten zu<br />

verzeichnen ist.“ 5<br />

Das BKA formuliert in dem Papier an das Bundesamt eine Erwartungshaltung:<br />

„Quellen in maßgeblichen Schlü sselpositionen der rechtsextremistischen Szene<br />

könnten z. B. den Ablauf von Aktionen so steuern, dass keine umfangreichen Maßnahmen<br />

zur Gefahrenabwehr erforderlich werden.“ Das jedoch passiert nicht. Im<br />

Gegenteil. Auch das Thesenpapier des BKA hält fest:<br />

„… die Mehrzahl der Quellen sind nach dem Ergebnis der Ermittlungen [des BKA]<br />

ü berzeugte Rechtsextremisten. Bei diesen entsteht der Eindruck, unter dem Schutz<br />

des VS im Sinne ihrer Ideologie ungestraft handeln zu können und die Exekutive<br />

nicht ernst nehmen zu mü ssen. Es besteht die Gefahr, dass die Quellen nicht vollständig<br />

und umfassend berichten, sondern wesentliche Komplexe auslassen, eigene<br />

Tatbeteiligungen beschönigend darstellen oder auch je nach Sachlage ü bertreiben,<br />

wodurch gegebenenfalls der Eindruck strafrechtlicher Relevanz erweckt wird.“<br />

Das BKA hat eine klare Forderung:<br />

„In den Fällen, in denen die Quelle ‚aus dem Ruder läuft‘, sollte der VS auch die<br />

Strafverfolgung vor den Schutz der Quelle stellen.“<br />

Am Ende des Jahres 1996 hat man beim BKA schließlich genug, es wurde ein<br />

Treffen zwischen den Präsidenten des BKA und des Bundesamtes vereinbart. In<br />

einem Memo ü ber das Gespräch heißt es:<br />

5 Alle Zitate aus dem BKA-Thesenpapier vom 03.02.1997.


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

237<br />

„Die Exekutive [also das BKA] ist über Person und Tätigkeit von Quellen in der<br />

Regel nicht unterrichtet. Es besteht die Gefahr, dass die Zusammenarbeit zwischen<br />

Quellen und VS im Rahmen der Ermittlungsverfahren aufgedeckt wird und somit<br />

ggf. die VS-Maßnahme ins Leere läuft oder Ermittlungsverfahren aufgrund falscher<br />

Quellenmeldungen eingeleitet werden.“<br />

Mit anderen Worten: Das BKA wollte auch wissen, wer Quelle ist, um sie besser<br />

schü tzen zu können. Doch das BKA kritisierte weiter, dass das BfV seine V-Männer<br />

an einer zu langen Leine fü hrt – nicht nur werden die Quellen vor Durchsuchungen<br />

durch die Polizei gewarnt, sie behalten das Wissen nicht fü r sich:<br />

„Es war festzustellen, dass diese Warnung innerhalb der Szene ‚an gute Kameraden‘<br />

weitergegeben wird. Es besteht die Gefahr, dass Beweismittel vor Eintreffen der Exekutive<br />

vernichtet werden.“<br />

Das BKA fü hrt das Beispiel von Norbert Weidner an, einem fü hrenden Mitglied<br />

der FAP und Vordenker der Anti-Antifa-Bewegung – ebenfalls ein V-Mann:<br />

„In dem Ermittlungsverfahren gegen Gary Rex Lauck u. a. gab der Vater des Beschuldigten<br />

Norbert Weidner als Zeuge an, er habe sich schon lange gewundert, wie<br />

gut sein Sohn ü ber polizeiliche und justizielle Maßnahmen informiert gewesen sei.<br />

Insbesondere vor der Durchsuchung anlässlich des FAP-Verbots am 24.02.1995 habe<br />

sein Sohn angegeben, eine Durchsuchung stü nde bevor. In der Nacht vorher habe er<br />

mittels Reißwolf zwei Abfallsäcke voller Unterlagen vernichtet.“<br />

Eine weitere Quelle des BfV, ebenfalls sehr jung rekrutiert, war ebenfalls auffällig<br />

– Thomas Richter alias Corelli:<br />

„Im Rahmen der Ermittlungen gegen die NSDAP-AO wurde das BfV absprachegemäß<br />

ü ber eine bevorstehende Durchsuchung bei Thomas Richter aus Halle informiert.<br />

Bei der Durchsuchung am 07.09.1994 wurde Richter nicht angetroffen und<br />

blieb auch in der Folgezeit untergetaucht.“<br />

Schließlich stehen die Quellen in einem zu engen Kontakt mit dem Bundesamt,<br />

bemängelt das BKA. So der Neonazi Stephan Wiesel. Das BKA schreibt:


238 Dirk Laabs<br />

„Zu der Aktion des Wiesel am 20.04.1996 in Bonn [anlässlich des Geburtstages von<br />

Adolf Hitler] war der VS allgemein ü ber die Überwachungsmaßnahme des BKA<br />

unterrichtet. Wiesel machte telefonisch seinem Quellenfü hrer den Vorwurf, nicht<br />

vorher gewarnt worden zu sein. Dies deutet auf eben diese geü bte Praxis hin.“<br />

Der Mann, Wiesel, wurde an dem fraglichen Tag verhaftet. Die Polizei gestattet<br />

ihm, mit seinem Anwalt zu telefonieren. Stattdessen telefonierte er dreimal mit<br />

seinem Quellenfü hrer, der „massiv auf das Aussageverhalten von Wiesel Einuss“<br />

nahm, wie das Bundeskriminalamt später vermerkte. Die Forderung des BKA-<br />

Präsidenten: „Bei bevorstehenden Exekutivmaßnahmen sollen Warnungen an die<br />

Quellen unterbleiben.“ Aber auch dieser Forderung wird das BfV nicht nachkommen.<br />

Das Papier des BKA macht unmissverständlich klar, dass das BfV V-Männer<br />

vor Durchsuchungsmaßnahmen gewarnt und damit vor einer Strafverfolgung geschützt<br />

hat. Im selben Zeitraum wird auch Tino Brandt von seinen Thüringer V-<br />

Mannführern immer wieder vor Durchsuchungen angerufen. Und obwohl Brandt<br />

wegen schwerem Landfriedensbruchs in erster Instanz verurteilt wurde, bleibt er<br />

auf freien Fuß – die zweite Instanz wurde dann über Jahre verschleppt, so dass<br />

er weiter aktiv in der Szene bleiben konnte. Der „Thüringer Heimatschutz“ radikalisierte<br />

sich so weiter. Die Strafverfolgung wurde in Thüringen durch den Verfassungsschutz<br />

behindert. Mehrere ehemalige und noch aktive Beamte des LKA<br />

Thüringens haben das vor dem NSU-Ausschuss des Landtages in Erfurt beschrieben.<br />

Ein Beamter, der beim BKA ausgebildet worden war, konnte sich damals<br />

schlicht nicht vorstellen, dass es in Deutschland möglich war, dass ein Akteur wie<br />

Tino Brandt V-Mann des Verfassungsschutzes ist. Er irrte.<br />

Die Ermittlungen des BKA und die Beweisaufnahme durch verschiedene parlamentarische<br />

Untersuchungsausschüsse zeigt zudem: Das Bundesamt für Verfassungsschutz<br />

stellt auch weiterhin den Quellenschutz über die Strafverfolgung. Das<br />

BfV hat weder gegenüber dem BKA noch gegenüber dem Ausschuss des Bundestages<br />

eine einzige ihrer zentralen Quellen enttarnt.<br />

Auch die Justiz versagte in Thüringen<br />

Die rechte Szene in Thüringen konnte sich auch weiter radikalisieren, weil sich<br />

verschiedene Verfassungsschutzbehörden einmischten. Für die Polizei wurde die<br />

Lage Ende 1996 noch komplizierter. Ohne erkennbare Gründe wurden Ermittler<br />

aus der erfolgreichen Soko Rex abgezogen und versetzt. Vernetztes Wissen ging<br />

verloren. Da das LKA zu dem Zeitpunkt wegen diverser Skandale unter großem


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

239<br />

öffentlichen Druck stand, wurde von Seiten der LKA-Leitung oftmals die Ermittlungstaktik<br />

über den Haufen geworfen – ohne Konzept und oftmals Anlass wurden<br />

bei Mitgliedern des „Heimatschutzes“ Hausdurchsuchungen durchgeführt. Man<br />

wollte um jeden Preis der Presse Ermittlungserfolge und beschlagnahmte Gegenstände<br />

präsentieren. Auch als Reaktion auf diese Durchsuchungen verschärfte der<br />

„Thüringer Heimatschutz“ und hier insbesondere die „Kameradschaft Jena“ ihren<br />

Kampf. Briefbombenattrappen wurden Anfang 1997 an verschiedene Behörden in<br />

Thüringen verschickt, weitere Bombenattrappen tauchten in der Stadt auf, schließlich<br />

wurden in einer Attrappe einige Gramm TNT gefunden. Das LKA ermittelte,<br />

zum Teil mit neuem Personal, weiter, und stieß abermals auf Hinweise, die Uwe<br />

Böhnhardt belasteten. Man hatte bald genügend Beweise, um Böhnhardt für lange<br />

Zeit ins Gefängnis zu bringen.<br />

Doch zu der Geschichte der Auseinandersetzung der Behörden mit dem NSU<br />

und seinen Vorläufern gehört auch, dass verschiedene Ebenen der Justiz ebenfalls<br />

versagten. Obwohl klare Hinweise von Ermittlern der Polizei zusammengetragen<br />

worden sind, dass die Kameradschaft Jena und der „Thüringer Heimatschutz“ zusammengehörten,<br />

wurden die Ermittlungen in Sachen der verschiedenen Bombenattrappen<br />

und die gegen den THS nicht gebündelt. Die Ermittlungen liefen<br />

nebeneinander her. Der zuständige Staatsanwalt erkannte die Zusammenhänge<br />

und Strukturen nicht oder wollte sie nicht erkennen. Ende 1997 hatten sich genug<br />

Beweise angesammelt, die gereicht hätten, ein Verfahren gegen den THS als kriminelle<br />

oder terroristische Vereinigung zu eröffnen. So sagt der Staatsanwalt Gerd<br />

Michael Schultz vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin:<br />

„Wir konnten am Ende nach diversen Maßnahmen wie Beobachtungen, Observationen<br />

letzten Endes keinen Beweis dafür erbringen, keine konkreten Beweise, dass<br />

eine Vereinigung, der „Thüringer Heimatschutz“ oder die Kameradschaft oder wer<br />

auch immer, gegründet worden wäre mit dem Zweck, Straftaten zu begehen. Zwar<br />

haben einzelne Mitglieder oder einzelne Leute, die wir den Vereinigungen zuordnen,<br />

alleine oder gemeinsam Straftaten begangen. Aber dass diese Vereinigung jetzt zu<br />

dem Zwecke gegründet worden war, Straftaten zu begehen, haben wir nicht feststellen<br />

können. Es gab öfter mal Beobachtungen, dass im Wald Kriegsspiele veranstaltet<br />

wurden oder öfter mal Treffen von Rechten waren, aber unterm Strich hatten wir<br />

keine Personen. Zum Beispiel bei diesen Kriegsspielen im Wald hatten wir keine<br />

Namen.“ 6<br />

6 Aussage von Gerd Michael Schultz in der 49. Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses<br />

des Bundestages am 17.01.2013.


240 Dirk Laabs<br />

Einige der damaligen Ermittler widersprechen dieser Sichtweise vehement. Der<br />

Staatsanwalt hat zudem nicht einmal alle Beweismittel ausgewertet, als er das Verfahren<br />

gegen den THS einstellte.<br />

Derselbe Staatsanwalt war dagegen durchaus hartnäckig, als es um eines der<br />

wichtigsten Mitglieder der Kameradschaft Jena und des THS ging – Uwe Böhnhardt.<br />

Böhnhardt war seit seiner Jugend kriminell, er stahl Autos, lieferte sich dabei<br />

Verfolgungsjagden mit der Polizei, er erpresste andere Jugendliche, schlug sie<br />

zusammen (siehe auch Beitrag von Würstl in diesem Band). Böhnhardt verbrachte<br />

einige Monate im Gefängnis und sollte 1993, da ein Richter eine hohe kriminelle<br />

Energie bei ihm ausmachte, zu drei Jahren Haft verurteilt werden. Doch die Schöffen<br />

überstimmten ihn. Böhnhardt kam auf Bewährung frei – er hielt sich zurück,<br />

was seine kriminellen Aktivitäten anbelangte, el aber sofort als extremes Mitglied<br />

des „Heimatschutzes“ auf. Auch bei dem Überfall in Rudolstadt im September<br />

1995 wurde er erwischt und festgenommen. Sein Zimmer in der Wohnung seiner<br />

Eltern wurde durchsucht, es wurde eine Laser-Zielvorrichtung für eine Waffe<br />

gefunden. Das LKA übernahm die Ermittlungen. Schon im Frühjahr 1996 wurde<br />

Böhnhardt – nur auf Bewährung auf freiem Fuß – wegen dieses Fundes zu zwei<br />

Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Waffenexperten des LKA und der<br />

ehemalige Leiter der Soko Rex hatten ihn schwer belastet, der Staatsanwalt, der<br />

auch gegen den THS ermitteln ließ, blieb an der Sache dran. Im Dezember 1996, in<br />

der zweiten Instanz, wurde dieses Urteil jedoch, ohne Nennung von Gründen, vom<br />

Landgericht in Gera aufgehoben. Ein ungewöhnlicher Vorgang. Die Hintergründe<br />

dieser Entscheidung sind bis heute nicht aufgeklärt, der verantwortliche Richter<br />

musste sich bislang nicht erklären.<br />

Das Thüringer LKA konnte in dieser entscheidenden Phase wiederholt genug<br />

Beweise gegen den THS oder einzelne Mitglieder sammeln – doch aus verschiedenen<br />

Gründen blieben konkrete Anklagen und Urteile aus. Auch aufgrund der<br />

Erfahrung des BKA mit dem BfV, die in dem geheimen Thesenpapier dargestellt<br />

wurden, besteht in Thüringen ebenfalls der Verdacht, dass gezielt Verfahren sabotiert<br />

wurden, um geheimdienstliche Quellen zu schützen. Auch um diesem Verdacht<br />

nachzugehen, wird vom Landtag Thüringen ein weiterer NSU-Ausschuss<br />

eingesetzt.<br />

Gesteuertes Abtauchen in den Untergrund?<br />

Verschiedene Problemfelder überschnitten sich 1997 – in der Hochphase des<br />

„Thüringer Heimatschutzes“ – in Thüringen. Mehrere Inlandsgeheimdienste konkurrierten<br />

um Informanten in der rechten Szene, die Polizeiermittlungen wurden


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

241<br />

behindert, vorhandene Beweismittel aus verschiedenen Gründen nicht konsequent<br />

genutzt, um die rechtsradikalen Strukturen mit Mitteln der Justiz zu zerschlagen.<br />

Eine Führung durch das zuständige Innenministerium fehlte oder war von fragwürdigen<br />

Motiven – dem Quellenschutz von mutmaßlich zentralen Informanten –<br />

fehlgeleitet.<br />

Nur vor diesem Hintergrund kann man das Untertauchen von Uwe Böhnhardt,<br />

Uwe Mundlos und Beate Zschäpe verstehen. Im November 1997 sollen Observanten<br />

des Thüringer Verfassungsschutzes Mundlos und Böhnhardt zu einer Garage<br />

gefolgt sein. Böhnhardt war zuvor vom Mobilen Einsatzkommando (MEK) im<br />

Auftrag des LKA beschattet worden, obwohl er inzwischen in zweiter Instanz für<br />

den Handel mit Nazirock zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde und kurz<br />

vor seinem Haftantritt stand. Wer dem Verfassungsschutz warum den Auftrag gegeben<br />

hat, die beiden jungen Neonazis zu beschatten, konnten die zuständigen<br />

Untersuchungsausschüsse nicht endgültig klären. Erst im Januar 1998 wurde die<br />

Garage vom LKA durchsucht. Der Einsatz begann mit Verzögerung, die zentralen<br />

Zeugen erinnern den Ablauf höchst unterschiedlich. Fest steht inzwischen nur,<br />

dass Böhnhardt mit seinem Auto davonfahren konnte, obwohl er bereits mitbekommen<br />

hatte, dass man Rohrbomben in der Garage gefunden hatte, die ihm zugeschrieben<br />

wurden. Böhnhardt konnte so mit Uwe Mundlos und Beate Zschäpe<br />

iehen. Dass man Uwe Böhnhardt und die anderen bewusst hat abtauchen lassen,<br />

wird auch von ehemaligen Mitgliedern des Thüringer NSU-Ausschusses in Erfurt<br />

noch immer nicht ausgeschlossen. Bis zum Schluss waren die Drei mit dem<br />

V-Mann Tino Brandt in Kontakt. Die Verfassungsschutzbehörden bekamen auch<br />

mit, dass sich zuvor ein harter Kern des THS traf, dessen Mitgliedern die Gesamtgruppe<br />

zu lasch war. Zu diesen überzeugten „Kadern“ gehörten auch Böhnhardt,<br />

Brandt und Mundlos. Bis heute ist unklar, ob Brandt von diesen Treffen die entscheidenden<br />

Details berichtet hat. Brandt, so viel steht fest, hat Böhnhardt, Mundlos<br />

und Zschäpe auf der Flucht aktiv unterstützt und – wie er es zuvor auch getan<br />

hatte – den Verfassungsschutz bewusst desinformiert und falsche Fährten gelegt,<br />

mutmaßlich, um die Drei zu schützen.<br />

Auch ohne die Hilfe von Brandt wussten die Verfassungsschutzbehörden schon<br />

nach wenigen Wochen, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nach Chemnitz ge-<br />

ohen waren. Sie konnten dabei auf abgehörte Telefonate, Meldungen von V-Männern<br />

und Informationen, die man bei der Polizei abgeschöpft hatte, zurückgreifen.<br />

In Chemnitz lebte Thomas Starke, der Freund von Uwe Mundlos, sowie andere<br />

Skinheads, mit denen die „Drillinge“, wie sie behördenintern genannt wurden, seit<br />

langem befreundet waren. Den Verfassungsschutzbehörden wurde auch schnell<br />

klar, wer die Drei konkret unterstützte – eben Starke und vor allem Jan Werner –<br />

die Köpfe der sächsische „Blood and Honour“-Sektion. Auf thüringischer Seite


242 Dirk Laabs<br />

half Ralf Wohlleben seinen Freunden, was dazu führte, dass ihm das LfV Thüringen<br />

und das BfV wochenlang mit einem Flugzeug folgten.<br />

Die Drillinge gerieten durch ihre Nähe zu Starke und Werner zuvor in das Visier<br />

vieler Behörden, die gar nicht nach ihnen suchten. Diverse Landeskriminalämter<br />

und Geheimdienste waren aus verschiedenen Gründen an Jan Werner, Thomas<br />

Starke und „Blood and Honour“ interessiert – es ging um Verfahren wegen<br />

Handels mit Nazirock, Volksverhetzung und anderen Delikten. 1998, in dem Jahr,<br />

in dem Böhnhardt und die anderen nach Chemnitz kamen, liefen daher diverse<br />

Operationen der verschiedenen Polizei- und Verfassungsschutzeinheiten parallel.<br />

Das LfV Sachsen hatte zudem mindestens zwei V-Männer in Chemnitz und damit<br />

in der Nähe des „Trios“ platziert – deren Berichte wurden aber bislang auf<br />

parlamentarischer Ebene nicht ausgewertet, unter anderem weil die Mehrheit der<br />

Mitglieder des sächsischen NSU-Untersuchungsausschusses keine V-Mann-Akten<br />

beantragt hatte, da ein NPD-Abgeordneter ebenfalls Mitglied des Ausschuss war.<br />

„Falls es nicht bald einen radikalen weißen Gegenschlag in<br />

Form einer Endlösung gibt…“<br />

In Chemnitz und innerhalb der rechten Szene wurde zum Zeitpunkt der Ankunft<br />

der Drillinge aus Jena die Anwendung von Gewalt vermehrt diskutiert. Thomas<br />

Starke hatte Mundlos bereits einmal Sprengstoff besorgt, sein ideologischer Hintergrund<br />

barg zusätzliche Sprengkraft in sich: gemeinsam mit den anderen aus<br />

dem „Blood and Honour“-Widerstand folgte er nicht mehr nur einer reinen nationalistisch-sozialistischen<br />

Lehre, der Rassismus stand nun im Vordergrund, der<br />

zu dem Schlachtruf „Race before Nation“ verdichtet wurde. Die Anhänger von<br />

„Blood and Honour“ folgten so dem Grundkonzept des „Weißen Arischen Widerstands“,<br />

das vor allem einen führerlosen Widerstand vorsah.<br />

Dem BfV war in dieser Zeit durch diverse eigene und Fremdinformanten bewusst,<br />

was innerhalb der „Blood and Honour“-Bewegung diskutiert wurde: Ein<br />

bewaffneter Kampf, „Widerstand“ gegen die „ZOG“ – „Zionist Occupied Government“,<br />

Anschläge, Überfälle auf Banken. In diversen theoretischen Papieren<br />

wurde immer wieder zum Kampf aufgerufen – im Geiste des „Weißen Arischen<br />

Widerstands“. So hieß es in einem Text der Bewegung:


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

243<br />

„Wir wissen, und es ist wissenschaftlich erwiesen, daß die Flut farbiger Einwanderer<br />

– nicht jetzt, nicht morgen, aber sehr, sehr bald – die weißen Europäer zu<br />

einer Minderheit werden lassen. Mit anderen Worten, wir werden das letzte bisschen<br />

Kontrolle, das wird noch über unsere eigenen Länder haben, verlieren. ... Falls es<br />

nicht bald einen radikalen weißen Gegenschlag in Form einer Endlösung gibt, um<br />

dieses Problem zu bewältigen, wird die oben beschriebene dunkle Zukunft unser<br />

Ende sein.…<br />

Glauben wir wirklich an die grenzenlose Boshaftigkeit von ZOG [Zionist Occupied<br />

Government] und das Entstehen eines Rassenkrieges? Stehen wir hinter dem Slogan<br />

›Sieg oder Tod‹? Oder sind das bloß bedeutungslose Texte einer White Power-Rock<br />

CD, die auf voller Lautstärke im Beisein einiger betrunkener Freunde gespielt wird<br />

bei ein paar Flaschen Bier ... Unsere Slogans ... sind ernst gemeinte Worte und Aufrufe,<br />

zu den Waffen zu greifen. Dies ist ES, und diejenigen, die nicht bereit sind,<br />

das ultimative Opfer zu erbringen, um die Zukunft unseres arischen Ursprungs zu<br />

sichern, sollen jetzt aufhören zu lesen!“ 7<br />

Angeblich, so ein Zeuge vor dem NSU-Ausschuss in Berlin, habe man diese Diskussionen<br />

innerhalb des BfV nicht ernst genommen, weil man den Zielpersonen<br />

in Chemnitz – etwa Jan Werner – Gewalt nicht zugetraut habe. Das erklärt jedoch<br />

nicht, warum das BfV dennoch diesen großen Aufwand betrieb, um die Gruppe<br />

„Blood and Honour“ aufzuklären und im Griff zu behalten. Vor allem Jan Werner<br />

wurde über Jahre fast lückenlos abgehört, verschiedene Dienste konnten mithören<br />

und in seinen vielen SMSen mitlesen, wie er Konzerte von „Blood and Honour“-<br />

Bands organisierte und dabei Kontakte in ganz Europa knüpfte.<br />

Auch Thomas Starke wurde abgehört, in seinem Fall vom LKA Thüringen, das<br />

tatsächlich auf der Suche nach den Drillingen war. Bei Starke hätten die Ermittler<br />

Anfang 1998 allein anhand von Telefonaten und Kurznachrichten mitverfolgen<br />

können, dass er gerade drei „Kameraden“ in Chemnitz unterbrachte und dafür<br />

diverse andere „Kameraden“ um Hilfe bat. Trotzdem geschah nichts.<br />

Im Fall von Jan Werner fehlen allerdings zentrale Dokumente in den Akten.<br />

So hatten die Verfassungsschutzbehörden durch V-Mann-Meldungen und Abhörmaßnahmen<br />

mitbekommen, dass Werner auf der Suche nach Waffen war – für die<br />

Drillinge, die „weitere Überfälle“ planen würden. Berichtet hat das ein V-Mann<br />

des LfV Brandenburg – der Berliner Carsten Szczepanski alias Piatto. Szczepanski<br />

durfte mit einer Sondergenehmigung das Gefängnis verlassen, um direkt in<br />

Chemnitz, nahe an Jan Werner und den anderen Unterstützern des NSU, zu operieren.<br />

Piatto konnte so präzise über die damaligen Pläne des Trios berichten – man<br />

brauche Waffen, plane Überfälle. An seinem Fall werden nun abermals die strate-<br />

7 Max Hammer: „The Way Forward“, aus dem Jahr 1997.


244 Dirk Laabs<br />

gischen Interessen des BfV deutlich. Denn beim Bundesamt bekam man mit, dass<br />

das LfV Brandenburg unsauber gearbeitet hatte – Piatto telefonierte mit einem<br />

Handy, das auf das Innenministerium in Potsdam zugelassen war. Mit diesem<br />

Handy geriet er in die Telefonüberwachung des LKA Thüringens, das auf der Suche<br />

nach den Drillingen war – just zu dem Zeitpunkt, als sich Jan Werner um Waffen<br />

für die Drei – offenbar mit der Hilfe von Piatto – bemühte. Das BfV warnte<br />

aber das LfV Brandenburg, dass das Handy von Piatto bald aufiegen könnte und<br />

Piatto damit – von der Polizei – enttarnt wäre. Das Handy wurde abgeschaltet, die<br />

Arbeit des LKA Thüringen damit sabotiert. Es war dem BfV also wichtiger, die<br />

Quelle Piatto zu schützen, als zuzulassen, dass die Polizei das Umfeld des Trios<br />

aufklärt und ihm näherkommt. Die Einstellung des BfV gegenüber den Drillingen<br />

war ein dynamischer Prozess – mal nahm man die drei untergetauchten ernster,<br />

mal waren andere Zielobjekte wichtiger. Unumstößlich war in jedem Fall die Regel<br />

seitens des BfV, keine wichtige Quelle in der Szene durch eine Operation – und<br />

sei es die Suche nach „Bombenbastlern“ – zu gefährden.<br />

Zudem muss an dieser Stelle betont werden, dass das LKA Thüringen – in diesem<br />

Fall die zuständigen Zielfahnder – keineswegs heißen Spuren konsequent gefolgt<br />

wären. Man sei überlastet gewesen, erklärten die Zielfahnder später, habe<br />

deswegen etwa die Telefonüberwachung nicht gründlich genug auswerten können.<br />

Inzwischen lässt sich durch die erhaltenen Protokolle feststellen, dass Werner<br />

einen engen Dialog mit Piatto führte. Im Spätsommer planten die beiden ein Treffen<br />

in Brandenburg, nachdem sie sich zuvor über Waffen ausgetauscht hatten. Die<br />

Protokolle, die Werners Telefonüberwachung in den Tagen vor, während und nach<br />

diesem Treffen abbilden, sind jedoch verschwunden.<br />

Piatto ist ein Beispiel dafür, dass V-Männer nicht per se lügen oder als Instrument<br />

der Aufklärung nicht funktionieren können. Wegen Informanten wie ihm<br />

wollen Verfassungsschutzbehörden auf das Mittel V-Mann nicht verzichten. Piatto<br />

berichtete – unter großem Risiko – präzise über die Pläne des Trios und seiner<br />

Unterstützer zu der Zeit. Er operierte direkt im Umfeld der wichtigsten Unterstützer,<br />

durch ihn waren die Verfassungsschutzbehörden so über die Pläne der<br />

Drillinge informiert. Doch die Verfassungsschützer machten nichts aus den Informationen,<br />

reichten sie nicht an die Polizei weiter – darüber hinaus verbrannten sie<br />

Piatto in der entscheidenden Phase. Er verriet den Zeitpunkt einer Lieferung von<br />

Nazirock-CDs an die „Blood and Honour“-Sektion Sachsen. Die Lieferung wurde<br />

von der Polizei gestoppt, die Akteure in Chemnitz und das Umfeld der Drillinge<br />

wussten damit, dass Piatto ein Verräter ist. Er berichtete nie wieder über die drei<br />

üchtigen Thüringer.<br />

Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe lebten zweieinhalb Jahre in Chemnitz. In<br />

dieser Zeit berichteten immer wieder V-Leute über sie, ihr Umfeld wurde obser-


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

245<br />

viert, Ermittler und Verfassungsschutzagenten waren ihnen sehr nah. Abermals<br />

hatten die verschiedenen Verfassungsschutzbehörden und die Polizei jedoch konträre<br />

Ziele. Innerhalb des Thüringer LKAs zog man nicht an einem Strang, die<br />

Suche nach den Drillingen wurde immer wieder von LKA-Beamten selber sabotiert.<br />

Das LfV Sachsen – im Auftrag des BfV – nutzte wiederum eine Operation,<br />

die dafür gedacht war, Böhnhardt und die anderen zu nden, lieber dafür, die<br />

Chemnitzer Szene aufzuklären und potenzielle Informanten auszumachen. Um<br />

das eigentliche Ziel – die drei „Bombenbastler aus Jena“ zu nden – ging es, wenn<br />

überhaupt, nur noch in zweiter Linie. Im Ergebnis konnten die „Bombenbastler“<br />

im Sommer 2000 aus Chemnitz verschwinden, nachdem abermals das Fernsehen<br />

über sie berichtet hatte, und ihnen der Boden zu heiß geworden schien. Im Jahr<br />

zuvor hatten Böhnhardt und Mundlos bereits ihre erste – scharfe – Bombe in einer<br />

Nürnberger Kneipe abgelegt, die explodierte und einen jungen Türken verletzte.<br />

Während die mutmaßlichen Mitglieder des NSU die Bomben konstruierten, waren<br />

sie unter großem Fahndungsdruck und mussten mehrmals die Wohnung wechseln.<br />

Dass es ihnen trotzdem gelang, eine scharfe Bombe zu bauen, ist ein Indiz dafür,<br />

dass sie Hilfe – sichere Räume, Bombenmaterial – aus ihrem Umfeld bekommen<br />

haben. Doch etwaige Zeugen und potenzielle Mitverschwörer wie Jan Werner und<br />

Thomas Starke schweigen zu diesem Punkt oder können vom zuständigen BKA<br />

nicht überführt werden. Das fällt dem BKA allerdings auch deshalb schwer, weil<br />

die Verfassungsschutzbehörden der Polizei wesentliche Informationen vorenthalten.<br />

Die Drillinge zogen schließlich Mitte 2000 nach Zwickau, ganz in die Nähe<br />

eines anderen BfV-Spitzels: Ralf Marschner alias Primus. Wenig später begann<br />

die Mordserie des NSU, bei der immer eine Ceska mit Schalldämpfer eingesetzt<br />

wurde.<br />

„Vor diesem Hintergrund sehe das BfV in der jüngeren<br />

Entwicklung Ansätze für einen Rechtsterrorismus“<br />

Dem BfV wurde regelmäßig vorgeworfen, dass das Amt rechten Terror auch in<br />

der entscheidenden Phase – als das Morden des NSU begann – nicht für möglich<br />

hielt. So wurde wiederholt in den verschiedenen Untersuchungsausschüssen<br />

thematisiert, dass das BfV in seinen Jahresberichten nie die Möglichkeiten von<br />

rechtem Terror betont hat – diese Berichte sollen also als Beleg herhalten, dass das<br />

BfV rechten Terror tatsächlich nicht für möglich hielt. Der Inlandsgeheimdienst<br />

kennt allerdings nicht nur eine Wahrheit – gegenüber der Öffentlichkeit oder dem<br />

Parlament kommuniziert der Dienst selten sein ganzes Wissen oder eine Analyse,


246 Dirk Laabs<br />

die auf alle Quellen zurückgreift. Da die heikelsten Informationen meist von V-<br />

Männern stammen, werden die in den Schlüsselberichten ausgeklammert. Intern<br />

und innerhalb der „Staatsschutzfamilie“ kommuniziert das BfV offener.<br />

So war tatsächlich das BfV im Jahr 2000, tragischerweise nur wenige Tage<br />

nach dem ersten Mord des NSU – der Blumenhändler Enver Simsek war in Nürnberg<br />

erschossen worden –, analytisch auf einer heißen Spur. Das BfV hatte Terroranschläge<br />

durch mehrere rechtsextremistische Einzeltäter oder Kleingruppen in<br />

den Jahren zuvor registriert:<br />

• Kay Diesner erschoss 1997 einen Polizisten, verletzte zwei weitere Menschen<br />

schwer. Er bezog sich auf den „Weißen Arischen Widerstand“. In der deutschen<br />

Szene kursierte ein Konzept:<br />

„Wie aus dem in der FASCHISMUS-Schulungsbroschü re angefü hrten „Mein<br />

Kampf“-Zitat hervorgeht, haben wir alle die P icht zum Widerstand – und zwar<br />

zum Widerstand mit a l l e n Waffen! Es laufen Vorbereitungen, dem Staatsterror<br />

gewappnet entgegentreten zu können. Widerstand regt sich, Deutscher Widerstand.<br />

Wir wollen hier keinen neuen Verein grü nden (der dann sowieso ganz schnell wieder<br />

verboten wü rde). Der WEISSE ARISCHE WIDERSTAND DEUTSCHLAND ist<br />

keine Organisation mit Vorsitzendem, Kassierer usw. Man kann ihm nicht „beitreten“,<br />

bekommt auch keinen „Mitgliedsausweis“.“<br />

• Der britische Neonazi David Copeland zündete 1999 mehrere Nagelbomben in<br />

London. Er sagte umfassend aus:<br />

„Frage der Polizei: Warum Angriff auf Schwarze und Asiaten?<br />

Copeland: Weil ich sie nicht mag. Ich will, dass sie aus diesem Land verschwinden.<br />

Ich bin ein nationalsozialistischer Nazi [National Socialist Nazi]. Ich<br />

glaube an die Herrenrasse ... Mein Ziel war politisch, ich wollte einen<br />

Rassenkrieg in diesem Land.<br />

Frage: Also, indem Sie Bomben in Brixton und in der Bricklane legten, hofften Sie<br />

auf ...<br />

Copeland: ... einen Gegenschlag.<br />

Frage: .. von?<br />

Copeland: „... den ethnischen Minderheiten. ... Es wäre nur ein Funken. Dieser Funken<br />

würde das ganze Land in Flammen setzen. Chaos, Zerstörung, Feuer,<br />

das ist okay. Wenn Sie die Turner Diaries gelesen haben, naja, im Jahr<br />

2000 beginnt die Revolution [tatsächlich im Jahr 1991, d.A.], und die Rassengewalt<br />

wird die Straßen beherrschen, es gibt einen Rassenkrieg und<br />

die Menschen werden die BNP wählen.“


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

247<br />

Copeland wird schließlich gefragt, was das ultimative Ziel ist: „Ein nationalsozialistischer<br />

Staat ... für dieses Land, für die ganze Welt. Die Arier würden die Welt<br />

dominieren. Die weiße Rasse ist die Herrenrasse [und] die britischen Menschen<br />

haben ein Recht auf eine ethnische Säuberung.“ Er bezieht sich damit – wie Wiesner<br />

– eindeutig auf das Konzept des „Weißen Arischen Widerstands“.<br />

• In Schweden raubte eine dreiköpge Terrorgruppe, die sich ebenfalls auf den<br />

„Weißen Arischen Widerstand“ berief, eine Bank aus. Einer der Täter erschoss<br />

auf der Flucht zwei Polizisten mit ihren eigenen Waffen und nahm die Pistolen<br />

anschließend mit.<br />

• In Deutschland erschoss der Neonazi Michael Berger, bei dem auch eine psychische<br />

Erkrankung festgestellt wurde, im Juni 2000 zwei Polizisten.<br />

• Bei einem Bombenanschlag in Düsseldorf im Juli 2000, der sich unter anderem<br />

gegen Auswanderer aus Russland zu richten schien und bei dem mehrere<br />

Menschen schwer verletzt wurden, konnte ein rechter Hintergrund nicht ausgeschlossen<br />

worden.<br />

Das waren nur die spektakulärsten Vorkommnisse, es gab noch diverse andere<br />

Vorfälle mit klarem rechtsterroristischem Bezug. Das BfV zog aus diesen Attentaten<br />

in Deutschland und Europa die richtigen Schlüsse. Die Analysten des BfV<br />

stellten diese Anschläge bei einem Treffen aller Landeskriminalämter, des BKA<br />

und der Verfassungsschutzbehörden in Eisenach vor. Sie betonten dort: „Den Waffenfunden<br />

kommt vor der seit ca. eineinhalb Jahren geführten Gewaltdiskussion<br />

[in der Szene] eine besondere Bedeutung zu. Auch wenn sich viele Rechtsextremisten<br />

– wenn auch aus taktischen Gründen – von der Anwendung von Gewalt<br />

distanzieren, haben sich die Stimmen gehäuft, die Gewalt als Mittel zur Durchsetzung<br />

politischer Ziele befürworten.“ Dann folgte ein Eigenlob: „Das BfV konnte<br />

Dank seiner operativen Arbeit – zum Teil in enger Zusammenarbeit mit den<br />

Verfassungsschutzbehörden der Länder und dem MAD – eine ganze Reihe von<br />

Hinweisen auf Waffen- und Sprengstoffbesitz in der rechtsextremistischen Szene<br />

gewinnen und die Strafverfolgungsbehörden informieren. Im Rahmen der sich<br />

anschließenden Strafverfahren werden zumindest drei Gruppierungen in einem<br />

frühen Stadium zerschlagen, noch bevor sie sich zu terroristischen Organisationen<br />

entwickeln oder schwere Gewalttaten verüben konnten.“ Eines der wichtigsten<br />

Instrumente des BfV, um die erwähnten „Gruppierungen“ zu zerschlagen, waren<br />

wiederum Informanten.<br />

Ein Mitarbeiter des BfV bewertete die Entwicklung auf der Sicherheitskonferenz<br />

noch vor einem anderen Hintergrund – die Gesetze, die eine terroristische<br />

Vereinigung nach dem Vorbild der RAF denieren, seien zu starr – sein Amt habe


248 Dirk Laabs<br />

schon umgedacht, sagte der Mitarbeiter vom Bundesamt laut Protokoll: „Er verweist<br />

darauf, dass die seit Jahren von den Verfassungsschutzbehörden benutzte<br />

Denition des Terrorismus weder eine zielgerichtete Vereinigung von mindestens<br />

drei Personen noch ein Agieren aus dem Untergrund mit entsprechender Logistik<br />

und Unterstützerszene zwingend voraussetze. Vor diesem Hintergrund sehe das<br />

BfV in der jüngeren Entwicklung Ansätze für einen Rechtsterrorismus.“ Die anderen<br />

Teilnehmer stimmten nicht überein: „Demgegenüber sind die Vertreter der<br />

LKÄ und des GBA gegen eine darin gesehene Ausweitung der bisherigen De nition<br />

des Rechtsterrorismus. Diese müsse sich – gerade auch wegen der Wirkung<br />

auf die Öffentlichkeit – am Begriff der terroristischen Vereinigung im Sinne des §<br />

129 a StGB orientieren. Ansonsten werde es zu vermeidbaren und kaum lösbaren<br />

Abgrenzungsproblemen kommen.“<br />

Mit anderen Worten: Die Landeskriminalämter und die Bundesanwaltschaft<br />

hatten Angst vor der schlechten Presse. Rechter Terror sollte tabu bleiben. Der<br />

Chef der Staatsschutzabteilung des BKA hatte zwar dafür Verständnis, „dass die<br />

VS-Behörden bei ihrer Bewertung nicht nur die bisherige Rechtsprechung ..., sondern<br />

auch eine phänomenologische Sicht unter Einbeziehung der herausragenden<br />

Fälle (terroristischer) Einzeltäter in Österreich (Briefbombenversender Fuchs) und<br />

den USA (UNA-Bomber) einbeziehen.“ Und der Mann vom BKA betont zudem<br />

selber, dass bestimmte „fremdenfeindliche Gewalttaten“ auf „ausländische Mitbürger“,<br />

„ängstigend“ und „terrorisierend“ wirken. Dennoch: Auch das BKA hielt<br />

es nicht für nötig, die Gesetze und damit die Terrorismus-De nition zu reformieren.<br />

Also hieß es im Protokoll: „Ergebnis: Die Vertreter … stellen übereinstimmend<br />

fest, dass derzeit kein Rechtsterrorismus in Deutschland feststellbar ist.“<br />

Die wichtigsten Akteure des deutschen Sicherheitsapparats standen an diesem<br />

Tag in Eisenach an einem möglichen Wendepunkt – und entschlossen sich dennoch<br />

weiterzumachen wie bisher, obwohl die Hinweise, dass der rechte Terrorismus<br />

nicht mit der RAF zu vergleichen war, immer offensichtlicher wurden. Die<br />

bekannte Kleingruppe von militanten Neonazis, wie eben die Drillinge aus Jena,<br />

hätte genau in das neu denierte Raster gepasst. Sie hatte sich zwar in den Untergrund<br />

begeben, lebte illegal in Chemnitz, hatte dabei aber engen Kontakt zu bekannten<br />

rechten Akteuren und keinen Zugriff auf professionell gefälschte Papiere<br />

wie etwa die RAF. Die Drillinge lebten bei weitem nicht so „tief“ im Untergrund<br />

wie die Terroristen der RAF. Man hätte die Drillinge und ihre Unterstützer mit<br />

noch mehr Argwohn verfolgen können und müssen. Dass man das beim BfV entgegen<br />

der Aussage diverser Mitarbeiter des BfV nicht dennoch gemacht hat, ist<br />

allerdings noch nicht abschließend geklärt.


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

249<br />

„DER NSU IST KEINE ABSTRAKTE SACHE“ –<br />

Zahlreiche Hinweise auf den Nationalsozialistischen<br />

Untergrund<br />

Das BfV nahm die untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe als Bedrohung<br />

lange sehr ernst, zudem hatte man im Jahr 2000 erkannt, dass auch von<br />

Gruppen, die nicht besonders groß und streng organisiert sein müssen, eine akute<br />

Terrorgefahr ausgehen kann. Im Jahr 2002 kommt schließlich eine weitere<br />

Schlüsselinformation hinzu: Gut ein Jahr nach der Sicherheitskonferenz bekamen<br />

verschiedenen Verfassungsschutzbehörden mit, dass eine Gruppe namens NSU<br />

existiert. 2002 berichtete ein V-Mann dem LfV Mecklenburg-Vorpommern von<br />

einem Brief, der in der Szene herumgeschickt wurde und dem Bargeld beigelegt<br />

wurde. Eine Gruppe namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) hatte<br />

ein Schreiben an mehrere rechte Blätter verschickt, in dem es hieß:<br />

„ENTSCHLOSSENES, BEDINGUNGSLOSES HANDELN SOLL DER GA-<br />

RANT DAFÜR SEIN, DAS DER MORGIGE TAG DEM DEUTSCHEN VOL-<br />

KE GEHÖRT. JEDER KAMERAD IST GEFRAGT! AUCH DU ! ! ! GIB DEIN<br />

BESTES – WORTE SIND GENUG GEWECHSELT, NUR MIT TATEN KANN<br />

IHNEN NACHDRUCK VERLIEHEN WERDEN. DER NSU IST KEINE ABS-<br />

TRAKTE SACHE. JEDER KAMERAD GEHÖRT DAZU SOFERN ER DEN<br />

MUT FINDET ZU HANDELN UND SEINEN BEITRAG ZU LEISTEN. WIE<br />

ERFOLGREICH DER NATIONALSOZIALISTISCHE UNTERGRUND IN DER<br />

ZUKUNFT SEIN WIRD (,) HÄNGT AUCH VON DEINEM VERHALTEN AB.“<br />

Wenig später wurde eine Anzeige in dem Skinzine „Der Weiße Wolf“ veröffentlicht:<br />

„Vielen Dank an den NSU, es hat Frü chte getragen ;-) Der Kampf geht weiter…“<br />

Der ehemalige Präsident des BfV Heinz Fromm hat vor dem NSU-Ausschuss<br />

in Berlin zugegeben, dass man die Anzeige durchaus registriert und einen<br />

Vorgang zu einer Gruppe NSU angelegt hat.<br />

Nur wenige Monate später tauchte der Name „NSU“ in einem anderen Zusammenhang<br />

erneut auf. Einer der wichtigsten V-Männer des BfV – Thomas Richter<br />

alias Corelli – hatte seinem Kontakt-Agenten eine CD übergeben, auf der Dateien,<br />

Fotos und ein Cover gespeichert waren. Auf dem Cover war eine Pistole zu sehen<br />

– und der Schriftzug NSU/ NSDAP. Der Begriff wurde bei den Verfassungsschutzbehörden<br />

abgespeichert. Schon der Vordenker der rechten Szene, Michael<br />

Kühnen hatte gefordert, in „Mitteldeutschland“ einen „NS-Untergrund“ zu gründen.<br />

Das Konzept ist also den Verfassungsschutzbehörden ebenfalls seit Jahren<br />

bekannt.


250 Dirk Laabs<br />

Mitarbeiter des BfV haben inzwischen versucht, das Auftauchen der CD zu<br />

relativieren – der V-Mann habe ständig Material in großem Umfang abgeliefert,<br />

die NSU/ NSDAP-CD sei nur eine von vielen CDs gewesen. Allerdings gibt das<br />

BfV inzwischen zu, dass das Cover und ein Text über die NSU nicht bereits ausgedruckt,<br />

sondern lediglich als einzelne Dateien auf der CD gespeichert waren – das<br />

bedeutet, die CD wurde vom BfV gründlich untersucht, die entscheidenden Dateien<br />

auch wahrgenommen. Das BfV gibt inzwischen auch zu, dass man anschließend<br />

den V-Mann gezielt nach der Gruppe NSU/ NSDAP gefragt habe. Man hat<br />

sich also für die neue Gruppe durchaus interessiert. Angeblich blieb die Befragung<br />

von Corelli jedoch ohne Ergebnisse. Der V-Mann ist inzwischen verstorben – an<br />

einem Zuckerschock in Folge einer nicht erkannten und therapierten Diabetes-<br />

Erkrankung. Er kann also zu der CD und der Gruppe NSU/ NSDAP nicht mehr<br />

befragt werden. Der Innenausschuss des Bundestages hat inzwischen einen Sonderermittler<br />

eingesetzt, um den Fall zu untersuchen. 8 Ob man beim BfV die CD<br />

mit dem Brief des NSU in Verbindung gebracht hat, konnte bislang nicht geklärt<br />

werden, würde aber naheliegen.<br />

Der Fall Corelli macht mehrere Punkte klar.<br />

• Das BfV arbeitet Spuren durchaus gründlich und mit logischer Konsequenz<br />

auf. Von Desinteresse oder Schlamperei an dieser Stelle ndet sich zunächst<br />

keine Spur.<br />

• Das BfV hatte die Existenz von Corelli weder gegenüber dem Bundestags-Ausschuss<br />

noch gegenüber dem BKA zugegeben. Er wurde durch die Arbeit eben<br />

jenes Ausschusses bekannt. Auch die Existenz der CD im Archiv des BfV – die<br />

zuvor zunächst in der rechten Szene aufgetaucht war – wurde nur bekannt, weil<br />

das BKA gezielt nach diesem Beweismittel gefragt hatte. Das BfV blockiert<br />

mithin die Aufklärung des NSU-Komplexes und gibt immer nur das zu, was sowieso<br />

bekannt geworden ist. Es ist also zulässig, davon auszugehen, dass aktive<br />

und ehemalige Beamten des BfV auch weiter Wissen zurückhalten.<br />

Als im Jahr 2003 zumindest den Analysten des BfV der NSU ein Begriff war,<br />

spielte der ehemalige BfV-Vizepräsident Klaus-Dieter Fritsche gegenüber dem Innenministerium<br />

nun die Terrorgefahr von rechts herunter. In einem Schreiben an<br />

den damaligen Innenminister Otto Schily beantwortete Fritsche, ob eine „Braune<br />

Armee Fraktion“ existiere:<br />

8 Zum Zeitpunkt des Redaktionsschluss lag sein Bericht noch nicht vor.


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

251<br />

„Bei einem Vergleich mit der RAF muss zumindest das wesentliche Merkmal dieser<br />

terroristischen Bestrebungen berücksichtigt werden. Die RAF führte ihren bewaffneten<br />

Kampf aus der Illegalität heraus. Das heißt, die Gruppe lebte unter falscher<br />

Identität, ausgestattet mit falschen Personaldokumenten und Fahrzeugdubletten in<br />

konspirativen Wohnungen. Dies erforderte ein hohes Know-how und ein Sympathisantenumfeld,<br />

das bereit war, den bewaffneten Kampf aus der Illegalität zu unterstützen.<br />

Zur Finanzierung dieses Kampfes wurden Raubüberfälle begangen. Absichten,<br />

einen Kampf aus der Illegalität heraus mit den damit verbundenen Umständen<br />

zu führen, sind in der rechten Szene nicht erkennbar. Es gibt derzeit auch keine Anhaltspunkte,<br />

dass eine solche Gruppe ein Umfeld nden würde, das ihr einen solchen<br />

Kampf ermöglicht. Die gewaltbejahenden Äußerungen in der rechten Szene sind in<br />

letzter Zeit seltener geworden.“<br />

Schließlich erwähnte Fritsche sogar die Drillinge:<br />

„In der Presse wird angeführt, dass es im <strong>Rechtsextremismus</strong> sehr wohl ein potentielles<br />

Unterstützerfeld gebe. Hierzu wird auf drei Bombenbauer aus Thüringen verwiesen,<br />

die seit mehreren Jahren ‚abgetaucht‘ seien und dabei sicherlich die Unterstützung<br />

Dritter erhalten hätten. Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Personen auf<br />

der Flucht sind und – soweit erkennbar – seither keine Gewalttaten begangen haben.<br />

Deren Unterstützung ist daher nicht zu vergleichen mit der für einen bewaffneten<br />

Kampf aus der Illegalität.“<br />

Abermals behaupten also zentrale Akteure vom BfV an dieser entscheidenden<br />

Stelle, dass man die wesentlichen Informationen – Bestrebungen der rechte Szene,<br />

Anschläge zu begehen, Existenz von Neonazis – wie den Drillingen – im Untergrund,<br />

die Überfälle begangen haben sollen, Auftauchen der Gruppe NSU, die den<br />

Untergrund im Namen trägt – nicht zu einem Gesamtbild zusammengefügt habe.<br />

Man hätte schlicht das Schicksal der abgetauchten Bombenbastler aus Jena „aus<br />

den Augen“ verloren.<br />

Dass man die Drillinge beim BfV plötzlich uninteressant fand, ist bislang jedoch<br />

nichts weiter als eine Behauptung der durch den Berliner NSU-Ausschuss<br />

befragten Zeitzeugen des BfV. Zumal das BfV 2003 zudem von ausländischen Geheimdiensten<br />

gewarnt wurde, dass es eine aktive rechte Terrorgruppe in Deutschland<br />

geben könnte.


252 Dirk Laabs<br />

Das BfV und der Anschlag in der Keupstraße<br />

Noch im Jahr 2004 – als die juristischen Anwürfe wegen der Bombenattrappen von<br />

Jena gegen Mundlos und Zschäpe schon verjährt waren – erwähnte man die drei<br />

explizit in einem „BfV-Spezial“-Bericht, in dem die Terrorgefahr von rechts analysiert<br />

wurde und dutzende rechtsextremistische, potenzielle Terroristen porträtiert<br />

wurden. Unter ihnen waren diverse V-Männer, so dass das BfV geglaubt haben mag,<br />

dass man die Szene im Griff hatte. So wurde ein möglicher Anschlag gegen die<br />

Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindehauses 2003 durch einen V-Mann verraten,<br />

der die Gruppe wesentlich mitgeführt und radikalisiert hatte. Er berichtete jedoch<br />

dem LfV Bayern und nicht dem BfV. Das LfV Bayern ließ das BfV über diese<br />

Operation bis zur Enttarnung der Gruppe im Dunkeln – ein weiterer Beleg dafür,<br />

wie viel Risiko die verschiedenen Verfassungsschutzbehörden bei der Bekämpfung<br />

von rechtsgerichteten Terroristen eingingen und wie wenig man sich abstimmte.<br />

Das „BfV-Spezial“ erschien nur Wochen nach einem Nagelbombenanschlag<br />

in der Kölner Keupstraße im Juni 2004, bei dem Dutzende von Menschen verletzt<br />

wurden und der im Ablauf den Anschlägen von London sehr ähnelte. Die ganze<br />

Widersprüchlichkeit und Problematik der Arbeit des BfV wird auch in diesem<br />

Fall deutlich.<br />

• Stunden nach der Tat, am späten Abend, rief einer der führenden Beamten des<br />

BfV bei der zuständige Leitzentrale an. Er brauche dringend die Nummer des<br />

Mitarbeiters des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen, der für die Führung<br />

der V-Männer in dem Bundesland zuständig war. Der Anrufer kannte den<br />

Mann bereits seit langem, sie hatten die wichtigsten Telefonnummern längst<br />

ausgetauscht. Doch der BfV-Beamte schien den Kontakt so dringend zu brauchen,<br />

dass er versuchte umgehend eine weitere Nummer aus ndig zu machen,<br />

um den Mann des LfV NRW schnell erreichen zu können. Was gab es so Dringendes<br />

in Sachen V-Männer zu besprechen? Die Teilnehmer des Telefonats sind<br />

erkrankt oder wollen sich nicht erinnern.<br />

• Das BfV hat den Anschlag in der Keupstraße als Fall gründlich bearbeitet,<br />

ungefragt für die Kriminalpolizei eine Analyse geschrieben, darin auf den Anschlag<br />

in London hingewiesen, Unterschiede und Parallelen der Fälle herausgestellt.<br />

Zudem verwies das BfV auf einen anderen Anschlag in Köln aus dem<br />

Jahr 2001, den die Polizei schon fast vergessen hatte und der später tatsächlich<br />

dem NSU zugerechnet werden konnte. So weit, so konsequent. Das BfV schloss<br />

nun aus dem Umstand, dass die Nagelbombe sehr fragil und auf einem Fahrrad<br />

befestigt war jedoch, dass die Attentäter aus dem Umland kommen müssten.<br />

Man präsentierte auch Verdächtige aus dem Kölner Großraum.


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

253<br />

Was nicht passierte – jedenfalls wurde dieser Vorgang bislang nicht offen gelegt:<br />

Niemand in der Abteilung Rechtsterrorismus des BfV überprüfte nun systematisch<br />

potenzielle rechtsextremistische Täter aus ganz Deutschland, die für den Anschlag<br />

besonders in Frage kommen würden. Die Drillinge wären – da sie auch in diversen<br />

Polizeidatenbanken als potenzielle Sprengstoffattentäter gespeichert waren – als<br />

mögliche Verdächtige sofort auf dem Radar des BfV erschienen.<br />

• In diesem Zusammenhang ist ebenfalls bemerkenswert, dass das BfV in eine<br />

Falle der Kriminalpolizei tappte. Die überwachte die eigene Homepage, um zu<br />

registrieren, wer besonders oft die Seite besucht, auf der die Videos der mutmaßlichen<br />

Attentäter aus der Keupstraße zu sehen waren. Die Seite wurde so<br />

häug von Computern des BfV angesteuert, dass die Polizei eine Abordnung<br />

dorthin schickte, um nachzufragen, was es mir der Obsession der BfV-Beamten<br />

auf sich hatte.<br />

Fest steht also: Es gab ein großes Interesse zentraler Personen innerhalb des BfV<br />

an dem Anschlag in der Keupstraße, darunter ein Akteur, der vor allem mit der<br />

V-Mann-Führung zu tun hatte. Man analysierte Aufnahmen von den Tätern, sogar<br />

exzessiv. Man zog im BfV die richtigen Schlüsse, verglich das Attentat mit den<br />

rassistischen Anschlägen in London. Aber abermals will man nicht auf Böhnhardt<br />

und Mundlos als mögliche Verdächtige gekommen sein. Man wäre damit wie ein<br />

Schlafwandler den Tätern dicht auf den Fersen gewesen – ohne es jedoch gemerkt<br />

zu haben.<br />

Auch dass auf den Tag genau ein Jahr nach dem Keupstraßenanschlag die Ceska-Mordserie<br />

in Nürnberg weiter ging und ein Mann in Nürnberg erschossen wurde,<br />

will man beim BfV nicht mitbekommen haben. Genauso wenig wie den Fakt,<br />

dass polizeiintern der Anschlag in Köln und die Mordserie aufgrund der Täterbeschreibung<br />

in Verbindung gebracht worden sind – eine spektakuläre Erkenntnis,<br />

denn so hatte man Videoaufnahmen von Verdächtigen, die auch hinter der Ceska-<br />

Serie zu stecken schienen.


254 Dirk Laabs<br />

„Es dü rfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden,<br />

die ein Regierungshandeln unterminieren“<br />

Schließlich hatte das BfV auch mit dem letzten Mord der Ceska-Serie indirekt<br />

zu tun, bei dem die Verfassungsschutzgemeinde besonders exponiert wurde. Als<br />

neuntes Opfer wurde ein junger Mann in seinem Internetcafé in Kassel im April<br />

2006 erschossen.<br />

Ein Jugendlicher wies die Polizei auf einen „richtigen Deutschen“ hin, der während<br />

oder kurz vor der Tat ebenfalls an einem Computer im Café gesessen hatte,<br />

sich bislang aber nicht als Zeuge gemeldet hatte. Die Polizei konnte ihn aus ndig<br />

machen – es war ein V-Mannführer des LfV Hessens, Andreas Temme. Erst gab<br />

er zu, am Tattag in dem Café gewesen zu sein, dann stritt er es ab. Er traf sich<br />

mehrfach mit dem Präsidenten seines Amtes, dazu heimlich mit seiner Che n,<br />

obwohl er schon unter einfachem Mordverdacht stand, man besprach, was zu tun<br />

war. Erst später stellte sich heraus, dass seine Vorgesetzte ihn und seine Kollegen<br />

wenige Wochen vor dem Mord im Internet-Café per E-Mail über die Ceska-Mordserie<br />

informiert hatte, beigefügt war ein Info-Blatt des BKA. Die Chen hatte ihre<br />

Beamten in der Mail aufgefordert, sich unter den V-Leuten umzuhören: „Gibt es<br />

Dinge, die VM [V-Männer] dazu sagen könnten?!“ Temme hat tatsächlich einen<br />

V-Mann in der rechten Szene, der ausgerechnet im Umfeld des Trios eingesetzt ist.<br />

Die Polizei drängte darauf, die V-Männer von Temme zu verhören, fünf Islamisten<br />

und eben jenen jungen Nazi, mit dem Temme zudem am Tattag ausführlich<br />

telefoniert hat. Doch das LfV Hessen verweigerte der Polizei die Spitzel als Zeugen<br />

zu vernehmen, der Geheimschutzbeauftragte des Amtes erklärte, dass „eine<br />

Vernehmung und der damit einhergehende Verlust der Quellen das „größtmögliche<br />

Unglü ck fü r das Landesamt“ darstellen wü rde:<br />

„…wenn solche Vernehmungen genehmigt wü rden, wäre es fü r einen fremden<br />

Dienst ja einfach, den gesamten Verfassungsschutz lahm zu legen. Man mü sse nur<br />

eine Leiche in der Nähe eines V-Mannes bzw. eines V-Mann-Fü hrers positionieren.“<br />

Quellenschutz ist also wichtiger als die Aufklärung einer Mordserie, sobald das<br />

„Staatswohl“ gefährdet ist. Andreas Temme und seine Kollegen beim LfV Hessen<br />

wissen eindeutig mehr als sie zugeben, behalten es aber trotzdem für sich, denn<br />

vieles deutet darauf hin, dass Temme dienstlich und nicht zufällig in dem Internet-Café<br />

war.<br />

Nach dem Mord von Kassel endete die Ceska-Mordserie – ohne dass sie von<br />

der Polizei aufgeklärt wird. Da die Rolle Temmes früh publik wurde, wurde das<br />

LfV Hessen vehement kritisiert, der Präsident musste gehen. Als Nachfolger kam


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

255<br />

ein Spitzenbeamter des BfV, Alexander Eisvogel, der das kleine, vergleichsweise<br />

unbedeutende LfV Hessen für eine Zeit leitete. Er bedankte sich in einem Schreiben<br />

persönlich bei Temme und bezog sich dabei auf ein Vieraugengespräch. Was<br />

genau Eisvogel mit Temme besprach und warum das BfV einen seiner besten Mitarbeiter<br />

gleichsam zu Aufräumarbeiten nach Hessen schickte, ist bislang nicht bekannt.<br />

Der Untersuchungsausschuss des Landtages Hessen hat erst im Jahr 2015<br />

seine Beweisaufnahme aufgenommen.<br />

Anschließend – ab dem Jahr 2006 – will das BfV über seine diversen V-Männer<br />

nichts mehr über ein NSU oder die üchtigen Drillinge gehört haben.<br />

Der Kreis schließt sich dann erst ab dem 4. November 2011.<br />

Zwei Männer überfallen eine Bank in Eisenach. Sie iehen auf Rädern, verladen<br />

die Fahrräder in ein Wohnmobil und werden dabei gesehen. Sie verlassen<br />

nicht die Stadt, sondern warten am Stadtrand. Dort werden sie von einer Polizeistreife<br />

entdeckt. Die beiden Polizisten glauben, man habe auf sie geschossen. Kurz<br />

darauf steht der Camper in Flammen. In dem Wrack werden später die Leichen<br />

von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gefunden. Dazu Waffen, Beutegeld von<br />

verschiedenen Überfällen, falsche Pässe, Rucksäcke. Darin wiederum DVDs mit<br />

einem Film darauf, in dem sich der NSU zu zwei Bombenanschlägen und zehn<br />

Morden bekennt. Diese DVDs jedoch werden von der Spurensicherung erst einen<br />

Monat nach dem Brand in den Rucksäcken – in der Asservatenkammer – entdeckt.<br />

Da war der Film schon lange in der Öffentlichkeit. Denn die DVDs wurden auch<br />

an Parteien, Fernsehsender, muslimische Gemeinden geschickt – von mindestens<br />

einem Helfer des NSU, und von, mutmaßlich, Beate Zschäpe, die bis zum Ende im<br />

Untergrund geblieben ist. Sie lebte seit 2008 in der Zwickauer Frühlingsstraße, in<br />

einer Wohnung, die wie ein sicheres Haus eingerichtet war, mit Kameras, Stahltüren,<br />

falschen Wänden, einem Archiv voller Waffen, Munition und Artikel über<br />

die Ceska-Morde. Kurz nach dem Tod ihrer Freunde soll Zschäpe die Wohnung<br />

in Brand gesteckt haben. Sie irrte anschließend durch Deutschland und stellte sich<br />

dann, vier Tage später, in ihrer Heimatstadt Jena.<br />

Beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln wusste man, was das bedeutet.<br />

Die Details des Kampfes gegen die Rechtsextremisten, den man vor allem mit<br />

Spitzeln, also mit der Hilfe von anderen Rechtsextremisten geführt hat, drohten<br />

nun ans Tageslicht zu kommen, viele der noch aktiven Informanten waren in akuter<br />

Gefahr, enttarnt zu werden.<br />

So war es konsequenterweise der Experte für Rechtsterrorismus Lothar Lingen,<br />

der am 8. November 2011 – vier Tage nach dem Tod von Uwe Böhnhardt<br />

und Uwe Mundlos und nur wenige Stunden nachdem sich Beate Zschäpe in Jena<br />

gestellt hatte – BfV-Akten über rechtsradikale V-Männer heraussuchen ließ, um<br />

sie wenig später – teilweise – vernichten zu lassen. Auch hier ist unklar, welche


256 Dirk Laabs<br />

Akten in welchem Umfang vernichtet worden sind, auch hier hält das Bundesamt<br />

Informationen zurück.<br />

Zudem sollte offenbar verschleiert werden, wie viele Informanten Lingens Abteilung<br />

in den 1990er Jahren wirklich geworben hatte, denn es wurden ebenfalls<br />

Akten aus den frühen Jahren der Abteilung geschreddert. So heißt es im Bericht<br />

des NSU-Ausschusses des Bundestages:<br />

„Ab dem 29. Dezember 2011 seien insgesamt 137 Akten aus dem Forschungs- und<br />

Werbungsbereich vernichtet worden: Dabei habe es sich im Einzelnen gehandelt<br />

um… Forschungs- und Werbungs-Vorgänge aus 1993-1994. Diese Forschungs- und<br />

Werbungsvorgänge aus 1993-1994 seien nicht rekonstruierbar.“<br />

Mit der Vernichtung der Akten war nicht ausschließlich Lothar Lingen betraut,<br />

auch andere Akteure des BfV haben das Schreddern der Dokumente zu verantworten.<br />

Aber es war Lingens Abteilung, die diese Akten in den frühen 1990ern<br />

angelegt hatte, gerade als das BfV sich immer intensiver mit gewaltbereiten Neonazis<br />

auseinandersetzte.<br />

Der Umstand, dass Lothar Lingen auch 2011 noch – fast zwanzig Jahre nachdem<br />

er begann, den <strong>Rechtsextremismus</strong> zu bekämpfen –, für militante Nazis zuständig<br />

war, zeigt, dass es eine große personelle Kontinuität innerhalb des BfV<br />

gibt, die es noch unglaubwürdiger macht, dass die Drillinge aus Jena einfach in<br />

Vergessenheit geraten sein sollen und als Gefahr nicht mehr interessiert haben.<br />

Warum kooperiert das BfV nicht rückhaltlos mit den Aufklärern?<br />

Einer der Hauptverantwortlichen für den Kampf gegen den deutschen Terror,<br />

der Ex-Vizepräsident des BfV, Klaus-Dieter Fritsche, sagte dazu in einer Sitzung<br />

des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses:<br />

„Es dü rfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln<br />

unterminieren. Es darf auch nicht so weit kommen, dass jeder Verfassungsfeind und<br />

Straftäter am Ende genau weiß, wie Sicherheitsbehörden operativ arbeiten und welche<br />

V-Leute und verdeckten Ermittler im Auftrag des Staates eingesetzt sind.“<br />

Und genau darum scheint es auch im NSU-Komplex an zentralen Stellen gegangen<br />

zu sein: Quellenschutz ging vor Strafverfolgung. Geklärt werden muss noch immer:<br />

Hat das BfV das Puzzle – obwohl man dort fast alle zentralen Teile vorliegen<br />

hatte – wirklich nicht zusammengesetzt? Und wenn das so ist – warum nicht?<br />

Hier muss die Analyse ohne vorgefasste Meinung und frei von Klischees – „auf<br />

dem rechten Auge blind“, „rechten Terror nicht für möglich gehalten“ – weitergehen,<br />

um den NSU-Komplex komplett aufklären zu können. Vor allem müssen


Der Verfassungsschutz und der NSU<br />

257<br />

auch die Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz den Aufklärern aus den<br />

verschiedenen Untersuchungsausschüssen ohne Restriktionen vorgelegt werden.<br />

Nur danach sieht es nicht aus. Zu Erinnerung: Im Falle des Wissens des BND um<br />

Adolf Eichmann darf der Auslandsgeheimdienst mit Segen der höchsten Gerichte<br />

weiterhin Akten nur geschwärzt vorlegen. Und auch im Fall des Oktoberfestattentats<br />

wurde erst fast 25 Jahre nach der Tat von Seiten der Exekutive zugegeben,<br />

dass Ankläger und Nebenkläger bei weitem nicht alle Akten bekommen haben. Es<br />

ist also ein langer Atem gefragt. Auch und gerade bei der Aufklärung des NSU-<br />

Komplexes.


Prozesse und Strukturen<br />

der Verfassungsschutzämter<br />

nach dem NSU 1<br />

Thomas Grumke<br />

1 Einleitung<br />

“Too much Civil Service work consists of circulating information that isn’t relevant<br />

about subjects that don’t matter to people who aren’t interested.”<br />

(Satirische BBC Sitcom „Yes, Minister“: PREFACE)<br />

In der Causa NSU gaben und geben einige Verfassungsschutzämter von außen<br />

betrachtet ein desolates Bild ab. Obwohl in diesem Kontext auch erhebliche Fehlleistungen<br />

auf Seiten von Polizei, Justiz und nicht zuletzt der politisch Verantwortlichen<br />

zu beklagen sind, scheint das ohnehin dubiose Image der „Schlapphüte“<br />

in der Öffentlichkeit nahezu irreparabel. Der Fall vom „Frühwarnsystem der Demokratie“<br />

zur, wie einige behaupten, Gefahr für die Demokratie ist dramatisch.<br />

Von jeher sitzen die Ämter für Verfassungsschutz jedoch in einer imageschädigenden<br />

Falle: „Wenn den Diensten Schnitzer unterlaufen, heisst es, sie seien bis<br />

zur Lächerlichkeit ineffektiv. Haben sie Erfolge, heisst es hingegen, sie seien eine<br />

Bedrohung für die Bürgerrechte.“ (Gujer, 2012). „Der Verfassungsschutz“, den es<br />

in Wirklichkeit in dieser Homogenität nicht gibt, ist weiterhin ein Mysterium für<br />

weite Teile der Bevölkerung.<br />

Eine penible Untersuchung von Fehlern und Versäumnissen staatlichen Handelns<br />

ist dringend geboten und wird durch die Untersuchungsausschüsse im Bund<br />

1 Eine Fassung dieses Textes erscheint in Lange und Lanfer (2015, i.E.).<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_9, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


260 Thomas Grumke<br />

und in den Ländern sowie im Zuge des Zschäpe-Prozesses geleistet werden. In<br />

der öffentlichen und politischen Debatte dominieren im Moment Rechtsfragen,<br />

Technikalitäten (z. B. Einsatz von V-Leuten, Verarbeitung von Daten) und Fragen<br />

der Neuorganisation und der besseren Zusammenarbeit (z. B. Verhältnis des<br />

Bundesamtes zu den Landesämtern, Austausch von Daten). Nach den Debatten<br />

von 1992 (Pogrome von Rostock-Lichtenhagen) und 2000 („Aufstand der Anständigen“)<br />

erscheint die jetzige Diskussion zudem manchmal wie ein Déjà-vu (vgl.<br />

Grumke, 2011).<br />

Es haben sich drei Varianten zur Zukunft des Verfassungsschutzes herausgebildet:<br />

Reformieren (vgl. Grumke & Pfahl-Traughber, 2010), abschaffen (vgl. Leggewie<br />

& Meier, 2012; Wesel, 2012) oder „weiter so“. Immer mitgedacht werden<br />

muss das bisherige und zukünftige Verhältnis zur Polizei, die in den meisten Verfassungsschutzbehörden<br />

seit jeher stark personell vertreten ist, z. B. als Führer von<br />

Quellen (V-Leuten) oder Observanten.<br />

Bei einem öffentlichen Fachgespräch der SPD-Bundestagsfraktion am 1.<br />

November 2012 unter dem Titel „Ein Jahr nach Entdeckung des NSU-Terrors“<br />

mahnte der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses, Sebastian Edathy,<br />

eindringlich die „Grundversprechen“ des demokratischen Rechtsstaats an: Der<br />

Schutz der Unversehrtheit aller hier lebenden Menschen und wenn dies nicht gelinge,<br />

die staatliche Aufklärung mit aller Kraft. Im Fall des NSU wurden beide<br />

Grundversprechen gebrochen.<br />

Die Kernhypothese dieses Aufsatzes lautet: Das nach wie vor bestehende Entsetzen<br />

über die neue Qualität der rechtsextremistisch motivierten Mordserie des<br />

sog. „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) hat sich auch mehr als zwei<br />

Jahre nach dessen Entdeckung nicht in eine neue Qualität des nachhaltigen Handelns<br />

in den Verfassungsschutzbehörden transformiert. Es darf nicht nur um strukturelle<br />

Fragen gehen, denn die beste Struktur ist nur so gut wie die in ihr handelnden<br />

Personen. Deshalb werden in diesem Artikel die Organisationsstrukturen<br />

und die Arbeitsweise der Ämter für Verfassungsschutz kurz nachgezeichnet. Die<br />

Kernfrage lautet: Welche Schritte sind notwendig, damit die Verfassungsschutzämter<br />

wirklich einmal „Nachrichten-Dienstleister der wehrhaften Demokratie“<br />

(Schreiber, 2010, S. 34) werden?<br />

Wer die Verfassungsschutzbehörden nicht abschaffen will, sondern sogar für<br />

ein zentrales Element der wehrhaften Demokratie hält, der muss diese auch in<br />

einen entsprechenden personellen und materiellen Stand versetzen. Soll Extremismus<br />

analysiert und nachhaltig bekämpft, oder weiterhin verwaltet werden?


Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />

261<br />

2 Aufgaben und Struktur<br />

“In government, many people have the power to stop things happening but almost<br />

nobody has the power to make things happen. The system has the engine of a lawn<br />

mower and the brakes of a Rolls Royce.”<br />

(Yes, Minister: A REAL PARTNERSHIP)<br />

I. Was die Aufgaben der Verfassungsschutzämter betrifft, so hat das Bundesverfassungsgericht<br />

diese jüngst in seinem Urteil vom 24.04.2013 zur Vorratsdatenspeicherung<br />

noch einmal genau – vor allem in Abgrenzung zur Polizei – beschrieben:<br />

„Die Rechtsordnung unterscheidet […] zwischen einer grundsätzlich offen arbeitenden<br />

Polizei, die auf eine operative Aufgabenwahrnehmung hin ausgerichtet und<br />

durch detaillierte Rechtsgrundlagen angeleitet ist, und den grundsätzlich verdeckt<br />

arbeitenden Nachrichtendiensten, die auf die Beobachtung und Aufklärung im Vorfeld<br />

zur politischen Information und Beratung beschränkt sind und sich deswegen<br />

auf weniger ausdifferenzierte Rechtsgrundlagen stützen können. Eine Geheimpolizei<br />

ist nicht vorgesehen“ (BVerfGE, 1 BvR 1215/07, Rand-Nr. 122).<br />

Der immer wieder geäußerten Forderung, doch den Verfassungsschutz komplett aufzulösen<br />

und deren Aufgaben der Polizei zuzuweisen, ist damit eine klare Absage<br />

erteilt. Vielmehr ist es dringend geboten, die Behörden für Verfassungsschutz in den<br />

Stand zu versetzen, die ihr obliegenden Aufgaben – also: die Beobachtung und Aufklärung<br />

von extremistischen Bestrebungen im Vorfeld zur politischen Information<br />

und Beratung – auch adäquat erfüllen zu können. Doch wie sieht der Ist-Zustand aus?<br />

II. Die Ämter für Verfassungsschutz sind entweder Abteilungen in den Innenbehörden<br />

mit einer Ministerialdirigentin/en an der Spitze (i.d.R. Besoldungsgruppe<br />

B7) oder Landesämter, also nachgeordnete Behörden der Innenressorts und<br />

unter deren Fachaufsicht, mit einer/m Präsidentin/en an der Spitze (i.d.R. Besoldungsgruppe<br />

B4). Mit dem Stand 1. Dezember 2014 waren von den 17 Verfassungsschutzämtern<br />

acht eine Abteilung und neun ein Landes- bzw. Bundesamt.<br />

Diese Struktur ist Änderungen unterworfen, wie das Beispiel Berlin zeigt. Hier<br />

wurde das Landesamt für Verfassungsschutz im Jahre 2000 nach einer Reihe von<br />

Fehlleistungen de facto aufgelöst und als Abteilung in die Innenbehörde eingegliedert.<br />

Hier oblag es dann ab Anfang 2001 der Abteilungsleiterin Claudia Schmid<br />

das Amt personell und mental aus dem Kalten Krieg hin zu einem modernen Verfassungsschutz<br />

zu führen. Aus Thüringen ist zu vernehmen, dass die neue Rot-<br />

Rot-Grüne Landesregierung den Verfassungsschutz dort ebenfalls in das Innenministerium<br />

eingliedern will.


262 Thomas Grumke<br />

Der Verfassungsschutz handelt nicht im luftleeren Raum, sondern ist Akteur im<br />

politischen Umfeld. Wie alle anderen Abteilungen der Ministerien bzw. alle nachgeordneten<br />

Behörden, sind alle Verfassungsschützer dem Dienstherrn (hier: den<br />

Innenministern und –senatoren) weisungsgebunden. Zudem sind die Leiter/innen<br />

der Verfassungsschutzbehörden sogenannte „politische Beamte“, werden also direkt<br />

von der politischen Leitung eingesetzt (und ggf. auch wieder abberufen). Wie<br />

das im worst case aussehen kann, zeigt der Fall Helmut Roewer, von 1994 bis 2000<br />

Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz. Durch einen massiven<br />

politischen Eingriff wurde damals der amtierende Präsident Harm Winkler<br />

abgesetzt und durch den aus dem Bundesministerium des Innern kommenden Roewer<br />

ersetzt. Die Urkundenübergabe fand angeblich in einem Erfurter Wirtshaus<br />

statt. Roewer selbst erinnerte sich an die genauen Umstände bei der Befragung<br />

durch den Thüringer Untersuchungsausschuss nicht mehr, da er bei Übergabe des<br />

„gelben Umschlags“ betrunken gewesen sei. Weder der bei Roewers Ernennung<br />

amtierende Innenminister Schuster noch dessen Nachfolger Dewes konnten bei<br />

ihrer Befragung sagen, wer wann warum Roewer diese hochrangige Stelle als<br />

Leiter des Verfassungsschutzes Thüringen angeboten hatte und wie er ausgewählt<br />

wurde (vgl. Thüringer Landtag, 2013, S. 277ff.). Die Amtsführung Roewers wurde<br />

von einem ehemaligen Mitarbeiter als „selbstherrlich“ und „menschenverachtend“<br />

bezeichnet (Thüringer Landtag, 2013, S. 288). Das ernüchternde Fazit des Zwischenberichts<br />

des Untersuchungsausschusses lautet:<br />

„Der Untersuchungsausschuss muss zur Kenntnis nehmen, dass die damalig Verantwortlichen<br />

sich jeder Verantwortung für die Ernennung entziehen. Dies mag eine<br />

Ursache darin haben, dass angesichts der bekanntgewordenen Umstände der späteren<br />

Tätigkeit und der Amtsführung des Präsidenten und der öffentlich notwendigerweise<br />

geäußerten Kritik an der Arbeit des TLfV auch im Zusammenhang mit dem<br />

Untersuchungsauftrag jeder eine Verbindung zur eigenen Person, und sei es auch nur<br />

durch die Verantwortung für die Ernennung des in die Kritik geratenen Präsidenten,<br />

vermeiden will“ (Thüringer Landtag, 2013, S. 508).<br />

Die Kritik an mangelhafter Arbeit des Verfassungsschutzes – hier am Beispiel<br />

Thüringen – muss also zwangsläu g verbunden werden mit einer ebenso scharfen<br />

Kritik an den jeweiligen Dienstherren, die die Arbeit ihrer gesamten Ressorts<br />

schlussendlich verantworten. Die Verfassungsschutzbehörden sind insofern weder<br />

dienstrechtlich noch organisatorisch eine Besonderheit gegenüber allen anderen<br />

Abteilungen bzw. nachgeordneten Behörden der Innenressorts.<br />

III. Nach dem Bekanntwerden des NSU im November 2011 ist viel von einer<br />

strukturellen Neuausrichtung oder Neujustierung der Verfassungsschutzbehörden die<br />

Rede. Bislang wurde im Bundesamt die einige Jahre zuvor getätigte Zusammenlegung


Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />

263<br />

der Abteilungen Rechts- und Linksextremismus rückgängig gemacht, so dass der Bereich<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> nun wieder einen eigenständigen Bereich bildet. Der Bereich<br />

Linksextremismus bildet jetzt mit dem sog. „Ausländerextremismus“ eine eigene Abteilung,<br />

die als eine Art organisatorische Resterampe derjenigen Phänomenbereiche<br />

anmutet, denen gegenwärtig eine niedrige (politische) Bedeutung zugemessen wird.<br />

Eine ähnliche strukturelle Entwicklung hat sich in der Abt. Verfassungsschutz in<br />

NRW vollzogen. Doch wie sieht es darüber hinaus mit einer Reform aus?<br />

Eine Presseinformation des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 22. Februar<br />

2013 zum Projekt „Reform des Verfassungsschutzes“ liest sich in diesem Zusammenhang<br />

wie ein Dokument der Hil osigkeit. Circa 15 Monate nach Entdeckung<br />

des NSU wird ein Projekt vorgestellt, „um das BfV für neue Herausforderungen<br />

angemessen aufzustellen“ (Bundesamt für Verfassungsschutz, 2013). Schon der Verlauf<br />

der Umsetzung ist als amtstypisch zu bezeichnen: Der Projektstart erfolgte am<br />

3. September 2012 (zehn Monate nach NSU); das Reformkonzept wurde nach weiteren<br />

fünf Monaten am 1. Februar 2013 vom BMI gebilligt; am 22. Februar 2013 startete<br />

die Umsetzungsphase. Kernthema dieser Reform ist denn auch keine personelle<br />

Verstärkung, wie es mit der massenhaften Einstellung von Fachwissenschaftlern und<br />

Fachwissenschaftlerinnen nach dem 11. September 2001 geschehen war, sondern<br />

eine nicht näher bezeichnete „Konzentration auf das Wesentliche“ bzw. eine „Neupriorisierung“<br />

mit dem Ziel, sich vor allem um gewaltorientierte Extremisten zu<br />

kümmern. Obwohl sicher gut gemeint, gewährt ein weiterer geplanter Reformschritt<br />

einen tiefen Einblick in das typische Dilemma nahezu aller Verfassungsschutzämter:<br />

„Um eine stärkere Anbindung der Arbeit des BfV an gesellschaftliche Entwicklungen<br />

zu gewährleisten, soll ein entsprechender Beirat eingerichtet werden.“ (vgl.<br />

Bundesamt für Verfassungsschutz, 2013). Wie die Arbeit bislang losgelöst von gesellschaftlichen<br />

Entwicklungen überhaupt statt nden konnte, ist erstaunlich, aber<br />

doch systemimmanent. In den 14 „Arbeitspaketen“, die in einer gewaltigen Struktur<br />

mit vier Hierarchiestufen und eigener Geschäftsstelle zu erledigen sind, dreht sich<br />

denn auch lediglich das Paket 8 um wissenschaftliche Expertise (vgl. Abb.1).<br />

In Ministerien ndet allgemein – wenig überraschend – kein „herrschaftsfreier<br />

Diskurs“ à la Jürgen Habermas statt. „Demgemäss hängt das Schicksal von vorgeschlagenen<br />

Erneuerungen und Veränderungen mehr von der Einsicht der Vorgesetzten<br />

denn der Qualität der Argumente ab. Dessen eigene Handlungsoptionen<br />

gelten aber in solchen hierarchischen Strukturen selbst als begrenzt, ist er doch –<br />

eine Formulierung des Althistorikers Christian Meier aus einem ganz anderen Zusammenhang<br />

nutzend – allenfalls Herr in den Verhältnissen und nicht Herr über<br />

die Verhältnisse“ (Pfahl-Traughber, 2010, S. 27). Doch wer ist denn nun in den<br />

Ämtern für Verfassungsschutz – abgesehen von den schon erwähnten Ministern –<br />

Herr in den Verhältnissen und wer ist Herr über die Verhältnisse?


264 Thomas Grumke<br />

Abbildung 1<br />

Organigramm zur Umsetzung der Reform des BfV (Quelle: Bundesamt für<br />

Verfassungsschutz, 2013).


Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />

265<br />

3 Personal und Führung<br />

“Reorganizing the Civil Service is like drawing a knife through a bowl of marbles.”<br />

(Yes, Minister: THE WHISKEY PRIEST)<br />

I. Zu Recht wird in allen Ämtern zwischen der Führungsebene und der Arbeitsebene<br />

unterschieden. Das soll auch hier so geschehen. Ein Blick auf die Führungsebene,<br />

also den sog. „Höheren Dienst“ (von Amtsleiter/innen über Referatsleiter/<br />

innen bis zu den Referent/innen), zeigt deutlich eine absolute Übermacht von Juristen.<br />

Was die Behörden für Verfassungsschutz angeht, so sind diese i.d.R. Teil<br />

der allgemeinen inneren Verwaltung. Beschäftigt sind hier in den Leitungsfunktionen<br />

ebenfalls fast ausschließlich Verwaltungsjuristen, die im Zuge der Rotation<br />

einige Jahre im Verfassungsschutz arbeiten und dann weiter ziehen. Vertiefte<br />

Fachkenntnisse in den Extremismusbereichen werden nicht erwartet bzw. sollen<br />

ggf. nach Antritt der Stelle erworben werden. Dieser eklatante Mangel an Fachverstand<br />

wurde im Bereich Islamismus schmerzlich nach dem 11. September 2001<br />

deutlich und durch die Einstellung einer großen Anzahl von Islamwissenschaftler/<br />

innen und Arabist/innen kompensiert. Diese wurden und werden jedoch fast ausschließlich<br />

im Angestelltenverhältnis auf der Arbeitsebene geführt und sind für<br />

Leitungsaufgaben nicht vorgesehen. Um es noch einmal klar zu sagen: auch im<br />

Jahre 2014 sind die Leitungen der Fachreferate oder -abteilungen „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

oder „Islamismus“ keineswegs Politik- oder Islamwissenschaftler, sondern<br />

(zumindest in den Ministerien) im Rahmen der üblichen Rotation alle paar<br />

Jahre neue Verwaltungsjuristen, die vorher andere Themenbereiche des Hauses<br />

vertreten haben und auch nach ihrer Zeit beim Verfassungsschutz wieder in einen<br />

anderen Bereich wechseln werden. Wie in allen anderen Berufsgruppen auch sind<br />

hier einige Personen besser motiviert und mit einer besseren Auffassungsgabe ausgestattet<br />

als andere.<br />

Auch die Leitungen der Behörden für Verfassungsschutz bestehen nach wie<br />

vor, trotz zahlreicher Wechsel im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex, überwiegend<br />

aus Juristinnen und Juristen. Wie Tabelle 1 zeigt, sind dies Stand Ende<br />

2014 elf der 17 Behördenleitungen. Abzüglich der vier Polizisten bleiben lediglich<br />

zwei Behördenleiter mit einer geisteswissenschaftlichen Ausbildung. Eine „Neujustierung“<br />

fand auf dieser Ebene nach NSU nicht statt.


266 Thomas Grumke<br />

Tabelle 1 Personelle Stärke und Leitung der Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder (Stand: 1.12.2014, Quelle: eigene<br />

Recherche)<br />

Leitung Jurist/in<br />

Baden-Württemberg Landesamt (337) Beate Bube (seit 1.2008) ja<br />

Bayern Landesamt (ca. 450) Dr. Burkhard Körner (seit 8.2008) ja<br />

Berlin Abt. (188) Bernd Palenda (seit 11.2012) ja<br />

Brandenburg Abt. (ca. 105) Carlo Weber (seit 6.2013) ja<br />

Bremen Landesamt (ca. 46) Hans-Joachim von Wachter (seit<br />

1.2008)<br />

Hamburg Landesamt (154) Torsten Voß (seit 8.2014) nein Polizist<br />

Hessen Landesamt (ca. 200) Roland Desch (seit 6.2010) nein Polizist<br />

Bundesland Behörde (Personalstärke)<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Abt. (85) Reinhard Müller (seit 4.2009) nein Polizist<br />

Niedersachsen Abt. (ca. 270) Maren Brandenburger (seit 3.2013) nein Politikwissensch.<br />

Nordrhein-Westfalen Abt. (335) Burkhard Freier (seit 7.2012) ja<br />

Rheinland-Pfalz Abt. (165) Hans-Heinrich Preußinger (seit<br />

3.2009)<br />

Saarland Landesamt (83) Dr. Helmut Albert (seit 1999) ja<br />

Sachsen Landesamt (182) Gordian Meyer-Plath (seit 8.2012) nein Historiker<br />

Sachsen-Anhalt Abt. (106) Jochen Hollmann (seit 9.2012) nein Polizist<br />

Schleswig-Holstein Abt. (ca.100) Dieter Büddefeld<br />

(seit 10.2011)<br />

Thüringen Landesamt (ca. 100) Thomas Sippel (bis 7.2012; seitdem<br />

vakant)<br />

Bund Bundesamt (ca. 2700) Dr. Hans-Georg Maaßen (seit 8.2012) ja<br />

ja<br />

ja<br />

ja<br />

ja


Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />

267<br />

Auch in der zweiten und dritten Hierarchiestufe (je nach Größe der Behörde sind<br />

dies Gruppen- und/oder Referatsleitungen) sind weit überwiegend Juristen anzutreffen:<br />

„…praktisch jeder, der etwas zu sagen hat, ist Jurist.“ (Musharbash, 2013).<br />

Dies ist auch der Einstellungspraxis der Innenbehörden geschuldet, da nach wie<br />

vor grundsätzlich nur Juristen für das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit vorgesehen<br />

sind. Die wenigen Ausnahmen der Beamten ohne juristisches Staatsexamen<br />

werden als „Beamte besonderer Fachrichtung“ geführt, die eben nicht beliebig<br />

im Rahmen der fortwährenden Rotation im gesamten Geschäftsbereich einsetzbar<br />

sind und daher auch nicht als für Führungspositionen quali ziert angesehen<br />

werden. Dass in diesem System einige Innenminister, wie z. B. der Pädagoge Ralf<br />

Jäger in Nordrhein-Westfalen, wohl nicht einmal verbeamtet, geschweige denn Referatsleiter<br />

in ihren eigenen Häusern werden würden, ist ein erstaunlicher Fakt.<br />

Wie u. a. Armin Pfahl-Traughber herausgearbeitet hat, kommt Verwaltungsjuristen,<br />

die i.d.R. ihr gesamtes Berufsleben in der öffentlichen Verwaltung – und<br />

hier zumeist in der inneren Verwaltung – verbracht haben, eine „besondere Prägung“<br />

(Pfahl-Traughber, 2010, S. 25) zu. So bemerkte Ralf Dahrendorf bereits in<br />

den 1960er Jahren: „Man wird schwerlich sagen dürfen, dass Offenheit, Flexibilität,<br />

Bereitschaft für neue und überraschende Situationen, Toleranz für marktartig<br />

sich selbst steuernde Bereiche des sozialen Lebens, Skepsis gegenüber dem<br />

Anspruch des Staates auf die sittliche Idee zum Rüstzeug des deutschen Juristen<br />

gehören“ (zitiert n. Pfahl-Traughber, 2010).<br />

Laut des ehemaligen Leiters der Schule für Verfassungsschutz, Hans-Jürgen<br />

Doll, bedarf es zur Erhöhung der Analysekompetenz einer „Brechung des Juristenmonopols“.<br />

Wieder Pfahl-Traughber (2010) folgend, der selbst zehn Jahre beim<br />

Bundesamt für Verfassungsschutz gearbeitet hat, können so erstens „Entwicklungen<br />

auf der Basis historischer, kultureller oder politischer Sachkompetenz besser<br />

eingeschätzt werden“. Zweitens „führt eine interdisziplinäre Herangehensweise<br />

bei der Einschätzung des extremistischen Gefahrenpotentials zu neuen Erkenntnissen<br />

und Perspektiven“. Drittens „können die Verfassungsschutzbehörden dadurch<br />

eher mit dem analytischen Anspruch aus der Wissenschaft mithalten und<br />

ihre Funktion als ‚Frühwarnsystem‘ besser erfüllen“ (S. 26).<br />

Es ist unbestreitbar, dass Behörden im Allgemeinen und Verfassungsschutzbehörden<br />

im Besonderen mit einer Vielzahl rechtlicher Fragen konfrontiert sind und<br />

deshalb Juristen benötigen. Daher hat auch schon jedes mittelständische Unternehmen<br />

eine Rechtsabteilung. Eine so starke Dominanz, wie sie in fast allen Behörden<br />

auszumachen ist, kann aber weder bezogen auf die Analyse- noch auf die<br />

Führungskompetenz als zwingend erforderlich gelten.<br />

II. In den Verfassungsschutzämtern arbeiten nicht hunderte von Extremismusexpertinnen<br />

und Extremismusexperten, die sich diese Aufgabe ausgesucht ha-


268 Thomas Grumke<br />

ben bzw. in langjähriger Fachausbildung darauf vorbereitet wurden. Genau wie<br />

in anderen Behörden arbeitet hier ein Querschnitt des öffentlichen Dienstes. Im<br />

„gehobenen Dienst“, also bei den sog. Sachbearbeitern, sind dies i.d.R. Personen<br />

mit einer Ausbildung an einer der Verwaltungsschulen oder –fachhochschulen der<br />

Länder oder des Bundes. Wie der Name schon sagt, obliegt dieser Dienstgruppe<br />

die Auswertungsarbeit in den Sachgebieten. Hier treffen sich die „offenen“ (Zeitung,<br />

Internet usw.) Erkenntnisse mit den „eingestuften“ (Quellenberichte, Observationsberichte,<br />

Telefonüberwachungen usw.) und werden systematisch zusammengeführt.<br />

Hier wird oftmals entschieden, welche Informationen relevant sind<br />

und welche nicht, was in Berichte ein ießt und was nicht, was die Leitung zu<br />

sehen bekommt und was nicht. Doch auch in dieser Dienstgruppe ist eine große<br />

Spreizung der Qualikationen und Motivationen zu verzeichnen.<br />

Das Beispiel Sachsen zeigt, dass in der Vergangenheit in einigen Verfassungsschutzämtern<br />

zeitweise scheinbar wahllos ohne Berücksichtigung einer relevanten<br />

Qualikation eingestellt wurde. Im Rahmen der Befragungen im Sächsischen<br />

NSU-Untersuchungsausschuss am 19. April 2013 sagte der ehemalige Referatsleiter<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>/-terrorismus im Landesamt für Verfassungsschutz aus,<br />

dass bei dessen Neuaufbau auch Personal eingestellt wurde, das mit dem Arbeitsfeld<br />

vorher nie inhaltlich zu tun hatte (vgl. Julke, 2013). Es wurde deutlich,<br />

„…dass Tischler, Handwerker, Verkäuferinnen, Leute, die auf Bauernhöfen arbeiteten,<br />

‚Leute, die keinerlei Ahnung hatten‘ (so wörtlich), Informatiker und Maurer eingestellt<br />

worden sind. Das Amt habe deren Vergangenheit geprüft, der Referatsleiter<br />

eine Stunde mit ihnen geredet. Dann seien sie auf einen sechswöchigen Lehrgang<br />

zum Bundesamt für Verfassungsschutz geschickt worden“ (Julke, 2013).<br />

Vorher hatte sowohl die Parlamentarische Kontrollkommission in ihrem Abschlussbericht<br />

als auch die Harms-Kommission (vgl. Harms, Heigl & Rannacher,<br />

2013) die Analysefähigkeit des Sächsischen Landesamtes als mangelhaft bewertet,<br />

ebenso wie die Schäfer-Kommission die des Thüringischen (s.u.). Der Bericht der<br />

Harms-Kommission hat hierzu ein ganzes Kapitel dem Thema „Fortbildung“ gewidmet,<br />

denn es wird ernüchtert (und ernüchternd) festgestellt: „Angesichts der<br />

nanziellen Rahmenbedingungen in Bund und Ländern, die einen eigentlich erforderlichen<br />

Zuwachs an qualiziertem Personal – auch mit Studienabschluss – nicht<br />

erwarten lassen, kommt der Fortbildung der Mitarbeiter ein ganz besonders hoher<br />

Stellenwert zu“ (Harms et al., 2013, S. 41).<br />

III. In einer Öffentlichen Anhörung des Haupt- und Innenausschusses im Landtag<br />

Nordrhein-Westfalen am 2. Mai 2013 sah Heinrich Amadeus Wolf, Professor<br />

für Öffentliches Recht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, den


Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />

269<br />

dringend benötigten „politologischen Sachverstand“ in den Verfassungsschutzämtern<br />

„meilenweit entfernt“. In seiner Stellungnahme zur Frage 27 „Inwieweit<br />

sehen Sie die Notwendigkeit, die Aus- und Fortbildung sowie Personalführung<br />

beim Verfassungsschutz – wie bei der Polizei – zu professionalisieren und dies<br />

normativ zu verankern?“ antwortet Wolf: „Der Unterzeichner geht davon aus, dass<br />

die Ausbildung schon gegenwärtig professionalisiert ist, es wäre schlimm, wenn<br />

die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes NRW von Amateuren unterrichtet würden.“<br />

(Wolf, 2013, S.15)<br />

Das Thema Fort- und Weiterbildung ist ebenso wie die Analysekompetenz ein<br />

im Verfassungsschutzverbund schon seit langem diskutiertes Thema, das nun offenbar<br />

auch die politische Debatte erreicht hat. In Nordrhein-Westfalen wird in<br />

einem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Reform der Ausrichtung des<br />

Verfassungsschutzes NRW und des Verfassungsschutzgesetzes NRW konsequent<br />

umsetzen“ unter dem Punkt „Aus- und Fortbildung sowie Personalführung professionalisieren“<br />

gefordert:<br />

Bislang bestehen für Mitarbeiter des Verfassungsschutzes keine einheitlichen Personalauswahl-,<br />

Ausbildungs- und Fortbildungsstandards, sondern es wird ein exibles<br />

„Learning by Doing“ praktiziert. Das hohe Niveau der Polizeiausbildung muss<br />

Ansporn sein, auch für alle im Land tätigen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes<br />

entsprechende Leitlinien und Qualitätskriterien zu entwickeln. Das Ziel bundesweiter<br />

Standards ist zudem eine Aufgabe der Innenministerkonferenz. (Landtag NRW,<br />

2013, S. 4). 2<br />

Im Moment obliegt die Aus- und Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

der Verfassungsschutzbehörden der Schule für Verfassungsschutz (SfV) in Heimerzheim<br />

bei Bonn. In dieser alten BGS-Kaserne, intern auch „Heimlichheim“ genannt,<br />

nden neben der Ausbildung des nichttechnischen gehobenen Dienstes des<br />

BfV durch die Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung 3 auch die<br />

Fortbildungen aller 17 Verfassungsschutzämter statt. Musharbash (2013) charakterisiert<br />

die Jugendherbergsatmosphäre in „Heimlichheim“ zutreffend:<br />

2 Es muss erwähnt werden, dass es die FDP war, die zwischen 2005 und 2010 mit Ingo<br />

Wolf den Innenminister stellte und diese richtig beschriebenen Mängel hätte abstellen<br />

können.<br />

3 Vgl. http://www.fhbund.de/nn_14908/DE/01__Studieninteressierte/20__Zentralbereich__Fachbereiche/09__FB__ND/03__BfV/bfv__node.html?__nnn=true.


270 Thomas Grumke<br />

„Der Dienst braucht die besten Experten zu sehr spezi schen Phänomenen wie türkischen<br />

Marxisten oder russischer Wirtschaftsspionage, aber er kann ihnen nur ein<br />

Umfeld bieten, das eher an das Großstadtrevier im Vorabendprogramm erinnert als<br />

an die spannungsgeladene amerikanische CIA-Serie Homeland.“<br />

Trotz erheblicher Anstrengungen in den letzten Jahren, aus der SfV eine hochschulähnliche<br />

Institution oder sogar einen Think Tank bzw. eine „Akademie“ zu<br />

machen und trotz personeller Verstärkung ist diese auch in der Selbstdarstellung<br />

eine Erweiterung vor allem des Bundesamtes für Verfassungsschutz, das auf der<br />

spärlichen Webpräsenz noch einmal deutlich auf seine Dienstaufsicht hinweist. 4<br />

Noch einmal: eine reguläre Fachausbildung für den gehobenen Dienst hat lediglich<br />

das BfV. Die Landesämter für Verfassungsschutz entsenden ihre Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter mehr oder weniger konsequent lediglich zu Fortbildungen<br />

zu allen Extremismusbereichen. Ansonsten gilt „learning on the job“.<br />

IV. Im Fall Thüringen bezeichnet das sog. Schäfer-Gutachten (Schäfer, Wache<br />

& Meiborg, 2012) die Quellenauswertung und Analyse im Fall NSU als „mangelhaft“<br />

(Schäfer et al., 2012, S. 118f.). Die Folgen dieser mangelhaften Auswertung<br />

waren gravierend: der Verlauf des Untertauchens des NSU, des anfänglichen<br />

Spendensammelns in der Szene und der späteren Ansage, man brauche nun kein<br />

Geld mehr, wurden nicht adäquat analysiert und eingeordnet (Schäfer et al., 2012,<br />

S. 193ff.). Winfriede Schreiber, die ehemalige Leiterin des Verfassungsschutz<br />

Brandenburg, bewertet dies so: „Wenn Extremisten abtauchen, liegt es eigentlich<br />

auf der Hand, sich zu fragen, wie sie sich nanzieren. Die Schrift war an der<br />

Wand – aber sie ist nicht richtig gelesen worden.“ (zit. n. van der Kraats, 2013).<br />

Gordian Mayer-Plath, langjähriger Mitarbeiter im Brandenburger Verfassungsschutz<br />

und heute Leiter des Landesamts in Sachsen, schlägt eine konkrete Lösung<br />

für den von Schreiber beklagten analytischen Analphabetismus vor: Man brauche<br />

nicht unbedingt mehr Verfassungsschützer, sondern bessere:<br />

„Wir brauchen ein breiteres Spektrum an Mitarbeitern, vor allem mehr Geistes- und<br />

Sozialwissenschaftler. Denn Extremisten arbeiten mit Chiffren. Die beziehen sich<br />

auf bestimmte Weltanschauungen und Denkrichtungen, die manchmal nur ein Geisteswissenschaftler<br />

kennen kann. Ich will damit nicht sagen, dass der Verfassungsschutz<br />

ausschließlich aus Historikern bestehen sollte, plädiere aber für eine gesunde<br />

Mischung. Nur mal angenommen, sie nden eine Webseite mit lauter Gedichten von<br />

Ernst Niekisch. Da müssen Sie schon wissen, wer das war. Sonst nden Sie die Seite<br />

nicht verdächtig“ (Machowecz, 2012).<br />

4 Vgl. http://www.verfassungsschutz.de/de/das-bfv/akademie-fuer-verfassungsschutz.


Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />

271<br />

Dieser eklatante Mangel an sozialwissenschaftlicher Analysekompetenz in den<br />

Verfassungsschutzämtern wird seit langer Zeit beklagt (vgl. Grumke & Pfahl-<br />

Traughber, 2010) und auch in den Ämtern diskutiert. <strong>Rechtsextremismus</strong> wird<br />

jedoch, anders als Islamismus, in vielen Behörden nicht als komplexe gesellschaftliche<br />

Aufgabe verstanden, da hier z. B. keine Fremdsprachenkenntnisse nötig sind.<br />

Wie aber der Fall NSU zeigt, kommt es auf analytische Details an. So kann die<br />

Abwesenheit von Bekennerschreiben nicht verstanden werden, wenn Konzepte des<br />

internationalen <strong>Rechtsextremismus</strong> wie leaderless resistance (vgl. Grumke, 1999)<br />

unbekannt sind. Die für den <strong>Rechtsextremismus</strong> im 21. Jahrhundert entscheidenden<br />

Gebiete der neuen Medien (Internet, soziale Netzwerke etc.) und der Musik<br />

werden zu oft mit Instrumenten und einem Ausbildungsstand des 20. Jahrhunderts<br />

bearbeitet.<br />

Hinzu kommt, dass oftmals die zuständigen Sachbearbeiter nicht dazu ausgebildet<br />

sind noch dazu im hierarchischen Ablauf dazu angehalten werden, die<br />

richtigen Fragen zu stellen. Komplexe Speicherrichtlinien und zum Teil wenig<br />

nutzerfreundliche Speichersoftware tun ihr Übriges, dass Daten heute ebenso unanalysiert<br />

und unverknüpft verbleiben wie früher in den staubigen Registraturen.<br />

Modernes Wissensmanagement weiß: Speichern Wissen Verstehen! Das Speichern<br />

von Bedeutung ist eben nicht möglich und so kommt es auf die analytische<br />

Leistung aller Personen an, die in den Verfassungsschutzbehörden mit Auswertung<br />

zu tun haben.<br />

Doch auch wenn Erkenntnisse irgendwo in der Behörde vorhanden sind, dann<br />

ist entscheidend wo, wer sie mit einem aktuellen Sachverhalt zusammenführt und<br />

vor allem, ob die Führungsebene und die Arbeitsebene hieran gemeinsam arbeiten.<br />

Es gilt, den entscheidenden Schritt über die Verwaltung von Informationen hinaus<br />

zur Analyse von Informationen zu gehen (vgl. Pfahl-Traughber, 2010, S. 25).<br />

Nur so ist zu erklären, dass der Staatssekretär im BMI Klaus-Dieter Fritsche noch<br />

am 11. August 2011 auf die schriftliche Frage der Abgeordneten Jelpke: „Ist die<br />

Bundesregierung nach den Anschlägen in Norwegen bereit, die Ausrichtung der<br />

Arbeit des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) neu zu überdenken<br />

und die ausschließliche Konzentration auf „islamistischen Terrorismus“ aufzugeben<br />

folgendes antwortete: „Abgesehen vom islamistischen Terrorismus gibt<br />

es derzeit keine Personen(gruppen), die terroristische Ziele in Deutschland aktiv<br />

vertreten und verfolgen“ (Drs. 17/6812). Fritsche ist seit Januar 2014 Staatssekretär<br />

im Bundeskanzleramt und Beauftragter für die Nachrichtendienste des Bundes. 5<br />

5 Vgl. http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Biographien/biographie-klaus-dieter-fritsche.html.


272 Thomas Grumke<br />

4 Fazit: Die De-Mystifizierung des Innenmysteriums<br />

“Politician’s logic: We must do something. This is something. Therefore we must<br />

do it.”<br />

(Yes, Minister: PARTY GAME)<br />

I. Der Fall des NSU ist de facto der 11. September des <strong>Rechtsextremismus</strong> in deutschen<br />

Ämtern und offenbart ähnliche analytische und fachliche Schwächen in<br />

vielen zuständigen Verwaltungen, ohne dass hier (bisher) eine Verstärkung durch<br />

Fachpersonal überhaupt in Erwägung gezogen wird – geschweige denn für Leitungspositionen.<br />

Es besteht also nicht nur ein Informations- und Koordinationsdezit<br />

zwischen den Behörden, sondern vor allem ein fachliches und analytisches<br />

Dezit innerhalb der für den <strong>Rechtsextremismus</strong> zuständigen Ämter.<br />

Pauschale Verurteilungen sind an dieser Stelle jedoch vollkommen fehl am<br />

Platze, denn nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Verfassungsschutzbehörden<br />

haben gleichermaßen in der Causa NSU versagt. Nicht selten zu hörende<br />

Vorwürfe, „der“ Verfassungsschutz sei auf dem „rechten Auge blind“ und verfüge<br />

über eine eigene, demokratieferne Mentalität, gehen am wahren Problem vorbei.<br />

Es besteht eben keine Verfassungsschutz-Kultur oder –Mentalität und auch eine<br />

Art corporate identity, wie sie die Polizei zweifellos pegt, ist hier nicht zu nden.<br />

Die Arbeit wird vielmehr, wie gezeigt, politisch gelenkt vom zur Verfügung stehenden<br />

Personal nach bestem Wissen verrichtet. Zu beklagen ist, dass eben bisher<br />

auf allen Ebenen so wenig Wert auf gesättigtes Fachwissen im Bereich <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

gelegt wird und dies zur Qualikation für Führungspositionen kaum<br />

relevant ist.<br />

Anetta Kahane (2013) beklagt zudem eine „Kultur leidenschaftlicher Gleichgültigkeit“<br />

in den Behörden. Und in der Tat mag es manchmal eine Kollision der<br />

Sicherheit der eigenen Karriere mit der Inneren Sicherheit geben. Dies arbeitet<br />

Musharbash (2013) schön in seinem Artikel zur Schule für Verfassungsschutz heraus:<br />

„Auf eine sehr spezielle Art ist die Beamtenhaftigkeit eine Versicherung gegen gemeinschaftliche<br />

Rechtsbeugung. ‚Bevor ein Beamter seinen Pensionsanspruch gefährdet,<br />

macht er lieber gar nichts‘, sagt ein Verfassungsschützer. Waterboarding<br />

wäre beim Verfassungsschutz ganz und gar unvorstellbar. Doch das schützt weder<br />

vor individuellen Fehlern noch vor kollektivem Versagen. […] Zwielichtig agiert haben<br />

möglicherweise einzelne Verfassungsschützer – der große Rest aber ist an einer<br />

Aufgabe gescheitert, die er nur zu gerne bewältigt hätte“.


Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />

273<br />

Wie der Harms-Bericht in Sachsen fordert, muss die „Identikation von Deziten<br />

bei Wissen und Befähigung der Mitarbeiter und die Anpassung des Personalkörpers<br />

an die steigenden Herausforderungen des dienstlichen Alltags […] stärker als<br />

bislang als Führungsaufgabe begriffen und wahrgenommen werden.“ (Harms et<br />

al., 2013, S. 44). Berufsanfänger und Quereinsteiger sind zeitnah und umfassend<br />

zu qualizieren. Es muss der Grundsatz gelten: „Erst ausbilden, dann einsetzen“<br />

(Harms et al., 2013, S. 45). Aber welcher Politiker möchte im Moment mit der<br />

Forderung in Verbindung gebracht werden, den Verfassungsschutz personell und<br />

materiell zu stärken?<br />

II. Informierte, aufgeklärte und demokratische Bürgerinnen und Bürger treten<br />

für die Demokratie und gegen ihre Gegner ein und tragen so dazu bei, unsere Demokratie<br />

und ihre Grundwerte zu schützen und zu stärken. In diesem Sinne sind<br />

aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger das Fundament einer demokratischen Kultur<br />

und so der beste Verfassungsschutz. Was Verfassungsschutzämter zu diesem Fundament<br />

beitragen sollen und können muss politisch entschieden und gesellschaftlich<br />

akzeptiert werden.<br />

Es bestehen unterschiedliche Handlungslogiken in den für die hier verhandelte<br />

Frage relevanten Bereichen: Politik, Öffentlichkeit, Presse, Verwaltung (hier: Verfassungsschutz).<br />

Diese gilt es herauszuarbeiten und in die Debatte einzubeziehen.<br />

Das Phänomen <strong>Rechtsextremismus</strong>, das ein gesellschaftliches und kein primär<br />

juristisches Problem ist, kann als solches nur gemeinsam nachhaltig bekämpft<br />

werden. Den Verfassungsschutzämtern kann hier eine wichtige Rolle zukommen,<br />

wenn die oben diskutierten Problemlagen offen angegangen und gelöst werden.<br />

Zu denken gibt hier jedoch die Äußerung eines aktiven Verfassungsschutz-Mitarbeiters:<br />

„‘Ich bin zum Verfassungsschutz gegangen, weil ich etwas gegen Nazis tun wollte‘,<br />

sagt der Mann, der nur am Telefon sprechen möchte […] Umso überraschender wirkt<br />

seine Resignation: ‚Wenn ich die Jahre in eine NGO gegen Rechts investiert hätte,<br />

hätte ich wohl mehr erreicht‘“ (Musharbash, 2013).<br />

Abschließend bleibt festzuhalten:<br />

1. Die Ämter für Verfassungsschutz stehen nach Bekanntwerden des NSU unter<br />

erheblichem Reformdruck.<br />

2. Bisher ist jedoch keine neue Qualität im professionellen Handeln bzw. der Auswertung<br />

des <strong>Rechtsextremismus</strong> zu erkennen.<br />

3. Zentral ist in diesem Zusammenhang das Personal. Nach wie vor gibt es jedoch<br />

weder auf der Arbeits- geschweige denn auf der Leitungsebene den systema-


274 Thomas Grumke<br />

tischen Erwerb von Fachkompetenz hinsichtlich des Phänomens <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

4. Eine Reform der Personalgewinnung oder Personalentwicklung ist, anders als<br />

nach 9/11, nicht in Sicht. Nach wie vor gelten eine juristische Ausbildung und<br />

die fortlaufende Rotation durch viele Stationen der allgemeinen inneren Verwaltung<br />

als Maßstab für eine gute Führungskraft, auch im Verfassungsschutz.<br />

5. Eine Änderung dieser Praxis wird auch von der politischen Führung nicht gefordert<br />

bzw. augenscheinlich für nötig gehalten. So wird auf allen Ebenen das<br />

Phänomen weiter grundsätzlich nicht von <strong>Rechtsextremismus</strong>experten, sondern<br />

von Autodidakten bearbeitet und gesteuert. Eine sehr große Streuung der<br />

Arbeitsqualität ist also nicht überraschend, sondern systemimmanent.


Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />

275<br />

Literatur<br />

Bundesamt für Verfassungsschutz (2013). „Presseinformation des Bundesamtes für Verfassungsschutz<br />

(BfV) zum Projekt ‚Reform des Verfassungsschutzes‘ im BfV“, vom 22.<br />

Februar 2013.<br />

Grumke, T. (1999). Das Konzept des leaderless resistance im <strong>Rechtsextremismus</strong>. Die Neue<br />

Gesellschaft/ Frankfurter Hefte, Juni 1999, S. 495-499.<br />

Grumke, T. (2011). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rechtspopulismus als Herausforderung für die<br />

Demokratie“. In T. Mörschel & C. Krell (Hrsg.), Demokratie in Deutschland. Zustand –<br />

Herausforderungen – Perspektiven (S. 363-388). Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

(http://www.demokratie-deutschland-2011.de).<br />

Grumke, T. & Pfahl-Traughber, A. (Hrsg.) (2010). Offener Demokratieschutz in einer offenen<br />

Gesellschaft. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention als Instrumente des Verfassungsschutzes.<br />

Opladen: Verlag Barbara Budrich.<br />

Gujer, E. (2012). „Deutschlands Schlapphut-Syndrom“, in: NZZ vom 14.08.2012: http://www.<br />

nzz.ch/aktuell/international/uebersicht/deutschlands-schlapphut-syndrom-1.17477593<br />

Harms, M., Heigl, F.-J. & Rannacher, H. (2013). Bericht über die Untersuchung und Evaluierung<br />

der Arbeitsabläufe und –strukturen des Landesamtes für Verfassungsschutz<br />

Sachsen unter besonderer Betrachtung der Ereignisse im Zusammenhang mit dem sog.<br />

„Nationalsozialistischen Untergrund“ vom 20. Februar 2013, Dresden: http://www.smi.<br />

sachsen.de/download/SMI/Endfassung_Bericht_Expertenkommission_im_LfV_Sachsen.pdf.<br />

Julke, R. (2013). „Sachsens Verfassungsschutz: Mit Tischlern, Handwerkern und Verkäuferinnen<br />

gegen Staatsfeinde“, in: Leipziger Internet-Zeitung vom 20.4.2013.<br />

Kahane, A. (2013). „Mit leidenschaftlicher Gleichgültigkeit“, in: Berliner Zeitung vom<br />

03.03.2013.<br />

Landtag NRW (2013): Antrag der Fraktion der FDP: „Reform der Ausrichtung des Verfassungsschutzes<br />

NRW und des Verfassungsschutzgesetzes NRW konsequent umsetzen“<br />

(Drs 16/2119), Düsseldorf.<br />

Lange, H.-J. & Lanfer, J. (Hrsg.) (2015 i.E.). Verfassungsschutz zwischen administrativer<br />

Effektivität und demokratischer Transparenz. Wiesbaden: Springer VS.<br />

Leggewie, C. & Meier, H. (2012). Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue<br />

Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik. Archiv der Jugendkulturen.<br />

Machowecz, M. (2012). „‘Die Clowns im Auge haben‘. Sachsens Verfassungsschutzchef<br />

Gordian Meyer-Plath über die Not, ein Amt zu übernehmen, dessen Ruf ramponiert ist“.<br />

DIE ZEIT vom 13.12.2012.<br />

MDR (2012): „Roewers Berufung war lange geplant“, auf: http://www.mdr.de/themen/nsu/<br />

folgen/verfassungsschutz162_zc-9049ebc8_zs-ff51b88c.html vom 09.09.2012 (Zugriff:<br />

08.05.2013).<br />

Musharbash, Y. (2013). „In Heimlichheim: Wie konnte es passieren, dass der Verfassungsschutz<br />

die Terroristen des NSU aus dem Auge verlor?“. DIE ZEIT vom 14.03.2013.<br />

Pfahl-Traughber, A. (2010). Analysekompetenz und Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes.<br />

In T. Grumke & A. Pfahl-Traughber (Hrsg.), Offener Demokratieschutz in<br />

einer offenen Gesellschaft. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention als Instrumente des<br />

Verfassungsschutzes S. 15-32. Opladen: Verlag Barbara Budrich.<br />

Schäfer, G., Wache, V. & Meiborg, G. (2012). Gutachten zum Verhalten der Thüringer<br />

Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des „Zwickauer Trios“, Er-


276 Thomas Grumke<br />

furt (14.05.2012): http://www.thueringen.de/ imperia/md/content/tim/veranstaltungen/120515_schaefer_gutachten.pdf<br />

Thüringer Landtag (2013). Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses 5/1 (Drucksache<br />

5/5810), Erfurt (07.03.2013): http://www.thueringer-landtag.de/imperia/md/content/<br />

landtag/drucksachen/drs55810.pdf<br />

Van der Kraats, M. (2013). „Brandenburgs Verfassungsschutz-Chen: ‚Vorschnelle Schlüsse<br />

bei NSU-Ermittlungen‘“. Potsdamer Neueste Nachrichten vom 27.03.2013.<br />

Wesel, U. (2012). „Spitzel, Wanzen, Bomben: Die Chronique scandaleuse des Verfassungsschutzes<br />

seit 1950 zeigt vor allem eins: Er ist über üssig und gehört schleunigst abgeschafft“.<br />

DIE ZEIT vom 26.01.2012.<br />

Wolff, H. A. (2013). „Schriftliche Stellungnahme zur Vorbereitung der öffentlichen Anhörung<br />

des Hauptausschusses und des Innenausschusses des Landtags Nordrhein-Westfalen<br />

am 2. Mai 2013“ vom 26.04.2013.


Fallbeispiel Grass Lifter<br />

Künstlerische Interventionen zum NSU im öffentlichen<br />

Raum in Sachsen<br />

Franz Knoppe und Maria Gäde<br />

1 Einführung<br />

Wenn ein klei n er Ort tägli ch in überregionalen Medien erscheint, ist etwas Besonderes<br />

passiert. Wenn an diesem Ort über das Besondere nichts in der Öffentlichkeit<br />

zu nden ist, wird es Zeit für die Kunst. Der Soziologe Niklas Luhmann<br />

wusste über die Kunst zu sagen: „Kunst weist darauf hin, dass der Spielraum des<br />

Möglichen nicht ausgeschöpft ist, und sie erzeugt deshalb eine befreiende Distanz<br />

zur Realität“ (Luhmann, 2006, S. 160).<br />

Der kleine Ort ist in diesem Fall Z wickau, eine Stadt in Westsachsen. Das besondere<br />

Ereignis war die Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrundes<br />

(NSU), dessen drei Kern-Mitglieder Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate<br />

Zschäpe über zehn Jahre in Zwickau gelebt haben. Es stellte sich die Frage, wie die<br />

Zwickauer und auch die sächsische Bevölkerung nach Aufdeckung des NSU damit<br />

umgingen, dass diese Rechtsterroristen jahrelang unter ihnen gelebt haben. Die<br />

Frage, wie das Thema in der Öffentlichkeit behandelt und diskutiert wird, lag damit<br />

sofort auf dem Tisch. Wir meinen Verdrängungsmechanismen zu beobachten,<br />

sowohl bei der Bevölkerung, als auch bei Vertretern 1 der Politik. Ein sichtbares<br />

Zeichen war der Abriss des Hauses in der Frühlingsstraße 26, wo die Terroristen<br />

bis zuletzt Unterschlupf suchten. Heute nden sich dort keine Zeichen mehr. Aus<br />

1 Im Folgenden wird aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung nur die männliche<br />

Form verwendet. Es sind jedoch stets Personen männlichen und weiblichen Geschlechts<br />

gleichermaßen gemeint.<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


278 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />

diesem Grund wollten und wollen wir, die Grass Lifter, mittels der Kunst das Besondere<br />

an diesem Ort zeigen. Die Grass Lifter, das sind junge Erwachsene aus<br />

Zwickau, Plauen, Berlin, der Schweiz und Österreich und wir arbeiten international<br />

von Nairobi über Stendal, Berlin bis Chemnitz. Die Künstlergruppe ndet sich<br />

projektbezogen zusammen, um mit künstlerischen Mitteln das politische Thema<br />

NSU und <strong>Rechtsextremismus</strong> zu bearbeiten.<br />

Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit der T eilnahme an der 27. Jahrestagung<br />

des Forums Friedenspsychologie. Wir möchten a m Beispiel der Grass<br />

Lifter untersuchen, wie künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum und<br />

bezogen auf politische Prozesse funktionieren können. Wir re ektieren unsere<br />

eigenen Aktionen und öffnen die „Black Box“ einer Künstlergruppe. Wir beschreiben<br />

unseren Ansatz, unsere Taktiken, Prinzipien, Theorien und gruppendynamische<br />

Prozesse, um Funktionen offenzulegen, die für uns notwendig erscheinen, um<br />

erfolgreich Aktionen durchzuführen. Mit diesem Beitrag wollen wir zeigen, wie<br />

die noch relativ junge Form des Kunstaktivismus in lokalen und kommunalen Politikprozessen<br />

funktioniert und arbeiten kann. Unsere Herangehensweise ist konstruktivistisch<br />

und zum Teil aus einer systemtheoretischen Perspektive geschrieben.<br />

In der Rolle als Aktionskünstler fühlen wir uns der wissenschaftlichen Genauigkeit<br />

verpichtet, ohne fachspezische Ansprüche zu erheben.<br />

Wir wollen im ersten Schritt die Motivation und das von uns wahrgenommene<br />

Problem als Ausgangspunkt für unsere Aktivitäten darlegen. Im zweiten Schritt<br />

werden die Zielgruppe, Taktiken, Prinzipien und Theorien vorgestellt, die für uns<br />

entscheidend bei der Umsetzung der verschiedenen Aktionen waren. Abschließend<br />

werden wir die Wirkungen unserer künstlerischen Arbeit beschreiben und<br />

die Ergebnisse zur Diskussion stellen.<br />

2 Kunstaktivismus als friedenspsychologischer Beitrag<br />

Wir b etrachten psychologische Systeme als von der Gesellschaft externe Systeme,<br />

die also Umwelt der Gesellschaft sind. Gesellschaft besteht aus Kommunikation<br />

(Luhmann, 2006, S. 35). Als Künstlergruppe versuchen wir mit Artefakten (z. B.<br />

Miniguren oder Auszeichnungen), Bildern und Storys kommunikative Prozesse<br />

und Irritationen auszulösen, um langfristig psychologische Veränderungen zu erreichen.<br />

Ziel dieser Prozesse ist es nicht, wie beim Design die Dinge zu verbessern,<br />

oder attraktiver zu machen, sondern das Gegenteil ist der Fall. Kunst ästhetisiert<br />

die Dinge der Gegenwart, um das Dysfunktionale, Absurde, Unnütze an ihnen zu<br />

enthüllen. „Die Gegenwart zu ästhetisieren [mit den Mitteln der Kunst] bedeutet<br />

sie zu toter Vergangenheit zu machen“ (Groys, 2014, S. 90).


Fallbeispiel Grass Lifter<br />

279<br />

Auf der kommunikativen Ebene stellt Kunst damit den Konsens über den Dissens<br />

in der Gegenwart her (Luhmann, 2000, S. 92f.). Unsere Kunst greift Erkenntnisse<br />

aus der Wissenschaft auf und wendet sie mit kreativen Techniken aus der<br />

Aktionspraxis an (z. B. den Erfahrungen des Ansatzes des Globalen Lernens). Die<br />

Plausibilität unserer Aktionen können wir nicht abschließend bewerten. Was wir<br />

beitragen möchten, ist der Blick aus der Praxis zurück in die friedenspsychologische<br />

wissenschaftliche Arbeit.<br />

3 Blinder Fleck unserer Aktionen<br />

Die Taten des NSU zielten gegen Menschen mit Migrationsbiographie. Alle Morde<br />

außer dem ungeklärten Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter waren rassistisch<br />

motiviert. Hier sind Menschen betroffen und es werden kulturelle Gruppen<br />

bedroht, die wir in unserer Zusammensetzung als Künstlergruppe nicht widerspiegeln.<br />

Wir sind weder People of Colour noch erleiden wir schwerwiegende Diskriminierungserfahrungen<br />

in der Gesellschaft. Als Künstler ging es uns daher auch<br />

nie darum, für die Opfer zu sprechen und diese zu vertreten. Unser Fokus besteht<br />

darin, den Teil der Gesellschaft, in der die Täter ihr zu Hause wählten, zur Re exion<br />

anzuregen und dort Diskurse auszulösen.<br />

4 Motivation – Problembeschreibung<br />

Am ersten Jahrestag der Aufdeckung der Verbrechen des NSU beobachteten wir,<br />

wie ein Kam erawagen der DPA die verlassene grüne Wiese in der Frühlingsstraße<br />

26 in Zwickau lmte, den Ort an dem der NSU zuletzt wohnte und seine Verbrechen<br />

wahrscheinlich plante.<br />

An jenem Abend sendete die Tageschau Stellungnahmen von Politikern, Opferverbänden<br />

und and eren zivilgesellschaftlichen Akteuren. Eine Stellungnahme<br />

aus der Region Zwickau, z. B. von der Oberbürgermeisterin Dr. Pia Findeiß, gab<br />

es nicht. Auch gab es keine öffentliche Veranstaltung in Zwickau, die an dem<br />

symbolischen Datum die Taten in einen Kontext der Aufarbeitung, Aufklärung<br />

oder Erinnerung setzte. Eine Kleinstadt, die monatelang im Fokus der Öffentlichkeit<br />

stand und sich an das Synonym des NSU „Zwickauer Terrorzelle” gewöhnen<br />

musste, fand am Jahrestag der Aufdeckung der Verbrechen keine Worte. Bewusst<br />

oder unbewusst versuchten die politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure der<br />

Stadt, diesen aus unserer Sicht notwendigen Diskurs nicht zu benennen. Das war<br />

der Ausgangspunkt, der Auslöser für die Idee, das Gras, das über die Sache wächst,


280 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />

auszugraben und den Zustand des Verdeckens symbolisch zur Vergangenheit zu<br />

erklären.<br />

Ähnlich wie in Mügeln (Schellenberg, 2014, S. 85; siehe auch den Beitrag von<br />

Schellenberg in diesem Band) fanden es Politiker in Zwickau schwierig, die Terrorzelle<br />

NSU mit ihrem Ort zu verbinden. Während in den Medien noch von der<br />

“Zwickauer Terrorzelle” gesprochen wurde, distanzierten sich Politiker von der<br />

Art der Zuschreibung und verwiesen auf die Herkunft der Täter, die aus Jena kamen<br />

(Decker, 2013). Das Problem Rechtsradikalismus wurde argumentativ generalisiert<br />

und als allgemeingesellschaftliches und als nicht Zwickau spezi sches<br />

Problem präsentiert. So wollten die politischen Akteure von Zwickau lokale Aufklärungsmöglichkeiten<br />

die spezi sch zum NSU sind, auf eine allgemeingesellschaftlichere<br />

Ebene heben. Dazu gehörte der Vorschlag, dass ein Dokumentationszentrum<br />

aller Opfer rechter Gewalt in Zwickau gebaut werden sollte (Lasch, 2013).<br />

Dieses wurde abgelehnt und damit konnten lokalspezische Problemlösungen, die<br />

von anderen Akteuren vorgeschlagen wurden, mit dem Verweis auf die Ablehnung<br />

des Dokumentationszentrums wegdiskutiert werden.<br />

Dennoch kam es in Zwickau auch zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema<br />

NSU. Kurz nach dem ersten Jahrestag ga b es im sozio-kulturellen Zentrum „Gasometer“<br />

eine Podiumsdiskussion zum Thema. Im Jahr 2013 thematisierte der örtliche<br />

Kunstverein mit einer Ausstellung die „Existenz des NSU“ (Naumann, 2013).<br />

Für uns waren die Reaktionen der Stadtoberen nicht ausreichend. Unsere Annahme<br />

ist es, dass solch eine Terrorzel le ein Umfeld brauchte, das sie stützte und in dem<br />

sie sich organisieren konnte. Dieses Umfeld wiederum, so nehmen wir an, braucht<br />

ebenfalls ein Umfeld, in dem es mit seiner Haltung nicht auffällt oder wo man lieber<br />

wegschaut und solche Prozesse toleriert. Diesem Umfeld des Umfeldes der „Terrorzelle“<br />

bewusst zu machen, dass solche Taten unter uns nicht mehr möglich sein<br />

dürfen, ist das langfristige Ziel unserer Aktionen. Wir wollen, dass die Bevölkerung<br />

sich mit dem Geschehenen auseinandersetzt und anhaltende Formen der Aufklärung<br />

zulässt. Da dies für zivilgesellschaftliche Initiativen nicht ohne Unterstützung der<br />

lokalen politischen Verantwortlichen zu erreichen ist, leiten wir daraus unsere Anspruchshaltung<br />

an die politischen Akteure in Zwickau, Chemnitz und Sachsen ab.<br />

Diese Ausgangsituation war für uns entscheidend, aktiv zu werden. Nur waren<br />

wir nicht gut genug in der Stadt vernetzt, um politische Entscheidungsträger dazu<br />

zu bringen, etwas zu tun. Auch kam uns die Haltung in der Stadt eher so vor,<br />

als wüsste niemand so genau wie er sich verhalten sollte. Wo waren also die, die<br />

ebenfalls fanden, dass nicht einfach Gras über die Sache wachsen sollte? Für uns<br />

kam also nur in Frage, mit einer symbolischen Aktion das Thema wieder auf die<br />

Agenda zu setzen, denn dafür brauchten wir keine weiteren Unterstützer und große<br />

Organisationsvorleistungen.


Fallbeispiel Grass Lifter<br />

281<br />

5 Der Weg zu den Kunstaktionen<br />

Im Rahmen der Künstlergruppe Grass Lifter wurden bisher vier Aktionen durchgeführt.<br />

Im Folgenden wer den die Aktionen vorgestellt.<br />

Tabelle 1 Überblick über die Aktionen<br />

Aktion 06.05.2013<br />

Das Gras, das über<br />

die Sache wächst<br />

Anlass NSU Prozessbeginn<br />

Maßnahmen<br />

Symbolischer<br />

Spatenstich in die<br />

Grasäche der<br />

Frühlingsstr. 26,<br />

Zwickau, Übergabe<br />

des Grases<br />

an die Oberbürgermeisterin<br />

von<br />

Zwickau<br />

04.11.2013<br />

War da was?<br />

Grass it up!<br />

2. Jahrestag Aufdeckung<br />

NSU<br />

Figurenaufstellungen<br />

mit utopischen<br />

Themen an<br />

den Orten, wo die<br />

Täter lebten.<br />

06.05.2014<br />

Fragen iegen<br />

1. Jahrestag des<br />

NSU-Prozessbeginns<br />

Luftballonperformance<br />

mit Fragen<br />

zum NSU-Komplex,<br />

die über<br />

Sachsen gestreut<br />

wurden.<br />

04.11.2014<br />

Goldener Hase<br />

3. Jahrestag Aufdeckung<br />

NSU<br />

Negativ-Preisübergabe<br />

„Goldener<br />

Hase“ an<br />

den Verfassungsschutz<br />

Sachsen<br />

und Online-Petition<br />

Wir orientieren uns am Standardwerk des Kunstaktivismus „Beautiful Trouble –<br />

Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution” (Boyd & Oswald, 2014)(Boyd<br />

und Mitchell 2014). Darin werden Taktiken, Prinzipien und Theorien beschrieben,<br />

die für erfolgreichen Kunstaktivismus Bedingung sein können. Wir halten uns im<br />

Folgenden an die im Buch verwendete Terminologie.<br />

5.1 Zielgruppe<br />

Aus unserem Ansatz, das Umfeld des Umfeldes der Terrorzelle zur Reexion anzuregen,<br />

leitet sich auch unsere Zielgruppe ab. Wir wollen Menschen erreichen, die im Sozialraum<br />

Zwickau und Chemnitz wohnen. Menschen, die die Welt vor allem über Massenmedien<br />

beobachten und nur bedingt im politischen System mitwirken. Bei diesen Menschen<br />

wollen wir Diskurse und Diskussionen auslösen, die Teil einer Haltungsänderung<br />

sein könnten. Da das Thema in der Stadt nicht besonders beliebt war und noch immer<br />

nicht ist, wussten wir, dass das, was wir machen nicht so interessant sein würde, dass<br />

diese Menschen zu uns strömen würden. Trotzdem wollten wir genau diese Menschen<br />

erreichen. Erst danach wollten wir die politisch Verantwortlichen ansprechen. Unsere<br />

Zielgruppe umfasste damit bis zu 327.000 Menschen (Landkreis Zwickau, 2015).


282 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />

Abbildung 1 Mögliche Antwort auf die Frage: Wie gesellschaftlich reagieren auf die<br />

Terrorzelle NSU in Zwickau? (zweite Aktion: 04.11.2013 – War da was?<br />

Grass it up!)


Fallbeispiel Grass Lifter<br />

283<br />

Abbildung 2 und 3 Prophetische Intervention im öffentlichen Raum (zweite Aktion:<br />

04.11.2014 – War da was? Grass it up?).


284 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />

Wie können wir in Zukunft verhindern, dass solche Taten unter uns geplant werden?<br />

Wie gehen wir mit dem Geschehen um? Wie muss eine Gesellschaft aussehen,<br />

die solche Taten vermeiden kann?<br />

Wir wissen als Künstler: Was die Menschen von der Gesellschaft und ihrer<br />

Welt wissen, ist geprägt von den Massenmedien (Luhmann, 2004). Also mussten<br />

wir unsere Geschichte in die Medien tragen, denn sie sind in der Lage, durch ihre<br />

Annahmen neue Weltkonstruktionen zu ermöglichen und damit eine öffentliche<br />

Meinung als Resultat ihrer eigenen Wirksamkeit zu verändern (Luhmann, 2006,<br />

S. 498). Diese Vorannahmen beeinussten die Auswahl unserer Methoden, die wir<br />

zur Umsetzung der Ziele brauchten.<br />

5.2 Taktiken<br />

Den Begriff Taktik kennen wir vor allem aus dem Sport, Spiel oder Militär. Aber<br />

auch der Kunstaktivismus bedient sich verschiedener Taktiken, um zum Ziel zu<br />

gelangen. Taktiken sind bestimmte kreative Formen, die helfen das Ziel zu erreichen.<br />

Diese Taktiken reichen von Streiks über Besetzungen bis hin zu Flashmobs<br />

oder unsichtbaren Theatern. Einige dieser Taktiken haben sich im Laufe der Jahre<br />

bereits bewährt, andere Formen sind noch weniger bekannt. Nicht selten werden<br />

auch mehrere Taktiken miteinander kombiniert, abgewandelt oder es entstehen gar<br />

neue Formen innerhalb einer Künstlergruppe oder Aktion.<br />

Eine unser Herangehe nsweisen war die Taktik der prophetischen Intervention<br />

(Boyd, 2014, S. 52). Damit versuchen Kunstaktivisten, eine gegenwärtige politische<br />

Situation in etwas Vergangenes zu transferieren, in dem sie durch eine Vision<br />

oder Utopie etwas Neues entstehen lassen. Durch die gezielte und überspitzte Ästhetisierung<br />

von gegenwärtigen Prozessen und Systemen werden diese in die Vergangenheit<br />

projiziert und ihrer aktuellen Bedeutung beraubt (Groys, 2014). Doch<br />

was kommt dann?<br />

Uns ging es nie darum, Antworten auf gesellschaftliche Prozesse zu geben oder<br />

zu nden. Das überlassen wir der Gesellschaft vor Ort. Doch nachdem wir das<br />

Gras ausgegraben haben, trafen wir auf einen starken Widerstand von Seiten der<br />

Entscheidungsträger. Wir fühlten uns wie Nestbeschmutzer. Das wollten wir gar<br />

nicht sein, wir wollten nur Fragen stellen, aber selbst das erschien zu viel. Was also<br />

tun, dachten wir? Wir bastelten Miniguren. Bei unserer zweiten Aktion am zweiten<br />

Jahrestag (04.11.2013) der Aufdeckung des NSU bauten wir alles so klein, dass,<br />

wenn man es nicht wusste, die Figuren auch nicht auf elen. Das Konzept haben<br />

wir uns beim Künstler Slinkachu (2012) abgeschaut. Weniger als Fragen stellen<br />

konnten wir nicht. Diese zu wiederholen, hielten wir auch nicht für zielführend.


Fallbeispiel Grass Lifter<br />

285<br />

Deswegen versuchten wir, mit Mini guren Zukunftsszenarien darzustellen. Wir<br />

wollten damit ironisch die Angriffs äche wegnehmen und uns als Personen der<br />

Öffentlichkeit entziehen. Inhaltlich ging es darum, die aktuelle Weltsituation aus<br />

der Perspektive der betroffenen Menschen zu betrachten. Das bestehende Problem<br />

wird nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft abgeleitet. Das Grundkonzept<br />

„von der Zukunft her führen“, das sich aus der „Theorie U“ (Scharmer,<br />

2013) ableitet, ndet sich im Kunstaktivismus (Boyd, 2014, S. 52) genauso wieder<br />

wie in der Persönlichkeits- und Organisationentwicklung. Nun hatten wir nicht<br />

die Zeit, mit mehr als 300.000 Menschen Re exionsprozesse durchzudeklinieren<br />

und haben uns daher entschieden, positive Visionen erlebbar zu beschreiben. Wir<br />

nannten diese Szenarien „realisierte Utopien“ (Grass Lifter, 2013) und beschrieben<br />

mögliche Visionen, die aus diesem Gedankenexperiment entstanden. Diese sollten<br />

so attraktiv und unangreifbar sein, dass sie einfach übernommen werden könnten.<br />

Es ist umstritten, ob in der Frühlingsstr. 26 an die Taten erinnert werden soll.<br />

Zudem wurde von den Stadtoberen die Angst geschürt, es könnte dort ein Wallfahrtsort<br />

entstehen. Wir entschieden wir uns dort eine Baustelle für einen „Raum<br />

für Dialog“ zu eröffnen (siehe Abbildung 1). In der Polenzstr. 2, wo das Trio<br />

ebenfalls wohnte, ließen wir symbolisch eine Flüchtlingsfamilie einziehen, die<br />

von ihren Mitbewohnern willkommen geheißen wird (siehe Abbildung 2). Damit<br />

spielten wir auf die Tatsache an, dass es in Zwickau über 7.000 leerstehende Wohnungen<br />

gibt und die Flüchtlinge vor Ort in einem abgewrackten Heim am Rande<br />

der Stadt untergebracht sind. Die in der Utopie vorgeschlagene dezentrale Unterbringung<br />

sollte Zwickau wiederbeleben, da die Stadt stark von Abwanderung und<br />

Überalterung betroffen ist. Sie soll zu einem lebendigen Ort gemacht werden, wo<br />

wieder Kinder auf der Straße spielen und unterschiedlichste Gerüche das Wohnen<br />

lebenswerter machen.<br />

Taktisch wollten wir damit eine Identitätskorrektur (Bic hlbaum, 2014a, S. 39)<br />

erzeugen. Hinter dieser Taktik verbirgt sich die Idee, über das Ansehen einer Institution<br />

in der Öffentlichkeit zu berichten bzw. aus einer neuen Perspektive zu beleuchten.<br />

Kunstaktivisten er nden Botschaften und präsentieren diese der Öffentlichkeit.<br />

Dies funktioniert negativ wie positiv. So erließen beispielsweise erfundene<br />

Entscheidungsträger nach der Naturkatastrophe in Haiti die Schulden, die dem<br />

Land nach seiner Unabhängigkeit von Frankreich auferlegt wurden, um französische<br />

Sklavenbesitzer für „ihren verlorenen Besitz“ zu entschädigen (Bichlbaum,<br />

2014a, S. 41). Diese neue Perspektive ist für die jeweilige Institution (hier: Frankreich)<br />

meist nicht schmeichelhaft, weshalb sie versucht, genau diese Perspektive zu<br />

vermeiden. Mit den Mini guren zeigten wir alternative positive Utopien zum gesellschaftlichen<br />

Ist-Zustand der Stadt Zwickau und versuchten, die Diskussion von<br />

einer offenen Fragehaltung zu bestimmten Möglichkeiten zu bewegen.


286 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />

In unserer vierten Aktion Goldener Hase wählten wir den Verfassungsschutz<br />

(VS) als Aufhänger und konkrete Institution für eine Identitätskorrektur. Gleichzeitig<br />

kombinierten wir die Aktion mit einer Online-Petition an die Oberbürgermeisterinnen<br />

von Chemnitz und Zwickau, sowie an den Ministerpräsidenten des<br />

Freistaates Sachsen Stanislaw Tillich. Für uns hatte der VS in der Aufklärung der<br />

NSU-Morde versagt. Das Versagen fand sich in diversen Landesämtern und im<br />

Bundesamt wieder und füllt Ordner der Untersuchungsausschüsse. Da wir über<br />

Zwickau hinaus das Thema stärker fokussieren wollten, entschieden für uns das<br />

Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen als Projektions äche. Wir zeichneten<br />

sie daher stellvertretend für den gesamten Verfassungsschutz mit dem Negativpreis<br />

„Goldener Hase” aus (siehe Abbildung 4).<br />

Abbildung 4<br />

Preisverleihung „Goldener Hase“ an und vor dem Verfassungsschutz Sachsen<br />

(vierte Aktion: 04.11.2014 – Goldener Hase).<br />

Der goldene Hase steht dabei symbolisch für den Ausspruch: „Mein Name ist<br />

Hase, ich weiß von nichts” und wurde z. B. für das Schreddern von Akten oder<br />

das plötzliche Auftauchen von Akten symbolisch vergeben (Spiegel Online, 2013).<br />

Am meisten entspricht der Preis jedoch der Grundhaltung und der Aussage des da-


Fallbeispiel Grass Lifter<br />

287<br />

maligen Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Peter Fritsche:<br />

„Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln<br />

unterminieren“ (Aust & Laabs 2014, S. 805). Fritsche ist mittlerweile Geheimdienstkoordinator<br />

im Bundeskanzleramt (vgl. Beitrag von Laabs in diesem Band).<br />

Damit kehrten wir die Rolle des Verfassungsschutzes um. War er eben noch der<br />

wissende Geheimdienst, der beobachtet und Informationen sammelt, die er gezielt<br />

mitteilt, um die Verfassung zu schützen, wurde er zum nichtwissenden, schweigenden<br />

Akteur. Diese Rolle war für uns und viele andere die „gefühlte“ Wahrheit,<br />

die es auszusprechen galt. Nun lobten (ästhetisierten) wir ihn für seine gezielte<br />

Zurückhaltung von Informationen und die anscheinende Ohnmacht bezüglich der<br />

Aufklärungsarbeit und skandalisierten damit den mangelnden Aufklärungswillen.<br />

Eine weitere Funktion erfüllte der Preis als Aufhänger. Zu einer Preisverleihung<br />

kann eingeladen werden und kommt man auch gern. Dem MDR reichte allein<br />

das Bild vor Ort, inhaltliche Interviews wurden woanders erstellt. Der MDR<br />

Sachsenspiegel berichtete ausführlich, die DPA und viele regionale Medien übernahmen<br />

die fertige Story. Obwohl der Verfassungsschutz nicht zu der eigentlichen<br />

Preisverleihung erschien, lud er uns daraufhin zu einem Gespräch ein.<br />

5.3 Prinzipien<br />

Während die Taktik das Vorgehen einer Aktion bestimmt, sind es die Prinzipien,<br />

die bestimmte Werte und Regeln beein ussen, die für eine erfolgreiche Umsetzung<br />

von Aktionen beitragen. Insbesondere heterogene und dezentrale Gruppen,<br />

wie es die Grass Lifter sind, bedienen sich gemeinsamer Prinzipien, die ein kollektives<br />

Handeln überhaupt erst ermöglichen und langfristige Zusammenarbeit<br />

sichern. Transparente Prinzipien ermöglichen es auch Außenstehenden, Aktionen<br />

und deren Hintergründe besser nachvollziehen zu können. Wir schildern in diesem<br />

Abschnitt Prinzipien, die wir für unsere Arbeit wichtig halten.<br />

Das sicherlich relevanteste Prinzip für unseren gruppendynamischen Prozess<br />

war Konsens statt Kompromiss. Als Künstler wollten wir möglichst klar eine<br />

Botschaft senden. Wie auch immer der Empfänger damit umging, die Botschaft<br />

musste klar sein. „Das Gras über der Sache symbolisch auszugraben“ war eine<br />

Redewendung, die jeder sofort begriff. Schwieriger wurde es bei unserer zweiten<br />

Aktion War da was? Grass it up!. Wir stellten an drei Orten utopische Szenarien<br />

mithilfe von Miniguren nach. Damit wurden das Gesamtbild und die Ideen ndung<br />

komplexer.


288 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />

Abbildung 5<br />

Symbolischer Spatenstich, um das Gras, das in der Frühlingsstraße 26 über<br />

die NSU-Sache wächst, auszugraben (erste Aktion: 06.05.2013 – Das Gras,<br />

das über die Sache wächst).<br />

Jeder in der Gruppe brachte seine eigene Idee und Vorstellung ein. Geübt in gewaltfreier<br />

Kommunikation (vorausgesetzte gruppendynamische Technik), brauchte<br />

es neben Moderationsmethoden immer die Einsicht der Gruppe, einen kompromisslosen<br />

Konsens für eine Idee zu nden. Denn nur dann konnten wir „eine”<br />

möglichst unmissverständliche Botschaft senden. Das unterscheidet Kunstaktivismus<br />

vom reinen politischen Handeln. Kunstaktivisten suchen die ästhetische Idee,<br />

um politisches Handeln zu irritieren, während das Politische den Kompromiss<br />

zum Machterhalt sucht.<br />

Eine Umsetzungsform als mögliches Design ästhetischer Ideen ist die Möglichkeit,<br />

in Geschichten zu denken (Canning & Reinsborough, 2014a). Menschen<br />

lieben und erinnern sich an Geschichten. Sie vermitteln komplexe Sinnzusammenhänge<br />

schneller als abstrakte Erzählungen.<br />

Unser Name Grass Lifter bedeutet so viel wie die, die das Gras ausgraben. An<br />

der Frühlingstraße wächst im wahrsten Sinne des Wortes eine Graswiese über die<br />

NSU-Sache. So konnten wir mehr Aufklärung fordern, indem wir unseren Spaten<br />

nahmen und das Gras an diesem Ort ausgruben. Diese Metapher war so eindeu-


Fallbeispiel Grass Lifter<br />

289<br />

tig wie klar. Wir versuchten auch in den darauffolgenden Aktionen, dieses Bild<br />

immer wieder zu benutzen und verankerten es in unserem Gruppennamen. Die<br />

zweite Aktion erschuf realisierte Utopien mittels Miniatur guren, über die diskutiert<br />

werden konnte.<br />

Abbildung 6<br />

Fragen über den NSU-Komplex iegen symbolisch vom Zwickauer Hauptmarkt<br />

über ganz Sachsen (dritte Aktion: 06.05.2014 – Fragen iegen).<br />

Bei der dritten Aktion ließen wir das ausgegrabene Gras und Fragen, die sich bei<br />

der gesellschaftlichen Aufklärung des NSU ergeben, symbolisch an Luftballons<br />

über Sachsen iegen. Bei der letzten Aktion, der Übergabe des goldenen Hasen,<br />

dekonstruierten wir die Rolle des Verfassungsschutzes, indem wir ihm eine Metapher<br />

zuschrieben und diese mittels einer Preisübergabe unterstützten. Die Funktion<br />

solcher Bilder ist es, für Journalisten die Geschichten vorzubereiten und damit<br />

eine Grundintention in die Medienbotschaften zu bauen. Diese können von den<br />

Rezipienten leicht und schnell aufgefasst werden. Jede neue Geschichte erweitert<br />

oder beschreibt die bestehende Geschichte der politisch Handelnden. Es gilt, dem<br />

jeweiligen gültigen Narrativ eine bessere Erzählung gegenüberzustellen. Wir wollen<br />

mit unseren Geschichten Sinn erschaffen, der emotional verstanden wird.<br />

Um Geschichten zu richtig zu erzählen hilft uns das Prinzip Zeigen ist besser<br />

als erklären (Cannin g, Reinsborough & Buckland, 2014). Geschichten leben von<br />

Bildern und Metaphern. Bilder sind sprachunabhängig und je nach Kontext und<br />

Hintergrundwissen kann der Betrachter unterschiedliche Bedeutungen aus ein und<br />

demselben Bild erfahren. Unsere Bilder sollten die Botschaft des Gesagten zusätzlich<br />

vermitteln. Gummistiefel und der Spaten unterstützen die Metapher, das Gras<br />

über der Sache auszugraben. Dem Verfassungsschutz vorzuwerfen, dass er nicht


290 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />

genug bei der Aufklärung der NSU-Verbrechen mithilft, zeigte ein goldener Hase<br />

für die Redewendung: „Mein Name ist Hase – Ich weiß von nichts”. So wurde der<br />

jeweiligen Geschichte ein unterstützendes Bild bereitgestellt und eine vertraute<br />

Situation kreiert, die sofort das Ziel einer Aktion erkennen lässt. Ein weiteres Beispiel<br />

ist unsere zweite Aktion. Durch die Aufstellung und Ablichtung von unseren<br />

Miniaturguren in verschiedenen Schauplätzen, konnten wir Situationen aufzeigen<br />

und brauchten nur noch wenige Wörter benutzen. Wir ließen Bilder erzählen,<br />

um das Unsichtbare sichtbar zu machen (Bloch, 2014, S. 115ff). Zusätzlich wurden<br />

weitere Informationen zu den Situationen in Form von Reden für Interessierte auf<br />

unserer Homepage zur Verfügung gestellt.<br />

Das Prinzip Mach das Unsichtbare sichtbar will Zusammenhänge sichtbar machen,<br />

die unmittelbar nicht sichtbar sind oder die tatsächlich unsichtbar bleiben<br />

sollen. So ist beispielsweise die Gletscherschmelze auf Grund des Klimawandels<br />

für Stadtbewohner erst einmal nicht sichtbar. Noch schwieriger wird es bei „kommunikativen“<br />

Problemen wie Rassismus. Die Verbrechen des NSU sind in Sachsen<br />

nicht weiter öffentlich sichtbar. Es gibt selten Ausstellungen, geschweige denn<br />

Dauerausstellungen, noch feste Orte der Erinnerung oder Aufarbeitung. Wir versuchen<br />

daher, dieses Prinzip so wörtlich wie möglich umzusetzen. Das Gras in der<br />

Frühlingstraße auszugraben und symbolisch ein „Bauloch“ zu hinterlassen oder<br />

Fragen, die im NSU-Komplex entstehen, symbolisch mit Luftballons aufsteigen zu<br />

lassen, sind Versuche das Unsichtbare für die Bevölkerung sichtbarer zu machen.<br />

Abbildung 7 Preis „Goldener Hase“ mit Polizei: Dieses Bild wurd e besonders gern von<br />

Medien genutzt (vierte Aktion: 04.11.2014 – Goldener Hase).


Fallbeispiel Grass Lifter<br />

291<br />

Die Prinzipien Zeigen ist besser als erklären und das Unsichtbare sichtbar machen,<br />

werden unterstützt durch ein weiteres Prinzip: Nimm den Medien die Arbeit<br />

ab (Bichlbaum, 2014b, S. 118ff). Viele Medien leiden unter Redakteur-, Zeit- und<br />

Geldmangel. Für zivilgesellschaftliche Akteure kann es daher hilfreich sein, wenn<br />

den Journalisten ein Großteil der Arbeit abgenommen wird. Dazu zählt eine Pressemitteilung<br />

mit fertigen Zitaten, Bilder der Aktion machen und die Aufbereitung<br />

der Texte auf einer Homepage. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Bilder<br />

und Texte, die Online sofort zur Verfügung standen, auch gerne rezipiert wurden.<br />

Daneben gilt aber auch hier, den Journalisten nicht nur eine Geschichte, Texte und<br />

Bilder zu liefern, sondern vor allem anlassbezogen zu agieren ( Agenda Setting,<br />

siehe unten). Bei der zweiten und vierten Aktion wurden wir als Akteur dann bereits<br />

n achgefragt, ohne selbst einladen zu müssen.<br />

5.4 Theorien<br />

Theorien helfen, die Welt übersichtlicher zu beobachten und ihre Komplexität zu<br />

verringern. Sie sind Grundlage für unser Handeln. Eine der zentralen Theorien ist<br />

das sogenannte Agenda Setting. Dabei wird versucht, ein Thema auf die politische<br />

Tagesordnung (policy-cycle) zu setzen. Das Problem wird benannt, formuliert und<br />

als entscheidungsrelevant markiert. Eine besondere Rolle haben die Medien. Sie<br />

selektieren in der Rolle der „Gate-Keeper“ Informationen und beein ussen mit<br />

ihren Botschaften die politischen Akteure und Empfänger in ihrer Meinungsbildung.<br />

Will man politische Entscheidungen herbeiführen, ist Agenda Setting, der<br />

erste Schritt im policy-cycle (Bogumil & Jann, 2009, S. 25).<br />

Dabei ist die Wahl des optimalen Zeitpunkts entscheidend. Es stehen folgende<br />

Fragen im Vordergrund: Wann wird die Botschaft am besten gehört? Wann sind<br />

die Medienbeobachter bereit, die Botschaft im Einklang mit ihren Relevanzkriterien<br />

weiterzutragen? Dafür eignen sich insbesondere Jahrestage und symbolische<br />

Daten, an denen relevante Ereignisse passiert sind. Das können Todestage, Unglücke,<br />

Eröffnungen (Fall der Mauer), Unterzeichnungen (Friedensvertrag) oder<br />

Veröffentlichungen von medienrelevanten Büchern und Studien sein.<br />

In unserem Fall haben wir uns den Beginn des NSU-Gerichtsprozesses in<br />

München als symbolisches Datum für unsere erste Aktion ausgesucht. Nachdem<br />

am ersten Jahrestag der Aufdeckung des NSU in der Frühlingsstraße 26 in<br />

Zwickau, wo die NSU-Terroristen zum Schluss wohnten, ein Kamerawagen einer<br />

Agentur stand und das Gras lmte, wussten wir, der letzte Wohnort und damit die<br />

Stadt Zwickau bleiben von überregionaler Bedeutung. So kam es dann auch. Am<br />

06.05.2013, dem Tag des Prozessbeginns in München, informierten wir die Presse,


292 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />

dass wir das Gras, das über die NSU-Sache wächst, symbolisch ausgraben werden.<br />

Wir zogen uns Gummistiefel an und gewappnet mit einem Spaten zogen wir zur<br />

Wiese, um Spuren der Aufklärung zu hinterlassen. Der MDR Sachsen richtete<br />

eine Live-Schaltung ein und regionale Pressevertreter waren vor Ort. Auch alle<br />

anderen Aktionen fanden entweder am Jahrestag der Aufdeckung der Terrorzelle<br />

oder am Jahrestag des Prozesses statt. Das Medieninteresse an den Jahrestagen<br />

der Aufdeckung der NSU-Terrorzelle war generell größer, als an den Jahrestagen<br />

des Prozessbeginns. Der richtige Zeitpunkt half uns ungemein, unsere Botschaft<br />

an die Medien zu vermitteln und ihre Relevanz-Hürden für eine Berichterstattung<br />

zu überspringen.<br />

Neben dem richtigen Zeitpunkt stellt sich die Frage nach dem geeigneten Interventionspunkt<br />

(Canning & Reinsborough, 2014b, S. 170ff). Damit sind „neuralgische<br />

Punkte“ gemeint, die ein System irritieren und destabilisieren können.<br />

Für uns stellte sich also die Frage, wo wir den Hebel ansetzen sollten, um eine<br />

möglichst größte Wirkung erzielen zu können. Wir entschieden uns bei den ersten<br />

beiden Aktionen die Orte zu nehmen, an denen die NSU-Terroristen zuletzt wohnten.<br />

Für uns symbolisierten sie genau das, was wir kritisierten: die Geschehnisse<br />

wurden in der Frühlingsstraße 26 bewusst unkenntlich gemacht. So rief uns am<br />

06.05.2013, als wir das Gras ausgraben wollten, die von öffentlicher Hand geführte<br />

Wohnungsgesellschaft an und fragte was wir dort vorhaben. Als wir es ihnen<br />

erzählten, meinten sie erschüttert, dass sie das Gras doch genau deswegen gesät<br />

haben. Auch beim Verfassungsschutz wussten wir, dass er den Negativpreis nur<br />

ungern öffentlich entgegennehmen würde. Also mussten wir nach Dresden fahren,<br />

um Originalbilder vom Schauplatz (vgl. Abbildung 4) erzeugen zu können. Interventionspunkte<br />

müssen nicht nur Orte sein, es können auch bestimmte Personen,<br />

ideologische Vorstellungen oder Entscheidungspunkte sein (Canning & Reinsborough,<br />

2014b, S. 170), die den Schwachpunkt eines Systems präsentieren.<br />

Doch selbst wenn Zeit- und Interventionspunkt richtig gesetzt sind, kann es<br />

sein, dass die Botschaft nicht verstanden wird. Nur wenn die Logik der Aktion<br />

(Boyd & Russel 2014, S. 170ff) richtig dargestellt ist, hat sie überhaupt eine Chance<br />

beachtet und wahrgenommen zu werden. Die Logik einer Kunstaktion sollte für<br />

einen Unbeteiligten, z. B. zufällig vorbeilaufenden Passanten, sofort zu erkennen<br />

sein. Das war in unseren Aktionen nicht sofort der Fall, aber auch nicht notwendig,<br />

da wir meist an wenig frequentierten Orten aktiv wurden. Die Logik der Aktion<br />

wurde deswegen für die medialen Beobachter so gebaut, dass diese die Botschaft<br />

schnell kontextualisieren und ihren Beobachtern (Zuschauer, Leser) weitervermitteln<br />

konnten.<br />

Zum Schluss stellt sich die Frage, welchem ethischen Ansatz folgen wir als<br />

Künstlergruppe? Für die Autoren dieses Artikels steht fest, dass jede Handlung


Fallbeispiel Grass Lifter<br />

293<br />

und Entscheidung dem ethischen Imperativ folgen sollte: „Handle stets so, dass<br />

die Anzahl der Möglichkeiten wächst.“ (Foerster & Pörksen, 2008, S. 36). Denn da<br />

jede Entscheidung ein „Massenmord an Möglichkeiten“ ist (Grebe, 2011), so muss<br />

die getroffene Entscheidung danach mehr Möglichkeiten zulassen als davor. Das<br />

Gras, das über eine Sache gesät wird, folgt dem nicht, es schließt Entscheidungsräume.<br />

Die Entscheidung, sich aktiv mit dem NSU in Sachsen auseinanderzusetzen,<br />

folgt dagegen dem ethischen Imperativ.<br />

6 Wirkungen<br />

Unsere Aktionen funktionieren vor allem über die Medien. Das heißt, wir bringen<br />

ein Thema, in unserem Fall die Aufklärung über den NSU in Sachsen, wieder auf<br />

die tagespolitische Agenda. Wenn wir nach den Wirkungen fragen, unterscheiden<br />

wir zwischen unmittelbaren (direkten) und mittelbaren (langfristigen) Wirkungen.<br />

Unmittelbare Wirkungen konnten wir vor allem anhand von Medienartikeln<br />

messen. So erreichten wir mit jeder Aktion durchschnittlich mehrere hunderttausend<br />

Menschen, allein über die klassischen Medien. Eine besondere Rolle<br />

spielen sogenannte Anzeigenblätter bzw. Wochenblätter. Diese erreichen fast alle<br />

Haushalte in der Zielregion. Unsere Story erschien mit Foto direkt auf der Titelseite<br />

der Wochenblätter und landete damit in fast jedem Haushalt der Region<br />

Zwickau. Im Durchschnitt gab es mehr als 9 Medienberichte pro Aktion. Dabei<br />

sind Mehrfacherwähnungen (z. B. im Radio oder der lokalen Printpresse) nicht<br />

berücksichtigt. Soziale Medien spielten lokal eine untergeordnete Rolle, erreichten<br />

aber vor allem nationale und internationale Aufmerksamkeit. Weitere direkte<br />

Rückmeldungen sind Leserbriefe, Mails oder Anrufe. Hier gab es eher wenige<br />

Rückmeldungen, meist im einstelligen Bereich pro Aktion. Eher waren dann persönliche<br />

Erwähnungen erlebbar, wie z. B. an der Supermarktkasse: „Sie sind doch<br />

der Mann aus dem Fernsehen, na viel Spaß beim Ausgraben.” Direkte politische<br />

Wirkungen haben wir in Chemnitz nach der vierten Aktion erreicht. Dort heißt<br />

es in der Antwortmail der Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) auf unseren<br />

„offenen Brief“: „Die von Ihnen angesprochenen Themen werden außerdem<br />

von einer Arbeitsgruppe bearbeitet, die sich in Chemnitz mit <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

beschäftigt. Für das Jahr 2015 hat sich die Arbeitsgruppe vorgenommen, einen<br />

Vorschlag zu erarbeiten, wie mit der Aufarbeitung der Verbrechen des NSU in<br />

Chemnitz umgegangen werden kann. Im Fokus steht auch, wie Re exionsprozesse<br />

gestaltet werden können“ (Ludwig, per E-Mail an Franz Knoppe, 2014). In Zwickau<br />

haben wir eine direkte Wirkung durch die Gründung einer Arbeitsgruppe<br />

erreicht. Die Teilnehmer sind Multiplikatoren aus der Zivilgesellschaft, die sich


294 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />

aus dem lokalen Bündnis für Demokratie Zwickau zusammengeschlossen haben,<br />

um die richtige Form der Aufarbeitung für Zwickau zu suchen.<br />

Mittelbare Wirkungen sind schwieriger zu beobachten. Diskussionen, die in<br />

Wohnzimmern ausgelöst wurden, können schwer beobachtet werden, ebenso können<br />

informelle Gespräche von Entscheidungsträgern nur über Hörensagen erahnt<br />

werden. Sichtbare Zeichen, die wir beobachten konnten, sind eher unbewusste Diskurserscheinungen<br />

und Formulierungen, bei denen schwer belegbar ist, dass sie<br />

durch uns entstanden sind. So schreibt z. B. die Freie Presse in einem Artikel:<br />

„Im NSU-Prozess und in Untersuchungsausschüssen wird versucht zu verhindern,<br />

dass über den Fall selbst Gras wächst, ohne dass seine Details ausgeleuchtet sind“<br />

(Eumann, 2014). Oder der ehemalige Landtagsabgeordnete in Sachsen Miro Jennerjahn<br />

benutzt im Fall Mügeln für seinen Blogeintrag eine ähnliche Terminologie,<br />

wie wir ihn für unsere 2. Aktion benutzt haben. Aus „War da was? Grass it<br />

up!“ (Grass Lifter, 2014) wird „Mügeln – war da was?“ (Jennerjahn, 2015). Auch<br />

beobachten wir, dass das Thema in der Stadt offener angesprochen wird. Wurde in<br />

einem früheren informellen Gespräch nach dem ersten Jahrestag (November 2012)<br />

von Seiten des Theaters noch gesagt, dass dieses Thema nicht weiter behandelt<br />

wird, so packt das Theater dieses „Heiße Eisen“ (Kohlschein, 2015) im Jahr 2015<br />

nun an. Weitere mittelbare Wirkungen sind zwei Preise 2 , die wir für unsere Arbeit<br />

erhielten. Diese sind hilfreich, um Aufmerksamkeit für das Thema zu erzielen und<br />

unsere Botschaft mit verstärkter Reputation mitzuteilen. Abschließend lässt sich<br />

sagen, dass wir mit relativ wenig Aufwand eine relativ hohe Außenwirkung erzielen<br />

konnten. Als rein ehrenamtliche arbeitende Künstler, die nur geringe Sachkosten<br />

gefördert bekommen, konnten wir mit unserem Thema eine Stimme bilden,<br />

die Gehör ndet.<br />

7 Diskussion & Fazit<br />

Aus Perspektive einer K ünstlergruppe können wir an Orten, an denen ein Meinungsvakuum<br />

besteht, also Akteure vor Ort ein Thema noch nicht oder kaum aufgegriffen<br />

haben, dieses Vakuum mit künstlerischen Mitteln füllen. Dabei ist der<br />

Zeitpunkt entscheidend und die Frage muss richtig beantwortet werden, wann und<br />

wie die Medien bereit sind, die anderslautende Botschaft zu transportieren. Das<br />

Thema sollte kreativ in einer Geschichte verpackt werden, so dass die Botschaft<br />

2 „Anerkennungspreis Förderpreis sächsischer Demokratiepreis 2013“ und Preisträger<br />

des Wettbewerbes „Aktiv für Demokratie und Toleranz 2014“ der Bundeszentrale für<br />

politische Bildung.


Fallbeispiel Grass Lifter<br />

295<br />

leicht transportiert werden kann und der Empfänger die Neuigkeit zur Situation<br />

versteht und sich eine Meinung bilden kann. Dabei hilft es, wenn bestimmte Rahmenbedingungen<br />

erfüllt werden. Die Geschichten und Bilder der Grass Lifter<br />

konnten Zuschauer und Zuhörer gewinnen und somit eine Veränderung der Situation<br />

herbeiführen. Kunstaktionen in öffentlichen Räumen und Debatten sollen und<br />

können eine neue Form darstellen, um gesellschaftliche Prozesse zu beschleunigen<br />

und zum Schwingen zu bringen. Aus unserer Erfahrung werden Kunstaktionen<br />

von Medien gern aufgenommen, da sie den Konsens über den Dissens eines<br />

gesellschaftlichen Themas mit Geschichten und Bildern grif g transportieren<br />

können. Kunstaktivismus unterscheidet sich damit kreativ von den ritualisierten<br />

Protestformen, wie z. B. Demonstrationen oder Petitionen. Er kann am richtigen<br />

Zeitpunkt, Ort und Entscheidungspunkt mit relativ wenigen Mitteln (Sachmittel,<br />

Personal) durchgeführt werden. Der Protest gegen Rechts wird oft mit Linksextremismus<br />

gleichgesetzt. Der Kunstaktivismus bietet hier zusätzlich die Chance,<br />

bestehende Links/Rechts Schemen zu durchbrechen und ein Stück der befreienden<br />

Distanz zur unserer sozial konstruierten Realität zu schaffen 3 .<br />

3 Für die wertvolle Kritik und Korrekturen die dazu beigetragen haben, dass wir diesen<br />

Artikel so fertig stellen konnten, möchten wir Gundula Hoffmann, Nele Marie Wolfram,<br />

Claudia Meier und Christian Landrock danken.


296 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />

Literatur<br />

Aust, St. & Laabs, D. (2014). H e i m a t s c h u t z – D e r S t a a t Un d D i e M o rd s e r i e D e s N S U .<br />

München: Pantheon Verlag.<br />

Bichlbaum, A. (2014a). Identitätskorrektur. In A. Boyd & D. O. Mitchell (Hrsg.), Beautiful<br />

Trouble. Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution (S. 39–41). Freiburg: orangepress.<br />

Bichlbaum, A. (2014b). Nimm den Medien die Arbeit ab.” In A. Boyd & D. O. Mitchell<br />

(Hrsg.), Beautiful Trouble. Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution (S. 118–120).<br />

Freiburg: orange-press.<br />

Bloch, N. (2014). Mach das unsichtbare sichtbar. I In A. Boyd & D. O. Mitchell (Hrsg.),<br />

Beautiful Trouble. Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution (S. 115–117). Freiburg:<br />

orange-press.<br />

Bogumil, J. & Jann, W. (2009). Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland –<br />

Einfü hrung in die Verwaltungswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag fü r Sozialwissenschaften.<br />

Boyd, A. (2014). Prophetische Intervention. In A. Boyd & D. O. Mitchell (Hrsg.), Beautiful<br />

Trouble. Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution (S. 52–55). Freiburg: orangepress.<br />

Boyd, A. & Kahn Russel, J. (2014). Die Logik der Aktion. In A. Boyd & D. O. Mitchell<br />

(Hrsg.), Beautiful Trouble. Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution (S. 176–178).<br />

Freiburg: orange-press.<br />

Canning, D. & Reinsborough, P. (2014a). Denk in Geschichten. In A. Boyd & D. O. Mitchell<br />

(Hrsg.), Beautiful Trouble. Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution (S. 80–82).<br />

Freiburg: orange-press.<br />

Canning, D. & Reinsborough, P. (2014b). Interventionspunkte. In A. Boyd & D. O. Mitchell<br />

(Hrsg.), Beautiful Trouble. Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution (S. 168–171).<br />

Freiburg: orange-press.<br />

Canning, D., Reinsborough, P. & Buckland, K. (2014). Zeigen Ist besser als Erklären. In A.<br />

Boyd & D. O. Mitchell (Hrsg.), Beautiful Trouble. Handbuch für eine unwiderstehliche<br />

Revolution (S. 145–47). Freiburg: orange-press.<br />

Decker, M. (2013). “Rechtsterror: Harmoniebedachte Oberbürgermeisterin.” Berliner Zeitung.<br />

30. Dezember 2013. http://www.berliner-zeitung.de/nsu-prozess/rechtsterror-harmoniebedachte-oberbuergermeisterin,11151296,25757342.html.<br />

Eumann, J. (2014). “Aufarbeitung Des NSU-Komplexes: Die Spur Der V-Leute – Freie<br />

Presse.” Freie Presse. Juni 11. http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/DEUTSCH-<br />

LAND/Aufarbeitung-des-NSU-Komplexes-Die-Spur-der-V-Leute-artikel9029056.php.<br />

Foerster, H. v. & Pörksen, B. (2008). Wahrheit ist die Er ndung eines Lügners: Gespräche<br />

für Skeptiker. 8. Au. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verlag.<br />

Grass Lifter. (2013). “Grass Lifter | Polenzstr. 2 – Realität und Utopie.” Grass Lifter. April<br />

11. http://grass-lifter.de/Polenzstr.<br />

Grass Lifter. (2014). “Grass Lifter | Einladung Zur Kunstaktion Der Grass Lifter In... Grass<br />

Lifter. November 1. http://grass-lifter.de/post/65691300602/einladung-zur-kunstaktionder-grass-lifter-in.<br />

Grebe, R. (2011). “Aufs Land” Rainald Grebe & Die Kapelle Der Versöhnung. MP3. Zurück<br />

Zur Natur. AgenturAgathos. http://soundcloud.com/agenturagathos/aufs-land-anonymitaet-master.


Fallbeispiel Grass Lifter<br />

297<br />

Groys, B. (2014). Kunstaktivismus – Die Totale Ästhetisierung der Welt als Eröffnung der<br />

Politischen Aktion. Lettre International, 106, 88 – 92.<br />

Jennerjahn, M. (2015). “Mügeln – War Da Was? – Miro Jennerjahn.” Miro Jennerjahn. July<br />

1. http://www.miro-jennerjahn.eu/294/muegeln-war-da/.<br />

Kohlschein, Th. (2015). “Theater Packt Heißes Eisen an – Freie Presse.” Freie Presse. February<br />

1. http://www.freiepresse.de/LOKALES/ZWICKAU/ZWICKAU/Theater-packtheisses-Eisen-an-artikel9075923.php.<br />

Landkreis Zwickau. (2015). “Landkreis Zwickau – Einwohner Und Fläche Nach Gemeinden.”<br />

Accessed January 16. http://www.landkreis-zwickau.de/295.html.<br />

Lasch, H. (2013). “Löcher in Der Zwickauer Grasnarbe.” Neues Deutschland. October 11.<br />

http://www.neues-deutschland.de/artikel/838550.loecher-in-der-zwickauer-grasnarbe.<br />

html.<br />

Luhmann, N. (2000). Organisation Und Entscheidung. Opladen [u. a.]: Westdeutscher Verlag.<br />

Luhmann, N. (2004). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Luhmann, N. (2006). Die Gesellschaft Der Gesellschaft. 1. Au., [Nachdr.]. Vol. 2. Frankfurt<br />

am Main: Suhrkamp.<br />

Naumann, H. (2013). “Generation Loss.” Freunde Aktueller Kunst. March 11. http://www.<br />

freunde-aktueller-kunst.de/2013-11-03.01.html.<br />

Scharmer, C. O. (2013). Theorie U – Von der Zukunft her Führen. 3. Heidelberg:Carl-Auer<br />

Verlag.<br />

Schellenberg, B. (2014). Mügeln – Die Entwicklung Rassistischer Hegemonien Und Die<br />

Ausbreitung Der Neonazis. Demokratie. Dresden: Heinrich-Böll-Stiftung.<br />

Slinkachu. 2012. Kleine Leute in der grossen Stadt. 7. Au age. Hamburg: Hoffmann und<br />

Campe.<br />

Spiegel Online. (2013). “<strong>Rechtsextremismus</strong>: Aktenvernichtung in Sachsen war Rechtens.”<br />

Spiegel Online. January 24. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/rechtsextremismusaktenvernichtung-in-sachsen-war-rechtens-a-879563.html.


Kapitel 4<br />

Gesellschaftliche Reaktionen<br />

„Juden, Roma und Sinti, ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Asylbewerber<br />

brauchen nicht nur den Schutz von Polizei und Justiz, sondern die Unterstützung<br />

aller Menschen, um sich in Deutschland sicher fühlen zu können“<br />

(Ignatz Bubis und Dieter Wunder, Gemeinsamer Aufruf des Zentralrates der<br />

Juden in Deutschland und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft,<br />

Frankfurt am Main, 9. Dezember 1992).


<strong>Rechtsextremismus</strong><br />

Herausforderungen für die ganze Gesellschaft<br />

Anetta Kahane<br />

Anlass dieser Zwischenbilanz ist die Enttarnung des NSU, auch wenn wir wissen,<br />

es geht um mehr. Dennoch lässt sich an dem Beispiel NSU gut erklären, wie eine<br />

ganze Gesellschaft versagt hat. Und ich meine die ganze Gesellschaft, Anwesende<br />

ausdrücklich eingeschlossen. Es ist richtig, die Ordnungsbehörden zu kritisieren,<br />

aber auch ein wenig billig, wenn wir es unterlassen, dabei auf uns selbst zu schauen<br />

und auf das, was wir übersehen haben. Denn das ist eine Menge. Wir werden über<br />

beides reden müssen.<br />

Ich nehme an, dass Sie mich als Praktikerin eingeladen haben. Deshalb werde<br />

ich Ihnen auch Praktisches berichten. Es ist nämlich eine Sache, über <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

zu reden, um zu versuchen, ihn zu verstehen – und ich bin wirklich sehr<br />

froh, dass ich Sie an dieser Stelle nicht auffordern muss, <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />

Gegenstand der Wissenschaft ernst zu nehmen – eine andere Sache ist es jedoch,<br />

praktisch zu handeln. Beide Seiten brauchen einander.<br />

Als sich der Vorhang hob und im November 2011 Stück für Stück klar wurde,<br />

was der NSU ist, welche Verbrechen er begangen hat, war der Schrecken groß.<br />

Zehn Morde, Bombenanschläge, zahlreiche Banküberfälle – das alles war von<br />

den Behörden und der Gesellschaft unentdeckt geblieben. Unentdeckt als Tat von<br />

Nazis. Rechtsterrorismus galt als Horrorfantasie überdrehter Wichtigtuer oder als<br />

ideologische Wahnvorstellung militanter Antifas. Doch dass Polizei und Verfassungsschutz<br />

dabei eine derart fatale Rolle gespielt hatten, konnten sich selbst jene<br />

nicht vorstellen, ohne als Verschwörungstheoretiker abgetan zu werden, die nun<br />

endgültig die Realität abgeschüttelt hatten.<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_11, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


302 Anetta Kahane<br />

Heute, zweieinhalb Jahre später, nach einer bewegenden Trauerfeier in Anwesenheit<br />

der Kanzlerin, nach Abschluss der ersten Untersuchungsausschüsse, nach<br />

einem Rock-Fest in Jena, nach Versprechen von Polizei, Justiz und Verfassungsschutz,<br />

dass jetzt alles überprüft und verbessert würde, treffen wir uns hier um<br />

nachzusehen, ob sich insgesamt in der Gesellschaft etwas verändert hat und ob<br />

geschehen ist, was die Behörden versprochen haben. Zu P ngsten 2014 fand eine<br />

öffentliche Gedenkveranstaltung statt. Anlass war der 10. Jahrestag des Bombenanschlags<br />

auf die Kölner Keupstraße. 50.000 Menschen kamen unter dem Motto<br />

Birlikte zusammen. Birlikte bedeutet Zusammenstehen – so wie inNâzm Hikmets<br />

Gedicht: frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald. Gauck hat dort geredet;<br />

Udo Lindenberg, BAP, Clueso – sie alle waren gekommen. Wie ein gutes Jahr zuvor<br />

in Jena verurteilten die Redner alle Neonazis und besonders den NSU, und wie<br />

dort beschworen sie das Miteinander. Unterschiedlich war nur die Selbstbetrachtung<br />

der Städte – in Jena ging es vor allem darum, den Ruf der Stadt wiederherzustellen,<br />

in Köln spielte dieses Bedürfnis keine Rolle. In Jena wurde das Publikum<br />

in Bussen herangefahren, in Köln kam, wer wollte. Dafür endete die Veranstaltung<br />

in Köln jäh: der Wetterdienst hatte eine Sturmwarnung herausgegeben und so<br />

musste der Platz geräumt werden. Der Sturm kam übrigens tatsächlich, wir waren<br />

mit unserem Team mittendrin.<br />

Ich will Ihnen einige Szenen schildern, aus dem Westen wie aus dem Osten,<br />

anhand derer ich versuchen will, ein Bild dessen zu zeichnen, was der <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

heute ist und wie er entstand.<br />

Zunächst die Schlaglichter aus dem Westen:<br />

• Die erste Szene zeigt eine weitere Kundgebung für Abdullah Öcalan und<br />

den deutschen Justizminister im Gespräch über den Brandanschlag 1992 auf<br />

ein Wohnhaus in Mölln. Das Opfer wird nach der Tat gefragt. Ein wichtiger<br />

Augen blick für den Minister: Ibrahim Arslan aus Mölln geht ihn auch an. Eine<br />

Entschädigung wie ein Verkehrsopfer? Da ist der Minister beleidigt. Und bezeichnet<br />

den Ruf aus dem Publikum, der Staat habe den NSU mitnanziert, als<br />

„Bullshit“.<br />

• Der Bürgermeister von Köln hingegen sagt, die Opfer dürften auf Entschädigung<br />

hoffen. Und begrüßt keinen einzigen der Anwesenden.<br />

• BAP sitzt im Sturm in einer Getränkehandlung von Türken fest, und die einzige<br />

Kommunikation mit den Gastgebern ist ein freundliches Kopfnicken, als diese<br />

ihnen Getränke anbieten.


<strong>Rechtsextremismus</strong><br />

303<br />

Zwei Schlussfolgerungen:<br />

1. Dreißig Jahre Einwanderung – und noch immer sind die Einwanderer nicht Teil<br />

der deutschen Gesellschaft. Diese Gesellschaft klebt am alten Konzept und gestaltet<br />

auch nicht ihre Zukunft. Wer jedoch nicht akzeptiert, dass ethnische und<br />

kulturelle Vielfalt eine Tatsache ist, kann auch nicht über Diskriminierung und<br />

Rassismus reden. Diese Abwehr ist eine Abwehr des Themas insgesamt. Weder<br />

die Behörden noch die Gesellschaft haben sich wirklich auf ein Miteinander in<br />

Vielfalt eingestellt. Der Korpsgeist hat sich nicht verändert, selbst wenn jetzt<br />

einige Einwanderer mitspielen dürfen.<br />

2. <strong>Rechtsextremismus</strong> ist auch ein Ost-West-Problem. Hier lebt der kalte Krieg<br />

fort. Nach 1945 zeigten die Kommunisten auf den Westen. Zu Recht, gewiss.<br />

Aber sie vergaßen die eigenen Mentalitäten und dass der Nationalsozialismus<br />

nicht per Beschluss verschwindet. Der Westen seinerseits hielt sich in den<br />

90er Jahren für geheilt. Als die Wende kam, war ‚68 durch die Institutionen<br />

marschiert und nahm stirnrunzelnd zur Kenntnis, dass sich die DDR jetzt per<br />

Mauerfall angeschlossen hatte. Die Konservativen sahen große Möglichkeiten,<br />

die 68er lauter Unmöglichkeiten. Beide ignorierten zunächst den <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Autoritarismus in der postkommunistischen Gesellschaft Ostdeutschlands<br />

– nur um ihn etwas später von sich wegschauend ausschließlich<br />

im Osten zu sehen. So wie damals die DDR auf den Westen, wies man jetzt mit<br />

dem Zeigenger auf den Osten – ebenfalls ohne zu bemerken, wie der eigene<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und Populismus wuchs. Wir sagten damals: „Wer im Osten<br />

den <strong>Rechtsextremismus</strong> gewähren lässt, versaut auch die Preise im Westen.“<br />

So konnte der NSU vom Osten aus im Westen wüten, denn dort hatte niemand<br />

mit einer strukturierten Form der „Ostfolklore“ gerechnet. Trotz des versuchten<br />

Anschlags in München auf den Synagogenbau durch Herrn Wiese, der ja auch aus<br />

dem Osten kam. Auf der einen Seite die Türken isoliert und noch nicht angenommen<br />

und auf der anderen ein <strong>Rechtsextremismus</strong>, der sowohl unterschätzt als auch<br />

allein auf den Osten bezogen wurde – diese Diskrepanz war ein zentrales Element<br />

des Erfolgs des NSU. Beidem, Ost wie West, liegt eine gemeinsame Geschichte<br />

zugrunde, die Schuldabwehr und Schuldumkehr zu einem festen Bestanteil der<br />

Alltagskultur gemacht hat. Der Nationalsozialismus hat bis in die Familien hinein<br />

eine tiefe Spur von Einstellungen und Mustern hinterlassen, die auf unterschiedliche<br />

Weise bis heute fortwirken.


304 Anetta Kahane<br />

Nun die Beispiele aus dem Osten:<br />

• Kinder von Asylbewerbern werden von anderen beschimpft und geschlagen,<br />

irgendwo in einer kleinen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. Die Lehrerinnen<br />

wehren sich gegen Vorwürfe der Eltern. Es gibt Ärger. Die Lehrer fordern<br />

mehr Stunden, weil sie sonst den Anforderungen nicht gewachsen sind. Oder<br />

die Kinder sollen in eine Sonderschule.<br />

• Ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern ist fast überwiegend von Nazis bewohnt,<br />

die der Siedlerszene angehören. Ein Ehepaar organisiert ein Rockkonzert.<br />

Aus dem Erlös wollen sie eine Spende für die Schule im Nachbarort machen,<br />

um den Lehrern eine Fortbildung zu nanzieren, denn die meisten Kinder<br />

aus Nazifamilien gehen in diese Schule. Die Schule lehnt die Spende ab: Es<br />

gebe kein Problem mit <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

• In Fortbildungen für P egekräfte kommt es immer wieder zu Diskussionen.<br />

Viele rechte Frauen drängen in soziale Berufe. Ihr Umgang mit Patienten oder<br />

Kollegen, die nicht-deutscher Herkunft sind, ist oft unerträglich. Dies kommt<br />

auch in den Fortbildungen zur Sprache. Thema sind dann aber „die Ausländer“<br />

und nicht die Berufsethik oder das Problem rechtsextremer Frauen.<br />

Der <strong>Rechtsextremismus</strong> selbst ist nur eine Seite des Problems, die wohl entscheidende<br />

aber ist der Umgang mit ihm. Neben den Schwächen von Behörden wie<br />

Polizei, Justiz und Verfassungsschutz ist es vor allem die Reaktion der Gesellschaft,<br />

die die Bekämpfung des <strong>Rechtsextremismus</strong> schwer macht. In Ostdeutschland<br />

gehört gerade ein Prozent der Wohnbevölkerung einer sichtbaren Minorität<br />

an. Die Norm ist noch stärker als im Westen von völkischen Vorstellungen geprägt.<br />

Schlussfolgerungen:<br />

1. Nach der Einheit wurde es unter Helmut Kohl unterlassen, die „Ausländer“ als<br />

Teil der Gesellschaft zu bezeichnen und zu verlangen, dass sich der Osten darauf<br />

einstellt. Im Gegenteil: Anfang der 90er Jahre wurde rechte Gewalt quasi<br />

belohnt, sowohl politisch durch den Asylkompromiss als auch gesellschaftlich,<br />

indem Jugendarbeit mit akzeptierendem Ansatz über Jahre die rechte Szene<br />

geradezu förderte.<br />

2. Eine eigene persönliche Auseinandersetzung mit dem Erbe der DDR in Bezug<br />

auf deren Umgang mit Rassismus und Antisemitismus fand kaum und erst sehr<br />

spät statt. Ebenso wenig gab es eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus,<br />

der ja auch auf dem Boden Ostdeutschlands stattgefunden hatte.<br />

Historische und politische Bildung einschließlich einer innergenerationellen


<strong>Rechtsextremismus</strong><br />

305<br />

Debatte kamen nicht vor. Über die Zeit des Nationalsozialismus wurde einfach<br />

ein Sprung gemacht. Das Erbe des einen wie des anderen blieb weitgehend unberührt.<br />

Dies ist ein ernstzunehmender Unterschied zum Westen. Stattdessen<br />

hat sich im Osten der Status der ewigen Opfer festgesetzt. Opfer des „Hitlerfaschismus“,<br />

der Bomben, des Kommunismus, des Westens und der „Ausländer“.<br />

Dieser Opferstatus und der sekundäre Autoritarismus, von dem Brähler und<br />

Decker (Decker, Kiess & Brähler, 2012, 2014) sprechen, sind Seelenverwandte.<br />

3. Der Mangel an Empathie – ja, teilweise ihre komplette Abwesenheit – hat gewiss<br />

auch mit dem Mangel an Auseinandersetzung zu tun. Konikt- und Organisationsfähigkeit<br />

sind eine wichtige Voraussetzung für praktische Empathie in<br />

Deutschland. Sie bedeuten, für etwas einzustehen und eine Haltung zu zeigen.<br />

Die Bildungseinrichtungen im Osten haben auch den emanzipatorischen Ansatz<br />

übersprungen. Wer außerhalb der großen Städte mit nonkonformen oder<br />

stark belasteten Themen wie <strong>Rechtsextremismus</strong> umgeht, ndet in der Regel<br />

wenig Unterstützung. Und kann nicht einmal sicher sein, von der Polizei geschützt<br />

zu werden, wie der jüngste Fall aus Hoyerswerda zeigt.<br />

Die aufgezählten Beispiele beschäftigen sich vor allem mit der Software, auf der<br />

das Programm <strong>Rechtsextremismus</strong> läuft. Das Programm selbst wird im Folgenden<br />

sicher noch ausführlich dargestellt werden. Es gibt viele Experten, die das staatliche<br />

Versagen im Fall NSU genau beschreiben können und jeden Kameradschaftsführer<br />

in Deutschland mit Namen kennen. Darum geht es mir heute nicht. Die<br />

Frage, die uns als Praktiker beschäftigt, ist vielmehr: Was können wir tun?<br />

Eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit dem <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

impliziert, über Rassismus zu reden, ihn zu ächten, zu sanktionieren und Opfer zu<br />

schützen. Und das mit allen Mitteln, die einer offenen Gesellschaft zur Verfügung<br />

stehen.<br />

Die Amadeu Antonio Stiftung hat vier Schwerpunkte:<br />

1. Internet und Öffentlichkeitsarbeit<br />

2. Gender und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

3. Antisemitismus als Querfronthema<br />

4. Ländlicher Raum versus abgehängte Stadtteile<br />

In diesen Themen spiegelt sich auch die Modernisierung des heutigen <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

wider. Er ist ganzheitlicher, atomisiert seine Elemente und dockt an<br />

bestehende Befunde an, er ist internationaler und auf seine Weise globalisierter<br />

geworden. Er dringt in Bereiche wie grüne Landwirtschaft, sanfter Tourismus


306 Anetta Kahane<br />

u.v.m. ein. Er ist gut organisiert und technisch t. Das Internet ist sein Medium.<br />

Er ernährt sich vom Rassismus anderer abwertender Ideologien und bedient Populisten.<br />

Er hebt auf neue Themen ab wie Islamismus oder beschwört die jüdische<br />

Weltherrschaft. Er vernetzt sich international und globalisiert seine Begriffswelt.<br />

Er ist querfrontfähig geworden. Er besteht nicht mehr auf geschlossene Weltbilder,<br />

sondern kann sehr gut einzelne Facetten auffangen und nutzen. Er setzt innerhalb<br />

Europas auch auf die traditionelle nationalistisch-antisemitische Karte und pro -<br />

tiert dabei von einem Mangel an Aufarbeitung des Holocaust und der Kollaboration<br />

in den jeweiligen Ländern, nach dem Motto „Wir hätten gegen die Juden und<br />

ihr System zusammenhalten sollen“. Er ist anti-kapitalistisch.<br />

Der <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland ist zugleich militant und sozialrevolutionär<br />

(entsprechend seiner Genese im Osten) und elitär-bürgerlich, vulgärrassistisch<br />

oder esoterisch. Beides mischt sich zurzeit, nachdem es zunächst einen Ost-<br />

West-Unterschied gegeben hatte. Kameradschaften nach dem Modell „National<br />

Befreite Zonen“ organisieren sich jetzt auch im Westen, und rechte Siedler mit<br />

Ökohöfen gibt es auch im Osten.<br />

Im europäischen Kontext bildet Deutschland eine Schnittmenge zwischen beidem.<br />

Osteuropa ist nationalrevolutionär militant. Westeuropa hat populistische<br />

und rassistische Bewegungen. In Deutschland wird die Synthese probiert.<br />

Das kann sehr gefährlich werden. Deshalb ist die erste Praxis immer die des<br />

Schutzes von Minderheiten. Migranten und Betroffene rechter Gewalt sollten nicht<br />

weiter isoliert bleiben. Der Migrationsbereich, die Integrationsbeauftragten, das<br />

hat der NSU gezeigt, müssen mit denen zusammenarbeiten, die sich mit <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

beschäftigen. Wir müssen zusammen denken und zusammenarbeiten.<br />

Eine ganz neue Praxis muss daraus werden und ein neues Selbstverständnis. Und<br />

natürlich Druck auf die Politik, über deren Rolle an anderer Stelle gesprochen<br />

werden wird.<br />

Anders geht es nicht.


<strong>Rechtsextremismus</strong><br />

307<br />

Literatur<br />

Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2012). Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen<br />

in Deutschland 2012. Bonn: Dietz. Online verfügbar unter http://www.fes-gegenrechtsextremismus.de/pdf_12/ergebnisse_mitte_studie_2012.pdf.<br />

Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2014). Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellungen<br />

in Deutschland 2014. Leipzig: Kompetenzzentrum für <strong>Rechtsextremismus</strong>- und<br />

Demokratieforschung der Universität Leipzig. Online verfügbar unter http://www.unileipzig.de/~kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf.


„Lügenpresse“?<br />

„<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Rassismus“ in den Medien<br />

Britta Schellenberg<br />

„Lügenpresse“ oder „ein Hort von Neonazis“ – das Spannungsfeld der Zuschreibungen<br />

ist breit, wenn es um tatsächlich oder vermeintlich extrem rechte und rassistische<br />

Vorfälle geht. Die „Pegida“ 1 -Demonstrationen in Dresden und die Berichterstattung<br />

hierüber verdeutlichen das im Jahr 2014/15. Hinter ihnen steckt eine<br />

komplexe langjährige Entfremdung von gemeinsamen Normvorstellungen. Ausgehend<br />

von einem konkreten Fall und der öffentlichen Debatte über ihn werden im<br />

Artikel die mediale Thematisierung von „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Rassismus“<br />

ebenso wie die Debattenbeiträge von Akteuren, die an der Medienberichterstattung<br />

Kritik üben, betrachtet und in Beziehung zu ihren Normvorstellungen und<br />

Problemwahrnehmungen untersucht. Zunächst wird die mediale Berichterstattung<br />

über einen rassistischen und extrem rechten Übergriff in der sächsischen Kleinstadt<br />

Mügeln (2007) in ihrem zeitlichen Verlauf nachgezeichnet. Dabei wird aufgezeigt,<br />

durch welche äußeren Impulse und Stilmittel sie bestimmt ist. Anschließend<br />

werden die Akteure, die Kritik an „den Medien“ üben, in ihrer Positionierung zum<br />

Vorfall und ihren Einschätzungen gegenüber der Medienberichterstattung dargestellt.<br />

Ziel der empirischen Analyse ist es, problematische Strukturen jenseits des<br />

Neonazismus aufzuzeigen, die jedoch – wie aktuell „Pegida“ zeigt – grundlegende<br />

1 „Pegida“ ist die Abkürzung für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des<br />

Abendlandes“. Seit Mitte Oktober 2014 demonstrierten sie – in Anlehnung an die bürgerbewegten<br />

Montagsdemonstrationen in der untergehenden DDR – jeden Montag in<br />

Dresden.<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_12, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


310 Britta Schellenberg<br />

Herausforderungen für eine demokratische Auseinandersetzung und die Strategieentwicklung<br />

im Bereich „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Rassismus“ markieren.<br />

1 Der konkrete Fall 2<br />

In der sächsischen Kleinstadt Mügeln gab es im August 2007 pogromähnliche<br />

Ausschreitungen gegen als „fremd“ de nierte Menschen indischer Herkunft.<br />

Während des jährlich statt ndenden Altstadtfestes in der sächsischen Kleinstadt<br />

Mügeln wurde eine Gruppe, zu der sieben indische Migranten und zwei Deutsche<br />

gehörten, physisch attackiert. Ein Großteil konnte sich in eine nahe gelegene Pizzeria<br />

üchten, die dann von etwa 40 bis 50 gewaltbereiten Neonazis angegriffen<br />

wurde. Eine Menge von bis zu 200 Stadtbewohnern sammelte sich schaulustig vor<br />

der Pizzeria. Zwei Polizisten schützten die inzwischen in der Pizzeria verbarrikadierten<br />

Inder vor der gewaltbereiten Menge bis Unterstützung von der Bereitschaftspolizei<br />

eintraf. Sie wurde auch angegriffen und konnte erst Stunden später<br />

die öffentliche Ordnung wiederherstellen.<br />

Im Nachgang des Übergriffs entfaltete sich ein öffentlicher Kon ikt über die<br />

Tatmotive ebenso wie über den Verlauf des Geschehens. Der polizeiliche Staatsschutz<br />

und die Staatsanwaltschaft stritten – trotz gegenteiliger Aktenlage 3 – einen<br />

„rechtsextremen“ Hintergrund ab und stellten „Fremdenfeindlichkeit“ als Motiv<br />

infrage. Die lokale Politik und zunächst auch die Staatsregierung (CDU) teilten<br />

diese Interpretation. In der Folge wurde der Fall von den staatlich Zuständigen<br />

nicht zielführend bearbeitet, es kam in der polizeilichen Ermittlungsarbeit fast zu<br />

einer Täter-Opfer-Umkehr. Andere Akteure, einige Bürger, zivilgesellschaftliche<br />

Organisationen der Region und viele Medien, aber auch Bundes- und Regionalpolitiker,<br />

thematisierten hingegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

So entfaltete sich eine kontroverse öffentliche Debatte über die<br />

Bedeutung des „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und der „Fremdenfeindlichkeit“ 4 bzw. des<br />

2 Die folgenden Ausführungen basieren auf den Ergebnissen meiner Dissertation und<br />

der Folgestudie für die Heinrich-Böll Stiftung/Weiterdenken (vgl. Schellenberg,<br />

2014a, 2014b).<br />

3 Das Tatgeschehen nach Aktenlage habe ich übersichtlich in Schellenberg (2014b) rekonstruiert.<br />

4 Tatsächlich wurde vor allem die Bedeutung des „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und der „Fremdenfeindlichkeit“<br />

diskutiert, allerdings wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />

und einigen Medien der Begriff „Rassismus“ ebenfalls verwendet. Daher wird im<br />

Folgenden immer wieder der Begriff „Fremdenfeindlichkeit“ benutzt. Heute wird der<br />

passendere Begriff „Rassismus“ deutlich häufiger gebraucht.


„Lügenpresse“?<br />

311<br />

Rassismus. Später sind einschlägige Urteile gefallen, allerdings wurden nur wenige<br />

Täter ermittelt, sie kamen weitgehend mit milden Strafen davon. Inzwischen ist<br />

ein „fremdenfeindlicher“ Hintergrund amtlich verzeichnet und die Tatsache, dass<br />

mindestens ein Teil der Täter dem Neonazi-Spektrum zuzuordnen ist, öffentlich<br />

bekannt (vgl. Schellenberg, 2014b).<br />

1.1 Direkt nach dem Vorfall: Die Kategorisierung durch<br />

unterschiedliche Akteure<br />

Der Vorfall wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen der Region, den Opfern<br />

und einigen Bürgern, die den Übergriff beobachtet hatten, sofort als „rassistisch“<br />

bzw. „fremdenfeindlich“ und „rechtsradikal“ motiviert eingeschätzt.<br />

Die Zeugen waren (zunächst) gegenüber Ermittlungsbehörden und auch Journalisten<br />

auskunftsbereit. Einen „fremdenfeindlichen“ und/oder „rechtsextremen“<br />

Tathintergrund sahen auch fast alle Bundespolitiker, inklusive der Bundesregierung<br />

(mindestens CDU 5 und SPD), ebenso die sächsischen Parteien Die Grüne/<br />

Bündnis 90, Die Linke und die SPD. Im Kontrast hierzu steht eine Gruppe, die<br />

keinen rechtsextremen und auch weithin keinen fremdenfeindlichen Hintergrund<br />

annahm: sächsische Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden, der Bürgermeister und<br />

Stadtrat von Mügeln, Teile der Sächsischen Staatsregierung (CDU), die Tatverdächtigen<br />

und Bürger aus Mügeln sowie der bundesdeutschen radikalen Rechten,<br />

inklusive der NPD. Sie kritisierten u. a. „die Medien“ für ihre angeblich „hysterische“<br />

und „vorurteilshafte“ Berichterstattung über den Vorfall.<br />

2 Die mediale Berichterstattung<br />

Bereits die Anzahl der Beiträge in den untersuchten Medien, die den Vorfall thematisierten,<br />

verrät, dass der Fall die Medien interessiert hat. Die überregionalen<br />

Tageszeitungen 6 druckten im Zeitraum vom 20. August 2007, und damit bereits<br />

ab dem ersten Tag nach dem Übergriff bis zum 1. Februar 2008 jeweils über 50<br />

5 Für die CSU vertrat Peter Gauweiler eine dezidiert andere Position: Er beurteilte den<br />

Vorfall als hysterische „Medienstory“ und stritt <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit<br />

als Tathintergrund ab.<br />

6 Komplett erfasst wurden Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau,<br />

Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und die Welt. Weitere berücksichtigte Zeitungen<br />

vgl. Literaturverzeichnis.


312 Britta Schellenberg<br />

Artikel. Die Süddeutsche Zeitung publizierte sogar 94 Artikel in ihrer Print-Ausgabe.<br />

Hinzu kam eine aktuelle und ausführliche Berichterstattung in den Online-<br />

Diensten. Von einigen Zeitungen wurden spezielle Informationsforen eingerichtet,<br />

inklusive Bildmaterial. 7<br />

Die Berichterstattung zum „Fall Mügeln“ war in allen untersuchten Zeitungen<br />

intensiv, wobei FAZ, FR und Die Welt nahezu gleich häu g berichteten,<br />

während die TAZ eine leicht höhere, die SZ eine erheblich höhere Artikelanzahl<br />

verzeichnete. Auch die überregionalen Wochenzeitungen berichteten. Im Spiegel<br />

und insbesondere in der Zeit wurde der Fall häu g als bloße Referenz zum Thema<br />

„<strong>Rechtsextremismus</strong>“ oder „rassistische Gewalt“ genutzt – daher die deutlich<br />

höhere Anzahl ihrer Artikel (print) gegenüber dem Focus. In den – tagesaktuellen<br />

– Online-Diensten wurde ähnlich intensiv wie in den Tageszeitungen (print<br />

und online) berichtet. Die Zeit berichtete hier deutlich weniger. Die Mitteldeutsche<br />

Zeitung ist eine Zeitung mit lediglich regionaler Reichweite, ihr Umfang ist deutlich<br />

kleiner als der der überregionalen Zeitungen und des Tagesspiegels – was die<br />

geringere Artikel-Anzahl in dieser Zeitung erklären kann. Die Sächsische Zeitung<br />

allerdings, deren Umfang ebenfalls deutlich schmaler ist, berichtete – als Zeitung<br />

der betroffenen Region – am intensivsten.<br />

2.1 Impulse und Problemanalyse im zeitlichen Verlauf<br />

2.1.1 Phase 1: Ausländerhasser und Rechtsextreme<br />

Der Vorfall wird den Medienvertretern durch Bürger, die Zeugen des Vorfalls waren,<br />

Engagierte aus der näheren Umgebung und zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />

aus der Region bekannt. Berichtet wird von ausländerfeindlichen, rassistischen<br />

und extrem rechten Rufen („Ausländer raus!“, „Hier kommt der nationale<br />

Widerstand“) und dem aggressiven, gewalttätigen Verhalten gegen die als „fremd“<br />

Stigmatisierten und die Polizei. Bereits am Tag nach dem Vorfall treffen die ersten<br />

Journalisten in der Kleinstadt Mügeln ein und fotograeren die verletzten und geschockten<br />

Gesichter der Opfer. Berichte über den Vorfall erscheinen unter stichwortartigen<br />

Überschriften wie „<strong>Rechtsextremismus</strong>“, „Rechtsradikalismus“ oder<br />

7 Die Berliner Zeitung schaltet in Reaktion auf den Fall Mügeln am 21. August ein<br />

Dossier „<strong>Rechtsextremismus</strong>“: www.berliner-zeitung.de/rechte-gewalt (10.01.2015).<br />

Andere Medienorgane nutzen bereits vorhandene Seiten ihrer Institution, um den Fall<br />

Mügeln ausführlicher zu thematisieren, Stern etwa eine Themenseite zu „Neonazi-<br />

Gewalt“, die sie bereits im Juli 2007 eingerichtet hatte und ihre mut-gegen-rechte-gewalt-Seite.


„Lügenpresse“?<br />

313<br />

„Ausländerfeindlichkeit“. In einigen Berichten wird von Neonazis als mutmaßliche<br />

Täter berichtet (vgl. Schellenberg, 2014a, S. 232ff.).<br />

Die Zeitungen bringen in den folgenden Tagen den Vorfall als „Thema des Tages“<br />

oder „Brennpunkt“ auf der Titelseite ihrer Printausgaben. Neben schlich-<br />

8<br />

ten Meldungen werden ausführliche Berichte gedruckt. Dabei wird die lebhafte<br />

regionale rechtsextreme Szene beschrieben, ebenso das Ausmaß rechtsextremer<br />

Gewalt in Deutschland. Zudem erscheinen Informationskästen zu Begriffen wie<br />

„No-go-Area“ und Interviews mit Vertreterinnen von Beratungsstellen zu rassistischer<br />

Gewalt oder der Jüdischen Gemeinde. Die Einschätzung „rechtsextrem“<br />

wird von den Print-Zeitungen geteilt, unabhängig davon, ob es sich um regionale<br />

oder überregionale Medien handelt, um Publikationen aus den neuen oder alten<br />

Bundesländern und auch weitgehend unabhängig von der politischen Ausrichtung<br />

des Mediums. Allerdings gab es in den ersten Tagen vereinzelt zurückhaltende<br />

Stimmen in der Presse. So betont die Rheinische Post, man solle erst einmal die<br />

9<br />

Ermittlungen abwarten, bevor man „Neonazi-Überfall“ rufe. Auch die konservativen<br />

Blätter FAZ und Die Welt drucken anfangs jeweils (nur) einen Artikel, in<br />

dem auch gefragt wird, ob es sich – wie mutmaßlich im „Fall Sebnitz“ 10 – um eine<br />

falsche <strong>Rechtsextremismus</strong>-Zuschreibung handeln könnte. 11<br />

Dramatisierung, Dämonisierung und Entmenschlichung: Während das Geschehen<br />

als „rechtsextrem“ eingeordnet wird, wird die Täter-Gruppe in den Berichten<br />

häu g als „Meute“ oder „Horde“ bezeichnet. Beispiele sind: Ausländer<br />

8 Beispielsweise ist Mügeln das Tagesthema in der Berliner Zeitung vom 21.08.2007, in<br />

der TAZ am 22.08.2007 und in der FR sowohl am 21.08. als auch am 23.08.2007, in<br />

der MZ am 22.08.2007 in der SZ am 23.08.2007; SäZ vom 25./26.08.2007; MZ vom<br />

22.08.2007, S. 4; Die Welt am Sonntag vom 26.08.2007: „Rechte Gewalt in Deutschland.“<br />

Von Freia Peters. Zudem stellt die MZ ein Brennpunkt zu Mügeln ins Netz.<br />

Ebenfalls werden Fernsehbeiträge gesandt, z. B. ein Kontraste-Beitrag, ARD vom<br />

20.09.2007: „Mügeln – eine Stadt wäscht sich rein.“ Von Caroline Walter und Alexander<br />

Kobylinski (Zeit: 7:42 min). http://www.rbb-online.de/kontraste/ueber_den_tag_<br />

hinaus/extremisten/muegeln_eine_stadt.html (10.01.2015).<br />

9 Rheinische Post: „Der Mob und das Dorf Mügeln.“ Vom 20.08.2007. Von Reinhold<br />

Michels. http://www.presseportal.de/pm/30621/1035325/rheinische_post (10.01.2015).<br />

10 Der Tod eines Jungen in Sebnitz wurde zunächst als rechtsextrem motiviert eingestuft,<br />

was zu einer großen öffentlichen Debatte führte. Die Gerichte stellten später keinen<br />

rechtsextremen Tathintergrund fest. Seither wird bei entsprechenden Vorfällen immer<br />

wieder spekuliert, es gebe falsche oder auch böswillige <strong>Rechtsextremismus</strong>-Verdachtsfälle.<br />

11 FAZ vom 21.08.2007: „Gruß aus Sebnitz“, S. 10; ähnlich Welt: Die Welt vom<br />

22.08.2007: „Was geschah im sächsischen Mügeln? Voreilige Empörungsgemeinschaft.“<br />

Von Thomas Schmid.


314 Britta Schellenberg<br />

bzw. Migranten „wurde(n) (...) von einer Meute Neonazis durch Mügeln gejagt und<br />

brutal zusammengeschlagen“, „Mob von Mügeln“, „Horde Neonazis samt Sympathisanten“<br />

und „Mob von 50 deutschen Jungmänner(n)“ oder „rechtsradikale<br />

Prügelhorden in Mügeln“. Häu g verwendet wird auch der Begriff „Hetzjagd“.<br />

So heißt es etwa: „Ausländerjagd in Mügeln“, „Hetzjagd auf Ausländer“, „brutale<br />

Treibjagd“, „Menschenjagd von Mügeln“, „Hetzjagd auf Inder in Sachsen“, „Hetzjagd<br />

auf Ausländer in Sachsen“ oder „brutale Hetzjagd auf indische Besucher im<br />

sächsischen Mügeln“ (vgl. Schellenberg, 2014a, S. 257f.). Sowohl die Begriffe<br />

„Meute“ und „Horde“ als auch „Hetzjagd“ veranschaulichen und dramatisieren<br />

das Tatgeschehen. Mit den Begriffen „Meute“ und „Horde“ werden die Täter entindividualisiert<br />

und entmenschlicht. Sie werden im Kontrast zu „normalen“ Menschen<br />

dargestellt und als animalisch, verroht und aus einer niedrigen Bildungsund<br />

Sozialschicht stammend beschrieben. Mit dem Begriff „Hetzjagd“ wird die<br />

Perspektive auf die Opfer gelenkt. Sie würden behandelt wie Tiere, die verfolgt<br />

werden, weil sie eingefangen und ermordet werden sollten. Manchmal wird betont,<br />

dass die Hetzjagd durch die „gesamte Stadt“ bzw. „die Stadt“ ging – allerdings<br />

lässt der Begriff „Hetzjagd“ – auch ohne konkrete Lokalisierung – durchaus assoziieren,<br />

dass die Opfer über eine längere Zeit oder Strecke „gejagt“ wurden. Da<br />

dies nicht zutrifft, der Fluchtort war etwa 30 bis 50m vom ersten Ort des Übergriffes<br />

entfernt, greifen die Kritiker „die Medien“ für diese Begriffsverwendung<br />

später an.<br />

In der ersten Phase der Berichterstattung, als von einem Neonazi-Übergriff ausgegangen<br />

wird, gibt es keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Tätern, ihren<br />

Beweggründen und Ursachen für ihre Probleme, es werden auch keine Möglichkeiten<br />

diskutiert, wie bei entsprechenden Taten gegengesteuert werden könnte.<br />

2.1.2 Phase 2: Keine Rechtsextremen.<br />

Was steckt hinter der Gewalteskalation?<br />

Bereits am Tag zwei und drei nach dem Übergriff wenden sich Polizei und Staatsanwaltschaft<br />

mit Pressemitteilungen an die Öffentlichkeit: Hierin heißt es, ein<br />

rechtsextremer Hintergrund sei auszuschließen und selbst ein fremdenfeindliches<br />

Motiv müsse nicht vorgelegen haben. Dass dies behauptet wird, obwohl die diensthabenden<br />

Polizisten noch in der Tatnacht das Delikt der „Volksverhetzung“ aufgenommen<br />

hatten und obwohl die bereits vorliegenden Aussagen von Polizisten,<br />

Zeugen, inklusive Opfern, in den Polizeiakten klar das Gegenteil belegen, bleibt<br />

der Öffentlichkeit unbekannt.<br />

Aufgrund der Fehlinformation durch die Ermittlungsbehörden verändert sich<br />

die Berichterstattung: Gemeldet wird nun, dass die polizeilichen Ermittlungen


„Lügenpresse“?<br />

315<br />

keinen rechtsextremen Hintergrund bestätigt haben. Fest stünde, dass es sich weder<br />

um einen von Rechtsextremen „geplanten Vorfall“ noch um einen Übergriff,<br />

„an dem organisierte Rechtsextreme beteiligt gewesen seien“ handele. 12 Allerdings<br />

bleibt der „Fall Mügeln“, trotz des (angeblichen) Ermittlungsergebnisses, „kein<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> als Tathintergrund“, Thema der Presse. Es kommt sogar zu<br />

einer zeitlich längeren und nun auch inhaltlich intensiven Auseinandersetzung:<br />

In der Öffentlichkeit wird heftig darüber gestritten, ob es sich um einen fremdenfeindlichen<br />

bzw. rassistischen Vorfall handelte oder nicht. Das Thema wird kontrovers<br />

diskutiert – und hält sich gerade durch den Nachrichtenfaktor „Kontroverse“<br />

in den Medien. Außerdem war zwar die Feststellung „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ eine<br />

vielfach replizierte Nachricht wert, doch hatte der Befund kaum zu einer Auseinandersetzung<br />

mit Verursachern und Hintergründen der Gewalteskalation geführt.<br />

Jetzt, als geglaubt wird, „Neonazis“ hätten nichts mit der Tat zu tun, gewinnt das<br />

Thema für viele Medienvertreter an Bedeutung. Die Frage, warum sich „normale“,<br />

nicht-rechtsextreme, Bürger in eine fremdenfeindliche/rassistische „Gewaltorgie“<br />

verstiegen, scheint für viele Journalisten und Redaktionen interessanter als die<br />

Frage, was Rechtsextreme bewegt (und warum viele Bürger zuschauen).<br />

Denn: Angesichts der bereits stattgefundenen Interviews mit Zeugen, auch<br />

Opferzeugen, eigner Beobachtungen in der Kleinstadt, aber auch erster patriarchalischer<br />

Abwehrversuche des Bürgermeisters sind sich die meisten Journalisten<br />

sicher: hier spielt Fremdenfeindlichkeit/Rassismus eine Rolle. So beginnt in den<br />

Medien eine lebhafte Diskussion über (Mit-)Verursacher der Gewalt, die Sozialisationshintergründe<br />

der scheinbar „normalen“ Beteiligten sowie ihre möglichen<br />

negativen Eigenschaften und Beweggründe.<br />

12 N-tv vom 31. August 2007. Unter n-tv.de: http://www.n-tv.de/846548.html.<br />

(10.01.2015); Die Welt vom 30.08.2007: „Mügeln: Offenbar kein politischer Hintergrund.“<br />

Die Welt vom 1.9.2007: „Gewalt gegen Inder in Mügeln war nicht von langer<br />

Hand geplant.“


316 Britta Schellenberg<br />

Tabelle 1 Problemanalyse Journalisten<br />

Impuls von außen Deutung: Problem (Mit-) Verursacher Begründung/ Argumentationsmuster<br />

Zeugenberichte, auch<br />

Opferzeugen, Gespräche<br />

vor Ort<br />

Pressemitteilung der<br />

Polizei und Staatsanwaltschaft:<br />

kein <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />

Der Fall war „rechtsextrem“,<br />

„neonazistisch“<br />

motiviert.<br />

Der Fall war<br />

„rassistisch“ bzw.<br />

„fremden-feindlich“<br />

motiviert.<br />

Rechtsextreme und/oder Neonazis<br />

(keine weiteren Verantwortlichen<br />

werden festgestellt)<br />

Rassisten/ Fremdenfeinde<br />

in „spezischen<br />

Regionen“<br />

---<br />

Zeigt sich häug in<br />

a) manchen Regionen<br />

b) Sachsen<br />

c) Ostdeutschland<br />

vielleicht auch keine<br />

fremdenfeindliche<br />

Motivation,<br />

Hintergründe noch<br />

unklar<br />

Lokal- und<br />

Regionalpolitik<br />

a) ... weil Äußerungen des Mügelner Bürgermeisters<br />

Verdrängung der Probleme und/<br />

oder eigenen Rassismus zeigen.<br />

b) ... weil Politiker Probleme nicht zugeben<br />

wollen (Abwiegelung).<br />

c) ... weil es viele Probleme in der sächsischen<br />

Politik gibt und diese nicht gelöst werden.<br />

Aber auch: Einordnung der zum Teil<br />

mehrdeutigen Äußerungen der Lokal- und<br />

Regionalpolitik als problemorientierte<br />

Stellungnahme.<br />

Polizei a) ... zeigt sich in Äußerungen zum Vorfall.<br />

b) ... zeigt sich auch in unsensibler und inkorrekter<br />

Behandlung der Opfer.<br />

a Die Tabellen in diesem Artikel stellen überarbeite Versionen aus Schellenberg 2014a dar.


„Lügenpresse“?<br />

317<br />

Problemanalyse: Ausführlich wird diskutiert – angereichert durch Zitate diverser<br />

Akteursgruppen – warum es in der Kleinstadt zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen<br />

kommen konnte. Wiederkehrende Muster der Argumentation sind:<br />

Es müsse eine allgemein verbreitete Fremdenfeindlichkeit unter den Mügelner<br />

Altstadtfestbesuchern geben. Und: Diese sei typisch für „spezi sche Regionen“.<br />

Diese Regionen werden nicht immer verortet, allerdings wird häu g speziell auf<br />

das Bundesland Sachsen Bezug genommen oder generell auf Ostdeutschland. Als<br />

Problemverschärfer wird zudem recht häug auf den Mügelner Bürgermeister als<br />

Vertreter der Gemeinde und zum Teil auch auf die Sächsische Staatsregierung verwiesen:<br />

ihre Reaktionen werden als Mangel an Aufklärungswillen interpretiert,<br />

zum Teil wird auch Fremdenfeindlichkeit bei den Zuständigen selbst vermutet und<br />

mit Zitaten untermauert (der Bürgermeister hatte der Financial Times gegenüber<br />

geäußert: „Ausländer-raus-Rufe können jedem Mal über die Lippen kommen“).<br />

Einzelne Journalisten glauben darüber hinaus, dass die Polizei eine problematische<br />

Rolle bei der Bearbeitung des Vorfalls spielt, auch weil einige ihrer Vertreter<br />

gegenüber der Gruppe der Opfer voreingenommen zu sein scheinen (eine<br />

Ermittlerin hatte formuliert: „Die Inder sollten sich jetzt nicht in die Opferrolle<br />

hineinsteigern“).<br />

Normorientierungen: Das Selbstverständnis eines friedliebenden, vielfältigen,<br />

demokratischen Deutschlands sehen die meisten Journalisten durch den Vorfall<br />

und seine Bearbeitung angegriffen. Der Vorfall gewinnt daher für Viele noch<br />

grundlegender an Bedeutung, als zunächst von der Polizei und Staatsanwaltschaft<br />

ausgeschlossen wurde, dass die Verursacher des rassistischen Vorfalls Neonazis<br />

waren. Als besonders bedrohlich wird empfunden, dass sich viele Bürger, die nicht<br />

zur extrem rechten Szene gehören, an den Ausschreitungen beteiligten. Vor dem<br />

Hintergrund der eigenen Normvorstellungen, die sich – ob bewusst oder unbewusst<br />

– auf das Grundgesetz und menschenrechtliche Standards beziehen, steht<br />

zum einen der rassistische Gewaltakt an sich in der Kritik, zum anderen aber auch<br />

jene Bürger und Institutionen, die akzeptierten, dass die Grundrechte verletzt wurden<br />

und jene, welche eine effektive Aufklärung behindern.<br />

Doch obwohl die Berichterstattung nun „Rassismus“, „Fremdenfeindlichkeit“<br />

und „fremdenfeindliche Gewalt“ thematisiert, wird diese neue inhaltliche Einordnung<br />

in den Überschriften (die übrigens selten von den Autoren selbst stammen)<br />

häug nicht durchgehalten: Es nden sich weiterhin „<strong>Rechtsextremismus</strong>“-Headlines.<br />

Dies deutet darauf hin, dass die Themen „Rassismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“<br />

kaum selbstständig, sondern als Teile der Kategorie „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

wahrgenommen werden. Durch die undifferenzierten Überschriften kommt<br />

es aber zu argumentativen Widersprüchen bzw. zu einer mangelnden Stringenz in<br />

der Argumentation. Damit eröffnet sich auch eine Angriffsäche für Kritiker, die


318 Britta Schellenberg<br />

„den Medien“ vorwerfen, immer wieder unberechtigt, aber hysterisch, „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

zu thematisieren – und kann somit zum Beweis für die (angeblich)<br />

mangelnde Glaubwürdigkeit der Medien herangezogen werden.<br />

Das „Ost“-Framing: Häug kommt es (nicht in der Sächsischen Zeitung) zu<br />

einer weiteren nicht unproblematischen Zuschreibung: Breiten Raum nimmt die<br />

Diskussion, (ob und) warum Fremdenfeindlichkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> speziell<br />

ostdeutsche Probleme seien, ein. Es werden diverse Ursachen diskutiert und<br />

Erklärungen gefunden. So wird der Vorfall oft recht schlicht und stigmatisierend<br />

als „Problem Ostdeutschland“ eingeordnet und damit scheinbar „erklärt“. Natürlich<br />

ist es nicht entscheidend, dass sich der Vorfall, der rassistische und rechtsradikale<br />

Übergriff, das Wegschauen, Vertuschen und Verdrehen von Tatsachen in<br />

Mügeln, in Nordsachsen, in Sachsen, in Ostdeutschland ereignet hat. Es scheint<br />

sich eher um eine Abwehrhaltung zu handeln: Pauschale, vorurteilsgeleitete Einordnungen<br />

von Problemen helfen den Urhebern, sich persönlich nicht mit entsprechenden<br />

Phänomenen tiefer und auch selbstreexiv auseinandersetzen zu müssen.<br />

Zwar ist eine örtliche, regionale, kulturell-historische Einordnung des Vorfalls<br />

nicht völlig irrelevant. Aber die Vehemenz und Emotionalität, mit der eine örtlichkulturelle<br />

Zuordnung die Debatte über den Vorfall prägt, muss verwundern. Sie<br />

zeigt, dass Ost-West-Be ndlichkeiten die Debatte über „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ in<br />

problematischer Weise überlagern. Die Ost-Fokussierung führt sogar dazu, dass<br />

herangezogene Experten, wie der Wissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, entsprechend<br />

der Kategorisierung „<strong>Rechtsextremismus</strong> ist ein Problem Ostdeutschlands“<br />

zitiert werden, obwohl deren Forschungen diesem Befund differenziert widersprechen.<br />

Allerdings wird das „Ost“- Framing keineswegs ächendeckend durch „die<br />

Medien“ betrieben und wird in einigen Berichten deutlich kritisiert. Nachhaltig<br />

thematisiert und diskutiert wird es in der ostdeutschen Sächsischen Zeitung. Eine<br />

starke öffentliche Diskussion um den „Fall Mügeln“ und eine Fokussierung auf<br />

„Ostdeutschland“ wird als einseitig und diskriminierend beklagt. Doch trotz offensichtlich<br />

problematischer Muster bei vielen Journalisten, kann keinesfalls von<br />

einer pauschalen Verurteilung durch „die Medien“ gesprochen werden. Allerdings<br />

zeigte die Gesamtanalyse, dass die Ost-West-Be ndlichkeiten die Debatte über<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> und Rassismus überlagerten – sie scheinen (das legen die Inhalte<br />

der Artikel und Leserbriefe/-kommentare nahe) mit dafür verantwortlich zu<br />

sein, dass sich das Thema relativ lange in den Medien hielt.<br />

Verurteilung einer Stadt? Ein weiterer Vorwurf gegen „die Medien“ ist, dass sie<br />

die Kleinstadt Mügeln pauschal verurteilen würden. Unmittelbar nach dem Übergriff<br />

besuchten Journalisten diverser Medien Mügeln, fotogra erten und suchten<br />

das Gespräch mit Bürgern, dem Bürgermeister und vor Ort anzutreffenden Opfern.


„Lügenpresse“?<br />

319<br />

Die Journalisten kommen, als die Menschen vor Ort noch keine Antworten auf die<br />

vielen Fragen, die sich nach den Ausschreitungen ergaben, gefunden hatten. Die<br />

Journalisten fragten und waren schnell für Viele unerwünschte Gäste. Die meisten<br />

Kleinstadtbürger fühlten sich überfordert von den Medien-Teams, die in ihre kleine,<br />

ruhige Stadt kamen und eine Vielfalt und Unruhe mitbrachten, die es dort nicht gab.<br />

Nur Einzelne waren den gegenüber Journalisten auskunftsbereit: Einige Bürger, die<br />

zum Teil nicht beim Namen genannt werden wollten, und die Opfer. Bereits einen<br />

Monat nach dem Übergriff wollten auch die Opfer nicht mehr mit der Presse reden,<br />

weil sie den Eindruck hatten, diese verschlimmere bestehende Probleme.<br />

Tatsächlich berichten Journalisten oft kritisch über die Bürger und den Bürgermeister<br />

der Kleinstadt. Die Mügelner werden vielfach als Passive beschrieben; sie<br />

seien oft selbst fremdenfeindlich oder es fehle ihnen an Zivilcourage und einer<br />

eigenen Haltung. So berichtet der Stern beispielsweise, dass viele Bürger dem<br />

Vorfall passiv beiwohnten. Sie würden „Rechtsradikalen“ eine Bühne geben. Hingegen<br />

stellt die sächsische Regionalzeitung, Sächsische Zeitung, die sehr breit berichtet,<br />

die Bürger auch als „ausländerfreundlich“ dar.<br />

2.1.3 Phase 3: (Noch) eine Wende in der Einschätzung<br />

der Tathintergründe?<br />

Eine gute Woche nach der Gewalteskalation beschäftigt eine neue Nachricht die<br />

Medien: Der Focus (print) berichtet, dass die Polizei bestätigt hat, inzwischen gebe<br />

es „Anzeigen von Deutschen gegen Inder“ (die bisher als Opfer bekannt sind). Das<br />

Blatt spottet: „Sachsen. Die üblichen Verdächtigen“ und glaubt, „politisch korrekte<br />

Meinungsmacher“ könnten einen harmlosen Fall zum rechtsextremen oder fremdenfeindlichen<br />

Übergriff stilisieren. 13 Ähnlich hatte schon einige Tage zuvor die<br />

Junge Freiheit argumentiert. 14 Doch erst mit dem Printartikel im Focus kommt die<br />

Idee, die Opfer könnten auch Täter sein, in der seriösen Presse an. In vielen Medienorganen<br />

wird nun verkündet: Es gebe eine Wende in den Ermittlungen, die Inder<br />

seien Täter. Diese Nachricht wird als neu in den Medien repliziert, meist ohne<br />

Einordnung durch die Autoren. Besonders häu g heißt es „Inder sind möglicherweise<br />

auch Täter“, etwas seltener wird die Nachricht als Befund präsentiert „Inder<br />

13 Focus vom 27.08.2007, Nr. 35/2007: „Sachsen. Die üblichen Verdächtigen.“ von Alexander<br />

Wendt. Focus-Online interpretiert den Fall komplett konträr. Grund hierfür<br />

könnte neben unterschiedlichen Normvorstellungen der Autoren der Hang zur Konformität<br />

bei Online-Medien sein. Sie müssen schneller reagieren, haben weniger Zeit<br />

für eigene Recherche und halten sich daher stark an die Meldungen der Nachrichtenagenturen.<br />

14 Junge Freiheit vom 24.08.2007.


320 Britta Schellenberg<br />

sind auch Täter“ und nur sehr selten wird zwar die neue Nachricht mitgeteilt, jedoch<br />

ihre Bedeutung kritisch hinterfragt: in diesen wenigen Berichten wird betont,<br />

dass die Migranten mit indischen Wurzeln Opfer rassistischer Gewalt bleiben und<br />

dass einer Anzeige gegen die Opfer allein keinerlei Bedeutung zukommen müsse,<br />

da prinzipiell Jeder gegen Jeden Anzeigen erstatten könne. Beachtlich ist an dieser<br />

Stelle, wie wenige Journalisten die Nachricht kritisch reektieren (können?).<br />

Schon einige Tage darauf folgt allerdings der nächste Impuls, durch die Junge<br />

Freiheit. Am 31. August veröffentlicht die Wochenzeitung ein Interview mit<br />

dem Mügelner Bürgermeister, das von der Presse vor allem kritisch aufgenommen<br />

wird. Der Bürgermeister äußert sich hierin abwertend über all jene, die dem Vorfall<br />

eine fremdenfeindliche oder rechtsextreme Bedeutung zusprechen. Er behauptet,<br />

Mügeln werde durch Medien und Politik unzulässig vorverurteilt und sagt auch,<br />

möglicherweise wären „die Inder“ (mit)schuld am Geschehen. Seine Interpretation<br />

des Falls und der Debatte gewinnt einen deutlich rechtsradikalen Drall (vgl. unten<br />

ausführlich). Das Bürgermeister-Interview in der rechtsradikalen Zeitung garantiert<br />

weiterhin Kon ikt und Kontroverse und verlängert damit die starke Präsenz<br />

des „Falls Mügeln“ in den Medien. Erst nach einigen Tagen geht die Intensität der<br />

Berichterstattung wieder zurück. Das Interview scheint vielen Journalisten (wieder)<br />

vor Augen zu führen, dass es sich um einen rassistischen und fremdenfeindlichen<br />

Übergriff gehandelt haben muss. Als Chronisten geben sie kritische Zitate<br />

aus der gesamten Bundesrepublik, insbesondere von Regional- und Bundespolitikern,<br />

wieder. Diskutiert wird, ob nicht der Bürgermeister mit seinen Aussagen<br />

Teil des Problems „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Fremdenfeindlichkeit“ ist, kritisiert<br />

wird auch, dass er sich einer rechtsradikalen Zeitung als Interviewpartner zur Verfügung<br />

stellte. Allerdings berichten viele Journalisten nicht alleine durch Zitate,<br />

sondern kommentieren auch kritisch selbst. Sie erinnern beispielsweise an frühere<br />

problematische Aussagen des Bürgermeisters (etwa gegenüber der Financial Times<br />

Deutschland „fremdenfeindliche Parolen können jedem mal über die Lippen kommen“)<br />

und bemängeln, dass er nicht Probleme in der Kleinstadt thematisiert.<br />

Kon ikt und Kontroverse: Die Nachrichtenfaktoren „Kon ikt“ und „Kontroverse“<br />

sind mit ausschlaggebend für die lange Präsenz des Falls in den Medien<br />

(vgl. Tabelle 2). Jedoch fällt auf, dass die mediale Inszenierung der Kontroverse<br />

zum Teil mehr handwerkliche Schablone ist als eine korrekte inhaltliche Auseinandersetzung:<br />

insbesondere die Positionen der Politik (Bundesparteien) werden<br />

als kontrovers dargestellt, obwohl diese weitgehend identisch in ihren Deutungen<br />

und Normsetzungen (insbesondere Bundespolitiker) sind. Zivilgesellschaftliche<br />

Akteure hingegen werden – ebenso realitätsfern – recht einmütig als Kontrapunkt<br />

zur Politik präsentiert. Überraschend wird übrigens überdurchschnittlich häu g<br />

der Zentralrat der Juden befragt.


„Lügenpresse“?<br />

321<br />

Dass es sich tatsächlich um einen Kon ikt über Aufklärungswillen und bundesdeutsche<br />

Normen handelt, den zwei ideologische Gruppen kon ikthaft austragen,<br />

wird kaum sichtbar. 15 Auf der einen Seite die Zeugen, inklusive Opfer, ihre<br />

Unterstützer wie Opferanwälte und zivilgesellschaftliche Organisationen, Bundespolitiker,<br />

viele Regionalpolitiker und die Journalisten selbst, auf der anderen Seite<br />

die Radikale Rechte, die Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden, die lokale Politik<br />

und – mit im Verlauf der Debatte zunehmenden Positionierungsschwierigkeiten –<br />

die sächsische Staatsregierung/CDU.<br />

2.1.4 Phase 4: Abklingen und Ende der Berichterstattung<br />

Nach dem Abklingen der Kommentare über das Bürgermeister-Interview sinkt<br />

die Quantität der Berichterstattung rapide. Berichtet wird nur dann wieder, wenn<br />

Urteile in den Gerichtsverfahren gefällt werden. Aufsehen erregt vor allem der<br />

Urteilsspruch vom 4. Dezember 2007 gegen einen (Haupt-)Täter wegen Sachbeschädigung<br />

und Volksverhetzung. Das Gerichtsurteil (acht Monate Gefängnis)<br />

provoziert wieder ausführlichere Artikel und Hintergrundberichte. Die Presse<br />

druckt die Begründung des von Vielen als hart bewerteten Urteils: Die Tat sei „im<br />

Vorfeld eines Pogroms“ 16 verübt worden. Die Medien titeln „Es war der Anfang<br />

eines Pogroms“ oder „Knapp am Pogrom vorbei“. 17 In den bald erscheinenden Jahresrückblicken<br />

wird der Vorfall dann noch einmal thematisiert, dabei wird er als<br />

„rassistischer“ bzw. „fremdenfeindlicher“ Übergriff „im Vorfeld eines Pogroms“<br />

erinnert. Von einigen Medien werden zudem die staatlichen Bearbeitungskompetenzen,<br />

insbesondere des Bürgermeisters und der Polizei, kritisch erinnert. Der<br />

Focus (print) erzählt eine etwas andere Geschichte, ist damit aber innerhalb der<br />

überregionalen, seriösen Medien alleine:<br />

15 Das liegt sicherlich auch am fehlenden Akten-Wissen der Journalisten.<br />

16 Zitat aus dem Gerichtsurteil vom 4. Dezember, Amtsgericht Oschatz.<br />

17 Vgl. u. a. FR vom 6.12.2007: „Knapp am Pogrom vorbei /Mit der Haftstrafe gegen<br />

einen der Täter von Mügeln statuiert das Gericht ein Exempel.“ Von Bernhard<br />

Honnigfort, S.5.


322 Britta Schellenberg<br />

„Im Juni 2007 endete der Prozess im Fall Ermyas M. mit einem Freispruch. Der<br />

vermeintlich extremistische Überfall war zur Schlägerei unter Betrunkenen geschrumpft.<br />

Nichtsdestotrotz wiederholte sich das Szenario der Vorverurteilung<br />

einen Monat später nach einer Schlägerei im sächsischen Mügeln: Obwohl bis heute<br />

nicht geklärt ist, was genau passiert war, sprachen die meisten Medien von einer<br />

‚ausländerfeindlichen Hetzjagd’. Es gab aber nicht nur acht (durch Schläge) verletzte<br />

Inder, sondern auch vier (durch Stiche und Schnitte) verletzte Deutsche, und keiner<br />

weiß, wer angefangen hat. Von den verletzten Deutschen war deshalb sicherheitshalber<br />

meist gar nicht erst die Rede. Was hoffentlich kein Trend wird.“ 18<br />

Dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits ein erstes einschlägiges Urteil<br />

gegen einen (Haupt-)Täter u. a. wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung<br />

vorlag, bleibt unerwähnt. 19<br />

18 Focus vom 10.12.2007, Nr. 50/2007: „Jahresrückblick 2007 – Essay: Chinalinksruck?<br />

Weltklimadoping?“ Von Michael Klonovsky. Zu diesem Zeitpunkt war das erste einschlägige<br />

Urteil bereits gefällt. Allerdings waren die Anzeigen gegen die Opfer mit<br />

indischem Migrationshintergrund noch nicht fallen gelassen worden.<br />

19 Auch der Verfassungsschutz geht einen überraschenden Weg: In seinem Jahresbericht<br />

erwähnt er den rassistischen und neonazistischen Fall nicht – aber stattdessen erst- und<br />

einmalig indischen Extremismus in Sachsen. Einen entsprechenden Vorwurf hatte die<br />

NPD in der Debatte über den Vorfall in Mügeln den indischen Opfern gemacht. (Vgl.<br />

Schellenberg, 2014b, S. 88-90).


„Lügenpresse“?<br />

323<br />

Tabelle 2 (Neu-) Interpretation nach Impulsen/„Nachrichten“<br />

Datum Impuls/<br />

„Nachricht“<br />

21. und<br />

22.08.2007<br />

Pressemitteilungen Polizei<br />

und Staatsanwaltschaft<br />

27.08.2007 Artikel im Focus (Print)<br />

Basiert auf<br />

Artikel der Jungen Freiheit<br />

vom 24.08.2012<br />

und<br />

Kernaussage (Neue) Interpretation Medien<br />

(Häugkeit)<br />

Es gibt keinen rechtsextremen<br />

Hintergrund.<br />

Ob Fremdenfeindlichkeit eine<br />

Rolle spielte, müssen die Ermittlungen<br />

erst noch zeigen.<br />

Es gibt eine Wende in den Ermittlungen:<br />

Die Inder sind (auch) Täter.<br />

Keine Rechtsextremen.<br />

Der Vorfall war fremdenfeindlich<br />

motiviert.<br />

Inder sind auch Täter.<br />

(++)<br />

Inder sind möglicherweise<br />

auch Täter. (+++)<br />

Polizeiaussage: Anzeige<br />

von Deutschen/gegen Inder*<br />

erstattet.<br />

Inder sind Opfer – es hat sich<br />

nichts verändert. (+)<br />

Art der Berichterstattung<br />

Chronisten & Aufklärer<br />

Vorwiegend als<br />

Chronisten berichtet,<br />

selten eigene<br />

Einordnung der<br />

Informationen.


324 Britta Schellenberg<br />

Tabelle 2 (Fortsetzung)<br />

Datum Impuls/<br />

„Nachricht“<br />

31.08.2007 Mügelner Bürgermeister<br />

im Interview mit der Jungen<br />

Freiheit<br />

4.12.2007 Urteilsspruch Amtsgericht<br />

Oschatz<br />

Kernaussage (Neue) Interpretation Medien<br />

(Häugkeit)<br />

Der Fall war weder fremdenfeindlich<br />

noch rechtsextrem.<br />

Die wahren Täter sind Inder,<br />

Medien und die Bundespolitik<br />

(etc.).<br />

Kritik am Interview mit<br />

Rechtsradikalen<br />

(+++)<br />

Bürgermeister hat selbst Problem<br />

mit RE u. Ff. (+++)<br />

Es war ein besonders schlimmer<br />

Fall („Im Vorfeld eines<br />

Pogroms“),<br />

u. a. Volksverhetzung<br />

Bürgermeister ist nicht mehr<br />

tragbar (gegen Grundwerte<br />

verstoßen)<br />

(+)<br />

Es war ff, gewalttätig,<br />

gefährlich<br />

(+++)<br />

Kein problematischer Fall,<br />

scheinbar nicht fremdenfeindlich<br />

oder rechtsextrem (nur<br />

Focus Print, 10.12.07)<br />

Art der Berichterstattung<br />

Kritik wird häug<br />

über Zitate geübt,<br />

insb. von Bundespolitikern<br />

aller<br />

Parteien. Zudem:<br />

Vielfach eigene<br />

Stellung-nahmen<br />

von Journalisten.<br />

Sachliche Berichte<br />

über Urteilsspruch.<br />

Teilweise auch<br />

Kommentierung.<br />

Ignoriert Urteilsspruch


„Lügenpresse“?<br />

325<br />

Im Januar 2008 berichten viele Zeitungen, allerdings knapp, wieder über den<br />

„Fall Mügeln“ und zwar, weil Zeuginnen, die einen weiteren Täter belasteten,<br />

erfolglos versuchten, ihre Aussagen wegen Erinnerungslücken zurückzunehmen.<br />

Dass die folgenden Urteile mild auselen oder nach späteren Revisionen zurückgenommen<br />

bzw. abgemildert wurden, dass die Neonazi-Gewalt in Mügeln explodierte<br />

und die NPD in den kommenden Stadtrat einzog, ging im medialen<br />

Alltag unter. Keine Nachricht auch, dass viele, die sich damals in Mügeln gegen<br />

Rassismus und Neonazismus engagierten, inzwischen fortgezogen sind, weil sie<br />

selbst zu Opfern der Neonazis wurden. Nur einzelne investigativ arbeitende Journalisten<br />

besuchten noch einmal ein Jahr nach dem Übergriff das Mügelner Altstadtfest<br />

2008: hier stellten Neonazis ihre Dominanz deutlich zur Schau. Meine<br />

Veröffentlichungen haben allerdings 2014 zum Wiederaufgreifen des Vorfalls in<br />

den Medien geführt. 20<br />

3 Medienberichterstattung<br />

(und bundesdeutsche Normen) in der Kritik<br />

Die Thematisierung von <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rassismus/Fremdenfeindlichkeit<br />

durch die Medien hat deutliche Kritik bei denen, die den extrem rechten und<br />

rassistischen Hintergrund nicht akzeptieren wollten, ausgelöst. Sie unterstellen,<br />

dass „die Medien“ hysterisch auf das Thema „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ oder „Fremdenfeindlichkeit<br />

(in Ostdeutschland)“ reagierten und aufgrund eigener Vorurteile<br />

oder aufgrund von Böswilligkeit Fehlinformationen verbreiteten.<br />

3.1 Die Radikale Rechte<br />

Am klarsten richtet sich die Radikale Rechte gegen die Medienberichterstattung:<br />

die extrem rechte NPD meint etwa, „die Medien“ (wie auch die Politik) sei an<br />

verbrecherischen Geschäften beteiligt, deren Ziel es sei, das deutsche Volk zu zerstören.<br />

Aber auch die populistische, neue Rechte, etwa die Junge Freiheit, glaubt,<br />

in der Medienberichterstattung zeige sich ein zielgerichtetes und planmäßiges<br />

Handeln gegen die Interessen „der Deutschen“. Die Thematisierung von „Rechts-<br />

20 U. a. in Spiegel, FAZ und Tagesspiegel. Vgl. Spiegel, 25/2014 „Rassistische Hegemonie“<br />

von Steffen Winter. FAZ vom 17.06.2014: „Die Idylle sollte keine Kratzer bekommen“<br />

von Stefan Locke; Tagesspiegel vom 21.06.2014: „Motiv Rassismus – erkannt<br />

und gleich verdrängt“ von Andrea Dernbach.


326 Britta Schellenberg<br />

extremismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“ sei ein politisches Projekt der „Linken“,<br />

der „Deutschfeinde“ und „Ausländerlobby“, um alles „Rechte“ zu diskreditieren.<br />

Beide Strömungen der radikalen Rechten glauben, die „etablierten“ Medien<br />

würden von böswilligen Feinden Deutschlands systematisch und totalitär gesteuert.<br />

Sie verwenden Begriffe wie „ma öses Zusammenspiel“, „Machenschaften“,<br />

„Medienmaa“. Häu g nutzen sie Metaphern aus dem Bereich „Industrie“ und<br />

„System“, „Desinformationsfabrikanten“, „gleichgeschaltete Meinungsindustrie“,<br />

„deutschfeindliche Meinungsindustrie“, „anti-deutsche Meinungsindustrie“. So<br />

wird eine kommerzielle und für die massenhafte Reproduktion planende arbeitende<br />

Institution assoziiert, die als böse Macht die „Strippen“ zieht, um – und das<br />

ist die Diskussion in diesem speziellen Fall – die Mügelner, die Ostdeutschen und<br />

schließlich das deutsche Volk zu bekämpfen. Die auf die Medien bezogenen Metaphern<br />

„Lohnschreiber“ und „anti-deutsche Medienschreiber“ lassen Journalisten<br />

als Feinde Deutschlands und als seelenlose Rädchen in einem mächtigen und<br />

lukrativen Getriebe erscheinen. Mit den Bildern über „die Medien“ werden auch<br />

antisemitische Verschwörungstheorien aktualisiert.<br />

Charakteristische Zuschreibungen zeigen sich zudem in den Wortbildungen<br />

„Systempresse“ oder „Systempolitiker“. Auch diese pejorativen Bezeichnungen<br />

der parlamentarischen Demokratie (vgl. Müller, Sommer & Thiel, 2010, S. 195)<br />

unterstellen eine planend arbeitende Institution, die im Hintergrund bundesdeutsche<br />

Medien und Politik lenkt. Auch diese Metaphern transportieren verschwörungstheoretische<br />

Annahmen: durch eine „fremdbestimmte“, „anti-deutsche“<br />

Medienberichterstattung und Politik solle eine umfassende Bewusstseins- und Gesellschaftsveränderung<br />

in Deutschland erreicht werden. Ziel sei es, das Deutsche<br />

zum Bösen zu stilisieren und zu beschmutzen. Damit ist der Zirkelschluss vollzogen:<br />

Die Akteure, die <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit bzw. Rassismus<br />

thematisieren, sind anti-deutsche Verschwörer, weil sie den Deutschen Böses<br />

wollen und nicht anerkennen, dass Deutsche – so die Überzeugung der radikalen<br />

Rechten – stets gut und heldenhaft sind und jene, die nach ihrer Einschätzung nicht<br />

völkisch deutsch sind, gefährlich, kriminell, gewalttätig etc. So ist es charakteristisch<br />

für die rechtsradikale Argumentation, dass stets Gruppen von „Deutschen“<br />

und „Ausländern“ oder „Ausländer-Lobbyisten“ und „Deutschfeinden“ („Verräter“)<br />

etabliert werden. „Die Deutschen“ müssen von der radikalen Rechten vor den<br />

feindlichen Medien in Schutz genommen werden.<br />

Die radikalen Rechten richten sich prinzipiell gegen die Thematisierung von<br />

„<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Fremdenfeindlichkeit“. Die Emotionalität, die sich<br />

gegen Gespräche über <strong>Rechtsextremismus</strong>, Ausländerfeindlichkeit/Rassismus entfaltet<br />

und zur Fundamentalkritik gegen die etablierten Medien wird, zeigt sich<br />

u. a. in der Wochenzeitung Junge Freiheit . „Bewußt (sic) fehlinterpretierte Ge-


„Lügenpresse“?<br />

327<br />

walttaten“ wie „Mügeln, Sebnitz und Hohmann“ 21 würden zum Anlass genommen,<br />

um den politisch geförderten „Kampf gegen Rechts“ auszudehnen, schreibt<br />

die Wochenzeitung. In der Rubrik „Zitate“ veröffentlicht sie Ausschnitte aus der<br />

Presse (u. a. aus Die Welt und von Spiegel-Online ), die beweisen sollen, dass die<br />

Thematisierung „Mügeln(s)“ neue Möglichkeiten gegen „rechtschaffende Rechte“<br />

vorzugehen eröffnen soll (vgl. Schellenberg, 2014, S. 203ff.).<br />

Doch die Radikale Rechte entwirft noch einen Angriffspunkt: Die Medien<br />

würden die Kleinstadt Mügeln mit böswilliger Absicht und gegen die Fakten als<br />

„Hort des <strong>Rechtsextremismus</strong>“ darstellen, heißt es etwa im Artikel mit der aussagekräftigen<br />

Überschrift „Von der Schlägerei im Bierzelt zur ‚Hetzjagd’“. 22 Tatsächlich<br />

kreiert die Radikale Rechte einen Kausalzusammenhang zwischen der<br />

Einschätzung des Vorfalls als „rechtsextrem“ und einer angeblichen Kollektivschuld<br />

der Stadt Mügeln und aller ihrer Bürger. So unterliegt ihrer Argumentation<br />

stets die absurde Behauptung, „die Mügelner“ (später auch die Ostdeutschen) seien<br />

legitim als „rechtsextrem“ zu bezeichnen, wenn der Übergriff in Mügeln einen<br />

„rechtsextremen“ oder „fremdenfeindlichen“ Hintergrund hatte. Deswegen gilt<br />

der Umkehrschluss: Weil die Bürger Mügelns „anständig“ sind und nicht „rechtsextrem“,<br />

dürfe man nicht von einem rechtsextremen oder fremdenfeindlichen Tathintergrund<br />

sprechen. Gleichzeitig übernehmen die radikalen Rechten lautstark<br />

die Rolle der Beschützer gegenüber den Mügelner Bürgern. Sie sprechen „die<br />

Mügelner“ als Kollektiv an. Das Gleiche gilt für die Ostdeutschen – auf die die<br />

Gruppe der Mügelner ausgedehnt wird und die im Verlauf der Debatte immer stärker<br />

als die angeblich Diskriminierten von den Rechtsradikalen angesprochen werden.<br />

Und schließlich wird die Brücke zu den „nationalen Deutschen“, den „wahren<br />

Deutschen“, den radikalen Rechten selbst, die sich gegen böswillige Mächte,<br />

Ausländer, Politik und Medien (gemeinsam) zur Wehr setzen müssen, geschlagen.<br />

Dieser Dreischritt – „Mügelner“, „Ostdeutsche“, „nationale Deutsche“ – wird in<br />

der Debatte über den „Fall Mügeln“ von den radikalen Rechten vorgegeben – und<br />

von einigen anderen Akteuren zumindest teilweise mitgegangen. Er verspricht in<br />

der kon ikthaften Auseinandersetzung ein (vermeintlich) bequemes „Deutschsein“,<br />

das auf ostdeutsche Identitäten zurückgreift und sich kritikfrei jenseits von<br />

bundesrepublikanischen Normvorstellungen positioniert.<br />

21 Weiter werden in den Texten der Bombenanschlag in Düsseldorf und der Fall Ermays<br />

M. genannt. Beim Fall Hohmann handelt es sich nicht um eine „Gewalttat“, sondern<br />

um eine antisemitisch konnotierte Schuld-Debatte.<br />

22 Junge Freiheit, 36/07, vom 31. August 2007: „Von der Schlägerei im Bierzelt zur<br />

‚Hetzjagd’. Medien: Wie die Berichterstattung über den ‚Fall Mügeln’ die politische<br />

Diskussion beeinflusst / ‚Leichtfertige Vorverurteilung’“ von Michael Paulwitz.


328 Britta Schellenberg<br />

3.2 Der Bürgermeister und Stadtrat der Kleinstadt Mügeln<br />

Auch der Bürgermeister (Deuse, FDP) und der Stadtrat Mügelns wollen nicht über<br />

„<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Fremdenfeindlichkeit“ reden. Dem Thema „Fremdenfeindlichkeit“<br />

wird ausgewichen, das Thema „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ ablehnend -<br />

xiert. Die lokale Politik thematisiert zunächst „allgemeine Gewalttätigkeit“ und<br />

beügelt später Debatten über die mögliche (Mit)Schuld der Opfer an den Ausschreitungen.<br />

Erst spät, nach einschlägigen Gerichtsurteilen wird die Einstufung<br />

„fremdenfeindlicher Tathintergrund“ akzeptiert.<br />

Bezüglich des <strong>Rechtsextremismus</strong> wird juristisch versiert (wenngleich tatsachenfern)<br />

begründet, warum es sich nicht um „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ handeln soll. Der<br />

Begriff „Fremdenfeindlichkeit“ wird nur aufgegriffen, um jenen, die ihn thematisieren,<br />

im Gegenzug vorzuwerfen, sie hegten Vorurteile gegen „die Mügelner“<br />

und „die Ostdeutschen“. Tatsächlich schlage nicht „Ausländern“ Fremdenfeindlichkeit<br />

entgegen, sondern der (so de nierten) Eigengruppe. Der Bürgermeister<br />

glaubt, „die Medien“, aber auch (Bundes-)Politiker, würden Mügeln kollektiv als<br />

fremdenfeindlich und rechtsextrem „vorverurteilen“. Das vielfach gebrauchte<br />

Wort „vorverurteilen“ unterstreicht die Annahme, Mügeln sei dann als Kollektiv<br />

zu verurteilen, wenn es sich um einen fremdenfeindlichen oder rechtsextremen<br />

Vorfall gehandelt habe. Das heißt im Umkehrschluss auch: wenn „die Inder“ den<br />

Streit entfacht hätten, würde Mügeln zu Unrecht als rechtsextremes Städtchen dargestellt.<br />

Tatsächlich wirbt der Bürgermeister bald für die Auffassung, „die Inder“<br />

seien mindestens mitschuld an den Ausschreitungen.<br />

Bürgermeister und Stadtrat verfügen über kein demokratisches Reaktionsrepertoire<br />

– heterogene Stimmen aus der Gemeinde (die es durchaus gab) werden<br />

nicht gesammelt, eine kontroverse Debatte wird nicht zugelassen – stattdessen versucht<br />

der Bürgermeister, alleine die Deutungsmacht über den Vorfall zu erlangen<br />

(kein <strong>Rechtsextremismus</strong>, keine Fremdenfeindlichkeit). Das gelingt ihm sogar in<br />

seiner Kleinstadt, überzeugt Journalisten, Bundespolitiker und die Fraktionen im<br />

Sächsischen Landtag jenseits der CDU allerdings nicht. Der Bürgermeister beklagt<br />

zunehmend, die mediale Berichterstattung sei unfair gegen seine Person und<br />

die Stadt Mügeln – obwohl er medial sehr präsent ist. Aber er möchte als alleiniger<br />

Deuter der „Wahrheit“ präsentiert werden und kann Heterogenität und Pluralismus<br />

nicht akzeptieren (vgl. Schellenberg, 2015). Auch die Uneinheitlichkeit und Vielfalt<br />

der Medien unterschätzt er, wenn er beispielsweise in der Presse bekundet,


„Lügenpresse“?<br />

329<br />

dass er die verletzten Inder im Krankenhaus besucht habe – und dabei beklagt,<br />

dass die Medien dies nicht berichten würden. 23<br />

Doch er bringt auch Kritik gegen die Berichterstattung in die Debatte ein, die<br />

stichhaltig ist und von verschiedenen Akteursgruppen (der Radikalen Rechten und<br />

vorerst auch der Sächsischen Staatsregierung) aufgegriffen wird. Er unterstreicht<br />

seine inzwischen erlangte Einschätzung, die Berichterstattung sei insgesamt verlogen,<br />

mit einem Beispiel: es werde von einer „Hetzjagd“ durch die Stadt gesprochen,<br />

obwohl die Strecke der Verfolgung nur etwa 30-50 Meter betrug. So sagt<br />

er: „Mir schwillt der Kamm, wenn ich lese, die Inder seien durch die ganze Stadt<br />

gehetzt worden. Dabei sind es von dem Festzelt bis zu der Pizzeria nur 30 Meter.“<br />

24<br />

Die Teilkritik wird in der Debatte von nun an immer wieder artikuliert und dient<br />

als Beleg für die mangelnde Glaubwürdigkeit der Medien ( pars pro toto). Der<br />

Bürgermeister zählt eine Reihe weiterer Gründe für die angebliche Fehldeutung<br />

der Medien auf, u. a. Stursinn und Arroganz der Journalisten. Doch der schwerwiegendste<br />

Grund ist ein Vorwurf und betrifft die eigenen Be ndlichkeiten: so wird<br />

behauptet, „die (überregionalen) Medien“ würden Vorurteile gegen den Osten hegen<br />

und nur daher <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit thematisieren.<br />

Die Position des Bürgermeisters verändert sich im Verlauf der Debatte deutlich:<br />

von einer vornehmlich regressiven, auch hilos-autoritären Reaktion („es gibt keine<br />

Rechtsextremisten in Mügeln“, „wir sind anständig“) bewegt er sich hin zu einer<br />

zunehmend rechtsradikalen Argumentation. Dies zeigt sich zum einen in der Ausweitung<br />

der scheinbaren Opfergruppe: nicht nur „die Mügelner“, sondern schnell<br />

„die Ostdeutschen“ insgesamt und später dann „die (wahren/nationalen) Deutschen“<br />

und „Deutschland“, werden zu Opfern der Berichterstattung erklärt. Auch<br />

verschwörungstheoretische Annahmen werden formuliert: so wird unterstellt, „die<br />

Medien“ beteiligten sich an einem verschwörerischen Anti-Rechts-Kampf, der tatsächliche<br />

Aufklärung verhindere. Besonders weit reichen die Äußerungen des<br />

Bürgermeisters im Gespräch mit der rechtsradikalen Jungen Freiheit: er beklagt<br />

eine „tiefe Kluft zwischen Medien und Volk“ und stimmt zu, dass es einen Mangel<br />

an Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland gibt. 25<br />

23 Er wird mit der entsprechenden Klage u. a. in der Welt vom 23.08.2007 zitiert: „Warum<br />

sich der Bürgermeister in Mügeln nach den Übergriffen auf Ausländer falsch verstanden<br />

fühlt. Hassbriefe aus aller Welt.“ Von Uta Keseling.<br />

24 Focus-Online vom 22.08.2007: „Bürgermeister: ‚So was machen Mügelner nicht’“.<br />

Von Iris Mayer.<br />

25 Junge Freiheit, 36/07, vom 31. August 2007: „‚Ein neues Sebnitz’. Nach der Gewalt<br />

in Mügeln steht der Ort am Pranger. Bürgermeister Gotthard Deuse kämpft für seine<br />

Stadt.“ Interview mit Mügelns Bürgermeister Deuse von Moritz Schwarz.


330 Britta Schellenberg<br />

Tabelle 3 Entwicklung der Problemanalyse der lokalen Politik<br />

Phase 1 Phase 2<br />

Problem Fall und Debatte Verursacher Ursache der Debatte / Argumentationsmuster<br />

/ ARGM<br />

(ARGM)<br />

Verursacher<br />

1. Falls es ein rechtsextremer<br />

Vorfall war, kommt<br />

der Rechts-extremismus<br />

von außerhalb Mügelns.<br />

2. Bürgermeister und Stadt<br />

Mügeln werden persönlich<br />

verletzt, weil der<br />

Vorfall als fremdenfeindlich<br />

und rechtsextrem<br />

debattiert wird.<br />

Bedrohung der Stadtgemeinde<br />

von außen.<br />

1. Rechtsextreme<br />

2. Medien<br />

Bedrohung<br />

durch Personen<br />

außerhalb<br />

von Mügeln.<br />

Der Fall wird als rechtsextrem und/oder fremdenfeindlich<br />

eingeordnet, ...<br />

1. ... wegen Unaufrichtigkeit: Für eine gut verkaufbare<br />

Schlagzeile wird eine Stadt „geopfert“.<br />

2. ... weil es Vorurteile gegen Ostdeutsche gibt.<br />

3. ... weil „nationalstolze“ Deutsche weniger Rechte<br />

haben.<br />

a) Deutsche Opfer zählen nicht so viel wie ausländische<br />

Opfer.<br />

b) Es gibt keine Meinungsfreiheit, sondern Tabus.<br />

U. a. darf nicht über Ursachen rechtsextreme Gewalt<br />

geredet werden.<br />

c) Es gibt eine Kluft zwischen Medien und deutschem<br />

Volk.<br />

1. Die Medien<br />

2. Politiker/Politik, vor<br />

allem Linke, aber auch<br />

weitgehend die gesamte<br />

Bundespolitik (weil sie<br />

unter Druck steht).<br />

3. Unbestimmte Kräfte/<br />

Verschwörer, welche eine<br />

Anti-<strong>Rechtsextremismus</strong>-<br />

Atmosphäre geschaffen<br />

haben.<br />

Bedrohung durch „Kapitalismus“ und „Unvölkische“. Bedrohung durch Personen,<br />

die nicht zur ethnisch-politischen<br />

Wir-Gruppe gehören<br />

oder ihre Interessen nicht<br />

vertreten.


„Lügenpresse“?<br />

331<br />

3.3 Die Sächsische Staatsregierung<br />

Während verschiedene sächsische Parteien die Themen „<strong>Rechtsextremismus</strong>“,<br />

„Neonazismus“, „Fremdenfeindlichkeit“ und „Rassismus“ nach dem Vorfall in der<br />

Kleinstadt intensiv diskutieren, bezieht die Sächsische Staatsregierung (CDU mit<br />

kleinem SPD-Partner 26 ) keine klare Stellung und vermeidet zunächst entsprechende<br />

Diskussionen. Zwar pocht der Innenminister (Buttolo/CDU) auf das staatliche<br />

Gewaltmonopol und kritisiert, es dürfe nicht hingenommen werden, dass eine<br />

Menge gegenüber einer kleineren Gruppe gewalttätig wird. Doch der Ministerpräsident<br />

(Milbradt/CDU), der Innenminister, der Justizminister und mit ihnen die<br />

gesamte sächsische CDU-Fraktion reden im Zusammenhang mit dem Fall weder<br />

von <strong>Rechtsextremismus</strong> noch von Fremdenfeindlichkeit, geschweige denn Rassismus.<br />

Nur SPD-Politiker und die sächsische Ausländerbeauftragte (de Haas/CDU)<br />

thematisieren kritisch, aber wenig hörbar, Fremdenfeindlichkeit.<br />

Stattdessen wird von den ein ussreichen politischen Vertretern schnell jenen,<br />

die <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit thematisieren, vorgeworfen, sie<br />

unterstellten den Ostdeutschen zu Unrecht, sie seien fremdenfeindlich, gewalttätig<br />

und rechtsextrem. Beklagt wird auch, der „Fall Mügeln“ werde durch die überregionale<br />

Presse (und die Bundespolitik) skandalisiert. Behauptet wird gar, dass<br />

die öffentliche Debatte über den Vorfall für Zulauf bei den Rechtsextremen sorge.<br />

Insbesondere die Medien werden zur Zielscheibe der Angriffe von Vertretern der<br />

Sächsischen Staatsregierung. Die überregionale Presse brauche Skandale; prototypisch<br />

dafür stehe der „Fall Sebnitz“, der sich als gut verkaufbare Geschichte<br />

erwiesen habe. Der immer wieder artikulierte Vorwurf lautet: die „überregionale<br />

Presse“ verbreite die Auffassung eines fremdenfeindlichen Ostens, in dem es<br />

an Zivilcourage mangele. Grund sei, dass die Journalisten ihre journalistische<br />

Sorgfaltspicht vernachlässigten und ihre Vorurteile bestätigen wollten. Fehlende<br />

Orts- und Situationskenntnisse führten zu Betroffenheitsbekundungen. So würde<br />

von einer „Hetzjagd durch die ganze Stadt“ gesprochen, obwohl es nur um eine<br />

kleine Strecke ginge (vgl. Schellenberg, 2014).<br />

Selbst auf die parlamentarischen Anfragen der NPD, die schnell den Fall für<br />

sich zu nutzen versteht, wird lange nicht kritisch reagiert. Einer großen Anfrage<br />

der extrem rechten Partei wird scheinbar mit möglichst wenig Arbeitsaufwand<br />

geantwortet – die kargen Antworten zeigen auch, dass die Staatsregierung zu diesem<br />

Zeitpunkt kein Interesse verspürt, Anschuldigungen der rechtsextremen Partei<br />

gegen Opfer, gegen Passanten-Zeugen, Politiker und Medien zu entkräften. So<br />

26 Die CDU hatte 55 Sitze im Landtag, die SPD 13 Sitze. Die SPD stellte nur zwei Ministerien<br />

(Arbeit und Soziales sowie Wissenschaft und Kunst).


332 Britta Schellenberg<br />

lässt sie auch den Vorwurf unwidersprochen, dass „die Medien“ Mügeln als eine<br />

„durchgängig ausländerfeindlich(e)“ Stadt diffamierten. Sie gibt der NPD scheinbar<br />

sogar recht, wenn diese im „Fall Mügeln“ die Diskriminierung von Deutschen<br />

beklagt. Formuliert wird: „Die Sächsische Staatsregierung lehnt jede Vorverurteilung<br />

sowohl gegenüber Deutschen als auch gegenüber Ausländern ab“ (Sächsisches<br />

Staatministerium des Innern, 2007, Antwort auf Frage 137). Insgesamt präsentiert<br />

sich die Staatsregierung immer wieder als Verteidigerin unbescholtener<br />

Bürger gegenüber angeblich vorurteilsbeladenen Angriffen „der Medien“.<br />

Tabelle 4 Problemanalyse der Sächsischen Staatsregierung (Phase 1)<br />

Problem / Argumentationsmuster<br />

Es handelte sich um allgemeine Gewalttätigkeit.<br />

Sie ist prinzipiell zu verurteilen (normative Aussage).<br />

Die Debatte ist ein Problem.<br />

1. Die Debatte ist hysterisch und falsch, weil<br />

a) ein fremdenfeindlicher und rechtsextremer Hintergrund nicht erwiesen<br />

ist.<br />

b) es tatsächlich eine „Hetzjagd auf Mügeln und die Mügelner“ gibt.<br />

Verursacher<br />

Unklar.<br />

Medien<br />

Bundespolitiker<br />

Westdeutsche<br />

2. Die Debatte ist vorurteilsbeladen gegen Ostdeutsche, weil<br />

a) Ostdeutschen ohne ausreichende Beweise „Ausländerfeindlichkeit“<br />

und <strong>Rechtsextremismus</strong> unterstellt wird.<br />

b) Westdeutsche sich fremdenfeindlich gegenüber Ostdeutschen<br />

äußern.<br />

Eine Verschiebung in der Argumentation der Staatsregierung (CDU) ndet erst<br />

statt, als die öffentliche Debatte anhält, als u. a. auch die indische Botschaft und<br />

die Bundesregierung kritische Nachfragen stellen und die NPD schließlich eine<br />

parlamentarische Auseinandersetzung (Landtagsdebatte) erzwingt. Die CDU/<br />

Staatsregierung redet nun über den Nationalsozialismus, der in der Gegenwart<br />

dazu führe, dass es immer wieder Verdachtsmomente gebe. Die Verantwortung<br />

für die als problematisch wahrgenommene Debatte über den „Fall Mügeln“ wird<br />

der NPD zugeschoben. Fremdenfeindlichkeit wird lediglich von der Ausländerbeauftragten<br />

angesprochen. Die NPD stattdessen wird als Gefahr ausgemacht: sie<br />

wird als Erbin des Nationalsozialismus, prinzipielle Initiatorin von Gewalt und<br />

als verfassungsfeindlich dargestellt. Ansonsten werden weiterhin Bendlichkeiten<br />

angesprochen, die sich auf die Debatte über den Vorfall und das Thema „Rechtsex-


„Lügenpresse“?<br />

333<br />

tremismus im Osten“ beziehen. Immer noch wird unterstellt, es würden vor allem<br />

Vorurteile zu einer heftigen Debatte geführt haben, allerdings werden jetzt selbst<br />

diese auch mit der NPD verknüpft: „re exhafte Pauschalverdächtigung“ gegen<br />

Deutsche und „unfaire Kampagnen gegen ganze Bundesländer“ existieren, weil<br />

„die Vorbilder der NPD die größten Verbrechen begingen“ (Sächsischer Landtag,<br />

2007, S. 7841).<br />

Die Staatsregierung betreibt vor allem politische Schadensbegrenzung: insgesamt<br />

ist die Positionierung der CDU nun geleitet von einer deutlichen Abgrenzung<br />

gegenüber der NPD, und gleichzeitig gegenüber Linksextremisten, dem Tribut an<br />

die lokale Bevölkerung (durch die Betonung deren Opferwerdens), anhaltender<br />

Medienkritik, wenngleich nun leicht verändert nur noch gegen „Teile der Medien“<br />

– und eines explizites Pochen auf den demokratischen Rechtsstaat (Lynchjustiz<br />

27 werde nicht akzeptiert). Mit dieser Debatte entsteht die merkwürdige Situation,<br />

dass die CDU, statt <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rassismus zu thematisieren,<br />

über Linksextremismus redet, die (bzw. Teile der) Medien kritisiert und die NPD<br />

attackiert.<br />

27 Die Verwendung des Begriffs „Lynchjustiz“ legt ein Fehlverhalten auch der Opfer<br />

nahe.


334 Britta Schellenberg<br />

Tabelle 5 Problemanalyse der Sächsischen Staatsregierung (Phase 2)<br />

Problem / Argumentationsmuster<br />

Der Fall ist<br />

problematisch<br />

... weil<br />

die NPD ihn zu verantworten<br />

hat.<br />

Gefahr „Extremismus“<br />

für die Demokratie / ARGM<br />

1. Die Schlägertrupps der NPD<br />

sind für Gewaltorgien wie in<br />

Mügeln verantwortlich.<br />

Verursacher<br />

NPD<br />

Die Debatte<br />

ist problematisch<br />

(Nur Ausländerbeauftragte:<br />

... weil in der Bevölkerung<br />

Fremdenfeindlichkeit<br />

u. Mangel<br />

an Zivilcourage<br />

herrscht.)<br />

... weil die NPD sie<br />

nutzt.<br />

2. Die NPD ist verfassungsfeindlich.<br />

1. Die NPD behauptet, dass<br />

die Inder, weil sie an dem<br />

Ausgang des Übergriffs<br />

(mit-)schuld waren, gelyncht<br />

werden dürfen.<br />

2. Die NPD argumentiert verfassungsfeindlich.<br />

... weil Linksextremisten<br />

die Bevölkerung<br />

verunsichern und<br />

verängstigen.<br />

... weil sie hysterisch<br />

und vorurteilsbeladen<br />

geführt wird.<br />

1. Die Linksextremisten<br />

bekämpfen nicht <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />

sondern die<br />

sächsische Bevölkerung.<br />

2. Sie stellen eine Bedrohung<br />

dar, weil sie Eigentum verwüsten.<br />

3. Sie sind verfassungsfeindlich.<br />

Die Medien führen falsche<br />

Debatten, verurteilen pauschal<br />

und gefährden deshalb die<br />

Demokratie.*<br />

Linksextremisten<br />

(Teile der)<br />

Medien<br />

* Sind sie also auch „extremistisch“?


„Lügenpresse“?<br />

335<br />

4 Fazit<br />

Problematische Muster der Berichterstattung waren: Pauschalisierende und stark<br />

vereinfachende Titel, Überschriften und Stichworte wie „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und<br />

„Mügeln“, die den Medien den Vorwurf einbrachten, sie würden unberechtigte<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>-Debatten führen und eine Stadt kriminalisieren. Tatsächlich<br />

sind die Inhalte der Berichte differenzierter.<br />

Die Ost-West-Bendlichkeiten überlagerten die Berichterstattung: Viele Journalisten<br />

verorteten die Probleme vor allem in Ostdeutschland. Dies behinderte<br />

zum einen eine re ektierte Auseinandersetzung (der westdeutschen und der ostdeutschen<br />

Rezipienten, der Journalisten). Zum anderen konnten die Kritiker der<br />

Medien den Vorwurf, Ostdeutsche würden diskriminiert für die eigene Argumentation<br />

und ihre ideologischen Ziele nutzen.<br />

Besonders problematisch ist, dass Nachrichten von Ermittlungsbehörden und<br />

anderen Journalisten häug wiedergeben wurden, ohne dass ihre Richtigkeit oder<br />

Aussagekraft kritisch geprüft, re ektiert und eingeordnet wurde. Zudem wurde<br />

nicht kontinuierlich und nachhaltig berichtet. Das hatte zur Folge, dass ein fehlerhaftes<br />

Bild der Entwicklung des Rassismus und Neonazismus entstand. Wenig<br />

hilfreich war zudem, dass zunächst die Täter häu g dämonisiert wurden und solange<br />

„Neonazis“ als Täter diskutiert wurden, keine inhaltliche Auseinandersetzung<br />

(Ursachensuche oder Lösungsstrategien) stattfand. Nachdenklich muss auch<br />

stimmen, dass sich das Thema vor allem aufgrund anhaltender (emotionaler) Kon-<br />

ikthaftigkeit (und der hierüber ausgetragenen Ost-West-Be ndlichkeiten) – jenseits<br />

eines sachlichen Aufklärungsziels – in den Medien hielt.<br />

Nichtsdestotrotz muss festgehalten werden, dass die mediale Berichterstattung<br />

durchaus positive Effekte hatte. Ihr kam, weil sie Informationen öffentlich machte,<br />

die sonst nicht bekannt geworden wären, eine herausragende Rolle für die Wahrnehmung<br />

der Probleme zu. Indem Medien ein Sprachrohr auch der Zeugen waren<br />

und externe Akteure integrierten (u. a. indische Botschaft, Wirtschaftsvertreter),<br />

haben sie den politischen Druck auf die Zuständigen erhöht und jenen, die den Fall<br />

zielführend bearbeiten wollten (etwa Amtsrichter, Opferanwälte, Opferberatung,<br />

Mobile Beratung, auch einzelne Bürger), Rückhalt verschafft. Ohne diese Akteure<br />

wäre der „Fall Mügeln“ vermutlich tatsächlich ein „zweites Sebnitz“ geworden –<br />

d. h., man hätte weder einen extrem rechten noch rassistischen Tathintergrund belegen<br />

können.<br />

Die Kritiker der medialen Berichterstattung zeichneten sich dadurch aus, dass<br />

sie prinzipiell die Thematisierung von „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „fremdenfeindlicher/<br />

rassistischer Gewalt“ ablehnten. Die radikalen Rechten, aber auch lokale<br />

Politik und m.E. die Sächsische Staatsregierung (CDU) behaupteten, dass sich


336 Britta Schellenberg<br />

die Berichterstattung nicht an „objektiven Gegebenheiten“ orientiere, sondern<br />

„falsch“, „hysterisch“, „vorurteilsgeleitet“ oder gar „böswillig“ sei. Durch den Verweis<br />

auf einzelne problematische Muster stellten diese Kritiker die Glaubwürdigkeit<br />

der Medienberichterstattung insgesamt in Frage.<br />

Tatsächlich hat die Kritik an der öffentlichen Debatte über den „Fall Mügeln“<br />

darüber hinaus auch gesellschaftliche Fehlentwicklungen begünstigt: Die Entwicklungen<br />

der Debatte (u. a. Veränderung der Position des Bürgermeisters hin<br />

zu radikal rechten Argumentationsmustern) und vor Ort (Explosion der neonazistischen<br />

Gewalt, Einzug der NPD in den Stadtrat) zeigen, dass die Fehlinformationen<br />

durch staatliche Zuständige sowie die negativen Zuschreibungen gegen<br />

„die Medien“ und die (Bundes-)Politik zu einer schleichenden Entfremdung von<br />

bundesdeutschen Normvorstellungen führten. Die pauschale Medienkritik gepaart<br />

mit Abwehrreaktionen und Zuschreibungen (insbesondere Ost-West-Be ndlichkeiten)<br />

hat eine Brücke zu rechtsradikalen Verschwörungstheorien und Gedankenwelten<br />

geschlagen. Diese ideologischen Entwicklungen dürfen in ihrer Dynamik<br />

nicht unterschätzt werden – sie haben heute ihren Anteil an den demokratischen<br />

Adaptionsproblemen der Pegida-Anhänger in der sächsischen Großstadt Dresden,<br />

unweit von Mügeln, inklusive ihrer „Lügenpresse“-Rufe.<br />

Wissenschaftler haben sich der Berichterstattung über „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />

und „fremdenfeindliche Gewalt“ in der Vergangenheit vor allem kritisch genähert,<br />

ohne die Stärken der medialen Berichterstattung herauszuarbeiten. Kritisiert<br />

wurde etwa, dass die Berichterstattung Nachahmungseffekte auslösen würde, dass<br />

sie recht zufällig wäre und realitätsfremd sei – begründet wurde dies mit dem<br />

Verweis auf die amtliche Kriminalstatistik, die unkritisch zur Grundlage einer<br />

wirklichkeitsnahen Einschätzung erklärt wurde (vgl. Brosius & Esser 1995; Esser,<br />

Scheufele & Brosius, 2002; Kleinen-v. Königslöw et al., 2002). 28 Meine Fallstudie<br />

zum Umgang mit rassistischer und extrem rechter Gewalt – aber auch die Erfahrungswerte<br />

der Opferberatungsstellen und Opferanwälte, ebenso wie die bereits<br />

heute vorliegenden Erkenntnisse zum „NSU“-Komplex – stellen diese Sichtweise<br />

in Frage, ebenso die Aussagekraft isolierter Medienkritik. Erst ein breiterer Blick<br />

auf Akteure, ihre Interessen, Impulse und Interaktionen kann Aufschluss über die<br />

Stärken und Schwächen der medialen Berichterstattung geben. Meine Analyse<br />

macht Vertuschungsbemühungen, problematische Bearbeitungsmuster und falsche<br />

Weichenstellungen durch staatliche Akteure sichtbar und verdeutlicht ihren prob-<br />

28 Natürlich ist es u. a. ein Verdienst, dass Frames der Thematisierung herausgearbeitet<br />

und nachwiesen wurde, dass „Schlüsselereignisse“ eine überdurchschnittlich intensive<br />

und längerfristige Thematisierung „fremdenfeindlicher Gewalt (in Ostdeutschland)“<br />

provozieren.


„Lügenpresse“?<br />

337<br />

lematischen Einuss auf die mediale Berichterstattung. Diese wurde insbesondere<br />

durch faktenfremde Impulse der Ermittlungsbehörden, der lokalen und regionalen<br />

Politik, aber auch ihre unzureichende Reexion und Überprüfung durch Journalisten,<br />

problematisch (bspw. Nachricht: „Inder sind Täter“).<br />

Das Analyseergebnis legt damit nahe, dass sich Journalisten nicht mehr, sondern<br />

weniger an der amtlichen Kriminalstatistik und den Aussagen der Ermittlungsbehörden<br />

orientieren sollten – sie sollten stattdessen idealerweise stärker<br />

investigativ arbeiten, Zeit für Recherche und Re exion haben und fachliches,<br />

etwa juristisches, Hintergrundwissen anwenden. Die <strong>Rechtsextremismus</strong>- und<br />

Rassismus-Forschung hat sich bislang kaum mit der problematischen staatlichen<br />

Bearbeitungspraxis (insbesondere: Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden, Innenministerien,<br />

Landespolitik) beschäftigt. Sie hat bisher auch – trotz berechtigter<br />

Kritik – zu wenig die Verdienste der Medien und insbesondere investigativ arbeitender<br />

Journalisten dabei untersucht und berücksichtigt.


338 Britta Schellenberg<br />

Literatur<br />

Brosius, H.-B. & Esser,F. (1995). Eskalation durch Berichterstattung. Massenmedien und<br />

Fremdenfeindliche Gewalt. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Esser, F., Scheufele, B. & Brosius, H.-B. (Hrsg.). (2002). Fremdenfeindlichkeit als Medienthema<br />

und Medienwirkung. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Kleinen-v. Königslöw, K, Scheufele, B. & Esser, F. (2002). Eskalationsprozesse 2000. Gewalt-<br />

und Berichterstattungswellen als Resonanzeffekte von ‚Düsseldorf’ und ‚Sebnitz’.<br />

In Esser, F., Scheufele, B. & Brosius, H.-B. (Hrsg.), Fremdenfeindlichkeit als Medienthema<br />

und Medienwirkung. Deutschland im Internationalen Scheinwerferlicht (S. 95-142).<br />

Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Lakoff, G. (1987). Women, Fire, and Dangerous Things: What Categories Reveal About the<br />

Mind. Chicago: University of Chicago Press.<br />

Luhmann, N. (1996). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Müller, F., Sommer, M. & Thiel, F. (2010). Funktionen der Sprache in rechtsextremen Medien<br />

– Eine Zusammenfassung. In Schuppener, G. (Hrsg.), Sprache des <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Spezi ka der Sprache, rechtsextremistischer Publikationen und rechter Musik<br />

(S. 193-198). Leipzig: Hamouda.<br />

Öffentliche Mitteilung vom 21.08.2007, polizeilicher Staatsschutz.<br />

Pressemittelung vom 22. 08.2007, Staatsanwaltschaft Leipzig.<br />

Sächsischer Landtag, Dezember 12, 2007: Drucksache 4/9692. 94. Sitzung, Tagesordnungspunkt<br />

9 „Schlägerei beim Mügelner Altstadtfest am 18./19. August 2007“,S. 7829-7843.<br />

Sächsisches Staatsministerium des Innern, Albrecht Buttolo, im Namen und im Auftrag der<br />

Sächsischen Staatsregierung, November 6, 2007: Drucksache: 4/9692. Antwort auf die<br />

Große Anfrage der NPD.<br />

Staatsanwaltschaft Leipzig, Ermittlungsakten, 8 Bände Akten zu Az.: 608 Js 43641/07.<br />

Schellenberg, B. (2015). Autoritarismus, Rassismus, <strong>Rechtsextremismus</strong>. Ein Fallbeispiel.<br />

In O. Decker, J. Kiess & E. Brähler (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> der Mitte und sekundärer<br />

Autoritarismus (S. 153-170). Gießen: Psychosozial-Verlag.<br />

Schellenberg, B. (2014a). Die <strong>Rechtsextremismus</strong>-Debatte. Charakteristika, Kon ikte und<br />

ihre Folgen, <strong>Edition</strong> <strong>Rechtsextremismus</strong>. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Schellenberg, B. (2014b). Mügeln. Die Entwicklung rassistischer Hegemonien und die Ausbreitung<br />

der Neonazis. Hrsg. von: Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen. Reihe Demokratie.<br />

Dresden. https://www.boell.de/sites/default/les/muegeln_download.pdf (10.01.2015).<br />

Medien (fettgedruckte vollständig erfasst)<br />

Berliner Kurier, Berliner Zeitung, Deutschlandradio Kultur, dpa (Deutsche Presse Argentur),<br />

epd (Evangelischer Pressedienst), Focus und focus-online, Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung (FAZ) und faz-online, Frankfurter Rundschau (FR), Lausitzer Rundschau,<br />

Mannheimer Morgen, Märkische Oderzeitung, Mitteldeutsche Zeitung (MZ), Münchener<br />

Abendzeitung, Nordkurier, netz-gegen-nazis, Npd-blog.info, n-tv, Ostsee-Zeitung, Reuters,<br />

Rheinische Post, Rhein-Neckar Zeitung, Sächsische Zeitung (SäZ), Spiegel und spiegelonline,<br />

Stern und stern-online, Süddeutsche Zeitung (SZ) und sueddeutsche-online, Der<br />

Tagesspiegel (Tsp.) und tagesspiegel-online, tagesschau, Tageszeitung (TAZ), Die Welt<br />

und welt-online, Westfalen-Blatt, Die Zeit und zeit-online


„Lügenpresse“?<br />

339<br />

Rechtsradikale Medien (fettgedruckte vollständig erfasst)<br />

Altermedia, Junge Freiheit (JF), Politically Incorrect (pi), Sachsen Stimme


Todesopfer rechtsextremer<br />

und rassistischer Gewalt in Brandenburg<br />

(1990-2008)<br />

Zur Problematik der statistischen Erfassung politisch<br />

motivierter Kriminalität<br />

Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />

1 Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt –<br />

offizielle und andere Zahlen<br />

64 Menschen wurden in Deutschland seit 1990 aus rechtsextremen bzw. rassistischen<br />

Motiven getötet – das sind die ofziellen Zahlen der Bundesregierung. 1 Die<br />

Statistik beruht auf Angaben der Polizeibehörden bzw. der Innenministerien der<br />

Bundesländer und sie wird seit vielen Jahren heftig kritisiert. Es gibt weitere Listen,<br />

die weitaus mehr Todesfälle verzeichnen: Nach Recherchen der Journalisten<br />

Heike Kleffner und Frank Jansen (Tagesspiegel und ZEIT) liegt die Zahl bei 152.<br />

In der Liste der Amadeu Antonio Stiftung sind sogar 184 Todesopfer aufgeführt. 2<br />

In Brandenburg werden insgesamt 9 Tötungsdelikte statistisch dem Bereich<br />

„Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ (PMK-rechts) zugeordnet. Die Landesregierung<br />

teilte dazu 2012 in einer Antwort auf eine Anfrage der Fraktion DIE<br />

LINKE mit: „Alle anderen Fälle konnten nicht berücksichtigt werden, weil durch<br />

das Gericht festgestellt worden ist, dass kein politisches Motiv vorlag, und bis zum<br />

1 Zuletzt z. B. mittgeteilt am 5. November 2014 bei der Fragestunde der Bundesregierung<br />

auf die Frage 17 der MdB Martina Renner (DIE LINKE).<br />

2 Vgl. die Auflistungen im Internet: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/todesopfer-rechter-gewalt<br />

(abgerufen am 12.01.15); https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewaltseit-1990<br />

(abgerufen am 12.01.2015).<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_13, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


342 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />

gegenwärtigen Zeitpunkt auch nicht bekannt geworden ist.“ 3 In der „Jansen-Liste“<br />

sind hingegen insgesamt 26 brandenburgische Fälle verzeichnet. Die Amadeu<br />

Antonio Stiftung und der Verein Opferperspektive e.V. kommen zu noch höheren<br />

Zahlen. Berücksichtigt man alle – im Detail variierenden – Listen (inklusive der<br />

in der PMK-Statistik erfassten Taten), so gibt es in Brandenburg insgesamt 33<br />

Todesfälle.<br />

Über die Frage des wirklichen Ausmaßes rechter Gewalt und speziell über die<br />

Zahl der Todesopfer wird seit Jahren intensiv debattiert. Insbesondere der Verein<br />

Opferperspektive und das landesweite Aktionsbündnis gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />

Fremdenfeindlichkeit und Gewalt haben das Thema immer wieder auf die politische<br />

Tagesordnung gesetzt.<br />

Ende 2012 wurde von der brandenburgischen Landesregierung entschieden,<br />

sämtliche umstrittenen Fälle aus den Listen des Tagesspiegels, der Opferperspektive<br />

und der Amadeu Antonio Stiftung zu überprüfen. Neben einer internen Prüfung<br />

durch die Polizei sollte es eine externe, unabhängige Untersuchung im Rahmen<br />

eines Forschungsprojekts geben. Damit wurde das Moses Mendelssohn Zentrum<br />

der Universität Potsdam beauftragt. Mit der externen Vergabe einer solchen retrospektiven<br />

Überprüfung hat sich Brandenburg für einen anderen Weg entschieden,<br />

als das Land Sachsen-Anhalt, das eine interne Nachprüfung von insgesamt neun<br />

bislang statistisch nicht als politisch motiviert geführten Todesfällen aus der „Jansen-Liste“<br />

durch das Innen- und Justizministerium vornehmen ließ. Grundlage<br />

dieser Prüfung in Sachsen-Anhalt waren insbesondere die polizeilichen Ermittlungsakten<br />

sowie die Gerichtsurteile. Dem im Januar 2013 veröffentlichten Prüfbericht<br />

ist zu entnehmen, dass drei der neun Fälle nunmehr als politisch rechts<br />

motiviert eingestuft werden. 4 Festzuhalten ist allerdings: Im Gegensatz zu Brandenburg<br />

handelte es sich hier um eine behördeninterne Prüfung.<br />

3 Landtag Brandenburg, Drucksache 5/4956, S. 3.<br />

4 Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt & Ministerium für Justiz<br />

und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt (Hrsg.). (2013). Rechts motiviert?<br />

Bericht zur Untersuchung ausgewählter Tötungsdelikte der Jahre 1993 bis 2008 in<br />

Sachsen-Anhalt, Magdeburg.


Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />

343<br />

2 Das Forschungsprojekt<br />

Das Projekt wird seit Mai 2013 im Auftrag des Ministeriums des Innern des Landes<br />

Brandenburg am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien<br />

e.V. (Universität Potsdam) durchgeführt. 5 Grundlage der Untersuchung ist die<br />

Auswertung von Prozess- und Ermittlungsunterlagen sowie begleitende Recherchen<br />

und Interviews. Begleitet wird das Forschungsprojekt von einem Expertenarbeitskreis,<br />

in dem die einzelnen Fälle bzw. Fallanalysen regelmäßig diskutiert<br />

werden. Neben den Projektmitarbeitern nehmen an diesem Arbeitskreis Vertreterinnen<br />

und Vertreter aller bei diesem Thema relevanten zivilgesellschaftlichen<br />

Akteure und staatlichen Institutionen teil 6 . Dieser Arbeitskreis hat eine beratende<br />

Funktion. Entscheidungen über Methodik und Ergebnisse des Forschungsprojekts<br />

werden von den Mitarbeitern des Moses Mendelssohn Zentrums verantwortet.<br />

Mit dem Forschungsprojekt werden insbesondere folgende Ziele verfolgt:<br />

• Sichtung, Dokumentation und Bewertung der 33 Fälle (insbesondere der 24<br />

Fälle, die noch nicht in der ofziellen Statistik erfasst sind);<br />

• Erklärung der unterschiedlichen Einschätzungen;<br />

• Empfehlungen zur polizeilichen und justiziellen Praxis, insbesondere zu den<br />

PMK-Kriterien.<br />

Im Weiteren soll zunächst die Entwicklung der statistischen Erfassung politisch<br />

motivierter Kriminalität von 1959 bis heute in ihren Grundzügen dargestellt werden.<br />

Obwohl die polizeilichen Erfassungssysteme seit Anfang der 1990er Jahre<br />

weiterentwickelt wurden und die seit 2001 zugrunde liegende Denition sehr umfassend<br />

ist, bleibt die Erfassung rechtsmotivierter Gewalt doch mit erheblichen<br />

Problemen verbunden. Dies soll dann anhand einiger Fallbeispiele aus unserem<br />

Forschungsprojekt verdeutlicht werden.<br />

5 Das Team besteht aus Dr. Christoph Kopke (Leitung), Gebhard Schultz (Dipl.-Pol.),<br />

Dorina Feldmann (stud. Mit.). Beratend wirkt Priv. Doz. Dr. Gideon Botsch mit. (www.<br />

mmz-potsdam.de)<br />

6 Ministerium des Innern und für Kommunales, Landeskriminalamt; Fachhochschule<br />

der Polizei; Generalstaatsanwaltschaft; Integrationsbeauftragte des Landes; Demos –<br />

Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung; Opferperspektive e.V.; Aktionsbündnis<br />

gegen Gewalt, <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit; Amadeu<br />

Antonio Stiftung.


344 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />

3 Definitionen und Zählweisen<br />

3.1 Politische Kriminalität / politisch motivierte Kriminalität<br />

Eine allgemeingültige politikwissenschaftliche oder kriminologische De nition<br />

politischer Kriminalität existiert nicht. Je nach Staatsform und der Intention des<br />

jeweiligen Rechtssystems variiert das Verständnis von politischer Kriminalität.<br />

Werner Maihofer (1974) umschrieb politische Kriminalität „als Kehrseite und Negativbild<br />

jedes politischen Systems“ (S. 328).<br />

Unter politischer Kriminalität versteht man in unserem Zusammenhang zunächst<br />

all die Straftatbestände, die das Ziel haben, den demokratischen Rechtsstaat zu gefährden<br />

(§§ 84-91a StGB). Als „Staatsschutzdelikte“ gelten Delikte, die sich erkennbar<br />

gegen den Verfassungsstaat bzw. die staatliche Ordnung richten. Als klassische<br />

oder echte Staatschutzdelikte gelten dabei die folgenden Straftatbestände lt. Strafgesetzbuch<br />

(StGB): §§ 80-83 (Friedensverrat und Hochverrat), §§ 84-91 (Gefährdung<br />

des demokratischen Rechtsstaates), §§ 94-100a (Landesverrat und Gefährdung der<br />

äußeren Sicherheit), §§ 102-104a (Straftaten gegen ausländische Staaten), §§ 105–<br />

108e (Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen),<br />

§§ 109–109h (Straftaten gegen die Landesverteidigung), §§ 129a (Bildung terroristischer<br />

Vereinigungen), §§ 129b (Kriminelle und terroristische Vereinigung im Ausland),<br />

§§ 234a (Verschleppung), §§ 241a (Politische Verdächtigung).<br />

Straftaten der Allgemeinkriminalität (z. B. Brandstiftungen, Körperverletzungsund<br />

Tötungsdelikte, Sachbeschädigungen und Widerstandshandlungen) werden zur<br />

politisch motivierten Kriminalität gerechnet, wenn die Würdigung der inneren und<br />

äußeren Tatumstände auf ein politisches Motiv hindeutet (vgl. BMI, o.J.).<br />

Als politisch motivierte Kriminalität gelten Straftaten, „die von den Beteiligten<br />

politisch gemeint oder von den Kontrollorganen als politisch de niert werden.“<br />

(Willems, 2002, S. 141; identisch u. a. BMI & BMJ, 2001, S. 264)<br />

3.2 Polizeiliche Erfassungssysteme<br />

Die statistische Erhebung von „politisch motivierten Straftaten“ bzw. die entsprechende<br />

Zuordnung von Straftaten hat Folgen. Kurz gesagt: Die Zählweise bestimmt<br />

die Sichtweise. Die Erfassung politisch motivierter Kriminalität in Form<br />

einer Statistik gilt ofziell als „die Grundlage für die Sensibilisierung der Öffentlichkeit<br />

für Gefährdungslagen in bestimmten Deliktbereichen“ 7 .<br />

7 Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom<br />

27.09.2015, Bundestagsdrucksache 17/7161.


Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />

345<br />

3.2.1 Erfassung vor 2001<br />

Seit 1959 werden sog. „echte Staatsschutzdelikte“ gesondert in der allgemeinen<br />

„Polizeilichen Kriminalstatistik“ (PKS) als „Polizeiliche Kriminalstatistik –<br />

Staatsschutz“ (PKS-S) aufgeführt. Die PKS-S ist eine Ausgangsstatistik, d. h.,<br />

dass die Straftaten erst in die Statistik ein ießen, wenn die Ermittlungen zu dem<br />

Fall abgeschlossen sind und an die Staatsanwaltschaft oder das Gericht übergeben<br />

werden. Ab Januar 1961 werden Staatsschutzdelikte außerdem zusätzlich durch<br />

den „Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Sachen Staatsschutz“ (KPMD-S)<br />

statistisch erfasst. Der KPMD-S ist seit 1966 eine Eingangsstatistik und umfasst<br />

Delikte, die aus einer extremistischen Motivation heraus das Ziel der Systemüberwindung<br />

haben. Bei der Eingangsstatistik werden Fälle tatzeitnah mit der Aufnahme<br />

der Ermittlungen und somit schon beim ersten Anfangsverdacht der KPMD-S<br />

gemeldet. Während die PKS-S nur die Kriminalitätsentwicklung für ein Kalenderjahr<br />

abbildete, ermöglicht die KPMD-S eine bessere und zeitnahe Information<br />

über aktuelle polizeiliche Lagebilder und somit mehr Möglichkeiten zur Prävention<br />

und Gefahrenabwehr. 8<br />

Ein wesentliches Bestimmungskriterium der PKS-S war die Zuordnung der<br />

Straftat zu einer Organisation. Bei der Darstellung der PKS-S ergaben sich daraus<br />

frühzeitig zwei Probleme, die dazu führten, dass 50% – 70% aller Staatschutzdelikte<br />

weder als links- noch als rechtsextremistisch klassiziert werden konnten.<br />

Entweder waren die Motivlagen nicht eindeutig bzw. fehlten vollkommen oder die<br />

Zugehörigkeit zu einer Organisation konnte nicht nachgewiesen werden (vgl. BMI<br />

& BMJ, 2001, S. 266).<br />

Im Kontext des Anstieges rechtsextremer Gewalt nach der Wiedervereinigung<br />

wurde Anfang 1992 der Sondermeldedienst für fremdenfeindliche, 1993 für antisemitische<br />

Straftaten eingeführt. 9 Mit diesen Anpassungen wurde auf gesellschaftliche<br />

Entwicklungen und Debatten reagiert, die man nicht mehr ignorieren konnte.<br />

Dies war auch eine Reaktion auf die Vorwürfe, die Behörden verschleierten – be-<br />

8 Auf der anderen Seite weist eine Eingangsstatistik eine höhere Unsicherheit auf, denn<br />

der Sachverhalt kann sich im Zuge weiterer Ermittlungen anders darstellen. Um damit<br />

verbundene Unsicherheiten gering zu halten, sind nachträgliche Korrekturmöglichkeiten<br />

vorhanden (Vgl. BT-Drs. 17/7161).<br />

9 Antisemitische Straftaten wurden gesondert aufgeführt, da manche antisemitische<br />

Straftaten nicht zwingend dem <strong>Rechtsextremismus</strong> zugeordnet werden können. Die<br />

KPMD-S erlaubt keine Mehrfachnennungen. Wenn in einem Fall beispielsweise nicht<br />

zwischen Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus unterschieden werden kann, weil<br />

möglicherweise beide Hintergründe in Frage kommen, erfolgt die Einordnung nach<br />

einer vermuteten Motivation (Vgl. BT-Drs. 16/14122, BT-Drs. 17/7161).


346 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />

wusst aus politischem Kalkül oder systembedingt unbewusst – das wahre Ausmaß<br />

rechtsmotivierter Gewalt. Dennoch sorgten die Sondererfassungssysteme nicht für<br />

eine Lösung der Probleme bzw. für ein Ende der Auseinandersetzungen. So heißt<br />

es beispielsweise in einer Studie aus dem Jahre 1994: „Die Kriterien, nach denen<br />

konkrete Straf- und Gewalttaten durch die Polizei als fremdenfeindlich eingestuft<br />

werden, sind keineswegs eindeutig festgelegt, so dass von den einzelnen Polizeidienststellen<br />

auch sehr Unterschiedliches als fremdenfeindlich de niert und eingeordnet<br />

wird“ (Willems, Wirtz & Eckert, 1994, S. 9). Auch gebe es zwischen den<br />

Bundesländern teilweise große Unterschiede in der Ermittlungsarbeit und in der<br />

statistischen Erfassung. „Dies beeinträchtigt die Zuverlässigkeit und Aussagekraft<br />

der polizeilichen Statistik zu fremdenfeindlichen Straftaten erheblich“ (Willems<br />

et al., 1994, S. 9).<br />

3.2.2 Die Änderung der Erfassung der PMK nach 2001<br />

Auch innerhalb der Sicherheitsbehörden wurde das Erfassungssystem zunehmend<br />

kritisch gesehen. So räumte der damalige BKA-Vize-Präsident Bernhard Falk ein,<br />

das bisherige polizeiliche Meldesystem bilde eine „überkommene“ und „verzerrte“<br />

Darstellung des polizeilichen Lagebildes ab und sei somit „ungeeignet“ (Falk,<br />

2001, S. 10). Im Jahre 2000 befasste sich die Arbeitsgemeinschaft „AG Kripo“, die<br />

aus Mitgliedern des Bundeskriminalamts und der Landeskriminalämter bestand,<br />

mit dem Erfassungssystem und legte einen Arbeitsgruppenbeschluss zur 167. Konferenz<br />

der Innenminister bzw. Innensenatoren des Bundes und der Länder (IMK)<br />

vor. Dort wurde am 10. März 2001 ein einheitliches De nitionssystem Politisch<br />

motivierter Kriminalität (PMK) verabschiedet, das (rückwirkend zum 01.01.2001)<br />

bis heute seine Anwendung ndet. Die Erfassungs- bzw. Meldesysteme KPMD-S<br />

und PKS-S sowie die Sondermeldedienste für fremdenfeindliche und antisemitische<br />

Straftaten wurden von dem „Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen<br />

politisch motivierter Kriminalität“ (KPMD-PMK) abgelöst.<br />

Bei dem neuen De nitionssystem ist nicht die Motivation einer Systemüberwindung,<br />

sondern die „tatauslösende politische Motivation“ (BT-Drs. 16/14122,<br />

S. 3) zentrales Bestimmungsmerkmal politisch motivierter Kriminalität. Demnach<br />

handelt es sich um politisch motivierte Kriminalität, wenn „in Würdigung der Umstände<br />

der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen,<br />

dass sie<br />

• den demokratischen Willensbildungsprozess beein ussen sollen, der Erreichung<br />

oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die Realisierung<br />

politischer Entscheidungen richten,


Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />

347<br />

• sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer Wesensmerkmale,<br />

den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes<br />

richten, oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern<br />

der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel haben,<br />

• durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen<br />

auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder<br />

• gegen eine Person gerichtet sind, wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität,<br />

Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft<br />

oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen<br />

Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status und die Tathandlung<br />

damit im Kausalzusammenhang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang<br />

gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet (Hasskriminalität).<br />

Oder<br />

• Tatbestände der echten Staatsschutzdelikte erfüllt sind; sie sind immer als<br />

PMK zu erfassen, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht<br />

festgestellt werden kann“ (BT-Drs. 17/7161, S. 45).<br />

Im neuen Denitionssystem werden die Fälle den entsprechenden Kategorien und<br />

Merkmalsgruppen zugeordnet (siehe Abbildung 1). Je nach ihrer Art, Ausmaß und<br />

Schwere, wird die Tat der Deliktqualität zugeordnet. Die größte Kategorie an Delikten<br />

machen Propagandadelikte aus, weswegen sie gesondert aufgeführt werden.<br />

Liegt eine „besondere Gewaltbereitschaft der Täter“ (Glet, 2011, S. 83) vor, wird<br />

eine Straftat in der Kategorie „politisch motivierte Gewaltkriminalität“ erfasst.


348 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />

Tabelle 1 De nitionssystem Politisch motivierte Kriminalität (nach Ziercke, 2006, S. 64).<br />

Propagandadelikte<br />

(§§ 86, 86a StGB)<br />

Hasskriminalität<br />

– Fremdenfeindliche<br />

Straftaten<br />

– Antisemitische<br />

Straftaten<br />

– Weitere<br />

Politisch motivierte<br />

Kriminalität – links<br />

Politisch motivierte<br />

Kriminalität (ohne<br />

Propagandadelikte)<br />

Kernenergie<br />

– Transport<br />

– Zwischenlager<br />

– weitere<br />

Politisch motivierte<br />

Kriminalität – rechts<br />

Deliktqualität<br />

Themenfelder<br />

Phänomenbereiche<br />

Politisch motivierte<br />

Gewaltkriminalität<br />

Separatismus<br />

– Z. B. ETA<br />

(baskische Untergrundorganisation)<br />

Politisch motivierte<br />

Ausländerkriminalität<br />

Internationale Bezüge<br />

Extremistische Kriminalität<br />

Terrorismus<br />

Weitere<br />

Themenfelder<br />

Sonstige bzw. nicht<br />

zuzuordnen<br />

Im zweiten Schritt der Kategorisierung wird die Straftat einem Themenfeld zugeordnet,<br />

wobei im Gegensatz zu den alten Meldesystemen nun auch Mehrfachnennungen<br />

möglich sind. Schließlich wird nach Berücksichtigung des Täterhintergrundes<br />

die Tat einem Phänomenbereich zugeordnet. Taten, bei denen ein Motiv<br />

der Systemüberwindung deutlich wird, werden zudem gesondert aufgeführt (vgl.<br />

Ziercke, 2006).<br />

3.2.3 Politisch motivierte Kriminalität – rechts<br />

Nach der neuen Unterscheidung sind politisch rechts motivierte Straftaten solche,<br />

die nach der „politischen Motivation der Täter“ so einzuschätzen sind bzw. „wenn<br />

die Tat bzw. die Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür (enthalten), dass diese<br />

auf Basis einer rechten Gesinnung begangen (wurden)“ (BMI & BMJ, 2006,<br />

S. 137). „Auf Basis „rechter Gesinnung“ meint hier, dass bei der Tat ganz oder teilweise<br />

Bezüge zu Rassismus, völkischem Nationalismus, Sozialdarwinismus oder<br />

Geschichtsrevisionismus (v. a. Leugnen der Shoa) erkennbar sind (vgl. Bongartz,<br />

2013; Feustel, 2011). Die gesonderte Kategorie Fremdenfeindlichkeit umfasst Delikte,<br />

die gegen Personen aufgrund ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Nationalität,<br />

Hautfarbe, Religion oder Herkunft gerichtet sind. In der weiteren Kategorie<br />

Antisemitismus werden Straftaten mit antijüdischer Haltung erfasst.


Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />

349<br />

Das neue System ermöglicht die Erfassung von politisch motivierter Kriminalität<br />

– rechts (PMK-rechts), auch wenn die Tat nicht explizit eine rechtsextreme<br />

Motivation besitzt. Bei dem neuen De nitionssystem ist es nicht mehr zwingend<br />

erforderlich, dass die Tat die Abschaffung der freiheitlich demokratischen Grundordnung<br />

zum Ziel hat oder haben muss. Das reale Ausmaß rassistischer Gewalt<br />

entsprach offenbar nicht den bis dahin gültigen theoretischen Vorannahmen. So<br />

heißt es dann auch folgerichtig im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht des<br />

Innenministeriums und des Justizministeriums aus dem Jahre 2006: „Aufgrund<br />

phänomenologischer Entwicklungsprozesse war eine realitätskonforme Abbildung<br />

des Straftatenaufkommens auf der Basis der am Extremismusbegriff orientierten<br />

Erfassung nicht mehr gewährleistet.“ (BMI & BMJ, 2006, S. 134)<br />

Die neue Denition ist relativ umfassend und erfasst z. B. auch sozialdarwinistisch<br />

motivierte Taten. Gleichwohl bleibt die Erfassung rechtsmotivierter Gewalt<br />

mit erheblichen Problemen verbunden, von denen einige im Folgenden exemplarisch<br />

dargestellt werden.<br />

4 Definition und Wirklichkeit<br />

Für die polizeiliche und juristische Aufarbeitung eines Tatgeschehens sind die detaillierte<br />

Rekonstruktion der Einzeltaten sowie die Zurechnung dieser Taten auf<br />

die jeweiligen Täter von zentraler Bedeutung: Täter können nur dann belangt werden,<br />

wenn ihnen konkrete Taten zweifelsfrei nachzuweisen sind bzw. zugeordnet<br />

werden können. Die Frage der Bewertung der Motivlage gestaltet sich allerdings<br />

schwieriger. Hier können allgemeine politische Motive oder bestimmte Vorurteile,<br />

pauschale Ablehnung einzelner Personengruppen etc., zu scheinbar klar unpolitischen<br />

direkten Tatmotiven hinzukommen. Gerade bei einer sozialwissenschaftlichen<br />

Herangehensweise ist der Blick auf das gesamte Tatgeschehen wichtig,<br />

auch „tatbegleitende“ Motive müssen beachtet werden. Denn die Vorstellung des<br />

Vorliegens eines isolierten tatauslösenden Motivs hat etwas stark vereinfachendes<br />

und „künstliches“: Bei vielen Taten wird eine Überlagerung verschiedener Motive<br />

deutlich, wobei es oft schwer ist, diese klar zu gewichten bzw. ein dominantes<br />

Motiv herauszunden. Handelt es sich z. B. um Raub, wenn man dem Opfer schon<br />

ansehen kann, dass es arm ist? Könnte es bei diesem Verbrechen nicht auch um<br />

Demonstration von Macht und Gewalt, um die Erniedrigung Schwächerer gegangen<br />

sein? Auch wenn das politische Motiv nur nebensächlich scheint, darf es nicht<br />

unterbewertet werden.<br />

Der Begriff „politisch motiviert“ erscheint vor dem Hintergrund vieler realer<br />

Tatabläufe wenig angemessen, da er sich als zu stark oder zu eng erweist. Eine


350 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />

zielgerichtete Umsetzung politischer Absichten ist nur in wenigen Fällen festzustellen.<br />

Festzustellen ist bei vielen Tätern der von uns untersuchten Fälle jedoch<br />

eine sehr schlichte, aber doch deutliche Gesinnung, insbesondere ein deutliches<br />

Feindbild. Die Täter geraten – manchmal durchaus eher zufällig – in Situationen<br />

(z. B. in Konikte), die von ihnen mit Hilfe ihrer „Ideologie“ interpretiert und bewältigt<br />

werden. Da sich diese oft letztlich auf ein Feindbild reduziert, agieren sie<br />

häug sehr brutal („Feindvernichtung“), wo andere vielleicht nur verbal oder gar<br />

nicht reagieren würden.<br />

Die anfängliche Einschätzung des diensthabenden Polizisten ist von zentraler<br />

Bedeutung für die weitere Bearbeitung des Falls (durch Polizei, Staatsanwaltschaft<br />

und Gericht), insbesondere auch für die Einstufung als politisch oder unpolitisch.<br />

Es ist zu bedenken, dass viele dieser Beamten kaum über Erfahrungen mit politisch<br />

motivierter Kriminalität verfügen, da diese nur einen sehr geringen Teil ihrer<br />

Alltagsarbeit ausmacht.<br />

Zudem ist die Arbeit der Polizei primär darauf ausgerichtet, das Verbrechen<br />

aufzuklären und die Täter zu nden. Im Mittelpunkt der polizeilichen Arbeit<br />

steht – in der Anfangsphase mit hoher Intensität – die kriminalistische Arbeit.<br />

Ausgehend von der Tatortarbeit wird das Tatgeschehen ermittelt und nach den<br />

Tätern gesucht. Dies geschieht in den meisten von uns untersuchten Fällen professionell<br />

und zügig: Die Zeugen werden in der Regel sofort befragt und die Täter<br />

meistens schnell gefunden. Die Fälle sind aus kriminalistischer Sicht meistens relativ<br />

schlicht strukturiert: Die Täter hinterlassen Spuren am Tatort, verhalten sich<br />

bei der Tatbegehung auffällig, äußern sich Dritten gegenüber zur Tat usw. und<br />

werden infolgedessen im Rahmen einfacher Routinearbeit schnell ermittelt. Im<br />

Kontext der Tataufklärung und der Suche nach dem Täter ist es für die Polizei oft<br />

gar nicht erforderlich, sich im Detail mit den Motiven zu befassen.<br />

Aber es sollte unserer Auffassung nach durchaus manchmal etwas genauer hingesehen,<br />

gefragt bzw. nachgefragt werden. Wir wollen an wenigen Beispielen illustrieren,<br />

wie sich die Problemstellung konkret aufzeigen lässt. Nehmen wir zum<br />

Beispiel einen Fall aus dem Jahre 2001. Tatort ist ein Plattenbau in der brandenburgischen<br />

Kleinstadt Wittenberge. Einer der für das Sektionsgutachten verantwortlichen<br />

Rechtsmediziner untersucht die Leiche schon am Tatort. Das Gutachten<br />

beginnt mit einer Beschreibung des Wohnhauses. U. a. ist hier zu lesen: „An<br />

den Wänden im Treppenhaus mehrfache Darstellungen in Form spiegelverkehrter<br />

Hakenkreuze.“ Im Tatortbericht der Polizei ndet sich kein Hinweis darauf. Zwar<br />

wird auf Schmierereien an der Wohnungstür und „blutfarbene Anhaftungen“ im<br />

Treppenhaus eingegangen. Die Hakenkreuze werden jedoch nicht erwähnt. Es soll<br />

hier nicht behauptet werden, dass damit ein politisches Motiv übersehen wurde,


Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />

351<br />

aber bemerkenswert bleibt die Notiz des Mediziners doch. Dem Tatortfundbericht<br />

ist zu entnehmen, dass Arzt und Polizei zeitgleich im Haus waren.<br />

Gelegentlich fehlt der Polizei offensichtlich auch der Überblick über rechtsextreme<br />

Strukturen vor Ort. Z. B. wird bei einem Fall von mehreren Zeugen und<br />

Beschuldigten ein Treffpunkt erwähnt, an dem man sich traf, um Alkohol zu trinken<br />

und sich zu unterhalten. Die Information, dass es sich hier um einen zentralen<br />

Neonazi-Treffpunkt gehandelt haben soll, ndet sich allerdings nur in einer „Antifa“-Broschüre.<br />

In den polizeilichen Ermittlungsakten nden sich keine derartigen<br />

Hinweise.<br />

Die Täterstruktur in den von uns untersuchten Fällen entspricht verbreiteten<br />

allgemeinen Vorannahmen: Es handelt sich fast ausschließlich um männliche Jugendliche,<br />

Heranwachsende und junge Erwachsene. Der Bildungsgrad ist in der<br />

Regel niedrig, die Familienverhältnisse sind oft zerrüttet und gewaltbestimmt,<br />

Alkoholmissbrauch spielt eine große Rolle. Sicherlich ist rechtsextreme Gewalt<br />

weithin Jugendgewalt; dissoziale Persönlichkeitsstörungen spielen eine große Rolle.<br />

Doch dürfen diese Aspekte auch nicht überbetont werden. 10 Bei einer Analyse<br />

rechtsextremer Tötungsdelikte müssen selbstverständlich auch und insbesondere<br />

die politischen Hintergründe und Bezüge angemessen berücksichtigt werden.<br />

Dazu ein weiterer exemplarischer Fall aus Brandenburg: Auf dem Grundstück<br />

eines älteren Ehepaars in Fürstenwalde treffen sich am 17. Juni 1993 mehrere Personen,<br />

um gemeinsam Alkohol zu trinken. Dabei gerät der Arbeitslose H. H. (geb.<br />

1955) zunächst in einen Streit mit dem ABM-Beschäftigten P. A. (geb. 1970) und<br />

dem Schüler M. K. (geb. 1977). Anschließend wird H. H. von den beiden Jüngeren<br />

stundenlang brutal misshandelt, woran er letztendlich stirbt.<br />

Das Opfer wird von beiden Tätern (insbesondere vor der Polizei und dem psychologischen<br />

Gutachter) als „dreckiger Assi“ und „Schnorrer“ stigmatisiert. Dies<br />

deutet auf eine sozialdarwinistische Motivation hin. Die Tatsache, dass der soziale<br />

Status der Täter kaum höher einzuschätzen ist als der des Opfers, spricht u.E. nicht<br />

gegen diese Annahme. Dass Angriffe auf sozial Benachteiligte von Tätern verübt<br />

werden, die selbst sozial marginalisiert sind, ist keineswegs ungewöhnlich. „Dieser<br />

Umstand verführt Behörden und Medien zu dem vorschnellen Schluss, der Angriff<br />

sei eine ‚Milieu-Tat‘. Doch auch in einem solchen Fall ist […] das Weltbild<br />

des oder der Täter_innen entscheidend“, schreibt auch Lucius Teidelbaum in seiner<br />

Studie über Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus (Teidelbaum, 2013, S. 68).<br />

Entscheidend ist offenbar auch, wie wir uns Rechtsextremisten vorstellen. So<br />

vermissen manche Forscher ein geschlossenes, gar geschultes rechtsextremes<br />

10 Dies geschieht u.E. z. B. bei Marneros (2005). Vgl. dazu die Kritik von Buschbom<br />

(2013).


352 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />

Weltbild: „Eine gnosiologisch fundierte rechtsextremistische Ideologie“ sei bei<br />

„rechtsextremistischen“ Gewalttätern „in der Regel nicht vorhanden“, konstatieren<br />

Marneros, Steil und Galvao (2005, S. 434), „und wenn, dann nur in oskelhafter<br />

oder gar skurriler Form“. 11 In unserem erwähnten Fall sehen sich beide Täter selbst<br />

aber klar als „Rechte“ und werden auch in ihrem Umfeld so wahrgenommen. Sicherlich<br />

verfügen sie über keine „intellektuelle“, „ausgefeilte“ Weltanschauung.<br />

Die stigmatisierenden Äußerungen der Täter fallen allerdings sehr deutlich aus<br />

(u. a. „der war schlecht, dreckig“, „ein niedriger Mensch, ein dreckiger Penner“)<br />

und werden von ihnen auch wiederholt vorgetragen. 12 Damit ist die Annahme einer<br />

politischen Motivation nach unserer Auffassung gerechtfertigt. In der PMK-Statistik<br />

ist dieser Fall bislang nicht enthalten.<br />

Bei fast allen von uns untersuchten Fällen (auch bei den als „unpolitisch“ kategorisierten)<br />

ist nachweisbar, dass die Täter über eine rechtsextreme Gesinnung<br />

verfügten oder zumindest Kontakte zu rechtsextremen Cliquen (Skinheads) hatten.<br />

Bei mehreren Fällen ist zwar eine unmittelbare Tatmotivation im Sinne einer<br />

„rechtsextremen“, menschenverachtenden oder rassistischen Motivlage nicht direkt<br />

nachweisbar. Gewaltneigung und Gewaltanwendung sind aber erkennbar durch die<br />

Zugehörigkeit zu einer „rechten“ Clique bzw. die Übernahme rechtsextremer Einstellungsmuster<br />

und Gesinnungen (z. B. Menschenbild, Gewalt als Problemlösung<br />

…) mindestens mit begünstigt worden. 13<br />

Ein weiteres Beispiel: Am 11. März 1992 wird eine vierzehnjährige Schülerin<br />

im Keller eines 10-stöckigen Neubauwohnhauses in Schwedt (Oder) von vier<br />

Tätern brutal ermordet. Im Urteil des Bezirksgerichts Frankfurt (Oder) heißt es<br />

dazu: „Über einen Zeitraum von etwa 5 Stunden haben sie mit immer neuen Steigerungen<br />

[das Opfer / Anm. Verf.] roh zu Tode gequält.“ Der gemeinschaftliche<br />

Mord wurde von drei Jugendlichen und einem jungen Erwachsenen aus Schwedt<br />

begangen.<br />

Dieser Fall wird bislang nicht in der PMK-Statistik aufgeführt. Auch aus unserer<br />

Sicht war die Tat nicht politisch motiviert. Ausgelöst werden die Misshandlungen<br />

anscheinend durch einen Beziehungskon ikt. Die weitere Eskalation des<br />

11 Ähnlich: Marneros, Steil & Galvao, 2003, S. 383f.<br />

12 Bezeichnenderweise äußert einer der Täter (M.K.) gegenüber dem psychologischen<br />

Gutachter: „Einmal habe ich vor einem halben Jahr einen verdroschen, der mich als<br />

Penner bezeichnete.“<br />

13 Siehe auch Bericht zur Untersuchung ausgewählter Tötungsdelikte der Jahre 1993 bis<br />

2008 in Sachsen-Anhalt (Ministerium für Inneres & Ministerium für Justiz, 2013).<br />

Hier wird bei mehreren Fällen, die letztlich als nicht politisch motiviert gewertet werden,<br />

immerhin die Argumentation angefügt, es sei aber möglich, dass die Brutalität<br />

mit der rechtsextremen Gesinnung zusammenhänge.


Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />

353<br />

Tatgeschehens scheint intrinsisch motiviert. Gleichwohl heißt es in einem psychologischen<br />

Gutachten 14 über einen der Täter (M. C., geb. 1976):<br />

„Seit der Wende fühlt der Jugendliche sich zu den Rechtsradikalen hingezogen. Er<br />

ist Mitglied rechtsradikaler Skinheads. Er fühlt sich dem betont aggressiven Umgangsstil<br />

dieser Skinheadgruppierungen deutlich verp ichtet und zeigt eine besondere<br />

Afnität zu aggressiven Bewältigungs- und Lösungsmodalitäten. Er sieht körperlich-aggressive<br />

Auseinandersetzungen als probates und legitimes Mittel sozialer<br />

Konikt- und Problembewältigung an. Diese Af nität dürfte durch seine Hinwendung<br />

zu rechtsradikalen Skinheadgruppierungen mitgeprägt sein.“<br />

Der Einuss der Skinheadkultur in den 1990ern in kleineren Städten Ostdeutschlands<br />

ist kaum zu überschätzen. Dies zeigt ein weiteres psychologisches Gutachten<br />

zu diesem Fall, in dem es heißt, die Angeklagte J. S. (geb. 1976) sei „… Mitglied<br />

von losen Cliquen bzw. Gruppierungen durchschnittlich 12-21-jähriger gewesen,<br />

wobei sie mit älteren besser zurechtkäme, habe sich selbst den ‚Linken‘ verbunden<br />

gefühlt, diese seien gegen die ‚Glatzen‘ eingestellt gewesen (‚weil die unschuldige<br />

Menschen verprügeln und Schutzgeld erpressen‘).“ Gleichwohl scheint sie die<br />

Brutalität der Skinheads auch zu beeindrucken. „Ich wollte auch mal jemanden so<br />

richtig verprügeln, wie das die Glatzen auch tun.“<br />

Ähnlich kritisch äußert sich noch ein weiterer Täter (R. S., geb. 1970) über die<br />

Skinheads. Im psychologischen Gutachten wird er wie folgt zitiert: „Ich nde sie<br />

ganz große Scheiße, ich bin gegen so was, sollen sie doch die Ausländer in Ruhe<br />

lassen und überhaupt.“ Trotz dieser Distanzierung scheint er aber deren brutale<br />

Methoden durchaus zu schätzen: “… allerdings habe er auch einiges von den Skinheads<br />

abgesehen. Die würden mit schweren Stiefeln auf andere eintreten.“<br />

Relevant sind rechtsextreme Einstellungen und Gruppenstrukturen insbesondere<br />

auch deshalb, weil sie an den persönlichen und sozialen Problemen Jugendlicher<br />

„andocken“ und deshalb für sie attraktiv werden. Dazu ein letztes Zitat aus einem<br />

psychologischen Gutachten:<br />

„Voller Wut und Ohnmachtsgefühle begann Herr B. eine Lehre, und nach seinem<br />

Umzug in ein Lehrlingswohnheim, weg von der aggressiven Kontrolle durch den Vater,<br />

fand er schnell Anschluss an eine Gruppe von jungen Leuten, die sich der rechten<br />

Gesinnung zugetan fühlten und sich mit massivem Alkoholmissbrauch gegenseitig<br />

die Erlaubnis gaben, Menschen auszurauben, zu prügeln und sogar zu töten. Dies<br />

entwickelte sich als Freizeitverhalten und wurde der Langeweile und Ödnis ihres<br />

sonstigen Daseins entgegengesetzt […].<br />

14 Die Verfahrensunterlagen inkl. der psychologischen Gutachten liegen uns vollständig<br />

vor. Aus Datenschutzgründen sind sie gleichwohl nicht allgemein zugänglich.


354 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />

Herr B. kann anschaulich beschreiben, wie sehr es ihm gefallen hat, als er bemerkte,<br />

dass andere Menschen Angst bekamen, dass sie (die Gruppe) machen konnten, was<br />

sie wollten und niemand in der Lage war, sie aufzuhalten. Er fühlte sich zum ersten<br />

Mal in seinem Leben anerkannt, so akzeptiert wie er war und in einem Verbund<br />

aufgenommen, der die familiären Bedürfnisse befriedigte. Er hatte die Opfergruppe<br />

verlassen und war Mitglied einer Tätergruppe geworden.“<br />

5 Zusammenfassung<br />

Gegenüber den älteren an „Staatsschutz“ und „Extremismus“ orientierten De -<br />

nitionsansätzen politischer Gewalt bzw. Kriminalität und den entsprechenden<br />

polizeilichen Erfassungssystemen stellt das Denitionssystem Politisch motivierte<br />

Kriminalität (PMK) unzweifelhaft eine deutliche Verbesserung dar. Gleichwohl<br />

stellt das Erkennen entsprechender Motivlagen bzw. Relevanzen weiterhin erhebliche<br />

Anforderungen an die Analysekompetenz der Polizei. Der Themenkomplex<br />

PMK sollte somit in der Aus- und Fortbildung gebührend berücksichtigt werden.<br />

Grundsätzlich sollte aber das polizeiliche Erfassungssystem nicht überbewertet<br />

und mit Erwartungen überfrachtet werden. Es handelt sich um eine polizeiliche<br />

Ersteinschätzung (Eingangsstatistik). Insofern sollte eine Einstufung einer Tat als<br />

PMK-Tat eben noch kein Ausdruck einer „staatlichen Anerkennung“ sein oder so<br />

gewertet werden. 15<br />

Es hat sich bei unserer Untersuchung allerdings gezeigt, dass Einstellungen,<br />

Ideologien und Ideologiefragmente auch dann berücksichtigt werden müssen,<br />

wenn sie die Tat eher nur begleiten und nicht konsistent greifbar sind, weil sie<br />

trotzdem mögliche Einussfaktoren auf (Gewalt-)Handeln darstellen.<br />

Es zeigte sich z. B. in mehreren Fällen, dass trotz Zugehörigkeit zu einem anscheinend<br />

gleichen Milieu doch „Ideologien der Ungleichwertigkeit“ wirksam<br />

werden können, dass sich einzelne Individuen durch Herabwertung anderer, vermeintlich<br />

oder tatsächlich sozial noch schwächerer Personen aufwerten und dies<br />

zur „Begründung“ für gewalttätiges Verhalten dient.<br />

In anderen Fällen wurde deutlich, wie die in den 1990er Jahren omnipräsente<br />

rechtsextreme Jugendkultur auch auf nicht-rechte Jugendliche ausstrahlte. So wur-<br />

15 Die Gleichsetzung einer PMK-Einstufung mit staatlicher Anerkennung ist in der Literatur<br />

verbreitet vorzufinden. Allerdings zeigt die gelegentliche Praxis nachträglicher<br />

Einstufungen, dass die PMK-Statistik doch keine reine Eingangsstatistik ist. Hier sollte<br />

über alternative Verfahren nachgedacht werden, um eine angemessene staatliche<br />

Dokumentation von vorurteilsgeleiteten und politisch motivierten Straftaten zu gewährleisten<br />

(vgl. auch Fussnote 8).


Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />

355<br />

de gewalttätiges Handeln, da als erfolgreich beobachtet, als Verhaltensoption übernommen.<br />

Anders ausgedrückt: Die rechtsextreme Jugendszene beein usste ganz<br />

offensichtlich Wertvorstellungen und Handlungen auch von Jugendlichen, die sich<br />

selbst der Szene nicht zurechneten.<br />

Nach Durchsicht der Fallakten halten wir einen engen Motivbegriff für ungeeignet,<br />

die oft komplexen und vielschichtigen Gewalttaten umfassend beschreiben<br />

und erklären zu können. Man sollte vielleicht von der Begrif ichkeit „motiviert“<br />

Abstand nehmen, denn Motive sind schwer greifbar. Täter können eigenes Handeln<br />

nicht immer selbst konsistent begründen. Auf der anderen Seite können Täter<br />

ihre Motivation auch verschleiern, um mögliche negative Konsequenzen zu minimieren.<br />

Insgesamt müssen die Theorien, Denitionen und Erfassungskriterien, die den<br />

Komplex der vorurteilsgeleiteten, der politisch motivierten und der Hasskriminalität<br />

beschreiben, auf den Prüfstand. Dies ist zuvorderst eine wissenschaftliche und<br />

politische Aufgabe, sie betrifft aber auch Polizei und Justiz.


356 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />

Literatur<br />

Bannenberg, B., Rössler, D. & Coester, M. (2006). Hasskriminalität, extremistische Kriminalität.<br />

Politisch motivierte Kriminalität in Deutschland. In R. Egg (Hrsg.), Extremistische<br />

Kriminalität: Kriminologie und Prävention (S. 17 – 60).Wiesbaden: KrimZ.<br />

Bundesministerium des Inneren (2014). Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2013.<br />

Die Zahl der politisch motivierten Straftaten ist im Jahr 2013 in Deutschland deutlich<br />

angestiegen. Zugriff am 22.09.2015 http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2014/04/politisch-motivierte-kriminalitaet-2013.html<br />

Bundesministerium des Inneren (o.J.). Politisch motivierte Kriminalität. Zugriff am<br />

22.09.2014 http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/Sicherheit/Kriminalitaetsbekaempfung/Politisch-motivierte-Kriminalitaet/politisch-motivierte-kriminalitaet_node.html<br />

Bundesministerium des Inneren & Bundesministerium für Justiz (2001). Erster periodischer<br />

Sicherheitsbericht. Berlin: Bundesministerium des Inneren & Bundesministerium<br />

der Justiz.<br />

Bundesministerium des Inneren & Bundesministerium für Justiz (2006). Zweiter periodischer<br />

Sicherheitsbericht. Berlin: Bundesministerium des Inneren & Bundesministerium<br />

der Justiz.<br />

Bongartz, B. (2013). Hassverbrechen und ihre Bedeutung in Gesellschaft und Statistik.<br />

Zum Dilemma der Wahrnehmbarkeit vorurteilsmotivierter Straftaten. Mönchengladbach:<br />

Forum Verlag Godesberg.<br />

Böttger, A., Lobermeier, O. & Plachta, K. (2014). Opfer rechtsextremer Gewalt. In W. Heitmeyer.<br />

(Hrsg.), Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration. Wiesbaden:<br />

VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

BT-Drs 17/1928: 2f – Deutscher Bundestag Drucksache 17/1928 (07.06.2010): Antwort<br />

der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte,<br />

Wolfgang Neskovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache<br />

17/1630 – Politisch motivierte Kriminalität. Zugriff am 02.09.2014 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/019/1701928.pdf<br />

BT-Drs. 14/4261: 3 – Deutscher Bundestag Drucksache 14/4261(11.10.2000): Antwort der<br />

Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau und<br />

der Fraktion der PDS – Drucksache 14/4102 – Erfassungsmerkmale für Tötungsdelikte<br />

aus rechtsextremer und ausländerfeindlicher Motivation. Zugriff am 22.09.2014 http://<br />

dipbt.bundestag.de/doc/btd/14/042/1404261.pdf<br />

BT-Drs. 14/7003: 2 – Deutscher Bundestag Drucksache 14/7003 (01.10.2001): Antwort der<br />

Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion<br />

der PDS – Drucksache 14/6870 – Rechtsextrem motivierte Tötungsdelikte gegen<br />

Obdachlose und deren Erfassung. Zugriff am 22.09.2014 http://dipbt.bundestag.de/doc/<br />

btd/14/070/1407003.pdf<br />

BT-Drs. 16/14122 – Deutscher Bundestag Drucksache 16/14122 (07.01.2009): Antwort der<br />

Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Petra Pau, Wolfgang Neskovic,<br />

Sevim Dag delen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache<br />

16/12005 – Rechtsextreme Tötungsdelikte seit 1990 und antisemitisch motivierte<br />

Schändungen jüdischer Friedhöfe seit 2000. Zugriff am 18.09.2014 http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/141/1614122.pdf<br />

BT-Drs. 16/14122: 2 – Deutscher Bundestag Drucksache 17/1928 (07.06.2010): Antwort<br />

der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte,


Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />

357<br />

Wolfgang Neskovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache<br />

17/1630 – Politisch motivierte Kriminalität. Zugriff am 22.09.2014 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/019/1701928.pdf<br />

BT-Drs. 17/14753 – Deutscher Bundestag Drucksache 17/14753 (06.09.2013):Antwort der<br />

Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker<br />

Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/<br />

DIE GRÜNEN – Drucksache 17/14545 – Polizeiliche Datensysteme zur Erfassung und<br />

Analyse Politisch motivierter Kriminalität – rechts. Zugriff am 22.09.2014 http://dip21.<br />

bundestag.de/dip21/btd/17/147/1714753.pdf<br />

BT-Drs. 17/7161: 3 – Deutscher Bundestag Drucksache 17/7161 (27.09.2011): Antwort der<br />

Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Petra Pau, Jan Korte, Sevim<br />

Dag delen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache<br />

17/5303 – Mindestens 137 Todesopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland<br />

seit 1990. Zugriff am 12.09.2014 http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/071/1707161.pdf<br />

Buschbom, J. (2013). Anlass oder Legitimation? Zum Verhältnis zwischen rechter Gewalt<br />

und Ideologie. In: Totalitarismus und Demokratie, 10/2013, 301 – 323.<br />

Cöster, M. (2008). Das Konzept der Hate Crimes aus den USA unter besonderer Berücksichtigung<br />

des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag.<br />

Erkol, A. & Winter, N. (2013). 184 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990. Zugriff am<br />

14.09.2014 https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990<br />

Ermert, M. (2007). Der Extremismus im Strafrecht. Eine begriffskritische Analyse auf sozialwissenschaftlicher<br />

und verfassungsrechtlicher Grundlage. Herbolzheim: Centaurus<br />

Verlag.<br />

Falk, B. (2001). Der Stand der Dinge. Anmerkungen zum Lagebild <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />

Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit (Vortrag auf der Herbsttagung des BKA am<br />

22.11.2000). Kriminalistik 2001, Heft 1, 9 – 20.<br />

Feustel, S. (2011). Tendenziell tendenziös. Die staatliche Erfassung politisch motivierter<br />

Kriminalität und die Produktion der »Gefahr von links«. In Forum für kritische <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />

(Hrsg.), Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen<br />

des Extremismus-Modells (S. 143 – 162). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften..<br />

Glet, A. (2011). Sozialkonstruktion und strafrechtliche Verfolgung von Hasskriminalität in<br />

Deutschland. Eine empirische Untersuchung polizeilicher und justizieller De nitionsund<br />

Selektionsprozesse bei der Bearbeitung vorurteilsmotivierter Straftaten. Berlin:<br />

Dunker & Humblot.<br />

Half, F. (2009). Entwicklung der rechtsextremistisch-motivierten Straftaten in der Bundesrepublik<br />

Deutschland. In H. Ostendorf (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong>. Eine Herausforderung<br />

für das Strafrecht und die Strafjustiz (S. 15-24). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.<br />

Willems, H., Wirtz, S. & Eckert, R. (1994). Analyse fremdenfeindlicher Straftaten (Texte<br />

zur Inneren Sicherheit, hrsg. vom Bundesminister des Innern), Bonn.<br />

Holzberger, M. (2013). Änderung tut not! Über die Malaize der polizeilichen Erfassung<br />

politisch motivierter Kriminalität in Deutschland. In Opferperspektive e.V. (Hrsg.), Rassistische<br />

Diskriminierung und rechte Gewalt. An der Seite der Betroffenen beraten, informieren,<br />

intervenieren (S. 74 – 83). Münster: Westfälisches Dampfboot.


358 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />

Krupna, K. (2010). Das Konzept der „Hate Crimes“ in Deutschland. Eine systematische<br />

Untersuchung der Kriminalitätsform, der strafrechtlichen Erfassungsmöglichkeiten de<br />

lege lata und der Verarbeitung in der Strafpraxis. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag.<br />

Maihofer, W. (1974). Politische Kriminalität. In M. Funke (Hrsg.), Extremismus im demokratischen<br />

Rechtsstaat. Ausgewählte Texte und Materialien zur aktuellen Diskussion<br />

(S. 327 – 334). Bonn: Schriftreihe der Bundeszentrale für politische Bildung.<br />

Marneros, A. (2005). Blinde Gewalt. Frankfurt am Main: Scherz.<br />

Marneros, A., Steil, B. & Galvao, A. (2003). Der soziobiographische Hintergrund rechtsextremistischer<br />

Gewalttäter. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Heft<br />

5/2003, 376 – 387.<br />

Marneros, A., Steil, B. & Galvao, A. (2005). Zur Schuldfähigkeit der rechtsextremistischen<br />

Gewalttäter. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, Heft 4/2005, 434 –<br />

437.<br />

Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt & Ministerium für Justiz<br />

und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt (Hrsg.). (2013). Rechts motiviert? Bericht<br />

zur Untersuchung ausgewählter Tötungsdelikte der Jahre 1993 bis 2008 in Sachsen-<br />

Anhalt, Magdeburg: Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt &<br />

Ministerium für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt.<br />

Perry, B. (2001). In the name of Hate: Understanding Hate Crime. New York: Routledge.<br />

Porath, J. (2013). Das wahre Ausmaß anerkennen – Todesopfer rechter Gewalt im Land<br />

Brandenburg. In Opferperspektive e.V. (Hrsg.), Rassistische Diskriminierung und rechte<br />

Gewalt. An der Seite der Betroffenen beraten, informieren, intervenieren (S. 84 – 97).<br />

Münster: Westfälisches Dampfboot.<br />

Schneider, H. J. (2009). Hass- und Vorurteilskriminalität. In H. J. Schneider (Hrsg.), Internationales<br />

Handbuch für Kriminologie. Band 2: Besondere Probleme der Kriminologie<br />

(S. 297 – 338). Berlin: De Gruyter Recht.<br />

Teidelbaum, L. (2013). Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus. Münster: Unrast.<br />

Willems, H. (2001). Strukturen und Entwicklungen politisch motivierter Kriminalität in<br />

Deutschland. In D. Dölling (Hrsg.), Politischer Extremismus, Jugendkriminalität und<br />

Gesellschaft (S. 31 – 70). Hannover: Landgruppe Baden-Württemberg in der Deutschen<br />

Vereinigung für Jugendliche und Jugendhilfen.<br />

Willems, H. (2002). Rechtsextremistische, antisemitische und fremdenfeindliche Straftaten<br />

in Deutschland: Entwicklung, Strukturen, Hintergründe. In Th. Grumke, & B. Wagner<br />

(Hrsg.), Handbuch Rechtsradikalismus. Personen – Organisationen – Netzwerke vom<br />

Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft (S. 141-15). Opladen: Leske + Budrich.<br />

Ziercke, J. (2006). Lagebild extremistischer Kriminalität in Deutschland. In R. Egg (Hrsg.),<br />

Extremistische Kriminalität: Kriminologie und Prävention. Wiesbaden: KrimZ. S. 61 –<br />

108.


Demokratieferne Rebellionen<br />

Pegida und die Renaissance völkischer<br />

Verschwörungsphantasien<br />

Samuel Salzborn<br />

Es bedarf schon eines guten Gedächtnisses, um sich die Abkürzungen und Slogans,<br />

unter denen das rassistische und verschwörungsphantastische Milieu in den<br />

letzten Monaten auf die Straße gegangen ist, alle zu merken: Neben den HoGeSa<br />

(„Hooligans gegen Sala sten“) und der Pegida („Patriotische Europäer Gegen<br />

die Islamisierung des Abendlandes“) bildeten sich lokale Ableger, die unter Abkürzungen<br />

wie Ogida, Rogida, Kagida, Saargida, Dügida, Kögida oder Bogida<br />

operierten. Schon vor der ersten HoGeSa-Demonstration in Köln hatten sich in<br />

separaten Mahnwachen prorussische und antiamerikanische Friedensbewegte regelmäßig<br />

zu „Montagsdemonstrationen“, später dann für einen „Friedenswinter“<br />

versammelt.<br />

Überraschend an diesen Demonstrationen war weniger ihr fortwährender Etikettenwechsel,<br />

sondern die scheinbar unvorhersehbare Menge an Menschen, die<br />

an den Demonstrationen teilgenommen hat und deren Zahl regelmäßig in die<br />

Tausende ging. Um die Dynamik der Ereignisse einordnen zu können, sollte man<br />

aber nicht vorschnell der Marketingstrategie der Organisatoren folgen, nach der<br />

sich „ganz normale Bürger“ versammelt hätten – denn es handelte sich vielmehr<br />

um ein sehr spezisches Spektrum von Personen, das deshalb lange Zeit politisch<br />

nicht mobilisierbar war, weil gerade sein Egoismus und sein demokratiefernes<br />

Weltbild es daran gehindert hat, öffentlich in Erscheinung zu treten. Das politische<br />

Klima und damit der Kontext, in dem sich diese Demonstrationen abspielen, hat<br />

sich aber geändert, mit der „Alternative für Deutschland“ (AfD) ist eine Partei –<br />

zumindest vorübergehend (Kurth & Salzborn, 2014) – bei Wahlen erfolgreich, die<br />

genau dasselbe Klientel anspricht und insofern dazu motiviert, von ihren Stamm-<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


360 Samuel Salzborn<br />

tischen aufzustehen und die Online-Kommentarspalten zu verlassen und sich in<br />

die tatsächliche Wirklichkeit zu wagen (Salzborn, 2012, S. 114-117).<br />

1 Protestmotivationen: Egoismus und Demokratieferne<br />

Egoistisch ist der gegenwärtige Protest, weil es nicht ernsthaft um Angst vor etwas,<br />

sondern um Angst um etwas geht: um die eigenen (gefühlten) Privilegien. Diese<br />

Privilegien werden als gefährdet wahrgenommen und verbunden mit nationalem<br />

Pathos, in dem eine Vielzahl der Demonstranten eigentlich nur deshalb Kritik an<br />

der Politik formuliert, weil diese nicht die jeweils subjektiven, höchst persönlichen<br />

Partikularinteressen durchsetzt. Diese nicht auf den wirklichen Lebensumständen,<br />

sondern lediglich auf einer falschen Selbstwahrnehmung basierende Grundhaltung<br />

zeigte sich auch in den repräsentativen Daten des ARD-Deutschlandtrends<br />

vom Januar 2015, in dem Pegida-Sympathisanten die Sicherheit ihrer persönlichen<br />

Lebensumstände generell als signikant schlechter wahrnehmen, als der Rest der<br />

Bevölkerung.<br />

Eine empirische Studie der TU Dresden unter Leitung von Hans Vorländer,<br />

die im Dezember 2014 und Januar 2015 bei mehreren der Pegida-Veranstaltungen<br />

erhoben wurde, zeigt, dass der „typische“ Pegida-Demonstrant aus der Mittelschicht<br />

kommt, gut ausgebildet ist und für die regionalen Verhältnisse über ein<br />

leicht überdurchschnittliches Einkommen verfügt und berufstätig ist. Überdies ist<br />

er 48 Jahre alt, männlich und religiös wie auch parteilich ungebunden. Nur ein<br />

Viertel der Befragten ist dabei tatsächlich durch die Themenfelder „Islam, Islamismus<br />

oder Islamisierung“ motiviert. (Vorländer, 2015) Eine explorative Studie des<br />

Göttinger Instituts für Demokratieforschung unter Leitung von Franz Walter hat<br />

diese Erkenntnisse grundsätzlich bestätigt und darüber hinaus gezeigt, dass die<br />

politische Sympathie bei den Pegida-Anhängern in überwältigendem Maße bei der<br />

AfD liegt. (Walter, 2015)<br />

Und deshalb ist die besagte Klientel auch als demokratiefern zu bezeichnen:<br />

Denn in einer Demokratie wird über Interessenkonikte gestritten und es ist nötig,<br />

Mehrheiten zu erlangen, wenn man die eigenen Position umgesetzt sehen möchte.<br />

Mit Meckern und Nörgeln kommt man nicht weit, das ewige Lamento von „denen<br />

da oben“, die sowieso nur machten, was sie wollen, ist zugleich auch das Lamento<br />

einer extrem politikfaulen Klientel, die sich bequem darin eingerichtet hat, selbst<br />

nicht politisch aktiv werden zu müssen, in Parteien, Gewerkschaften oder anderen<br />

Interessenorganisationen. Die Angebote, die auf den friedensapologetischen Verschwörungsmahnwachen<br />

und den rassistischen Pegida-Demonstrationen gemacht<br />

werden, versprechen nun aber den Teilnehmern etwas anderes: Durch ein punk-


Demokratieferne Rebellionen<br />

361<br />

tuelles Engagement „denen da oben“ einmal zu zeigen, dass „das Volk“ anders<br />

denke – das bleibt freilich eine Lüge, weil ein paar Tausend Demonstranten immer<br />

noch eine verschwindende Minderheit sind, die unbotmäßig viel mediale Aufmerksamkeit<br />

bekommt und die, mit dem Zeitpunkt, an dem die Aufmerksamkeit<br />

nachlassen wird, in ihre Verschwörungsmuster zurückfallen wird, nach denen nun<br />

eben ihre Meinung wieder nicht repräsentiert sei.<br />

Den Zulauf, den die Demonstrationen zur Zeit haben, erklärt also nicht nur ihr<br />

Inhalt, sondern mehr noch ihr Kontext: die Angst vor Krieg und Terrorismus in<br />

der Bevölkerung ist groß, das Thema ist politisch und medial generell auch ohne<br />

Pegida sehr präsent, so dass gegenwärtig auch noch so verrückte Anliegen als<br />

weniger verrückt erscheinen, weil sie sich im Fahrwasser einer allgemeinen Besorgtheit<br />

bewegen. Und dabei gibt es die Demonstrationen gegen „Überfremdung“<br />

oder „Islamisierung“ seit Jahren und auch die antiamerikanische und prorussische<br />

Stoßrichtung der deutschen Friedensbewegung war schon in den 1980er Jahren<br />

groß (Herzinger & Stein, 1995). Das von Pegida verwandte Schlagwort „Islamisierung“<br />

ist dabei lediglich ein Vorwand, um rassistische und völkische Positionen<br />

wieder öffentlich zu platzieren (Salzborn, 2014). Außerdem darf man nicht vergessen:<br />

die rechte Szene hat gerade in Sachsen in den letzten Jahren immer wieder<br />

in ähnlicher Größenordnung mobilisieren können und auch die rechtsextremen<br />

Demonstrationen gegen die Wehrmachtsausstellung in den 1990er Jahren gingen<br />

in die Tausende, was die Teilnehmerzahlen angeht. Und allein in Dresden, dem<br />

Kristallisationspunkt der rassistischen Pegida-Bewegung, kamen NPD und AfD<br />

bei der letzten Landtagswahl im August 2014 zusammen auf 27.861 Zweitstimmen<br />

(Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, 2014).<br />

Nun ist sicher richtig, dass nicht jeder, der an diesen Demonstrationen teilnimmt,<br />

ein Neonazi ist (auch wenn aus diesem Milieu stark mobilisiert und teilgenommen<br />

wird); gleichwohl zeigt sich gegenwärtig das tatsächliche Mobilisierungspotenzial,<br />

das die rechte und antidemokratische Szene in der Bundesrepublik<br />

hat: Zusammengesetzt aus einem russlandnahen, antisemitischen und antiamerikanischen<br />

Friedensbewegungsspektrum, das sich selbst oft sogar als links versteht<br />

und einem offen rassistischen Milieu mit kriminellen Tendenzen, die sich nicht nur<br />

bei dem einschlägig vorbestraften Hauptorganisator der Pegida-Bewegung zeigen,<br />

sondern sich auch massenhaft im gesamten Hooligan-Milieu nden. Ein wichtiger<br />

Unterschied zwischen beiden Spektren ist dabei allerdings ihre soziale Heterogenität:<br />

Während die antiamerikanischen Friedensdemonstrationen eine erhebliche<br />

Zugkraft auf gesellschaftlich tendenziell desintegrierte Personen ausüben, wird<br />

der rassistische Pegida-Protest getragen von sozial mehr oder weniger etablierten<br />

und situierten Personen, die um den Verlust ihres sozialen Status fürchten, ohne<br />

dass dieser wirklich bedroht wäre. Eine FoLL-Studie an der Georg-August-Uni-


362 Samuel Salzborn<br />

versität Göttingen (Büdenbender, Uhlemann, Drögemeier, Eisen & Weiss, 2014)<br />

konnte dabei zeigen, dass bei den Friedensdemonstrationen ein erhebliches Moment<br />

der sozialen Integration darin besteht, dass ihre Teilnehmer – oft: erstmalig<br />

in ihrem Leben – bei der Teilnahme nicht mehr das Gefühl haben, „der Spinner“<br />

zu sein, sondern sich mit zahlreichen Gleichgesinnten zusammennden und insofern<br />

ihre objektiv nach wie vor bestehende Verrücktheit nun allein dadurch, dass<br />

sie sozial geteilt wird, nicht mehr als solche empnden und dadurch auch emotional<br />

gestärkt werden.<br />

2 Das Weltbild der Verschwörungsängste<br />

Das Moment des Verschwörungsglaubens verbindet denn auch weltanschaulich<br />

beide Flügel der aktuellen Demonstrationen: die einen glauben an eine Verschwörung<br />

internationaler Mächte, die anderen an die einer multikulturellen Gesellschaft,<br />

beide phantasieren geheime Aktivitäten von Politik und Medien, die angeblich den<br />

Protest „des Volkes“ begrenze oder unterdrücke, wobei den Sicherheitsbehörden<br />

jeweils eine zentrale Rolle zugesprochen wird, weil sie entweder nicht (angemessen)<br />

handeln oder weil sie den Protest zu limitieren versuchen würden. Während<br />

demokratische Medien dabei als „Lügenpresse“ verunglimpft werden, nur weil<br />

sie die rassistischen Partikularinteressen eben auch als solche benennen, werden<br />

Propagandamedien wie dubiose Internetblogs oder das russische Fernsehen glori-<br />

ziert – weil sie den eigenen Wahn zur Wahrheit erklären.<br />

Die konkreten Verschwörungsmythen werden dabei fast so schnell produziert,<br />

wie die Ereignisse statt nden – was mit der Logik der Verschwörung zu tun hat:<br />

Sie bedarf keiner Fakten, keiner Realität, keiner Wirklichkeit außer ihrer selbst,<br />

um zu funktionieren. Es bedarf stets nur eines Anlasses, nicht einer Ursache, damit<br />

Verschwörungsphantasien formuliert werden – denn ihre jeweils eigene hermetische<br />

Wahnwelt funktioniert in ihrer Struktur ganz unabhängig von der Wirklichkeit,<br />

da sie in keiner Weise an empirische oder historische Fakten gebunden<br />

ist, sondern lediglich mit einem Phantasieweltbild korrespondiert, das jederzeit<br />

reformulierbar, jederzeit reproduzierbar und damit auch jederzeit in Variationen<br />

abrufbar ist.<br />

Kaum ein politisches Ereignis bleibt frei von entsprechenden Verschwörungsmythen<br />

– mögen es so offensichtlich verrückte Ideen wie der Ein uss von außerirdischen<br />

Lebensformen auf die Weltpolitik sein oder auch die zahlreichen, bis<br />

ins minutiöse Detail ausphantasierten Wahnvorstellungen über die amerikanische<br />

Politik, insbesondere im Kontext mit dem internationalen Terrorismus (Beyer,<br />

2014; Jaecker, 2014). Selbst nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris im


Demokratieferne Rebellionen<br />

363<br />

Januar dieses Jahres dauerte es nur Stunden, bis dubiose Internetblogs voll waren<br />

mit antiamerikanischen und antisemitischen Verschwörungsmythen rund um die<br />

Anschläge. Aber auch der Glaube an eine „Islamisierung des Abendlandes“ gehört<br />

zu diesen Mythen, denn sind die Migrationsprozesse in Deutschland gegenwärtig<br />

zwar wieder deutlich wahrnehmbarer, aber doch sowohl im Vergleich mit den<br />

1990er Jahren wie auch mit der Aufnahme von Flüchtlingen durch andere, besonders<br />

außereuropäische Staaten als vergleichsweise gering zu bewerten.<br />

Verschwörungsmythen werden dabei geglaubt, nicht obwohl, sondern weil sie<br />

erfunden sind und weil sie im Widerspruch zu allen Erkenntnissen stehen, die mit<br />

der Realität korrespondieren. Deshalb wird es auch nicht möglich sein, dem Anhänger<br />

einer Verschwörungsphantasie diese individuell zu widerlegen: Er glaubt<br />

sie, weil sie irrational ist – und jeder Beleg dieser Irrationalität wird wieder in das<br />

Wahnweltbild des großen Verschwörungsglaubens integriert. Genau deshalb bleibt<br />

die aktive Beteiligung an den gegenwärtigen Demonstrationen und Mahnwachen<br />

auch relativ konstant: weil sie den Teilnehmern die Möglichkeit gibt, in einem<br />

Weltbild, mit dem sie in ihrem normalen Leben als verrückt gelten, sozial und<br />

emotional durch die Verbindung mit anderen stabilisiert zu werden.<br />

Dabei geht es um Phantasien von einer regredierten Welt, dem Traum von<br />

einem harmonischen und widerspruchsfreien Selbst, in dem alles nur einer Logik<br />

gehorcht, nämlich der eigenen – keine Widersprüche, keine Ambivalenzen, nur<br />

Identität. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1900, S. 625) hat das begrif ich<br />

in der Unterscheidung von „materieller Realität“ und „psychischer Realität“ gefasst<br />

– die Verschwörungsphantasien als psychische Realität sind dabei nahezu<br />

hermetisch von der materiellen Realität abgekoppelt: als Wahnvorstellungen, die<br />

einer identitären und widerspruchsfreien Logik folgen, die nur in der Logik der<br />

jeweils eigenen Psyche funktioniert. Alles kreist um das überhöhte Selbst, das sich<br />

dem egoistischen Größenwahn hemmungslos hingibt, aus sich selbst heraus die<br />

Welt zu deuten. (Salzborn, 2010, S. 317-342) Nur, und das macht den aggressiven<br />

Zorn vieler Verschwörungsphantasien aus, dass die Welt sich fortwährend nicht so<br />

verhält, wie es der Verschwörungsanhänger gern hätte, dass ihm niemand glaubt,<br />

wo doch er – und nur er – es besser weiß als alle anderen.<br />

3 Strategien des Umgangs<br />

Auch wenn verständlich ist, dass manche sagen, man müsse die Sorgen, die die<br />

Menschen bei diesen Demonstrationen umtreiben, ernst nehmen, darf man dabei<br />

einen Fehler nicht machen: die Demonstranten sorgen sich nicht um wirkliche<br />

politische oder gesellschaftliche Probleme, sie sorgen sich ausschließlich um sich


364 Samuel Salzborn<br />

selbst. Die Probleme und Ängste, die sie haben, mögen real sein – eine ernsthafte<br />

Grundlage und damit Berechtigung haben sie nicht. Der Fehler liegt nicht<br />

im politischen System, sondern bei den Demonstranten, genauer gesagt: bei ihrer<br />

Demokratieferne. Sie haben nicht verstanden, dass Demokratie die Herrschaft des<br />

Volkes ist, bei dem Mehrheiten auf der Basis von Wahlen entscheiden – und nicht<br />

diejenige, die glauben, sie würden den „Volkswillen“ nur deshalb vertreten, weil<br />

sie es immer wieder behaupten (Salzborn, 2015). Deshalb ist genau die umgekehrte<br />

Konsequenz politisch geboten: Nicht den Forderungen der Demonstranten nachzugeben,<br />

sondern ihnen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Auch diese<br />

Menschen können verstehen lernen, dass nicht ihr egoistischer Wille in der Politik<br />

umgesetzt wird, sondern das, was in langwierigen und debattenintensiven politischen<br />

Prozessen ausgehandelt wird. Demokratie ist Repräsentation – was aktuell<br />

auf die Straße getragen wird, ist nicht der Protest für mehr oder bessere Demokratie,<br />

sondern der Protest gegen die Demokratie – und dafür, dass diejenigen, die<br />

dort demonstrieren, selbst die Macht haben wollen, ihre egoistischen Partikularinteressen<br />

als Gemeinwohl zu verkaufen. Dass das eine Lüge ist, ist jedem klar – insofern<br />

darf nicht verwechselt werden, dass der Protest auf der Straße nicht weniger<br />

ist als ein verschwörerischer und rassistischer Protest gegen die Demokratie und<br />

ihre Organe.<br />

Wer heute als Rassist auf die Straße geht und sich gegen die Gefahren von<br />

Islamisierung und Salasmus wendet, kann sich sicher sein, dass er damit gegen<br />

ein Thema protestiert, das tatsächlich vielen Menschen Angst macht, weil der Islamismus<br />

fraglos eine massive Bedrohung der offenen Gesellschaft und der individuellen<br />

Freiheiten, wie sie die westlichen Demokratien versprechen und weitgehend<br />

garantieren, darstellt. Bisher gelingt es aber den Sicherheitsbehörden in<br />

Deutschland relativ erfolgreich, die realen Gefahren, die von radikalen Islamisten<br />

in Deutschland ausgehen, abzuwägen und gegen sie vorzugehen – was Fehler<br />

und Mängel keineswegs schönreden soll. Eine „Islamisierung des Abendlandes“<br />

ist jedoch eine freie Er ndung, sie ist ein apokalyptisches Szenario, dass die Gedankenwelt<br />

der Weimarer Republik wieder aufruft – als Oswald Spengler (1918,<br />

1922) mit seinem zweibändigen Werk über den „Untergang des Abendlandes“ die<br />

irrationalen Ängste mobilisierte, die den Aufstieg des Nationalsozialismus ermöglichten.<br />

Und genau das ist das Ziel der Gruppen, die heute als Pegida – oder mit<br />

welchen Abkürzungen auch immer – durch die Straßen ziehen: die Formulierung<br />

von apokalyptischen, ausweglosen Szenarien, in denen scheinbar nicht mehr abgewogen<br />

und debattiert werden kann, sondern es einer entschlossenen und harten<br />

Entscheidung bedürfe.<br />

Der rassistische Ruf gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“ ist in Wahrheit<br />

der Ruf nach einer antidemokratischen und autoritären Lösung eines Prob-


Demokratieferne Rebellionen<br />

365<br />

lems, das nur in den Ängsten und Phantasien seiner Anhänger besteht. Das Paradoxe<br />

daran ist: die Anhänger der Pegida-Slogans sind mit ihrem autoritären und<br />

gegenaufklärerischem Weltbild gar nicht so weit vom Islamismus entfernt, sie sind<br />

Brüder im Geiste, die sich aber trotzdem bekämpfen, weil sie um einen Vorherrschaftsanspruch<br />

miteinander streiten. Insofern ist auch die alte Forderung gewerkschaftlicher<br />

und anderer Bildungsarbeit, nach der Menschen dort abgeholt werden<br />

müssten, wo sie stehen, im aktuellen Fall völlig falsch, denn sie stehen an einem<br />

antidemokratischen Ort, der allein schon deshalb nicht in die demokratische Debatte<br />

integriert werden kann, weil seine Kernforderungen antidemokratisch sind.


366 Samuel Salzborn<br />

Literatur<br />

ARD-DeutschlandTREND EXTRA nach dem Anschlag in Paris 8. Januar 2015. Eine Studie<br />

im Auftrag der tagesthemen.<br />

Beyer, H. (2014). Soziologie des Antiamerikanismus. Zur Theorie und Wirkmächtigkeit<br />

spätmodernen Unbehagens. Campus: Frankfurt<br />

Büdenbender, M., Uhlemann, N., Drögemeier, L., Eisen, S., & Weiss, S. (2014). Verschwörungstheoretisches<br />

Denken auf Mahnwachen für den Frieden. Mechanismen der Wirklichkeitskonstruktion?<br />

Ergebnispräsentation des FoLL-Projekts aus dem Wintersemester<br />

2013/14. Göttingen: Georg-August-Universität.<br />

Freud, S. (1900): Die Traumdeutung. Gesammelte Werke Bd. II/III. Frankfurt: Fischer Taschenbuch<br />

Verlag.<br />

Herzinger, R. & Stein, H. (1995). Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler.<br />

Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte. Rowohlt: Reinbek beim Hamburg.<br />

Jaecker, T. (2014). Hass, Neid, Wahn. Antiamerikanismus in den deutschen Medien. Campus:<br />

Frankfurt.<br />

Kurth, A. & Salzborn, S. (2014). Türöffnerin nach Rechts: Die „Alternative für Deutschland“.<br />

Gegenblende. Das gewerkschaftliche Debattenmagazin 28 (Juli/August).<br />

Salzborn, S. (2010). Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche<br />

Theorien im Vergleich. Frankfurt: Campus.<br />

Salzborn, S. (2012). Demokratie. Theorien, Formen, Entwicklungen . Baden-Baden: Nomos/UTB.<br />

Salzborn, S. (2014). <strong>Rechtsextremismus</strong>. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. Baden-Baden:<br />

Nomos/UTB.<br />

Salzborn, S. (2015). Schmitt, Rousseau und das Paradox des Volkswillens. In R. Voigt<br />

(Hrsg.), Legalität ohne Legitimität? Carl Schmitts Kategorie der Legitimität (S. 53–75).<br />

Wiesbaden: Springer VS.<br />

Spengler, O. (1918/1922). Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie<br />

der Weltgeschichte (2 Bde.). Wien/Leipzig: Braumüller 1918 (Bd. 1) & München: Beck<br />

1922 (Bd. 2).<br />

Vorländer, H. (2015). Wer geht warum zu PEGIDA-Demonstrationen? Präsentation der<br />

ersten empirischen Umfrage unter PEGIDA-Teilnehmern. Dresden: TU.<br />

Walter, F. (2015). Aktuelle Forschungsergebnisse zu den Pegida-Protesten. Göttinger Institut<br />

für Demokratieforschung: Zugriff am 28. Januar 2015 http://www.demokratie-goettingen.de/blog/studie-zu-pegida<br />

Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (2014): Landtagswahl 2014 / Wahlkreisergebnis.<br />

Zugriff am 20. Dezember 2014 http://www.statistik.sachsen.de/wpr_neu/pkg_<br />

s10_nav.prc_nav_karten?p_thema=114306423&p_nav_ebene=1&p_bzid=LW14&p_<br />

ebene_ort=SN*14&p_klapp=Wahlergebnisse


Lachen gegen den Ungeist?<br />

Zum Potenzial des politischen Kabaretts am Beispiel<br />

der Thematisierung des „NSU“-Diskurses<br />

Frank Schilden<br />

1 Einleitung<br />

Eine rassistische Mordserie und Kabarett – passt das zusammen? Ja, sogar unbedingt!<br />

Es wäre sogar ein schlechtes Zeichen, wenn die rassistischen Morde des<br />

„NSU“ und der Umgang mit diesen in der Öffentlichkeit, der Politik und den zuständigen<br />

Behörden nicht vom zeitgenössischen Politischen Kabarett thematisiert<br />

und satirisch überformt werden würden. Ziel dieses Beitrags ist es, zu Beginn den<br />

Mythos der alles dürfenden Satire mindestens zu relativieren, zu erklären und in<br />

den entsprechenden Kontext zu rücken. Danach werden die Begriffe Kabarett und<br />

Politisches Kabarett kurz de niert und differenziert, bevor angedeutet werden<br />

soll, wie Kabarett, wenn es Politik und Öffentlichkeit thematisiert, funktioniert.<br />

Aus linguistischer Perspektive soll dann mit Verweisen auf Metasprachliches, vor<br />

allem auf die Thematisierung von Argumentationen aus dem öffentlichen Raum,<br />

eine besondere Spielart kabarettistischer Vorträge am Beispiel der Thematisierung<br />

des „NSU“ im Kabarett aufgezeigt werden. Eine Reexion über das aufklärerische<br />

und didaktische Potenzial von Kabarett schließt den Beitrag ab.<br />

2 Satire darf alles, wenn sie Satire ist.<br />

Abhandlungen und Texte über Satire, Witz, Humor oder Kabarett beginnen häu-<br />

g mit einem Zitat von Tucholsky. Auch im öffentlichen Diskurs zu Fragen der<br />

Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit beruft man sich gerne auf Tucholsky. Häu g<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_15, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


368 Frank Schilden<br />

zu Recht, manchmal aber auch nicht 1 . Tucholsky beantwortet seine Frage, „Was<br />

darf die Satire?“, zwar kurzum mit „Alles“ (Tucholsky, 1919a), aber ganz so einfach<br />

ist es bei Tucholsky nicht. Es kommt darauf an, was Satire überhaupt ist,<br />

und Tucholsky argumentiert vor allem aus der Warte der Funktion von Satire. Mit<br />

anderen Worten: Satire darf eben dann alles, wenn sie die Funktion satirischer<br />

Texte bzw. Überformungen erfüllt. Besonders bei der Annäherung an Tabuthemen<br />

manifestiert sich dieses Spannungsverhältnis im öffentlichen Diskurs: vermeintliche<br />

Mohammed-Karikaturen, den Papst herabsetzende Darstellungen der Titanic,<br />

Dieter Nuhrs Ausführungen zum Islam, vulgäre Aussagen von Serdar Somuncu.<br />

Satire im Sinne Tucholskys geht es nicht um bloße Provokation oder ober ächliche<br />

Beleidigung, „Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel<br />

gegen alles, was stockt und träge ist“, sie kämpft „um des Guten<br />

willen“, sie hat „die Berechtigung, die Zeit zu peitschen“ (Tucholsky, 1919a, Hervorhebung<br />

von mir, F.S.). Auch mögliche Mittel benennt Tucholsky klar: Satire<br />

muss übertreiben, die Wahrheit aufblasen und dabei eben auch zum Ziele der Zeitkritik<br />

„ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht“ sein. Was soll der Effekt der Satire<br />

sein? Hier formuliert Tucholsky: „Die echte Satire ist blutreinigend“. Worum es<br />

Tucholsky hier geht, ist eine Abkehr von dem negativen Verständnis von Satire,<br />

dem bloßen Dagegen-Sein, hin zu einem positiven Verständnis: Ziel ist nicht das<br />

Dagegen, sondern das Für-etwas-anderes-Sein, „Politische Satire steht immer in<br />

der Opposition“ – Mittel ist wiederum die aufgeblasene Wahrheit (in den Augen<br />

des Satirikers). „[D]er Satiriker […] verallgemeinert und malt Fratzen an die Wand<br />

und sagt einem ganzen Stand die Sünden einzelner nach, weil sie typisch sind,<br />

und übertreibt und verkleinert“ (Tucholsky, 1919b) im Dienste dessen, was er, der<br />

Satiriker, oder sie, die Satirikerin, für richtig hält.<br />

Wendet man diese etwas differenzierteren Ausführungen Tucholskys auf die<br />

oben beispielhaft benannten Satire-Beispiele an, dürfte klar sein, dass die Mohammed-Karikaturen,<br />

die noch immer auf rechten bzw. rechtsextremen Demonstrationen<br />

oder Kundgebungen unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit gezeigt<br />

werden, dem Anspruch „echter Satire“ im Sinne Tucholskys nicht gerecht werden<br />

können, es ist reines Dagegen. Sie ist dort eben nicht Mittel, die Zeit zu peitschen,<br />

sondern Effekthascherei. Eine ähnliche Karikatur kann in einem anderen Kontext<br />

aber sehr wohl „echte“ Satire zum Ziele der Zeitkritik sein. Vor allem die Karikaturen,<br />

die französische Karikaturistinnen und Karikaturisten nach dem schrecklichen<br />

Terroranschlag auf den Sitz des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo<br />

in Paris veröffentlicht haben, sind ein schönes Beispiel dafür – vor allem weil sie<br />

1 Zum Verhältnis der Grundrechte im Kontext von Satire vgl. die interessanten Ausführungen<br />

von Schröder (2007) und Gärtner (2009).


Lachen gegen den Ungeist?<br />

369<br />

auch thematisieren, dass sich die Pegida 2 -Bewegung eben dieses Attentat politisch<br />

zu Nutze macht.<br />

3 Das Verhältnis von Satire und (Politischem) Kabarett<br />

Bislang wurde Satire hier nicht wissenschaftlich deniert und – an den Beispielen<br />

ablesbar – für unterschiedliche mediale Realisierungen von Satire, nämlich Bilder,<br />

schriftliche Texte und mündlich realisierte Texte, als Oberkategorie gebraucht. Soll<br />

Satire deniert werden, so sollte man nach Breinig von ihrer „soziale[n] Funktion,<br />

Aggression und ästhetische[n] Vermittlung“ ausgehen (Breinig, 1984). Auch Meyer-Sickendieck<br />

(2007) sieht in dem modernen Satire-Begriff keine Gattungsbezeichnung,<br />

sondern vielmehr die Oberbezeichnung für „von aggressiv-ironischer<br />

Rhetorik geprägte ästhetische Werke“, die der „Verspottung des Lasters, im Unterschied<br />

zur Verspottung konkreter Einzelpersonen“, dient. Budzinski (1985) führt<br />

weiter aus, dass Satire „mit Mitteln des Komischen als negativ empfundene gesellschaftliche<br />

und politische Zustände und Konventionen“ übertrieben aggressiv und<br />

ironisch darstellt, um damit Verweriches darzustellen.<br />

Satire ist also der Überbegriff für aggressive Zeitkritik, Verspottung des Lasters,<br />

nicht des Einzelnen, in ästhetischem Gewand. Die unterschiedlichen medialen<br />

Vermittlungen und Stilmittel (Parodie, Ironie, Sarkasmus usw.) nden sich in der<br />

Form der ästhetischen Vermittlung wieder. Eine dieser ästhetischen Vermittlungen<br />

ist die vor einem real fassbaren (und zusätzlich einem möglichen TV-, Internetoder<br />

Rundfunk-)Publikum auf die Bühne gebrachte Form, die ich im Folgenden<br />

mit Kabarett bezeichnen werde. Die große Schnittmenge zwischen dem, was die<br />

Begriffe Kabarett und Satire bezeichnen, spiegelt sich nicht nur in der spannend<br />

ähnlichen Etymologie der beiden Begriffe wider 3 . Auch im de nitorischen Kern<br />

sind Satire und Kabarett recht nah beieinander, bei beiden Begriffen spielt die<br />

Zeitkritik, also die (gesellschaftliche) Funktion, eine entscheidende Rolle: „Kabarett<br />

[…] ist ein zeitlich und örtlich begrenztes Miteinander verschiedener Kunstformen<br />

[…] zum Zwecke leichter und teilweise oder durchgehend zeitkritischer<br />

Unterhaltung, […] die sich kritisch mit Zeiterscheinungen und deren Exponenten<br />

im öffentlichen Leben auseinandersetzt (Budzinski, 1985). In diesem Sinne kann<br />

2 Abkürzungen der Gruppierung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des<br />

Abendlandes“.<br />

3 Satire von lanx satura (lat.) = Schüssel mit vermischtem Inhalt (vgl. Panagl, 2004);<br />

Kabarett von cabaret (frz.) = a) Kneipe, Schenke; b) Kneipen, in denen Speiseplatten<br />

mit Schüsseln unterschiedlichen Inhalts serviert wurden (vgl. Rothlauf, 1994).


370 Frank Schilden<br />

„Kabarett eine pädagogische Institution unserer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft<br />

sein“ (Henningsen, 1967). Auch Buring (2007) ordnet „Kabarett als<br />

Instrument der politischen Bildung“ ein. Appignanesi bezeichnet dahingehend<br />

Kabarett sogar als ein Medium mit berichtender und kritischer gesellschaftlicher<br />

Funktion (vgl. Appignanesi, 1976). Hauptmerkmal ist dabei nach Fleischer Multimodalität<br />

(vgl. Fleischer, 1989): Es gibt verschiedene Kommunikationsebenen,<br />

Tanz, Verkleidung, Einsatz von White Boards, Videos oder Bildern. Auch neuere<br />

Publikationen argumentieren ähnlich und ich p ichte bei, dass „Kabarett aufklären<br />

will, die Meinungsbildung der Zuschauer beein ussen will, sogar eine politische<br />

Kontrollfunktion ausübt“ (Reinhard, 2006). Kabarett hat also aufklärerische<br />

Funktion, ist investigativ, aggressiv, kritisch einem Laster gegenüber.<br />

Die Frage, wie diese Zeitkritik funktioniert, ist damit noch nicht beantwortet,<br />

dazu komme ich später. Neben der gemeinsamen Funktion von Satire und Kabarett<br />

ndet sich in Budzinskis Denition aber auch ein Differenzierungsmerkmal: Klassisches<br />

Kabarett ist örtlich und zeitlich begrenzt, ndet auf einer Bühne, in einer<br />

bestimmten Stadt, an einem Abend, zu einem bestimmten Zeitpunkt, vor einem<br />

bestimmten Publikum statt. Ein satirischer Text ist ein satirischer Text, bspw. Orwells<br />

Animal Farm, ein satirischer Film ist ein satirischer Film, bspw. Chaplins<br />

Great Dictator, – ganz unabhängig vom Rezeptionszeitpunkt. Ein satirischer Text,<br />

der in einem Bühnenprogramm dargeboten wird, wird in diesem Moment Teil des<br />

kabarettistischen Programms. Nach der Performance ist er wieder ein satirischer<br />

Text. Kabarett ist demnach auf die Bühne gebrachter satirischer Inhalt, aber nicht<br />

jeder satirische Inhalt ist gleich kabarettistisch.<br />

Die Entwicklung hin zum Medien- und damit Massenkabarett, das z. B. von den<br />

öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ausgestrahlt wird, damit aber keinesfalls<br />

das „klassische“ Bühnenkabarett abgelöst hat, hat die von Budzinski angeführte<br />

Differenzierungsmöglichkeit der örtlichen und zeitlichen Begrenzung ein wenig<br />

aufgeweicht: Durch die Ausstrahlung im Rundfunk oder durch Internetdienste<br />

oder die Speicherung auf Onlineportalen wie Youtube wird der kabarettistische<br />

Vortrag an ein dispersives Publikum indirekt durch ein Massenmedium vermittelt<br />

(vgl. Maletzke, 1998), es wäre also nicht mehr zeitlich und räumlich begrenzt.<br />

Allerdings ist der entscheidende Punkt für die Kabarettdenition die Möglichkeit<br />

der Interaktion mit einem Publikum (vgl. Pschibl, 2008), es ist also für den Vortrag<br />

erst einmal entscheidend, ob ein fassbares Publikum während des Vortrags anwesend<br />

ist (wie es bspw. auch bei den Mitternachtsspitzen, Die Anstalt, dem Satire<br />

Gipfel usw. der Fall ist), und nicht, ob eventuell ein weiteres nicht berechenbares<br />

Publikum andernorts gleichzeitig oder zu einem anderen Zeitpunkt auch rezipiert.<br />

Dass die Rezeptionssituation in diesen Fällen eine andere ist, dürfte allerdings<br />

klar sein.


Lachen gegen den Ungeist?<br />

371<br />

Wellstein (2007) ordnet Comedy, Intellektuelle Satire, Polit-Klamauk und Politisches<br />

Kabarett mittels der Merkmale „Kritischer Anspruch“ und „Politischer<br />

Bezug“ an (Abbildung 1).<br />

Abbildung 1 Politisches Kabarett (nach Wellstein, 2007)<br />

Sind beide Merkmale in einem vorgetragenen Text wenig ausgeprägt, handelt es<br />

sich demnach um Comedy. Ist lediglich der politische Bezug zur Unterhaltung<br />

stark ausgeprägt, liegt Polit-Klamauk vor, bei einer einseitig starken Ausprägung<br />

des kritischen Anspruchs ist es ein Vortrag Intellektueller Satire. Sind beide Merkmale<br />

stark vorhanden, handelt es sich nach Wellstein um Politisches Kabarett. Dieses<br />

Modell ist aus mehreren Perspektiven problematisch. Zum einen trennt Wellstein<br />

nicht nach dem Produkt und nach Vortrag des Produkts, sodass sich Satire in<br />

seinem Modell auf derselben Ebene bendet wie Kabarett. Bezieht sich Wellstein<br />

hier auf den Vortrag, wäre eine Differenzierung von Kabarett und Politischem Kabarett<br />

anstatt der Trennung Intellektuelle Satire versus Politisches Kabarett mittels<br />

der gewählten Merkmale zumindest ebenenkonstant. Zum anderen ist unklar, an<br />

welcher Stelle das Maß an kritischem Anspruch und politischem Bezug erreicht<br />

ist, um von Satire und nicht von Comedy und von Kabarett und nicht von Polit-<br />

Klamauk zu sprechen. Außerdem wirkt die Einteilung so, als könne ein vollständiger<br />

Vortrag immer genau einer Kategorie zugewiesen werden. Die Beispiele Dieter<br />

Nuhr und im Besonderen Serdar Somuncu, Oliver Kalkofe oder Carolin Kebekus<br />

zeigen, dass dies mitnichten so ist, es handelt sich um ein prototypisch zu lesendes<br />

Modell. Innerhalb eines Programms können Texte aus verschiedenen Kategorien<br />

vorgetragen werden. Allerdings helfen Wellstein die Merkmale bei einer Kategorisierung<br />

von Politischem Kabarett (wenn auch nicht bei der Differenzierung und<br />

der Beschreibung des Verhältnisses von Kabarett und Satire). Auch Wellstein sieht


372 Frank Schilden<br />

im Merkmal der Kritik bei politischem Bezug und daraus resultierender Aufklärung<br />

das klare Ziel von Politischem Kabarett, „Missstände zu thematisieren und<br />

aufzudecken und Erkenntnis im Publikum zu fördern“ (Wellstein, 2007).<br />

4 Linguistisches Verständnis von Politik<br />

Im Weiteren soll hier das Merkmal des politischen Bezugs ein wenig diskutiert<br />

werden. Wellstein weist darauf hin, dass man Politik eng, aber auch weit fassen<br />

kann. Darin sind sich auch Linguistinnen und Linguisten, die sich mit dem Verhältnis<br />

von Sprache und Politik befassen, weitestgehend einig (vgl. z. B. Carius<br />

& Schröter, 2009; Niehr, 2014). In einem engen Politikverständnis stehen die<br />

sprachlichen Handlungen von Trägern und Trägerinnen politischer Ämter – vom<br />

Staatsoberhaupt bis zu „Hinterbänklern“ – im Vordergrund sowie die Bekanntmachungen<br />

von politischen Parteien (Partei-, Wahl- oder Grundsatzprogramme,<br />

Wahlkampfmittel etc.). Diese Äußerungen können zum einen an die Öffentlichkeit<br />

gerichtet sein, zum anderen kann aber auch die fachsprachliche Betrachtung<br />

in bspw. Kommissionen Kern der Betrachtung sein. Bei einem weiteren Politikverständnis<br />

kommt die öffentliche Kommunikation über Politik in den Massenmedien,<br />

wie politischer Journalismus oder Auftritte in Polit-Talkshows, mit hinzu,<br />

während ein weites Politikverständnis „auch das Reden aller Mitglieder der Gesellschaft<br />

über Politik“ miteinbezieht (Carius & Schröter, 2009). Das zieht somit<br />

die Äußerungen von bspw. Lobbyverbänden, Personen oder Gruppen des öffentlichen<br />

Interesses (z. B. Thilo Sarrazin oder die Toten Hosen) mit in die Betrachtung<br />

ein. Abbildung 2 stellt die Gegenstandsbereiche der linguistischen Betrachtung<br />

von Politik unter dem Oberbegriff politische Sprache nach Burkhardt (1996) dar:<br />

Abbildung 2 Gegenstandsbereiche der Politolinguistik (Burkhardt, 1996)<br />

Die idealtypische Einteilung von Burkhardt ist für diesen Kontext zweifach interessant.<br />

Zum einen verdeutlicht sie, warum Kabarett mit politischem Bezug für die<br />

Linguistik interessant ist, es gehört zum halböffentlichen Bereich des Sprechens<br />

über Politik und thematisiert wiederum politische Mediensprache, Politikerspra-


Lachen gegen den Ungeist?<br />

373<br />

che, mittels derer sich Politiker und Politikerinnen oder Parteien zum Erzeugen<br />

von Zustimmungsbereitschaft (vgl. Niehr, 2014) an eine breite Öffentlichkeit richten,<br />

und die Sprache in der Politik, die den eher fachsprachlichen Bereich abdeckt.<br />

Zum anderen ist die kleine Präposition über hier interessant, denn sie offenbart<br />

eine stilistische Eigenschaft des Politischen Kabaretts, die dadurch erklärbar<br />

wird: Das Sprechen über Sprechen bzw. Sprache – Metasprache (vgl. Schiewe &<br />

Wengeler, 2005). Walther Dieckmann hat bereits 1969 in Anlehnung an Lexikon-<br />

Denitionen Politik aus linguistischer Perspektive de niert als „staatliches oder<br />

auf den Staat bezogenes Sprechen [sprachlichen Handeln, F.S.]“ (Dieckmann,<br />

1975). Heiko Girnth formuliert den Zusammenhang zwischen Sprache und Politik<br />

so, dass Sprache nicht einfach ein Mittel im politischen Diskurs ist, sondern<br />

die „Bedingung der Möglichkeit von Politik“ (Girnth, 2002). Im zweiten Teil der<br />

Denition von Dieckmann ndet sich das Sprechen über Politik wieder, sie beinhaltet<br />

nicht nur den Sprachgebrauch von Politikern selbst, sondern auch das<br />

auf den Staat bezogene Reden und Schreiben über eben jenen (vgl. Niehr, 2014).<br />

Politisches Kabarett ist also zum einen Teil des Politischen selbst, wenn man ein<br />

weites Politikverständnis gelten lässt, thematisiert aber auf der anderen Seite die<br />

weiteren Bereiche eines solchen Verständnisses und zwar sprachlich, indem der/<br />

die Kabarettist/-in mittels Sprache auf das staatliche oder auf den Staat bezogene<br />

sprachliche Handeln Bezug nimmt. Das Sprechen über die Verbrechen des „NSU“<br />

und deren Aufarbeitung und Protagonisten kann also, je nach Fokus des Gesagten,<br />

verschiedene Facetten des Modells Burkhardts betreffen: den Verfassungsschutz<br />

und dessen Äußerungen als staatliche Behörde, die politischen Diskussionen und<br />

Kämpfe über und um den Verfassungsschutz sowie die mediale Berichterstattung<br />

über den „NSU“.<br />

5 Existenzformen von Sprache<br />

Dass Sprache wiederum selbst ein höchst heterogen benutztes Label ist, ist in der<br />

Linguistik hinreichend bekannt. Peter von Polenz (1973) unterscheidet insgesamt<br />

6 „Erscheinungsweisen“ von Sprache, auf die man referieren kann, wenn man<br />

mittels Sprache über Sprache spricht: Sprachkompetenz, Sprachsystem, Sprachgebrauch<br />

4 , Sprachnorm, Sprachverwendung, Sprachverkehr. Für den Kontext<br />

dieses Aufsatzes sind vor allem die beiden Formen Sprachgebrauch und Sprachverwendung<br />

relevant. Während mit Sprachverwendung eine einzelne sprachliche<br />

4 Von Polenz nutzt „Sprachbrauch“, durchgesetzt hat sich aber im Laufe der Zeit<br />

„Sprachgebrauch“ als Fachterminus.


374 Frank Schilden<br />

Handlung eines Individuums zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort<br />

bezeichnet wird (bspw. die Aussage von Eva Hermanns zur Familienpolitik unter<br />

dem NS-Regime), ist (öffentlicher) Sprachgebrauch ein auf gesellschaftlich-sozialer<br />

Ebene beschreibbares Phänomen, das aus einer Vielzahl von Aussagen zu<br />

einem bestimmten Thema besteht (vgl. Niehr 2014). Öffentlicher Sprachgebrauch<br />

ist mit den Mitteln der (linguistischen) Diskursanalyse auf verschiedenen Ebenen,<br />

in der sog. Düsseldorfer Schule wären das Lexik, Metaphorik, Argumentation und<br />

eben Sprachthematisierungen (Metasprache), beschreibbar. Das Thematisieren<br />

von bestimmten Diskursen ist somit ein möglicher Teil der Thematisierung von<br />

Sprachgebrauch.<br />

Sprache ist zudem auf unterschiedlichen Ebenen thematisierbar. Innerhalb der<br />

einzelnen Ebenen sind nun wiederum unterschiedliche Aspekte der jeweiligen<br />

Ebene thematisierbar, wie bspw. die Wortebene oder die Ebene der Argumentation.<br />

Ich möchte dies an einem kleinen Beispiel aus Die Anstalt vom 9.12.2014<br />

verdeutlichen. Mit Blick auf die zum Teil rechtspopulistischen und rassistischen<br />

Demonstrationen von Pegida in Dresden führt Claus von Wagner in seinem Solo<br />

aus:<br />

Liebe PEGIDAs – und weil es grad so aktuell ist – liebe CSU, eure Feindbilder, die<br />

sind so real wie der Weihnachtsmann und nichts anderes als schlecht versteckter<br />

Rassismus. Und die eigentliche Frage ist doch die: Wenn man das Abendland nur<br />

„verteidigen“ kann, indem man menschenfeindliches Gedankengut vor sich herträgt<br />

– was gibt’s dann eigentlich noch zu verteidigen. 5<br />

Sprachlich geschieht hier viel Interessantes, bspw. das Zusammenbringen der Empfehlungen<br />

der CSU für Migrantinnen und Migranten, auch im Privaten deutsch<br />

zu sprechen, mit den Protesten der Pegida. Hier möchte ich mich allerdings auf<br />

die verschiedenen Ebenen der Sprachthematisierung und die entsprechend thematisierten<br />

sprachlichen Elemente und Aspekte konzentrieren. Mit dem Einschub<br />

„und weil es grad so aktuell ist“ thematisiert der Kabarettist hier den zu diesem<br />

Zeitpunkt öffentlich geführten Diskurs über die Empfehlungen der CSU, kurz vor<br />

diesem Teil des Solos war das zentrale Zitat per Bildschirm dem Bühnen- und TV-<br />

Publikum gezeigt worden 6 . Der Einschub thematisiert also den Diskurs, das Zitat<br />

erst einmal eine konkrete (zentrale) Sprachverwendung einer Partei. Der folgende<br />

5 http://www.zdf.de/ZDFmediathek/kanaluebersicht/2078314#/beitrag/video/2300716/<br />

Solo:-Claus-von-Wagner (ab 4:20min, zuletzt eingesehen am 12.12.2014).<br />

6 Bei dem in der Sendung gezeigten Zitat handelt es sich um die Formulierung aus dem<br />

Leitantrag zum CSU-Parteitag 2014, diese Formulierung hat es aber – zu großem Teil


Lachen gegen den Ungeist?<br />

375<br />

Rassismus-Vorwurf bringt die themenverwandten Aussagen der Pegida und der<br />

CSU in einen Zusammenhang und thematisiert und kritisiert dabei den Sprachgebrauch<br />

beider Gruppen gleichzeitig und zwar über die Ebene der – in den Augen<br />

des Kabarettisten – (subtilen) rassistischen Argumentation. Das Solo schließt mit<br />

dem metasprachlichen Hinweis auf ein zentrales Mehrwort-Lexem der Pegida, das<br />

hier mit der Zusammenstellung auch der CSU in den Mund gelegt wird: die „Verteidigung<br />

des Abendlandes“ gegen alles Fremde.<br />

6 Wie funktioniert (Politisches) Kabarett?<br />

Um zu beschrieben, wie satirische oder komische Effekte im Kabarett erzielt werden<br />

können, wird häu g zur Beschreibung und Analyse bzw. Interpretation von<br />

(rhetorischen) Stilmitteln, wie Ironie oder Übertreibung oder auch Travestie, gegriffen.<br />

Diese Beschreibungen greifen zumeist eine Ebene zu hoch, denn diese<br />

Stilmittel sind im Kabarett im Dienste des zugrunde liegenden Prinzips der Funktionsweise<br />

von Kabarett zu sehen: „Kabarett ist das Spiel mit dem erworbenen<br />

Wissenszusammenhang des Publikums“ und mit „den Bruchstellen“ eben dieses<br />

Wissens (Henningsen, 1967). Eine mögliche Bruchstelle wäre im obigen Beispiel<br />

das Nebeneinander einer nachweislich demokratischen Partei, der CSU, und einer<br />

sehr heterogenen Masse, der Pegida-Bewegung, in einer Position, die wenig demokratisch<br />

ist: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Rassismus. Inkongruent<br />

wird es in dem Moment, wenn das Publikum merkt, dass eine demokratische Partei<br />

wie die CSU per denitionem keine rassistischen Thesen und Forderungen vertreten<br />

dürfte. Dieser Punkt wird auch bei Andreas Rebers´ Beitrag im Satire Gipfel<br />

(Abschnitt 6.2.2) wiederkehren, wenn Rebers mit der bildlichen Darstellung des<br />

Mörder-Trios in den Medien und dem Wissen der Öffentlichkeit spielt, sodass sich<br />

das Publikum merklich ertappt fühlt. Der hier zugrunde gelegte Wissensbegriff<br />

bezeichnet weniger ein binär an der Welt überprüfbares Wahrheitswissen im Sinne<br />

eines Wahr-falsch-Verhältnisses, sondern ideologisch gebundene Überzeugungen,<br />

bei denen persönliche Erfahrungen der Rezipienten sowie emotionale Bewertungen<br />

eine große Rolle spielen (vgl. Beckers, 2012; Schilden, 2013). Um diese „Heterogenität<br />

gesellschaftlichen Wissens“, um „dominierende und konkurrierende<br />

Denkweisen in einer Gesellschaft“ (Wengeler, 2013a), die „in einer gegebenen Zeit<br />

zu einem gegebenen Ort [innerhalb einer bestimmten Gruppe, F.S.]“ dominant<br />

sicherlich auch aufgrund der öffentlichen Häme – nicht in den Beschluss des Parteitags<br />

geschafft.


376 Frank Schilden<br />

sind (Wengeler, 2013b), zu analysieren, eignet sich eine diskurslinguistische Herangehensweise.<br />

Das Vorhandensein von politischem Wissen und politischen Überzeugungen ist<br />

also zum einen Voraussetzung dafür, dass Kabarett seinen Zweck, seine Funktion,<br />

erfüllen kann – ohne vorhandenes politisches Wissen, bzw. politische Einstellungen<br />

oder Überzeugungen, können auch keine Bruchstellen in diesem/-n zum Zwecke<br />

der aufklärenden Zeitkritik evoziert werden. Zum anderen, und da spielt wieder<br />

Metasprachliches eine wichtige Rolle, sind politisches Wissen und politische<br />

Überzeugung zu einem großen Teil sprachgebunden, das hat auch Henningsen<br />

bereits erkannt (vgl. Beckers, 2012; Henningsen, 1967). Damit ist auch der Erwerb<br />

politischen Wissens zum großen Teil sprachgebunden: über den Politikunterricht<br />

und in der politischen Bildung, in Nachrichten, Zeitungen, Reden etc. Politisch<br />

gebildete Menschen (er)kennen die politische Dimension der Begriffe alternativlos,<br />

ausländerfreie Zone, Solidarität oder von in andere Kontexte transformierten<br />

Argumentationsstrukturen, ohne dass explizit darauf hingewiesen werden muss,<br />

dass nun auch Sprache thematisiert wird. Eitz & Stötzel (2009) fassen dieses Phänomen,<br />

vor allem für sog. Identi kationsvokabeln, unter den Begriff „implizite<br />

Sprachthematisierung“. Diese Form der Thematisierung bereitet dem Publikum<br />

ein zusätzliches Vergnügen, da es dabei selbst die Leistung des Erkennens der<br />

Sprachthematisierung vollbringen muss. Das Erkennen ist möglich, weil bestimmte<br />

Begriffe zentral für bestimmte Diskurse oder Ideologien sind, in „Schlagwörtern<br />

werden die Programme kondensiert“ (Dieckmann, 1975).<br />

6.1 Kabarett und Lachen<br />

Budzinski sieht in den Mitteln des Komischen den rhetorischen Weg der Wahl,<br />

wenn es um die Vermittlung satirischer Inhalte im Kabarett geht (Budzinski,<br />

1985), eine Auseinandersetzung mit Humortheorien im Zusammenhang mit Kabaretttheorien<br />

ist dementsprechend eine lohnenswerte Perspektive. Bei den Ausführungen<br />

zu Henningsens Kabarett-Denition fällt auf, wie nah sich diese Denition<br />

an den Ideen der Inkongruenztheorie(-n) zum Humor bzw. der Komik bewegt<br />

(vgl. Brock, 2004). Allerdings ist es hier wichtig, zu betonen, dass Kabarett nicht<br />

unbedingt witzig ist um des Witzes willen, wie es bspw. bei Comedy der Fall ist,<br />

sondern die Kollision der Wissensbereiche, das Entdecken von Bruchstellen im<br />

eigenen Wissen, durch die zugrunde gelegte Inkongruenz zu komischen Effekten<br />

führen kann, diese aber nicht das Hauptziel der Performance sind. Die Sprachthematisierungen<br />

stellen dabei eine weitere mögliche Kommunikationsebene dar (vgl.<br />

Brock, 2004), die erkannt werden kann, aber nicht zwangsläu g erkannt werden


Lachen gegen den Ungeist?<br />

377<br />

muss, um dem Plot folgen zu können. Dass beim Publikum eine aktive Rolle anzunehmen<br />

ist, es sich auf die Kollision von Wissen einlassen muss, ist eine Grundbedingung<br />

zur Erfüllung der satirischen Funktion des Kabaretts.<br />

An dieser Stelle ist kein Platz für eine detaillierte Auseinandersetzung mit<br />

(linguistischen) Theorien des Humors, zwei relevante Ansätze sollen aber kurz<br />

erwähnt sein. Schubert (2014) nennt „zwei wesentliche linguistische Ansätze der<br />

Humortheorie“, die sich wiederum beide in den allgemeinen Ansatz der Inkongruenz-Theorie,<br />

bzw. Incongruity Theory, einordnen lassen: 1) Semantische Skript-<br />

Theorie des Humors (Semantic Script Theory of Humour) (vgl. Raskin, 1985), 2)<br />

Allgemeine Theorie verbalen Humors (General Theory of Verbal Humour) (vgl.<br />

Attardo, 2001, 2008). Raskins Theorie beruht auf der Annahme, dass zur Entstehung<br />

von Humor zwei (oder bei mehreren Ebenen auch mehr) mentale Skripte für<br />

Rezipienten unerwartet miteinander kombiniert werden, sodass eine Inkongruenz<br />

entsteht, die vom Rezipienten gelöst werden muss. Hier spielt das politische Wissen<br />

des Publikums an einem Kabarettabend eine bedeutende Rolle, da Skripte<br />

durch Andeutungen, Identi kationsvokabeln, Argumentationsmuster und Diskursthematisierungen<br />

getriggert werden. Das Beispiel von Volker Pispers zu den<br />

rassistischen Morden des „NSU“ zeigt, wie mit sprachlich realisierter Argumentation<br />

metasprachlich auf die Argumentation in anderen politischen Kontexten angespielt<br />

wird. Allerdings kommt das Kabarettpublikum mit gewissen Erwartungen<br />

zur Vorstellung bzw. die Kabarettsendung wird mit solchen rezipiert, sodass<br />

das Publikum in kognitiver „Alarmbereitschaft“ und auf der Suche nach Inkongruenzen,<br />

Pointen und politischer Zeitkritik ist. Attardos Ansatz, die allgemeine<br />

Theorie verbalen Humors, ist eine Weiterentwicklung der Theorie Raskins und<br />

ist „nicht nur auf ausformulierte Witze, sondern auch auf andere humoristische<br />

Texte […] anwendbar“ und bietet „ein recht umfassendes Instrumentarium“ an<br />

(Schubert, 2014), wenn es um die Analyse „humorvoller Kommunikationsakt[e]“<br />

geht. Attardos Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Kriterien bzw. Gesichtspunkte<br />

nennt, mittels derer verbaler Humor betrachtet werden kann: Ausgehend<br />

von einer möglichen Skriptopposition (1) und dem logischen Mechanismus, der<br />

die Inkongruenz entstehen lässt (2), über die Opfergruppe (3) und die narrative<br />

Strategie (4), hin zur sprachlichen Realisierung (5) und den Situationsparametern<br />

(6) (vgl. Schubert, 2014). Für Politisches Kabarett wurde hier zu den Kriterien 3<br />

und 6 schon Relevantes ausgeführt, die Gesichtspunkte 1, 2, 4 und 5 werden nun<br />

exemplarisch gefüllt.


378 Frank Schilden<br />

6.2 Der „NSU“-Diskurs im Kabarett<br />

Das bislang theoretisch ausgeführte soll im Folgenden nun auf zwei Beispiele aus<br />

dem „NSU“-Diskurs im Kabarett angewandt werden. Bei den kabarettistischen<br />

Überformungen der Ereignisse um die sog. Zwickauer Terrorzelle, den „NSU“,<br />

fällt auf, dass die Morde an sich gar nicht kritisch bearbeitet werden, die Ablehnung<br />

der rassistischen Morde ist schlicht vorausgesetzt. Es geht vielmehr um Diskurs-<br />

bzw. Medienkritik oder um antizipierte Reaktionen, die aus vergangenen<br />

öffentlichen Reaktionen abgeleitet werden, sowie um Kritik an der gesellschaftlichen<br />

Mitte. Damit leistet das Politische Kabarett zu diesem Thema einen wichtigen<br />

Beitrag zur öffentlichen Auseinandersetzung und kritischen Verarbeitung der<br />

rassistischen Mordserie des NSU. Die beiden folgenden Beispiele sollen dies verdeutlichen.<br />

Zuerst soll ein Ausschnitt von Volker Pispers auf der Preisverleihung<br />

des Deutschen Kleinkunstpreises 2012 näher betrachtet werden.<br />

6.2.1 Volker Pispers<br />

Es ist immer wieder erstaunlich, was man alles ndet, wenn man richtig sucht.<br />

Das steht ja schon in der Bibel: „Wer suchet, der ndet.“ Und so erklärt sich auch<br />

das Verfassungslose, nämlich warum diese Schlappschwänze, verzeihenseweise,<br />

Schlapphüte vom Verfassungsschutz 13 Jahre lang nicht bemerkt haben, dass hier<br />

ein braunes Mördertrio unterwegs war. [Pause] Sehen Sie, wenn man nicht sucht,<br />

kann man auch nicht nden. Man kann natürlich sagen: „Wenn man etwas gut n-<br />

det, muss man es nicht suchen“. [Gelächter] Sehense mal: Diese Zwickauer Zelle ist<br />

vor 13 Jahren abgetaucht. Vor 13 Jahren haben die sich ihrer Verhaftung entzogen<br />

und sind abgetaucht. Wären das Islamisten gewesen, hätten am Tach danach die<br />

Fahndungsplakate an jedem zweiten Baum gehangen. Aber als Nazis standen sie<br />

natürlich unter besonderem Verfassungsschutz. [Gelächter] Und wäre die dumme<br />

örtliche Polizei denen nicht noch in die Quere gekommen, dann wären die heut<br />

noch unterwegs. Plötzlich, innerhalb von wenigen Tagen, wurden Erkenntnisse gesammelt<br />

über bis zu 20 Helfershelfer im Hintergrund und diese Erkenntnisse konnten<br />

die Spezialisten vom Verfassungsschutz 13 Jahre lang mit all ihren V-Leuten<br />

nicht sammeln. Wer´s glaubt, ist selig, am Schlafen. Jetzt bin ich ganz gespannt, was<br />

bei den Untersuchungsausschüssen rauskommt. Werden die wirklich untersuchen,<br />

warum nach diesen Nazis nicht gesucht worden ist? [Pause] Auch die Schlapphüte<br />

werden vom Kopf her stinken und in meinen Augen gibt´s nur 2 Möglichkeiten: Entweder<br />

der gesamte Verfassungsschutz steckt bis über beide knallrote Ohren tief im<br />

braunen Sumpf. Oder die Führungsebene vom Verfassungsschutz hat 13 Jahre lang<br />

in der Nase gebohrt, uns die Popel jedes Jahr als Verfassungsschutzbericht auf den<br />

Tisch gelegt – und in den unteren Ebenen haben die Nazi-Fans den braunen Sumpf<br />

mit V-Leuten bewässert. [Pause] Wozu werden sie sich bekennen? Zur Unfähigkeit<br />

oder zur Mittäterschaft? Soll ich mal raten? Wissen Sie, was sich rausstellen wird?<br />

Die Führungsebene war völlig ahnungslos, die Führungsebene beim Verfassungs-


Lachen gegen den Ungeist?<br />

379<br />

schutz war völlig ahnungslos, es war ein unglaublich geschickter Einzeltäter – das<br />

ist Tradition in Deutschland – ein [Gelächter] unglaublich [Gelächter, längeres Klatschen]<br />

ein unglaublich geschickter Einzeltäter, der die oberen Etagen getäuscht hat<br />

und den braunen Sumpf vor dem Amt geschützt hat. Und der, der wird jetzt den<br />

Preis zahlen müssen, denn das kennen wir aus jedem Agenten-Film, meine Damen<br />

und Herren, zu jedem Geheimdienstauftrag gehört immer der Satz: „Wenn Sie erwischt<br />

werden, müssen wir leugnen, Sie gekannt zu haben.“ (Volker Pispers, Wortlaut<br />

Preisverleihung Deutscher Kleinkunstpreis 2012, eigenes Transkript)<br />

Auf einer ersten Ebene übt Volker Pispers mit dem Vortrag dieses Textes Zeit- und<br />

Politikkritik, vor allem übt er Kritik an der Behörde Verfassungsschutz, der es<br />

trotz Involvierung durch V-Männer nicht gelungen ist, die Morde zu verhindern<br />

oder aufzuklären. Dies gelingt Pispers mittels einer sehr dichten Sprache und Argumentation,<br />

da er eine große Menge relevanten und in diesem Falle homogenen<br />

Wissens beim Publikum voraussetzen kann und aus dem Diskurs rund um die<br />

Morde des „NSU“ nur die diskursiven Eckdaten, die wichtigsten Akteure und Ereignisse<br />

benennen, sie aber erstmal nicht weiter erklären oder detailliert in einen<br />

Zusammenhang bringen muss: Verfassungsschutz, 13 Jahre (5 mal) , Nazis, örtliche<br />

Polizei, Helfershelfer im Hintergrund, V-Leute, Mördertrio, Verfassungsschutzbericht,<br />

Untersuchungsausschüsse, obere Etagen, brauner Sumpf. Pispers<br />

Meinung zum Verfassungsschutz macht allein das Wortspiel Schlappschwänze<br />

bzw. Schlapphüte klar. Spannender ist aber die gesamtargumentative Richtung des<br />

Beitrags. Pispers bietet 2 mögliche Konklusionen zu den vorher benannten Daten<br />

an (vgl. Toulmin, 1996) an: Der Verfassungsschutz ist entweder Mittäter oder völlig<br />

inkompetent. Beide Meinungen sind im öffentlichen Diskurs so vertreten, Pispers<br />

kann also durch die bloße Zitation der Argumente an die Argumentationen<br />

anknüpfen und kann so mehrheitstauglich recht simpel argumentieren. Der Kabarettist<br />

thematisiert also implizit die Argumente aus dem öffentlichen Raum, indem<br />

er sie auf der Bühne satirisch einsetzt. Pispers geht aber noch einen Schritt weiter<br />

und zitiert ein weiteres Argument und argumentiert auf einer tieferliegenden<br />

Ebene, was zugleich zu Inkongruenzen auf Seiten des Publikums führt. Pispers<br />

zitiert ein Argument, dass aus dem Vergangenheitsbewältigungsdiskurs der BRD<br />

bekannt ist (vgl. Eitz & Stötzel, 2007, 2009; Fischer & Lorenz, 2009; Kämper,<br />

2005): Hitler als Einzeltäter und im Zusammenhang damit die hier mitgemeinte<br />

verführte und damit angeblich unschuldige große Masse 7 . Pispers Argumentation<br />

7 Diese abwehrende Reaktion nach dem Mai 1945 war zumeist durch eine vermeintliche<br />

Unterstellung von „Kollektivschuld“ ausgelöst. Schriftliche Belege, dass die Politiker<br />

der Alliierten den Begriff Kollektivschuld benutzt oder im rechtlichen Sinne für eine<br />

solche argumentiert haben, gibt es meines Wissens nach nicht. Das Gegenteil ist der


380 Frank Schilden<br />

funktioniert an dieser zentralen Stelle so: Was viele Menschen nach dem Mai 1945<br />

meinten, mit einem Wahrheitsanspruch äußern zu können, das könnte auch heute<br />

noch im Kontext des „NSU“ das Ergebnis einer öffentlichen Meinungsbildung<br />

sein. Aber genauso faktisch falsch wie es bspw. mit Blick auf die Geschichte des<br />

Antisemitismus in Europa ist, zu sagen, dass ein Einzeltäter die Deutschen 1933<br />

verführt habe, wäre es falsch, wenn es das Ergebnis der Ermittlungen und der<br />

öffentlichen Diskussion im Jahre 2012 (2015) wäre, dass es nur einen Hauptschuldigen<br />

beim Versagen des Verfassungsschutzes bzw. innerhalb der Gesellschaft im<br />

Kontext der Morde des „NSU“ gäbe. Und genau an diesem Punkt setzt Pispers<br />

tiefere Argumentation an: Es geht um komplexe Verschränkungen, Entwicklungen,<br />

Kausalketten und auch Verantwortungen eines jeden einzelnen – eben auch<br />

des Publikums. Das Publikum stimmt den beiden Konklusionen der ersten argumentativen<br />

Ebene, Verfassungsschutz als Mittäter oder als inkompetent, mit klarer<br />

Schuldzuweisung zu, muss aber bei der Prognose von Pispers erkennen, dass auch<br />

eine dritte Möglichkeit mit dem Hinweis auf die Diskurs-Geschichte der BRD<br />

zumindest möglich ist, bei der sich jeder einzelne dann nach seinem Anteil an der<br />

Schuld und seiner Rolle in der Kausalkette kritisch hinterfragen müsste, denn die<br />

Einzeltäterthese hat sich als historisch unhaltbar herausgestellt. Die Parallele zur<br />

Vergangenheitsbewältigung der BRD – das hat Tradition in Deutschland – kann<br />

nur hergestellt werden, wenn man den Hinweis von Pispers argumentativ einordnen<br />

und das metasprachliche Potenzial des impliziten Argument-Zitats erkennen<br />

kann. Die Rolle des Publikums und das mitgebrachte Wissen sind für das Funktionieren<br />

von Politischem Kabarett also unverzichtbar, Pispers geht davon aus, dass<br />

die zitierten Argumente erkannt und eingeordnet werden können.<br />

6.2.2 Andreas Rebers<br />

Was mich ein bisschen irritiert und was mich ärgert, ist die Darstellung in der<br />

Öffentlichkeit, dieser Damen und Herren, dieser NSUler. [Schwarz-weiß-Bild des<br />

Mörder-Trios erscheint] Wie die dargestellt werden, ich hab immer das Gefühl,<br />

wenn ich das sehe, diese Fotos hat man im Mai ´45 gemacht. [Kurzes Gelächter] Ja,<br />

und das soll ja auch so wirken, damit die gesellschaftliche Mitte in der Talkshow sagen<br />

kann, „och, guck dir die mal an, ha, mmmh, die sehen ja auch schon anders aus.<br />

Die sehen nicht aus wie wir. Denn wir sind ja multikulturell und wir sind bunt.“ Und<br />

da kann sich jeder Tugendbold dran gesund stoßen. Aber das ist mir ein bisschen zu<br />

einfach, ich glaube, so sehen die gar nicht aus. [Buntes Bild des Trios erscheint] Auh<br />

Fall, die Nürnberger Prozesse sind ein Beispiel dafür, die Ermittlungen des Simon<br />

Wiesenthal Center ein anderes. Die Kollektivschuldthese wurde vielmehr „vor allem<br />

aus Kreisen ehemaliger NS-Eliten […] gestreut“ (Fischer & Lorenz, 2009). Auch Eitz<br />

& Stötzel (2007, 2009) und Kämper (2005) argumentieren vergleichbar.


Lachen gegen den Ungeist?<br />

381<br />

man, eigentlich gar nicht unsympathisch, die sehen ein bisschen aus wie wir. [Pause]<br />

Das ist nicht schön, ich weiß das, aber, eh, Faschismus kommt immer aus der<br />

gesellschaftlichen Mitte. So ist das nun mal, sonst wäre er nicht tragfähig. [Pause]<br />

So what, [Pause] lassen wir das, nech, bei uns hat alles seinen Platz. [Spielt Akkordeon<br />

und singt] Akten, die mal geschreddert sind, Fakten, die dann verheddert sind.<br />

Wir sind perdü und nicht per du und Müllers Esel, was weiß ich, wer war in der<br />

NSU – die Meisten sagen, weiß ich nicht. Am Ende steht auf weiter Spur ein kleines<br />

Tischlein-deck-dich und wenn du fragst, wie geht es dir, dann sagt das Tischlein:<br />

„Leck mich!“. Das war ein Witz! Wo bleibt der Lacher? Bald kommt der K-Kabelbrand<br />

– im Herzschrittmacher. (Andreas Rebers, Satire Gipfel am 8.4.2013)<br />

Andreas Rebers’ Auseinandersetzung mit dem „NSU“ im Kabarett unterscheidet<br />

sich stilistisch von der Volker Pispers’, allerdings gibt es auch Gemeinsamkeiten.<br />

Volker Pispers erzählt anekdotisch, zum Teil vulgär, und bleibt in seinem argumentativen<br />

Kern implizit, die Kritik wird nur angedeutet. Andreas Rebers macht<br />

zu Beginn explizit, was er als kritikwürdig ansieht, nämlich die Art und Weise,<br />

wie der mediale Diskurs um den „NSU“ geführt wird: „Was mich ein bisschen irritiert<br />

und was mich ärgert, ist die Darstellung in der Öffentlichkeit, dieser Damen<br />

und Herren, dieser NSUler“, Rebers übt Diskurskritik als Zeitkritik. Rebers nutzt<br />

dafür die häug im öffentlichen Raum benutzten schwarz-weißen Bilder des Trios<br />

und setzt diesen ein Farbfoto beim Camping als Kontrast gegenüber.<br />

Rebers verweist in diesem Kontext explizit auf den „Mai ‘45“, Pispers war auch<br />

beim Verweis auf die NS-Vergangenheit Deutschlands und die sprachliche Vergangenheitsbewältigung<br />

ein wenig impliziter. Rebers unterstellt der öffentlichen<br />

Berichterstattung zugleich eine bestimmte Funktion, die erfüllt werden soll, indem<br />

genau diese Bilder benutzt werden: Die Öffentlichkeit soll sich nicht mit dem<br />

„NSU“ identi zieren können, soll ihr Credo der bunten Gesellschaft aufrechterhalten<br />

können. Rebers Urteil darüber ist klar: „Da kann sich jeder Tugendbold<br />

dran gesund stoßen.“ Mit der erwähnten gesellschaftlichen Mitte hat dieses auf<br />

den schwarz-weißen Bildern dargestellte Trio nichts zu tun. Mit dem Bildwechsel<br />

hin zum bunten Camping-Bild ändert sich auch die Wahrnehmung im Publikum,<br />

das Trio erscheint plötzlich als Teil der bürgerlichen Mitte, als Teil des Publikums:<br />

„Mensch, die sehen ja aus wie wir“. Rebers löst durch die Nutzung der weniger bekannten<br />

Darstellung des „NSU“ beim Campen eine Inkongruenz im idealistischen<br />

Gesellschaftsbild des Publikums aus. Diese Erkenntnis, dass das Trio als Teil der<br />

gesellschaftlichen Mitte offenbar wird, passt nicht zur ablehnenden Haltung und<br />

Darstellung in den öffentlichen Medien, bei medienwirksamen Kundgebungen<br />

oder Lichterketten. Dies alles ießt zusammen im zentralen Statement von Rebers:<br />

„Faschismus kommt immer aus der gesellschaftlichen Mitte. So ist das nun mal,<br />

sonst wäre er nicht tragfähig. [Pause] So what, [Pause] lassen wir das, nech, bei uns


382 Frank Schilden<br />

hat alles seinen Platz“ – auch Faschismus, auch der „NSU“. Implizit mitgemeint<br />

sind hier weitere häug in politischen Reden und Berichterstattungen gebetsmühlenartig<br />

aus der gesellschaftlichen Mitte ausgeschlossene Parteien (NPD, AfD,<br />

Pro-Parteien) oder Organisationen (HoGeSa, Pegida) – welche aber offensichtlich<br />

in der BRD ihren Platz haben. Daran ändert sich eben – und das ist der Kernkritikpunkt<br />

Rebers’ – nichts, wenn man den Diskurs so führt, als wäre der „NSU“ nicht<br />

auch aus der gesellschaftlichen Mitte entstanden.<br />

Im abschließenden Lied lässt es sich Rebers aber nicht nehmen, ähnlich wie Pispers,<br />

auch die Vorgänge in den Behörden zu kritisieren. Rebers nennt „Akten, die<br />

mal geschreddert sind“ und „Fakten, die dann verheddert sind“. Aber auch diese<br />

Erwähnung von zwei Vorkommnissen in deutschen Behörden im Zusammenhang<br />

mit dem „NSU“ reiht sich in die Diskurskritik Rebers nahtlos ein, schließlich wird<br />

eine vollständige Aufarbeitung der Vorkommnisse so schlichtweg behindert.<br />

7 Fazit<br />

Es wurde bereits oben ausgeführt, dass „Kabarett eine pädagogische Institution<br />

unserer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft sein“ kann. Aggressive Zeitkritik<br />

und Aufklärung sind die Hauptfunktionen des Kabaretts, Unterhaltung ist<br />

ein Nebeneffekt. Die Hauptfunktion wird vor allem mit dem Auslösen von Inkongruenzen<br />

erzielt. Im thematischen Zusammenhang mit dem „NSU“ im Kabarett<br />

haben dies die Beispiele von Pispers und Rebers gezeigt.<br />

Argumente aus dem öffentlichen Raum, die häu g bei öffentlichen Debatten<br />

zur Vergangenheitsbewältigung in der BRD benutzt werden, werden von beiden<br />

Kabarettisten zitiert, um ausgehend von den unterstellten Wissenszusammenhängen<br />

und dem Wissen über die Plausibilität der Argumente, Einzeltäter in einer<br />

ausdifferenzierten Gesellschaft, der „NSU“ als Nicht-Teil der gesellschaftlichen<br />

Mitte, eben diese Wissenszusammenhänge aufzubrechen. Dieser Bruch gelingt Pispers<br />

und Rebers auf unterschiedliche Weise: Einmal mit dem angedeuteten Verweis<br />

auf die fehlgeschlagene Vergangenheitsbewältigung nach 1945 und einmal<br />

mit dem Einsatz eines sympathischen Bildes des Mörder-Trios – in beiden Fällen<br />

ist eine Aufrechterhaltung der vorherigen Thesen, des vorherigen kollektiven Wissens<br />

des Publikums, für das Publikum undenkbar, weil es zu den neuen Erkenntnissen<br />

aus dem satirischen Vortrag inkongruent wäre.<br />

Klar geworden ist, dass Kabarett Teil von Diskursen ist und diese zusätzlich<br />

kommentiert und sprachliche Auffälligkeiten, Lexik, Argumentation und den Diskurs<br />

selbst, zeitkritisch zum Zwecke der Aufklärung einordnet. Beim NSU-Diskurs<br />

fällt vor allem auf, dass die Rolle der Medienöffentlichkeit und auch jeder


Lachen gegen den Ungeist?<br />

383<br />

Einzelne kritisch dahingehend angegangen wird, welche Position er oder sie bei<br />

den Entwicklungen und der Aufarbeitung gespielt hat und noch spielt. Aber auch<br />

die Behörden, Verfassungsschutz und Polizei, werden kritisiert. Durch diese Kritik<br />

und die Benennung der teilweise historisch gebundenen Argumente kann Kabarett<br />

produktiver Teil bei der öffentlichen Auf- und Verarbeitung von Krisen sein. Vor<br />

allem implizite und explizite Sprachthematisierungen auf argumentatorischer Ebene<br />

sind dabei von Bedeutung, denn Argumente sind Bestandteile von Ideologiegebäuden<br />

und damit ideologie- und häu g auch diskursgebunden. Ideologiere exion<br />

ist immer auch Sprachreexion, Ideologiekritik ist immer auch Sprachkritik.<br />

Durch die Thematisierung und Kritik einzelner Argumente ist somit die Thematisierung<br />

und Kritik ganzer Ideologien möglich. Ein Hinterfragen, ausgelöst durch<br />

eine evozierte Inkongruenz innerhalb der Ideologiegebäude, ist somit zumindest<br />

plausibel modellierbar. Deutlich ist aber zudem auch geworden, dass der Schlüssel<br />

zum Erreichen der Kabarettfunktion immer das Wissen des Publikums ist. Die<br />

Auftritte von Pispers und Rebers hätten nicht zur gewünschten Inkongruenz geführt,<br />

wenn man die Argumente nicht hätte erkennen und einordnen können. Es<br />

reicht nicht, zu wissen, dass man die rassistischen Morde des „NSU“ ablehnen soll<br />

und dass man dies gemeinschaftlich tut und regelmäßig routiniert betont – man<br />

muss auch wissen warum. Man muss Argumente historisch einordnen können, sie<br />

analysieren und verstehen können – mit Nelson Mandela (1918-2013): „Bildung<br />

ist die mächtigste Waffe, die du verwenden kannst, um die Welt zu verändern.“<br />

Politisches Kabarett kann dabei helfen, sofern das politische Wissen vorhanden ist.


384 Frank Schilden<br />

Literatur<br />

Appignanesi, L. (1976). Das Kabarett. Stuttgart: Belser.<br />

Attardo, S. (2001). Humorous Texts. A Semantic and Pragmatic Analysis. Berlin: Mouton<br />

de Gruyter.<br />

Attardo, S. (2008). A Primer for the Linguistics of Humor. In V. Raskin (Hrsg.), The Primer<br />

of Humor Research (S. 101-155). Berlin: Mouton de Gruyter.<br />

Beckers, K. (2012). Kommunikation und Kommunizierbarkeit von Wissen. Prinzipien und<br />

Strategien kooperativer Wissenskonstruktion. Berlin: Erich Schmidt Verlag.<br />

Breinig, H. (1984). Satire und Roman: Studien zur Theorie des Genrekon ikts und zur satirischen<br />

Erzählliteratur der USA von Brackenridge bis Vonnegut. Tübingen: Gunter Narr.<br />

Brock, A. (2004). Blackadder, Monty Python und Red Dwarf. Eine linguistische Untersuchung<br />

britischer Fernsehkomödien. Tübingen: Stauffenburg Verlag.<br />

Budzinski, K. (1985). Hermes Handlexikon. Das Kabarett. Zeitkritik – gesprochen, gesungen,<br />

gespielt – von der Jahrhundertwende bis heute. Düsseldorf: ECON Taschenbuch<br />

Verlag.<br />

Buring, H. (2007). Kabarett als Instrument politischer Bildung – Erfahrungen mit dem<br />

Schülerkabarett „Die Kettwiche“. In T. Glodek, C. Haberecht & C. von Ungern-Sternberg<br />

(Hrsg.), Politisches Kabarett und Satire (S. 125-134). Berlin: Wissenschaftlicher Verlag.<br />

Burkhardt, A. (1996). Politolinguistik. Versuch einer Ortsbestimmung. In J. Klein & H.<br />

Diekmannshenke (Hrsg.), Sprachstrategien und Dialogblockaden. Linguistische und<br />

politikwissenschaftliche Studien zur politischen Kommunikation (S. 75-100). Berlin/<br />

New York: de Gruyter.<br />

Carius, B. & Schröter, M. (2009). Vom politischen Gebrauch der Sprache. Wort, Text, Diskurs.<br />

Eine Einführung. Frankfurt/M.: Peter Lang.<br />

Dieckmann, W. (1969/1975). Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik<br />

der politischen Sprache. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.<br />

Eitz, T. & Stötzel, G. (2007). Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung. Die NS-Vergangenheit<br />

im öffentlichen Sprachgebrauch. Band 1. Hildesheim: Georg Olms.<br />

Eitz, T. & Stötzel, G. (2009). Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung. Die NS-Vergangenheit<br />

im öffentlichen Sprachgebrauch. Band 2. Hildesheim: Georg Olms.<br />

Fischer, T. & Lorenz M. N. (Hrsg.) (2009). Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in<br />

Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld:<br />

transcript Verlag.<br />

Fleischer, M. (1989). Eine Theorie des Kabaretts. Versuch einer Gattungsbeschreibung (an<br />

deutschem und polnischem Material). Bochum: Brockmeyer.<br />

Gärtner, S. (2009). Was die Satire darf. Eine Gesamtbetrachtung zu den rechtlichen Grenzen<br />

einer Kunstform. Berlin: Duncker & Humblot.<br />

Girnth, H. (2002). Sprache und Sprachverwendung in der Politik. Eine Einführung in die<br />

linguistische Analyse öffentlich-politische Kommunikation. Tübingen: Niemeyer.<br />

Henningsen, J. (1967). Theorie des Kabaretts. Ratingen: A. Henn Verlag.<br />

Kämper,H. (2005). Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte<br />

des sprachlichen Umbruchs nach 1945. Berlin/New York: de Gruyter.<br />

Maletzke, G. (1998). Kommunikationswissenschaft im Überblick. Opladen: Westdeutscher<br />

Verlag.<br />

Meyer-Sickendieck, B. (2007). Satire. In G. Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der<br />

Rhetorik. Band 8 (Sp. 447-469). Berlin/New York: de Gruyter.


Lachen gegen den Ungeist?<br />

385<br />

Niehr, T. (2014). Einführung in die Politolinguistik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.<br />

Panagl, O. (2004). Ridendo dicere verum: Zu den antiken Wurzeln des Politischen Kabaretts.<br />

In O. Panagl & R. Kriechbaumer (Hrsg.), Stachel wider den Zeitgeist. Politisches<br />

Kabarett, Flüsterwitz und subversive Textsorten (S. 33-45). Wien u. a.: Böhlau Verlag.<br />

Polenz, P. von (1973). Sprachkritik und Sprachnormenkritik. In G. Nickel (Hrsg.), Angewandte<br />

Sprachwissenschaft und Deutschunterricht (S. 118-167). München: Hueber.<br />

Pschibl, K. (2008). Das Interaktionssystem des Kabaretts. Versuch einer Soziologie des<br />

Kabaretts. Saarbrücken: VDM.<br />

Raskin, V. (1985). Semantic Mechanisms of Humour. Dordrecht: D. Reidel<br />

Reinhard, E. (2006). Warum heißt Kabarett heute Comedy? Metamorphosen in der deutschen<br />

Fernsehunterhaltung. Berlin: LIT.<br />

Rothlauf, E. (1994), Theorie und satirische Praxis im westdeutschen Kabarett. 1945 –<br />

1989. Diss. Uni Erlangen-Nürnberg. München: o.V.<br />

Schröder, T. (2007). Zu den rechtlichen Freiheiten und Schranken der Satire. In T. Glodek,<br />

C. Haberecht & C. von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Politisches Kabarett und Satire<br />

(S. 135-156). Berlin: Wissenschaftlicher Verlag.<br />

Schiewe, J. & Wengeler, M. (2005): Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur – Einführung<br />

der Herausgeber zum ersten Heft. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur,<br />

2/2005, 1-13.<br />

Schilden, F. (2013). „Man muss in der Szene auch nicht viel erklä ren.“ – Ideologiegebundene<br />

Lexik und Argumentation bei LANDSER, KATEGORIE C und FREI.WILD. Journal<br />

Exit-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur,<br />

3/2013, 33-57.<br />

Schubert, C. (2014). Was gibt´s denn da zu lachen? – Witze und Humor aus sprachwissenschaftlicher<br />

Sicht. In C. Schubert (Hrsg.), Kommunikation und Humor. Multidisziplinäre<br />

Perspektiven (17-36). Berlin: LIT.<br />

Toulmin, S. (1996). Der Gebrauch von Argumenten. Weinheim: Beltz Athenäum.<br />

Tucholsky, K. (1919a/1960). Was darf die Satire? In M. Gerold-Tucholsky & F. J. Raddatz<br />

(Hrsg.), Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke. Band 1. 1907-1924 (S. 362-364). Reinbek<br />

bei Hamburg: Rowohlt.<br />

Tucholsky, K. (1919b/1975). Politische Satire. In M. Gerold-Tucholsky & F. J. Raddatz<br />

(Hrsg.), Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke. Band 1.1907-1924 (S. 42-44). Reinbek bei<br />

Hamburg: Rowohlt.<br />

Wellstein, B. (2007). Kabarett vs. Comedy: Welche Unterschiede machen den Unterschied?<br />

In T. Glodek, C. Haberecht & C. von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Politisches Kabarett und<br />

Satire (S. 157-167). Berlin: Wissenschaftlicher Verlag.<br />

Wengeler, M. (2013a). Argumentationsmuster und die Heterogenität gesellschaftlichen<br />

Wissens. Ein linguistischer Ansatz zur Analyse kollektiven Wissens am Beispiel des<br />

Migrationsdiskurses. In W. Viehöver, R. Keller & W. Schneider (Hrsg.), Diskurs – Wissen<br />

– Sprache. Interdisziplinäre Beiträge zum Verhältnis von Sprache und Wissen in der<br />

Diskursforschung (S. 145-166). Wiesbaden: Springer VS.<br />

Wengeler, M. (2013b). Historische Diskurssemantik als Analyse von Argumentationstopoi.<br />

In D. Busse & W. Teubert (Hrsg.), Linguistische Diskursanalyse: neue Perspektiven<br />

(S. 189-215. Wiesbaden: Springer VS.


Kapitel 5<br />

Prävention und Intervention<br />

„Ich trete nicht als Opfer auf, ich verlange nichts, stelle keine Ansprüche als Opfer,<br />

werbe allerdings um ein besonderes Verständnis ... Ich erwarte allerdings, dass die<br />

Täterseite – und ich meine damit nicht jeden Nichtjuden – weiß, was im Namen<br />

Deutschlands geschehen ist, und das nicht vergisst. Dann fällt es den Opfern und<br />

deren Nachkommen leichter, selbst zu vergessen“<br />

(Ignatz Bubis, „Ich bin deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, 1993, S. 113).


<strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und pauschalisierende Ablehnungen<br />

Grundlagen und Möglichkeiten der Prävention<br />

Kurt Möller<br />

Wie die oben stehenden Beiträge deutlich machen, ist das <strong>Rechtsextremismus</strong>-<br />

Problem in Deutschland von einer Hartnäckigkeit und zugleich Wandlungsfähigkeit,<br />

die seine dauerhafte und stets neu zu überdenkende Bearbeitung erforderlich<br />

machen. Denken wir an die großen Bundesprogramme wie aktuell „Demokratie<br />

leben!“ oder auch seine Vorläufer bis hin zum ersten dieser Programme, dem von<br />

der damaligen Jugendministerin Angela Merkel verantworteten „Aktionsprogramm<br />

gegen Aggression und Gewalt“ (AgAG; 1992-1996), berücksichtigen wir<br />

ferner die Existenz einer Reihe von entsprechenden Programmen in den Bundesländern<br />

und stellen wir zudem auch einzelne Initiativen in den Kommunen u. a.m.<br />

in Rechnung, so kann nicht behauptet werden, dass „gegen Rechts“ nichts getan<br />

würde. Ähnliches gilt bereits seit einigen Jahren für die Beschäftigung mit Phänomenen<br />

von Pauschalablehnungen wie sie populär im Begriff der ‚Gruppenbezogenen<br />

Menschenfeindlichkeit’ zusammengefasst werden. Gleichwohl stellt sich<br />

die Frage: Warum gelingen Problemlösungen so unzureichend? Sind vorhandene<br />

Ansätze womöglich falsch ausgerichtet und müssten deshalb umgesteuert werden?<br />

Der nachfolgende Beitrag fahndet nach Antworten, indem er eine dritte Frage<br />

stellt und zu beantworten sucht: Basieren die gängigen Bearbeitungsweisen eigentlich<br />

genügend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen – und dabei speziell auf solchen,<br />

die über Gründe und Verläufe der Hinwendung von Individuen und Gruppen<br />

zu rechtsextremen Haltungen aufklären? Dazu zeichnet er zunächst Grundzüge des<br />

biograschen Aufbaus rechtsextremer Haltungen und pauschalisierender Ablehnungen<br />

nach, bevor er knapp Schlussfolgerungen für grundlegende Orientierungen<br />

skizziert, die für nachhaltig wirksame Bearbeitungen aussichtsreich erscheinen.<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_16, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


390 Kurt Möller<br />

1 Prozesse biografischen Aufbaus rechtsextremer<br />

Haltungen und pauschalisierender Ablehnungskonstruktionen<br />

(PAKOs)<br />

Der biograsche Aufbau von rechtsextremen Haltungen und anderweitigen pauschalisierenden<br />

Ablehnungen erfolgt – meist fußend auf Vorläufern in der Kindheit<br />

– im Regelfall im Verlaufe der Jugendphase. Auf sie ist daher primär zu fokussieren<br />

(vgl. detaillierter als im Folgenden möglich: Möller, 2000; Möller &<br />

Schuhmacher, 2007; Möller u. a., 2015).<br />

1.1 Spezifika pauschalisierender Ablehnungskonstruktionen<br />

bei Jugendlichen<br />

Zwei Kennzeichen sind bei pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PA-<br />

KOs) bei Jugendlichen, unabhängig von ihren Gegenständen und Adressierungen<br />

im Einzelnen, besonders auffällig:<br />

Zum ersten zeigen sich Ablehnungen bei Jugendlichen insgesamt selten ideologisch<br />

konsolidiert. Noch stärker als Erwachsene operieren sie mit stilistischen<br />

Distinktionen, (unbewussten) Aversionen, mentalitären Beständen, Ressentiments,<br />

affektiv verwurzelten Vorurteilen und Abwertungssemantiken. Dies betrifft beispielsweise<br />

auch antisemitische und fremdenfeindliche Haltungen, sogar dann,<br />

wenn diese rassistisch gewandet auftreten. „Du dreckiger Jude!“, „Kanake, Du Ratte!“<br />

und ähnliche Schimpfworte stellen unter Jugendlichen häu g vorkommende<br />

Äußerungen dar, in denen sich weniger antisemitische Ansichten oder rassistische<br />

Denksysteme nach außen kehren als unre ektierte Parolen und andere nicht oder<br />

wenig systematisierte Gefühle, Gedanken und Stimmungen des Alltagsdiskurses.<br />

Zum zweiten ist bemerkenswert: Jugendliche mit persönlicher oder nicht mehr<br />

als zwei Generationen zurückliegender familiärer Migrationsgeschichte weisen<br />

zum Teil dieselben, zum Teil aber auch andere Ablehnungskonstruktionen als sog.<br />

‚autochthone’ Jugendliche auf. Eine Binnendifferenzierung dieser Großgruppierungen<br />

lässt zudem derart bedeutsame Spezi ka und partielle Kongruenzen von<br />

Teilgruppierungen hervortreten, dass es analytisch unzulässig erscheint, weiterhin<br />

von der gängigen Kategorisierung in ‚Jugendliche mit Migrationshintergrund‘<br />

und ‚Jugendliche ohne Migrationshintergrund‘ auszugehen. Auch eine Einteilung<br />

„migrantischer Jugendlicher“ nach Staatsangehörigkeit oder Religion ist viel zu<br />

grob, um die Vielzahl an Faktoren fokussieren zu können, die die Entstehung und<br />

Entwicklung bzw. die Abstandnahme von ablehnenden Haltungen beein ussen.<br />

Beispielsweise werden ablehnende Orientierungen und Gewalt viel stärker von


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

391<br />

Genderaspekten als von Migrationsspezi ken geprägt. So sind etwa männliche<br />

Jugendliche, die hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen anhängen und sie im<br />

Muster interpersonaler Dominanz zur Geltung bringen (wollen), weitaus gewaltnäher<br />

als anders orientierte Jungen – ganz unabhängig davon, ob sie einen sog. ‚Migrationshintergrund‘<br />

haben oder nicht. Auf der anderen Seite stellt sich die Konstruktion<br />

antisemitischer Haltungen bei muslimischen Jugendlichen, insbesondere<br />

bei türkisch- und arabischstämmigen, ganz anders dar als bei nicht-muslimischen<br />

Jugendlichen, insbesondere aus deutschen Herkunftsfamilien. Erwartungsgemäß<br />

spielt für ihre politisch-soziale Orientierung der Palästina-Kon ikt eine hochgradig<br />

bedeutsame Rolle, während für die herkunftsdeutschen Jugendlichen der<br />

Nationalsozialismus und die Shoah wichtige Orientierungsmarken darstellen (vgl.<br />

auch Mansel & Spaiser, 2013).<br />

Ungeachtet solcher und weiterer wichtiger Differenzierungen lassen sich grobe<br />

Angaben zur Herstellung von Af nität zu rechtsextremen wie auch in anderer<br />

Weise pauschalisierenden ablehnenden Haltungen machen, die mehr oder minder<br />

übergreifend gelten.<br />

1.2 Muster und Stadien<br />

Es gibt nicht den einen Weg, der (zumeist junge) Menschen in die extrem rechten<br />

Orientierungs- und Szenezusammenhänge bzw. zu pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen<br />

führt. Und es gibt auch nicht einige wenige benennbare<br />

Wirkfaktoren, die eine solche Hinwen dung zwangsläug werden lassen oder auch<br />

nur nahelegen. Stattdessen existiert eine Vielgestaltig keit an Mustern, die auf ein<br />

spezisches Zusammenwirken von verschiedenen Einüssen hinweist. Diese Muster<br />

wiederum lassen typische zeitliche Abfolgen er kenn bar wer den, die sich als<br />

Stadien bzw. ‚Karrierestufen’ begreifen lassen.<br />

Insgesamt können im Af nisierungsprozess vier Muster voneinander abgegrenzt<br />

werden:<br />

• das Muster interethnischen Konkurrenzerlebens, das in einer unmittel baren,<br />

alltagsweltlich basierten, aber auch unabhängig davon in einer von Beginn an<br />

nur ab strak ten Form auftreten kann und die selbst vorgenommene natio-ethno-kulturell<br />

geprägte politische Positionierung als unausbleibliche Folge eines<br />

in subjektiver Sicht ungerecht ablaufenden (Verdrängungs-)Wettbewerbs in der<br />

(Post-)Migrationsgesellschaft deutet,


392 Kurt Möller<br />

• das Muster kultureller Hegemonie pauschalisierender Ablehnungshaltungen,<br />

also der Vorherrschaft von Auffassungen wie Rassismus, Antisemitismus,<br />

Fremdenfeindlichkeit u. a.m. im sozialen Umfeld,<br />

• das Muster der politischen Supplementierung jugendkultureller Partikularintegration,<br />

d. h. der nachträglichen politischen Auadung einer vorerst nur<br />

jugendkulturellen, stilistisch-habituellen und noch nicht unbedingt politisch<br />

verstandenen Einbindung in natio-ethnisch auf Vereindeutigung und Abgrenzung<br />

drängende Gruppen-, Community- und Szenekontexte,<br />

• das Muster gesinnungsgemeinschaftlicher Rebellion, bei dem es sich je doch weniger<br />

um ein selbstständiges Muster als um ein Be grün dungsfragment handelt.<br />

Oft treten im individuellen Fall mehrere dieser Muster gleichzeitig auf, dies allerdings<br />

in unter schiedlicher Mischung und Gewichtung. Zum Teil bauen diese<br />

Muster in der zeitlichen Ab fol ge der Afnisierung auch aufein ander auf. Sie teilen<br />

darüber hinaus bestimmte Gemeinsam keiten, die sich im fort schrei tenden Prozess<br />

der poli ti schen Af ni sierung immer deutlicher heraus kris talli sieren. Zu unterscheiden<br />

sind zudem zwei Stadien: zum einen das Stadium der Kenntnisnahme,<br />

Identi ka tion und praktischen Annäherung; zum anderen ein fortgeschrittenes<br />

Stadium des Afnitätsauf baus, das zwar noch nicht in eine konsoli dierte Haltung<br />

gemündet ist, sich aber schon deutlich vom Anfangsstadium durch Verste tigungen<br />

und Verknüpf ungen zwischen kulturellen und politischen Aspekten wie auch von<br />

einzelnen Ein stellungs segmenten unterscheidet.<br />

Bis dahin mehr oder weniger unverbun den nebeneinander stehende Motive,<br />

Gestimmt heiten, Orien tierungen und Ab sich ten werden im Rahmen neu erworbener<br />

(Cliquen-)Kontakte zunehmend ge bün delt, auf Dauer gestellt und systematisiert.<br />

Der Afni sierung wird in einem stetigen und mehr oder minder kontinuierlich<br />

verlaufenden Deutungs- und Aus hand lungsprozess mit ähnlich orien tierten<br />

Gleichaltrigen – manchmal auch mit Erwach senen aus der einschlägigen Szene<br />

– indivi dueller und sozialer Sinn ver liehen. An die Stelle bis dahin oft noch<br />

vorherr schen der allgemeiner Identi kationen tritt also zusehends die konkrete<br />

Asso ziation, also die unmittelbare per sonelle, über Verhalten und Handeln<br />

reprodu zierte und (auch daher) sinnlich erfahrene Einbindung.<br />

1.3 Sozialisationserfahrungen im Affinisierungsprozess<br />

Konstellationen der objektiven Lebenslage vermögen letztlich wenig bis gar nichts<br />

an Erklärungen für die Konstruktion pauschalisierender Ablehnungen und für Einstiege<br />

in rechtsextreme Denk-, Verhaltens- und Sozialkontexte zu liefern. Es zeigt


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

393<br />

sich vielmehr, dass es eher die Art und Weise ihrer jeweils subjektiven Wahrnehmung<br />

und Bewertung bzw. des Umgangs mit ihnen und weiteren anderen lebensrelevanten<br />

Faktoren ist, die die politische Orientierung prägt. Eine wichtige Rolle<br />

kommt dabei den konkreten Erfahrungen in zentralen So zia lisationsbereichen zu.<br />

Als erster wesentlicher Bereich kann hier der Kontext der Familie genannt<br />

werden. Vier verschiedene Szenarien lassen sich in Bezug auf sie voneinander<br />

unterscheiden: ein auf Seiten der Eltern vorhandenes relatives Desinteresse bei<br />

gleichzeitiger partieller Einstellungsüber schnei dung (1), mangelnde elter liche<br />

Durchsetzungsfähigkeit (2), Kon ikte um Nähen zu rechtsextremer oder andere<br />

Ablehnungskonstruktionen propagierender Jugendkultur bei gleichzeitiger poli tischer<br />

Toleranz (3), dauerhafte Konikte im familiären Kontext (4).<br />

Im Gesamtüberblick der verschiedenen Muster und Kontexte können einige<br />

Ähnlichkeiten und Spe zi ka fest ge halt en werden.<br />

• Gleichwohl das Familienleben als zentraler Wert begriffen wird und – zumindest<br />

in den ersten drei Kontexten – die eigene Familie oft idealisiert wird, erweisen<br />

sich die Beziehungen fak tisch oft als emotional ober ächlich, wenig<br />

ver läss lich und teilweise sogar als höchst proble ma tisch.<br />

• Mitunter agieren Eltern, häug auch Großväter, als inhaltliche Stichwortgeber. Insgesamt<br />

zeigt sich jedoch nicht durchgehend ein Kausalzusammenhang zwischen<br />

ihren Ansichten und den sich entwickelnden Einstellungen des Nachwuchses.<br />

• Auch eigenen Negativerfahrungen zum Trotz werden oft die aus den eigenen<br />

Familien bekannten und nicht immer unproblematischen Strukturen, hier vor<br />

allem eine starke Dominanz des Vaters über die Mutter und eine gewisse Härte<br />

und emotionale Leere im Umgang miteinander, in die eigene Konzep tion einer<br />

‚normalen’ Lebensführung integriert.<br />

• Insgesamt scheinen auf Seiten der Eltern nur selten gut durchdachte Strategien<br />

zu existieren, mit den Kin dern die inhaltliche Auseinandersetzung über<br />

ihren Afnitäts aufbau zu führen. Entweder herrscht ein sich unterschiedlich<br />

begründen des relativ großes Desinteresse vor oder es wird vor allem negativ<br />

sanktionierend agiert, was in der Regel von den Betroffenen als ebenso ungerecht<br />

wie hilos, auf jeden Fall aber als wirkungslos wahrgenommen wird.<br />

• In allen Mustern nden sich Jugendliche, die zudem massive Erfah rungen mit<br />

biogra phi schen Brüchen gemacht haben. Dies reicht von Um zügen von einem<br />

Elternteil zum ande ren, also der nachhaltigen Un sicher heit der Lebenssituation,<br />

über den Verlust eines Eltern teils durch Tod bis hin zu psychischen Problemen,<br />

Sucht(anfälligkeit) und der Information, adoptiert worden zu sein. Immer gingen<br />

diese Erfah rungen im Kontext mit den o. g. Erfahrungen mit identitären<br />

Erschütter ungen und/oder be ginnen den Verhaltens auffälligkeiten einher.


394 Kurt Möller<br />

• In der Af nisierung werden bei männlichen Jugendlichen bestimmte im familiären<br />

Kontext erworbene Sichtweisen eher fundiert als aufgelöst. Die Vorstellung<br />

von der Geschlechter dichotomie wird durch die Zuord nung von weiteren<br />

Merkmalseigenschaften ergänzt und vereindeutigend zugespitzt, so dass<br />

im Resul tat ein männliches Prinzip von Handeln und Durchsetzungsfähigkeit<br />

einem weib lichen Prinzip von Passivität und Schütz- sowie Hilfebedürftigkeit<br />

entgegengesetzt wird.<br />

• Für Mädchen ist hingegen eine doppelte Gefangenschaft charakteristisch.<br />

Zum einen sind sie geprägt von gesellschaftlich und familiär erworbenen<br />

Geschlechterkon ventionen, gegen die sie sich auch durch die Hinwendung zu<br />

einer betont maskulin auftretenden Ju gend kultur zur Wehr setzen wollen. Zum<br />

anderen führt sie diese emanzi pato risch gedachte Hinwendung gerade in eine<br />

Szene, in der die erleb ten Geschlechter bilder in noch stärkerer Weise vertreten<br />

werden. Die damit entstehende Form verquerer Emanzipation lässt sich vor allem<br />

im ersten, dritten und vierten Muster beobachten.<br />

Zweiter relevanter sozialer Rahmen, in dem sich erste Schritte der Af nisierung<br />

vollziehen, ist die Schule.<br />

• Vorherrschend ist ein bereits vor der Af nisierung ausgebildetes Gefühl, im<br />

schulischen Kon text nicht genügend Aufmerksamkeit und v. a. auch nicht<br />

ausreichende pädagogische Zuwen dung zu erhalten. Während von (extrem)<br />

rechts orientierten deutschen Lehrpersonen in diesem Zusammenhang, besonders<br />

stark aber im ersten Muster, vorge worfen wird, andere Gruppierungen<br />

von Schülerinnen und Schülern, nämlich vor allem jene mit Migrations hintergrund<br />

– und hier besonders die männlichen – zu bevorzugen, sehen Schülerinnen<br />

und Schüler aus Familien mit nicht-deutschen Wurzeln dies häu g<br />

genau umgekehrt.<br />

• Spezi sche Probleme bestehen allerdings nicht nur zwischen den Jugend lichen<br />

und den Lehrkräften, von denen deutlich mehr – möglicherweise sogar etwas<br />

völlig anderes – erwartet wird als die bloße Vermittlung von Lernstoff. Als<br />

problematisch erweisen sich zumindest im ersten, im dritten und im vierten<br />

Muster auch die Beziehungen zu den Mit schülerinnen und Mitschülern. Weit<br />

verbreitet ist das Empnden, ein dichtes Netz freundschaftlicher Bezie hungen<br />

zu entbehren.<br />

• Wenn auch zwischen individuellen Leistungsproblemen und der Af ni sierung<br />

durchaus Zusammenhänge bestehen, so handelt es sich hier doch nicht um ein<br />

Kausalverhältnis, zumal das zu Grunde liegende persönliche Werte modell den<br />

Leistungsaspekt und die Erfolgskultur ei gent lich anerkennt und bejaht.


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

395<br />

Den lebensweltlichen Mittelpunkt von Af nisierungsprozessen bilden auch im<br />

Abgrenzungs bemühen gegenüber den genannten Sozialisationsinstanzen freiwillige<br />

Referenz bezieh ungen, also Cliquen und andere Gesellungen von Jugendlichen.<br />

Unabhängig vom jeweilig domi nierenden Muster gibt es diesbezüglich Gemeinsamkeiten<br />

zwischen den sich af ni sie ren den Jugendlichen:<br />

• Stark verbreitet ist bis hin zur Af nisierung, zum Teil noch in ihrer Frühphase,<br />

das Gefühl, nicht über verlässliche Peer-Netzwerke zu verfügen. Wo solche<br />

Netzwerke doch existieren, herr schen häug Handlungs orientierungen vor, die<br />

sich nicht fundamental von den Hand lungs orien tierungen der (extrem rechten<br />

oder andere Ablehnungskonstruktionen propagierenden bzw. auslebenden)<br />

Szene unterscheiden und eine Hinwendung damit erleich tern.<br />

• Die Cliquen und Gruppen n den in Gewalt aus übung zur Austragung territorialer<br />

Konikte und z. T. im Alko hol konsum zentrale Vergemeinschaftungsfaktoren.<br />

Kei nes falls sind sie aber auf solche sozialen Praxen zu redu zieren,<br />

denn sie nehmen daneben auch alle anderen für Peergroups üblichen Auf gaben<br />

wahr, also vor allem eine gemeinsame Freizeit gestal tung zu gewähr leisten, die<br />

durchaus auch – vielleicht sogar in erster Linie – aus gänzlich ‚harm losen’ jugend<br />

typischen Akti vitäten bestehen kann. Dies gilt in besonderem Maße für<br />

das zweite und das dritte Muster.<br />

• Der Cliquencharakter impliziert bei aller unterschiedlichen Form, die ein Verband<br />

an nehmen kann, auch eine gewisse strukturelle Offenheit. Die Jugendlichen<br />

steigen nicht in verfestigte und hierarchisch durchstruktu rierte ‚Kameradschaften’<br />

bzw. ‚Kampfgruppen’ ein, sondern in Gruppen mit niedrigem<br />

Forma lisie rungs grad sowie entsprechend hoher Fluktuation und inhalt licher<br />

Indifferenz.<br />

• Dennoch unterscheiden sich sowohl die Gruppen als auch die ihnen an ge -<br />

hörenden Jugend lichen von vergleichbaren Cliquen anderen Hinter grunds, vor<br />

allem weil bei einem Groß teil eine der Af nisierung voran gehende Nähe zu<br />

gewalt förmigen Koniktlösungsmustern vorherrscht, die mit einer verbalen<br />

Sprachlosigkeit einhergeht und entsprechende auf Körperlichkeit basierende<br />

Kommu ni ka tions strukturen nahelegt. Dies schlägt sich auch in einer signi -<br />

kanten Über zahl männlicher Mitglieder nieder.<br />

• Kaum ausgeprägt sind Interessen nach Entfaltung von Individualität und persönlicher<br />

Unverwechselbarkeit. Angestrebt wird eher die Teilhabe an einem<br />

größeren Zusammen hang, mit dem die Generierung von Macht und Selbstwertgefühl<br />

im Kollektiv – später in der Konsolidierung dann explizit der „Masse“,<br />

des „Mobs“, der „Horde“ oder des „Rudels“ – asso ziiert wird.


396 Kurt Möller<br />

Neben diesen bereits genannten Sozialisationsbereichen spielen Erfahrungen in<br />

Partnerschaften eine eher untergeordnete Rolle. Insgesamt bestehen zwischen der<br />

Art der Af nisierung und der Form der Beziehungsführung keine engeren Zusa<br />

m m en hä nge. A l le r d i ngs nden sich quer durch alle Muster bestimmte Sichtweisen<br />

auf partnerschaftliche Bezieh ungen und geschlechtsabhängiges Rollenverhalten,<br />

die in einem engen Zusammenhang mit der politischen und kulturellen<br />

Afnisierung stehen.<br />

• Bei männlichen Jugendlichen dominieren Beziehungsmuster und -vorstellungen,<br />

die ihre Vor bilder anscheinend vor allem in den ihnen bekannten Traditionen<br />

hetero sexueller Partner schaften und in ihren eigenen familiären Strukturen<br />

nden. Die Jungen sind dabei die akti veren Beziehungsteile, die für die Artikulation<br />

und aktive Durchsetzung von Meinungen und Zielen zuständig sind,<br />

während den Mädchen eine deutlich passivere Rolle zugewiesen wird.<br />

• Diese zugewiesene Passivität reicht so weit, dass die Mädchen zwar des Öfteren<br />

als Gleich ge sinnte dargestellt, aber im Regelfall alltags weltlich aus den Szenestrukturen<br />

heraus gehal ten werden. Es wird also weniger auf Überein stimmung<br />

und Verknüpfung verschiedener Lebensbereiche gesetzt als auf deren Parzellierung:<br />

die Trennung zwischen dem Privaten, in dem Momente klassischer<br />

Zweisamkeit vorherrschen und dem Öffentlichen, in dem der Gestus des Rebellischen<br />

und vor allem auch des Männer bündischen gepegt wird.<br />

• Allerdings liegen die An fänge weib licher Af nisierung ganz offenbar nicht<br />

regel haft in Bezieh ungen mit dominanten männlichen Partnern. Entgegen einer<br />

weit ver brei teten Klischee vorstellung sind für sie sehr wohl zum Teil auch eigene<br />

Überlegungen, Vor stellung en und Zielsetzungen ausschlaggebend.<br />

Erfahrungen bzw. Nicht-Erfahrungen mit Jugend- und Sozialarbeit sind für den<br />

Afnisierungs kontext aus ver schiedenen Gründen von potentieller, zum Teil auch<br />

von ganz praktischer Be deu tung. Zum einen können Angebote Sozialer Arbeit<br />

integrierende Funktionen haben und Erfah rungen ermöglichen, die einer Af nisierung<br />

Grenzen setzen. Zum anderen können aber soziale Einrichtungen auch<br />

den Rahmen darstellen, innerhalb dessen Af ni sierungsprozesse eine Verstetigung<br />

nden.<br />

• Zumindest für das erste, dritte und vierte Afnisierungsmuster kann resümiert<br />

werden, dass die Bereitschaft zur politischen und kulturellen Af nisierung<br />

bzw. die Bereitschaft, sich einer entsprechenden Gruppe anzuschließen, vor allem<br />

Jugendliche erfasst, die nicht von Angeboten Sozialer Arbeit angesprochen<br />

werden oder bereits ange sprochen worden sind. So wie sie in anderen sozialen


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

397<br />

Kontexten kaum auf verlässliche soziale Netzwerke zurückgreifen können oder<br />

meinen zu rückgreifen zu können, sind auch sozialarbeiterische bzw. -pädagogische<br />

Angebote nicht in der Lage, sie anzu sprechen oder werden schlichtweg<br />

nicht gemacht.<br />

• Anders stellt sich das Bild dort dar, wo die Afnisierung im Kontext herrschender<br />

Hegemo nialverhältnisse statt ndet. Hier zeigt sich zwar eine zum<br />

Teil außerordentlich große indivi duelle Problembelastung der Jugend lichen, sie<br />

sind aber gerade nicht von institutionellen Hilfs ange boten alleine gelassen und<br />

fühlen sich – zumindest was Angebote der Jugend arbeit angeht – in der Regel<br />

auch nicht ausgeschlossen. Allerdings zeitigen die Angebote nicht unproblematische<br />

Wirkungen, wenn Deutungsangebote aus herrschenden Hegemonialverhältnissen<br />

gleichsam von außen in die Einrichtungen schwappen und diese von<br />

der Sozialarbeit nicht fachlich-(selbst)kritisch thematisiert werden.<br />

1.4 Personale Kompetenzen<br />

Bei allen biographischen Unterschieden und voneinander abweichenden soziali sa -<br />

to rischen Einüssen ergibt sich gerade hinsichtlich der zur Verfügung stehen den<br />

personalen Kompetenzen der Lebensbewältigung ein oft außerordentlich homogenes<br />

Bild, das bereits für die Zeit vor ihrer beginnenden Af ni sierung gültig zu<br />

sein scheint. Zusammengefasst stellt es sich wie folgt dar: Die Fähigkeit und die<br />

Bereitschaft zur Selbst-, Verhältnis- und Sachre exion sind insgesamt kaum entwickelt.<br />

Nur schwach entfaltet ist auch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.<br />

Zwar soll durch die Einnahme der Haltung des sich nunmehr gegen konkrete<br />

Gefahr oder undurch schau bare Lebensumstände Wehrenden suggeriert werden,<br />

dass ab jetzt und zukünftig für sich und andere Schutz sowie jene eindeutigen Verhältnisse<br />

organisiert werden, die als anderenorts versagt wahrgenommen werden.<br />

Aller dings handelt es sich hier eher um eine Pose, die an die Institutionen adressiert<br />

bleibt, die nach Ansicht der Jugendlichen originär für ihren Schutz zuständig sind,<br />

also vor allem Schule und Elternhaus, was auch einer Delegierung von Verantwortung<br />

gleich kommt. Auch die Hinwendung zur Ausgrenzung betreibenden, vor<br />

allem rechtsextremen Gruppe ist in diesem Sinne ein weiterer Versuch, inner halb<br />

einer schützenden hierarchischen Gemeinschaft Verant wortung abgeben zu können.<br />

Die Bereitschaft und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel sind dezitär entwickelt.<br />

Andere Stand punkte können kaum anders als kalkulatorisch wahrgenommen und<br />

nachvollzogen, zumindest nicht oder nur in Ansätzen diskursiv verhandelt werden.<br />

Empathie fehlt nicht völlig, wird aber in erster Linie Angehörigen der In-Group<br />

entgegengebracht, also Familienan gehörigen, Mitgliedern des Gruppen verbandes


398 Kurt Möller<br />

und Angehörigen des nationalen Kollektivs, dem man sich selber zurechnet. Die<br />

verbale Kon iktfähigkeit ist vor allem bei männlichen Jugendlichen deutlich unterentwickelt.<br />

Der Vorstellung, sich immer und überall verteidigen zu müssen, entspricht<br />

die Neigung, Kon ikten aus dem Weg zu gehen oder sie mit dem Einsatz<br />

personaler Gewalt lösen zu wollen. Die Akzeptanz gegenüber Gewalt ist durchgehend<br />

hoch, die praktische Anwendung bleibt jedoch eher eine Sache der (jungen)<br />

Männer, wenngleich sich auch manche Mädchen und Frauen durchaus als willens<br />

und fähig erweisen, selber Gewalt anzuwenden. Zahlreiche Jugendliche mit Abund<br />

Ausgrenzungstendenzen gegenüber zu Anderen Gemachten, kurz: Geanderten<br />

(vgl. Reuter, 2002), zeigen mehr oder weniger große Probleme mit ihrer Affektregulierung.<br />

Die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, ist grund sätzlich niedrig und<br />

wird nicht selten durch den exzessiven Konsum von Alkohol weiter gesenkt. Kaum<br />

entwickelt sind Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranz sowie Rollendistanz . Im<br />

Gegenteil geht es vor allem um Vereindeutigungen undurchschaubar erschei nender<br />

Situationen und darum, eine Rolle zu nden und einzunehmen, mit deren Hilfe<br />

individuelle Bedürfnisse nach Stärke und Gemeinschaft generiert werden können.<br />

Entsprechend leitet sich Selbstwertaufbau weniger aus erworbenen Eigenschaften<br />

und Kompetenzen der eigenen Person ab, sondern aus dem Umstand der Zugehörigkeit<br />

zu einer Gruppe oder Szene, in der die eigene Hand lungs orientierung kultiviert<br />

und die Vorstellung entwickelt werden kann, über den Ein satz von Gewalt und die<br />

Darstellung kollektiver Stärke Macht und Einuss zu erhalten.<br />

2 Fazit: Die KISSeS-Strategie –<br />

Grundlegende Orientierungen zur Bearbeitung<br />

von <strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierenden<br />

Ablehnungskonstruktionen (PAKOs)<br />

Ziehen wir eine Bilanz des oben Ausgeführten, so ist zu konstatieren: Jugendliche<br />

sind zumeist dann besonders gefährdet, zu Trägern von ablehnenden Haltungen zu<br />

werden, wenn ihre Lebensgestaltungsinteressen in Gestalt von KISSeS-Ansprüchen<br />

unabgedeckt bleiben; d. h. wenn<br />

• sie in ihrer Lebensführung gemessen an ihren Erwartungen Kontrollmängeln ausgesetzt<br />

sind – dies entweder als Kontrolldezite im Hinblick auf das Management<br />

ihrer persönlichen Geschicke und/oder – eher fraternal – des Lebens jenes Kollektivs,<br />

dem sie sich zuordnen. Oder sie erfahren Kontrollmängel als Indifferenz<br />

und Inkonsequenz der sozialen Kontrolle jener jugendlichen Lebensvollzüge, die<br />

Ablehnungspraxen darstellen;


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

399<br />

• sie Schwierigkeiten der Integration in demokratisch und gewaltfrei strukturierten<br />

Kontexten verspüren, weil sie mangelnde Zugehörigkeit, Teilhabe,<br />

Partizipationschancen und Identikationsmöglichkeiten erleben, oder weil die<br />

Integrationsmodi, die sie für sich offenstehen sehen, Integration auf undemokratische<br />

und (potenziell) gewaltförmige Weise offerieren (etwa als Nationalismus,<br />

Maskulinismus, Islamismus u.ä.m.);<br />

• ihnen sozial akzeptierte Formen sinnlichen Erlebens nicht zugänglich sind und<br />

damit genussvolle Befriedigung psycho-physischer Bedürfnisse im Alltag ausbleibt<br />

oder als unzumutbar beschränkt erlebt wird;<br />

• sie Sinnerfahrung und -stiftung nicht hinreichend außerhalb von Ablehnungskontexten<br />

erleben, etwa in individuell befriedigender und sozial nicht schädigender<br />

Weise im schulischen und beru ichen Bereich, in Bereichen der privaten<br />

Lebensplanung oder auch in religiösen und weltanschaulichen Bezügen;<br />

• Verarbeitungssymbole und Deutungsangebote für solche Erfahrungen in Gestalt<br />

von Ablehnungskonstruktionen einerseits im biogra sch aufgebauten<br />

Speicher von erfahrungsstrukturierenden Repräsentationen, also von individuell<br />

vorhandenen bildhaften Vorstellungen, Symbolen und Kodes (vgl. Moscovici,<br />

1973), bereits als Leitguren existieren und andererseits im realen oder virtuellen<br />

Sozialraum diskursiv präsent sind und dadurch Attraktivität entfalten<br />

können, dass sie in der Lage sind, sich angesichts der oben benannten Mangelerfahrungen<br />

als lebensbewältigungs- und -gestaltungsfunktional darzustellen;<br />

• Selbst- und Sozialkompetenzen aufgrund von Mängeln in den Bereichen von<br />

Kontroll-, Integrations-, Sinnlichkeits- und Sinnerfahrung nicht so weit entwickelt<br />

werden, dass sie die Erfahrungsvollzüge in einer Weise aufsuchbar,<br />

beschreibbar, deutbar, bewertbar und einordbar erscheinen lassen, die in ausreichendem<br />

Maße Resistenzen gegenüber (diskursiven Angeboten von) Ablehnungskonstruktionen<br />

aufbauen könnte.<br />

Zentrale Konsequenz für politische, zivilgesellschaftliche, pädagogische und sozialarbeiterische<br />

Strategien muss dementsprechend sein, den Herausforderungen<br />

adäquat zu begegnen, die durch die Beschränkung von KISSeS-Erfahrungen,<br />

insbesondere bei den nachwachsenden Generationen kulminieren. Zielführendes<br />

Handeln gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> und andere Formen von Menschenverachtung<br />

kann dabei nicht sein, politisch-moralisierend auf der ‚richtigen’ Seite Position<br />

zu beziehen. Es darf sich aber auch nicht darin erschöpfen, argumentativ-kommunikativ<br />

gegen pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen vorzugehen. Vielmehr<br />

gilt: Wer nachhaltig un- und antidemokratische Bestrebungen abbauen will,<br />

kommt nicht umhin, für Lebensverhältnisse und insbesondere Strukturen des Aufwachsens<br />

zu sorgen, die für alle Gesellschaftsmitglieder Plattformen für Erfah-


400 Kurt Möller<br />

rungen demokratischer Kontrolle, Integrationschancen und Sinnstiftungsmöglichkeiten<br />

zur Verfügung stellen. Diese sollten eine positive sinnliche Valenz besitzen,<br />

die Entwicklung von Repräsentationen ermöglichen, die auf demokratische und<br />

gewaltferne Weise Erfahrungen strukturierbar machen, und die Selbst- und Sozialkompetenzen<br />

befördern, mit denen individuell Handlungssicherheit bei Wahrung<br />

personeller Einzigartigkeit und Ermöglichung sozialer Anschlussfähigkeit<br />

erlebbar wird. 1<br />

1 Was sich in der hier gebotenen Abbreviatur reichlich abstrakt anhören mag, wird<br />

gegenwärtig in einem Wissenschaft-Praxis-Kooperationsprojekt umgesetzt, das an der<br />

Hochschule Esslingen gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und der<br />

Robert-Bosch-Stiftung durchgeführt wird (vgl. http://www.hs-esslingen.de/fileadmin/<br />

medien/schulung/2013_11_12/Swantje_Kubillus/Möller_Rückgrat_140710.pdf (Zugriff<br />

am 20.01.2015)).


<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />

401<br />

Literatur<br />

Mansel, J. & Spaiser, V. (2013). Ausgrenzungsdynamiken. In welchen Lebenslagen Jugendliche<br />

Fremdgruppen abwerten. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.<br />

Möller, K. (2000). Rechte Kids. Eine Langzeitstudie über Auf- und Abbau rechtsextremistischer<br />

Orientierungen bei 13-bis 15jährigen. Weinheim und München: Juventa.<br />

Möller, K., Grote, J., Nolde, K. & Schuhmacher, N. (2015). „Die kann ich nicht ab!“ – Ablehnung,<br />

Diskriminierung und Gewalt bei Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Möller, K. & Schuhmacher, N. (2007). Rechte Glatzen. Rechtsextreme Orientierungs- und<br />

Szene zu sammen hänge – Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skinheads.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Moscovici, S. (1973). Foreword. In C. Herzlich (Ed.), Health and Illness: A Social Psychological<br />

Analysis (pp. IX–XIV). London: Academic Press.<br />

Reuter, J. (2002). Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des<br />

Fremden. Bielefeld: transcript.


Demokratieförderung<br />

und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention<br />

in den Bundesländern<br />

Eine vergleichende Analyse der Landesstrategien<br />

Franziska Schmidtke<br />

1 Einleitung<br />

Die Bekämpfung von rechtsextremen Einstellungen und Verhaltensweisen, bzw.<br />

demokratiegefährdenden Ideologien der Ungleichwertigkeit, hat in den letzten<br />

Jahrzehnten deutlich zugenommen. Zuvor, Anfang der 1990er Jahre, hatte die<br />

wiedervereinigte Bundesrepublik einen massiven Ausbruch ausländerfeindlicher<br />

Gewalt durchlebt. Die Bilder von Solingen, Mölln, Rostock Lichtenhagen und<br />

Hoyerswerda schrieben sich ein in das nationale Gedächtnis; sie wurden zu einem<br />

Kristallisationspunkt, der es der Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsträgern<br />

zugleich verdeutlichte: Auch in der wiedervereinigten Bundesrepublik war<br />

und ist rechtsextremes Denken und daraus motiviertes Handeln virulent. Es waren<br />

Anstöße für eine erste Phase der Auseinandersetzung. Weitere folgten – und heute<br />

nden wir eine Situation vor, in der Bund und Länder nanzielle Mittel zur Prävention<br />

von rechtsextremen Ideologien aufwenden.<br />

Zugleich bendet sich der parteiförmig organisierte <strong>Rechtsextremismus</strong> heute<br />

in einer Umbruchsituation. Die NPD ist durch Mitgliederschwund, nanzielle<br />

Einbußen und interne Streitigkeiten geschwächt. Davon pro tieren Parteien, die<br />

einen „modernisierten“ <strong>Rechtsextremismus</strong> vorantragen: Unter ihnen nden sich<br />

die populistisch agierende rechtsextreme Partei Pro NRW mit seinen Ablegern<br />

Pro Köln und Pro Deutschland, den Nachfolgern des Freien Netz Süd, der Partei<br />

Der dritte Weg und die sich mittlerweile bundesweit etablierte rechtspopulistische<br />

bzw. rechtspopulistisch beein usste Alternative für Deutschland (AfD). Zudem<br />

ist der Bewegungscharakter der rechtsextremen Szene deutlich wie nie; Autonome<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_17, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


404 Franziska Schmidtke<br />

Nationalisten, Freie Kräfte, Neue Rechte, Identitäre Bewegungen und Demonstrationsverbände<br />

mit Namen wie HoGeSa (Hoolings gegen Sala sten) und PE-<br />

GIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) erleben<br />

derzeit ein Hoch. Und auch auf Einstellungsebene lässt die Virulenz rechtsextremer<br />

Ideologien nicht nach. Etablierte Messkonventionen des Bielefelder Instituts<br />

für interdisziplinäre Konikt- und Gewaltforschung und der Mitte-Studien, sowie<br />

regionale Studien wie der Thüringen-Monitor halten ein stabiles Maß gefestigter<br />

rechtsextremer Einstellungsdimensionen fest. Auch wenn sich einzelne Dimensionen<br />

seit Mitte der 2000er Jahre rückläug entwickeln, wachsen zugleich alarmierende<br />

Werte für neue, aber anschlussfähige Dimensionen wie Antiziganismus und<br />

Islamfeindschaft an (vgl. Decker & Brähler, 2014). Vor diesem Hintergrund ist die<br />

demokratische Kultur in Deutschland nach wie vor gefährdet.<br />

Die staatliche Auseinandersetzung mit dem beschriebenen Phänomen begann<br />

1992 mit der Au age eines ersten Bundesprogramms. Darauf folgten mit einiger<br />

Verzögerung die Bundesländer, in denen das Thema aber zu unterschiedlichen<br />

Zeitpunkten virulent wurde. Die jeweiligen Programme wurden mit bis zu<br />

15 Jahre Differenz eingeführt und dementsprechend variieren auch ihre Zugänge<br />

und Strategien. 1 Trotz der damit entstandenen spannenden Vergleichsperspektive<br />

liegen bisher nur wenige Analysen einzelner Programme vor. Diese Lücke<br />

2<br />

bearbeitet die Autorin umfassend im Rahmen ihrer Dissertation. Die folgende<br />

Darstellung stellt nur einen Ausschnitt möglicher Vergleichspunkte vor. Konkret<br />

handelt es sich dabei um die Instrumente, Zuschnitte und Funktionslogiken der<br />

Landesprogramme zur <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention und Demokratieförderung.<br />

Damit liegt eine Analyse vor, die einen Überblick über den staatlichen Umgang<br />

mit Ungleichwertigkeitsideologien verschafft, die Vielfalt der staatlichen <strong>Rechtsextremismus</strong>bekämpfung<br />

kennzeichnet und ihre Tendenzen und Entwicklungen<br />

charakterisiert. Da zudem das Label Landesprogramm ein gern vergebenes ist,<br />

das aber keiner gemeinsam geteilten denitorischen Grundlage folgt, sind erhebliche<br />

Differenzierungen entlang der genannten Vergleichspunkte zu erwarten. Diese<br />

1 Das erste Landesprogramm verabschiedete Brandenburg im Jahr 1999; Schleswig-<br />

Holstein stellte dagegen das jüngste Programm 2013 vor.<br />

2 Die bisher vorliegenden Beiträge zu einzelnen Landesprogrammen sind vor allem<br />

Evaluationen, politische Berichte über die Programmumsetzung, Dokumentationen<br />

und Veröffentlichungen aus den Landesprogrammen heraus. Daneben gibt es einige<br />

Kommentare von Akteuren des Feldes und nur eine geringe Zahl von wissenschaftlichen<br />

Analysen, die sich aber auch dann nur einzelnen politischen Programmen widmen.<br />

Darüber hinaus gibt es natürlich eine breite Forschung, die sich mit Wirksamkeit<br />

und Passfähigkeit von Präventionsstrategien auseinandersetzt.


Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />

405<br />

Unterscheidungsmerkmale beinhalten Hinweise auf den qualitativen Gehalt der<br />

Programme, die die Analyse ebenfalls vorstellt.<br />

2 Datengrundlage und Vorgehen<br />

Die Grundgesamtheit der vorliegenden Expertise bilden Programme, Handlungskonzepte<br />

oder Strategien, die ihrem Selbstverständnis nach ein landesweites Vorgehen<br />

gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> bzw. Ungleichwertigkeitsideologie beinhalten<br />

und die mit ihrer Implementierung zusätzliche Landesmittel auf die Prävention<br />

von <strong>Rechtsextremismus</strong> verwenden. In Rheinland-Pfalz, Bremen, dem Saarland<br />

und Baden-Württemberg liegen derzeit weder koordinierte Programme vor, noch<br />

sind ebensolche Forderungen bereits auf der politischen Agenda angelangt. Dementsprechend<br />

sind diese Länder hier nicht erfasst. Gleichwohl soll damit keine<br />

qualitative Aussage über deren Engagement der <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention angedeutet<br />

werden. Teils bestehen in den Ländern ausdifferenzierte Einzelprojekte<br />

oder erhebliche Förderung durch den Bund. So dokumentiert beispielsweise der<br />

Bremer Senat seine Aktivitäten in unregelmäßigen Berichten über die Entwicklung<br />

von <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit und reektiert vor diesem<br />

Hintergrund die Gegenmaßnahmen. 3<br />

3 Der letzte Bericht erschien 2013 und bildete den fünften seiner Art (Senat der Freien<br />

Hansestadt Bremen, 2013).


406 Franziska Schmidtke<br />

Tabelle 1 Titel und Implementierungsjahr der Landesstrategien zur <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention (kursiv gesetzt sind Programme,<br />

die aktuell erarbeitet werden)<br />

Bundesland Titel Implementierung<br />

Brandenburg „Tolerantes Brandenburg“ – Handlungskonzept der Landesregierung gegen 1998<br />

Gewalt, <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit<br />

Berlin Berliner Landesprogramm gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, Rassismus und Antisemitismus<br />

Sachsen Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz 2005<br />

Mecklenburg-Vorpommern Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken 2006<br />

Thüringen Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit 2010<br />

Sachsen-Anhalt Landesprogramm für Demokratie, Vielfalt und Weltoffenheit 2012<br />

Bayern Bayerisches Handlungskonzept gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> 2009<br />

Schleswig-Holstein Landesprogramm zur Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>bekämpfung<br />

Hamburg Landesprogramm zur Förderung demokratischer Kultur, Vorbeugung und Bekämpfung<br />

von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

Nordrhein-Westfalen Handlungskonzept gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rassismus<br />

Niedersachsen –<br />

Hessen Landesprogramm gegen Rassismus, Antisemitismus und <strong>Rechtsextremismus</strong> –<br />

für Vielfalt und Toleranz in Hessen<br />

2002<br />

2013<br />

2013


Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />

407<br />

Als Datengrundlage dienen die jeweiligen Programme selbst, darüber hinaus aber<br />

auch Landtagsdokumentationen, Presseberichterstattung, wissenschaftliche Publikationen<br />

und Veröffentlichungen aus den Programmen heraus. Erweitert wurde<br />

diese Datengrundlage zudem durch leitfadengestützte Hintergrundinterviews mit<br />

landesspezischen Experten des Feldes. Die zugrunde liegenden Daten wurden<br />

mithilfe einer strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2000) bearbeitet.<br />

4<br />

Die im Text vorgestellten Kategorien und Unterscheidungsmerkmale basieren auf<br />

eben jenen Inhaltsanalysen.<br />

3 Inhaltliche Ausrichtung der Landesprogramme<br />

3.1 Problemdefinitionen und Zielstellungen<br />

Die Titel der Landesstrategien vereinen zunächst eine Reihe von wiederkehrenden<br />

Begrifichkeiten wie die des <strong>Rechtsextremismus</strong> und der Demokratie. Die in den<br />

Titeln zum Ausdruck kommenden Zielstellungen sollen zur Stärkung der Demokratie<br />

beitragen und dabei demokratiegefährdenden Tendenzen entgegen treten.<br />

Wie auch die oben stehende Tabelle 1 zeigt, sind die Ausrichtungen der Programme<br />

meist positiv bestimmt, sie stehen für etwas ein. Dieses Etwas wird mit Begriffen<br />

wie Demokratie, Toleranz oder Weltoffenheit überschrieben. Zugleich formulieren<br />

einige Titel auch eine negative Ausrichtung, wobei sie sich explizit gegen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> wenden.<br />

Damit lassen sich die Programme nur grob unterscheiden. Die Differenzierung<br />

gewinnt erst mit Blick auf die Operationalisierungen von Begriffen wie <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und Demokratie in den Landesprogrammen deutlich an Kontur und<br />

legt zugleich unterschiedliche Problem- und Lösungsstrategien der Länder offen.<br />

Hier treffen die Programme auf eine Begriffsdebatte, deren Untiefen auf teils<br />

jahrzehntelange wissenschaftliche Diskurse zurückgehen und deshalb einem<br />

geteilten, universellen Begriffsverständnis entgegenstehen. Gerade der Begriff<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> bedarf nicht allein für wissenschaftliche Analysen eine trennscharfe<br />

De nition, sondern auch weil er in öffentlichen Auseinandersetzungen<br />

über Ideologien der Ungleichwertigkeit nicht mehr wegzudenken ist. Eben dieser<br />

4 Die Methode nach Mayring vereint quantitative und qualitative Analysestrategien<br />

zu einer Form der Inhaltsanalyse, die flexibel auf das entsprechende Datenmaterial<br />

reagiert. Mayring schlägt drei Typen des Vorgehens vor, die je nach Forschungsziel<br />

ausgewählt werden. Dazu zählen Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung<br />

(vgl. Mayring, 2000).


408 Franziska Schmidtke<br />

Wirkmächtigkeit wohnt aber zugleich einer begrif iche Unsicherheit inne, die es<br />

zwingend notwendig werden lässt, das jeweilige Konzept hinter dem Begriff genauer<br />

darzustellen. Bevor Ausdifferenzierungen und theoretisch-konzeptionelle<br />

Bezugnahmen der Programme in den Vordergrund treten, führen die folgenden<br />

Sätze kurz in die sozialwissenschaftliche Begriffsdebatte ein, die die Unschärfe<br />

des Begriffs verdeutlicht und einordnet.<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> ist in seiner begrif ichen Genese eng an das Konzept des<br />

Extremismus gebunden, welches in den 1960er Jahre Gegenstand politikwissenschaftlicher<br />

Deutungen wurde und sich durch seine Gegnerschaft zum demokratischen<br />

Verfassungsstaat auszeichnet (vgl. Backes, 1989; Kowalsky, 1993).<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> wurde so zunächst ein politischer Begriff, der fortan in Verfassungsschutzberichten<br />

auftauchte und eben solche Bestrebungen beschrieb, die<br />

sich gegen die verfasste Demokratie richten. Ende der 1980er Jahre erschienen eine<br />

Reihe von soziologischen Begriffskritiken- und deutungen, die vor allem Ursachen<br />

des Phänomens fokussierten. Heitmeyer (1992), Friedrich (1992) und andere (etwa<br />

Jaschke, 1994; Melzer & Schubarth 1995; Pilz, 1994) griffen den Kern des Extremismuskonzepts<br />

an, da in den sozialwissenschaftlichen De nitionsvorschlägen<br />

nicht die organisatorisch aufgefangene und kanalisierte Feindlichkeit zu einem<br />

politischen System im Vordergrund stand – sondern individuelle Einstellungen<br />

im sozialen Kontext. Ein weiterer Angriffspunkt ist die dem Extremismuskonzept<br />

inhärente Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus. Bis heute ist dieser<br />

Konikt im Grunde nicht aufgelöst. Durchgesetzt hat sich aber zumindest eine<br />

dimensionale Unterscheidung, die es ermöglicht rechtsextreme Einstellungen von<br />

entsprechenden Verhaltensweisen grundsätzlich zu unterscheiden. Die zahlreichen<br />

empirischen Studien, die seit Beginn der 2000er Jahre die Verbreitung von rechtsextremen<br />

Einstellungen in der Bevölkerung verdeutlicht haben, ließen auch das<br />

Begriffsverständnis des <strong>Rechtsextremismus</strong> von seiner politikwissenschaftlich geleiteten<br />

Verengung auf organisierte Formen wie Parteien, Vereine und Bürgerinitiativen<br />

wegrücken. 5 Studien, die rechtsextreme Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft<br />

6 nachwiesen, unterstützten diese Bedeutungsverschiebungen. Während<br />

5 Dazu zählt das Projekt der Deutschen Zustände (Heitmeyer, 2002 bis 2012), welches<br />

von 2003 bis 2013 jährlich Einstellungen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit<br />

maß, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen und im zweijährlichen<br />

Modus abgefragten, sogenannte „Mitte-Studien“, sowie einige Regionalstudien<br />

wie der Thüringen-Monitor und eingeschränkt auch der Sachsen-Anhalt-Monitor.<br />

6 Wiederholt kritisiert wurde zugleich die Operationalisierung einer gesellschaftlichen<br />

Mitte. Unabhängig von diesen Unschärfen aber, zeigten die Studien einhellig wie<br />

rechtsextreme Einstellungen in allen Teilen der Bevölkerung vorhanden sind und auch<br />

aus diesem Grunde eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung darstellen.


Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />

409<br />

im Hufeinsenmodell (eine gern gewählte Visualisierung der Extremismustheorie)<br />

allein zwischen der demokratischen Mitte und den extremistischen Rändern unterschieden<br />

wird, zeigen die Ergebnisse der Einstellungsforschung deutliche Facetten<br />

auf, welche die Dualismen von Mitte vs. Rand und demokratisch vs. extremistisch<br />

aufheben. Eben für solche Messungen im Einstellungsbereich gab es wiederholte<br />

Versuche, ein einheitliches Messinstrument festzulegen und damit auch einen<br />

Konsens über den Charakter des Phänomens herzustellen (vgl. Kreis, 2007; Best &<br />

Schmidtke, 2013). Während der Konsens über eine verbindliche Messkonvention<br />

scheiterte, erweist sich doch die De nition rechtsextremer Einstellungen als eine<br />

auf Ungleichwertigkeitsvorstellungen basierende Ideologie als treffsicher und bis<br />

heute als tragfähig. Die Ideologie der Ungleichwertigkeit ist daher eine adäquate<br />

begrifiche Alternative für rechtsextreme Einstellungen, die in Fachdiskursen<br />

durchaus genutzt wird, aber in politischen und öffentlichen Debatten der Vokabel<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> nicht den Rang abläuft.<br />

Wie verorten sich nun die Landesprogramme in diesen Debatten, welche Bezüge<br />

greifen sie auf und welche Anknüpfungspunkte wählen sie? Es wurde bereits<br />

deutlich, dass die Landesprogramme vom Begriff <strong>Rechtsextremismus</strong> keinen<br />

Abstand nehmen. Darüber hinaus ndet sich aber in den Texten der Landesprogramme<br />

deutliche Differenzierung, die sich auf den Polen zwischen Vertretern<br />

des Extremismuskonzepts und Vertretern einer (vereinfacht gesagt) soziologischen<br />

Konzeption beschreiben lassen. Die nachfolgende Tabelle verzeichnet einige<br />

Merkmale die eine Verortung der Landesprogramme auf einer konzeptionell-theoretischen<br />

Ebene erleichtern.


410 Franziska Schmidtke<br />

Tabelle 2 Theoretisch-konzeptionelle Verortung der Programme<br />

Land Brandenburg Berlin Sachsen Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

Thüringen Sachsen-<br />

Anhalt<br />

Bayern Schleswig-<br />

Holstein<br />

Lagebild Nein Ja Nein Ja Ja Ja Ja Ja Ja<br />

Gefährdungspotenzial<br />

Deformierung<br />

des<br />

demokratischen<br />

Gemeinwesens<br />

Ursachenbeschreibung<br />

Individualisierung,<br />

fehlende<br />

Geschichtsaufarbeitung,<br />

makrosoziale<br />

Ent wicklungen<br />

Friedliches<br />

Zusammenleben<br />

Nicht benannt<br />

Angriff<br />

auf<br />

FDGO<br />

Nicht<br />

benannt<br />

Dezite der<br />

demokratischen<br />

Kultur<br />

Angriff<br />

auf Gesellschaftsordnung<br />

Gefährdung<br />

der<br />

demokratischen<br />

Kultur,<br />

Angriff auf<br />

FDGO<br />

Gefahr für<br />

Staats- und<br />

Verfassungsordnung<br />

vielgestaltig<br />

Distanz<br />

a<br />

zur demokratischen<br />

Praxis<br />

Angriff<br />

auf<br />

FDGO<br />

Nicht<br />

benannt<br />

Nicht benannt<br />

Nicht benannt<br />

Erwähnung<br />

anderer<br />

Extre -<br />

mismen<br />

Fokus Ausdifferen-<br />

Ausdifferenzierunzierung<br />

von<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong><br />

b extremis-<br />

von Rechtsmus<br />

(GMF)<br />

Extremismus<br />

Nein Nein Nein Nein Ja Ja Nein Ja Nein<br />

Extremismus Mischtypus<br />

Extremismus<br />

c Extremismus<br />

Ausdifferenzierung<br />

von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

Hamburg<br />

Grundsätze<br />

eines<br />

toleranten<br />

und demokr.<br />

Zusammenlebens<br />

Psychologische<br />

Faktoren,<br />

Sozialisation,<br />

makrosoziale<br />

Entwicklungen<br />

Ausdifferenzierung<br />

von<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong><br />

(GMF)


Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />

411<br />

Anmerkungen zu Tabelle 2:<br />

a Einige weitere Hinweise gibt die dem Landesprogramm vorangestellte Expertise „Gefährdungen<br />

der demokratischen Kultur in Thüringen. <strong>Rechtsextremismus</strong> und politische<br />

Entfremdung“ (Edinger, 2010).<br />

b Konkret auf Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.<br />

c Das Landesprogramm wendet sich gegen alle Formen des Extremismus, differenziert<br />

anschließend aber sehr deutlich rechtsextreme Ideologiefragmente aus und stellt diese<br />

klar in den Vordergrund.<br />

Eines der wenigen eindeutig zuordenbaren Programme liefert Hamburg. Hierin<br />

ist festgeschrieben: „<strong>Rechtsextremismus</strong> ist ein von Ungleichwertigkeitsvorstellungen<br />

geprägtes Einstellungsmuster.“ (Hamburg – Stadt mit Courage, 2013, S. 7)<br />

Diametral entgegengesetzt lässt sich Bayern einordnen. Im dortigen Handlungskonzept<br />

heißt es:<br />

„Politischen Extremismus kann man als eine gesteigerte Form des Radikalismus<br />

verstehen, der fundamentale Veränderungen an unserer Gesellschaftsordnung anstrebt<br />

und dabei die Grenzen des demokratischen Rechtsstaats in Frage stellt oder<br />

überschreitet. Er bedeutet einen Angriff auf die freiheitliche demokratische Grundordnung<br />

des Grundgesetzes.” (Bayrisches Handlungskonzept gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />

2009,S. 6)<br />

Zwischen diesen Extrempunkten, die sich auf ein sozialwissenschaftliches Konzept<br />

bzw. auf das Extremismustheorem beziehen, ordnen sich alle anderen Programme<br />

ein. Sachsen-Anhalt deniert zwar ebenfalls Extremismus als einen Angriff<br />

auf dem demokratischen Verfassungsstaat, unterscheidet dabei aber zugleich<br />

zwischen Einstellungen und Verhaltensweisen: „Alle extremistischen Einstellungen<br />

und Bestrebungen richten sich gegen die Grundlage des demokratischen<br />

Verfassungsstaates und den Kernbestand des Grundgesetzes und stelle somit eine<br />

Gefahr für unsere Staats- und Verfassungsordnung dar.“ (LzpB und Netzwerk für<br />

Demokratie und Toleranz, 2012). Auch Thüringen bedient sich verschiedener Bezüge,<br />

die eine eindeutige Zuordnung zu einem Idealtypus verhindert. Im Landesprogramm<br />

für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit heißt es: „Die Gefährdung<br />

der demokratischen Kultur geht in Thüringen gegenwärtig vorrangig vom <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

aus. Dabei ist eine getrennte Betrachtung von Einstellungen und Verhalten<br />

sinnvoll.“ (TMSFG, 2012, S. 12). In weiteren Passagen nimmt das Thüringer<br />

Landesprogramm jedoch auch Bezug auf Linksextremismus und islamistischen<br />

Extremismus, die ebenso wie der <strong>Rechtsextremismus</strong> im Widerspruch zur freiheitlichen<br />

demokratischen Grundordnung (FDGO) stehen. Auch wenn die Programme<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> als eine Gefährdung der FDGO konstatieren, liegt hierin<br />

ein Hinweis auf eine Anlehnung an die Extremismustheorie zugrunde. Eine solche


412 Franziska Schmidtke<br />

Darstellung untermauert nämlich die Einschätzung, <strong>Rechtsextremismus</strong> fokussiere<br />

sich auf normabweichende Verhaltensweisen. Im Gegensatz dazu orientieren<br />

sich Länder mit einem eher sozialwissenschaftlich geprägten Begriffsverständnis<br />

auf eine Gefährdung des friedlichen, demokratischen Zusammenlebens.<br />

Besonders deutlich wird die Differenzierung in die zwei Idealtypen der konzeptionell-theoretischen<br />

Anbindung bei der Darstellung von Ursachen für die Problemlage.<br />

Wie schon angedeutet, haben die in den 1990er Jahren beginnenden<br />

soziologischen Analysen stärker auf die Ursachen und Umstände des Phänomenbereichs<br />

geblickt. Gerade Heitmeyer, der an die Zeitdiagnosen von Ulrich Beck<br />

(1996) anschloss, beschrieb Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse als<br />

wichtige Hintergrundvariablen für das Auf ackern rechtsextremer Ideologien zu<br />

Beginn der 1990er Jahre. Hier rücken makrosoziale Entwicklungen in den Vordergrund<br />

der Ursachenanalyse. In der wissenschaftlichen Debatte komplementieren<br />

zwei weitere Ursachenbündel das Verständnis über die Entstehung rechtsextremer<br />

Einstellungen und Verhaltensweisen. Psychologisch dominierte Erklärungen<br />

setzen auf Individualebene an und sozialpsychologische Einsichten ergänzen<br />

Einussfaktoren auf Mesoebene (vor allem Intergruppenbeziehungen). Ähnlich<br />

ausdifferenzierte und umfassende Ursachenbeschreibungen nden sich in solchen<br />

Programmen wieder, die dem Idealtypus der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit<br />

folgen. Darüber hinaus orientieren sich einzelne Programme auch<br />

an den Ein üssen fehlender demokratischer Praxis, die auf die Entwicklung von<br />

rechtsextremen Einstellungen und Verhaltensweisen hinwirken können. Immerhin<br />

vier Landesprogramme aber reektieren die Ursachen für ein zu begegnendes<br />

Phänomen überhaupt nicht. Denn in der Tat können diese beiden Variablen, eine<br />

Situations- und eine Entstehungsanalyse, auch als Hinweise auf die Symbol- bzw.<br />

Ernsthaftigkeit der Programme gewertet werden, schließlich können die hochgesteckten<br />

Programmziele nur durch passgenaue Gegenmaßnahmen erreicht werden,<br />

die eben solche Analysen als Grundlage benötigen.<br />

Neben der Problemde nition lassen sich die Programme durch ein weiteres<br />

Charakteristikum inhaltlich bestimmen. Die Tabelle 1, in der die Programmtitel<br />

zusammengeführt sind, verdeutlicht, dass neben der Auseinandersetzung mit dem<br />

Phänomen <strong>Rechtsextremismus</strong> auch eine starke demokratiefördernde Komponente<br />

in den Programmen verankert ist. Verbunden ist diese positive Ausrichtung<br />

zumeist noch mit Werten wie Toleranz und Weltoffenheit. Diese positiven Bestimmungen<br />

bilden eine zweite Dimension, um die Landesprogramme inhaltlich<br />

zu verorten und vergleichen zu können. Spiegelt nämlich auch das Leitbild, die<br />

Zielindikatoren und die Handlungsfelder eine starke demokratiestärkende Fokussierung<br />

wieder, ist eine Schwerpunktsetzung in der Primärprävention nur konsequent.<br />

In diesem Fällen rückt die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Rechts-


Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />

413<br />

extremismus, als demokratiegefährdende Negativschablone, in den Hintergrund,<br />

und stattdessen soll die Demokratieförderung, als Prävention für eben solche demokratiegefährdende<br />

Einstellungen im Vordergrund stehen. Besonders deutlich<br />

ist dieser Aspekt bei den Landesprogrammen von Mecklenburg-Vorpommern und<br />

Schleswig-Holstein. Hier hat man die klassische Auseinandersetzung mit <strong>Rechtsextremismus</strong>-Akteuren,<br />

die in der Förderung der Bundesprogramme stehen, überlassen<br />

und ergänzt diese durch demokratiepädagogische Präventionsinhalte, die<br />

stark auf Kinder und Jugendliche sowie Multiplikatoren und Berufsgruppen in<br />

Kontakt mit Kindern und Jugendlichen ausrichten.<br />

3.2 Verortung der Maßnahmen<br />

Die Leitbilder der Landesprogramme enthalten also unterschiedliche Konzepte<br />

über ihre Ziele und das Phänomen, gegen welchen sie sich wenden. Davon bleiben<br />

auch die Gegenmaßnahmen, zumindest in ihrem konzeptionellen Zuschnitt,<br />

so wie sie im Leitbild formuliert sind, nicht unbeeindruckt. Vielmehr leiten sie<br />

sich sachlogisch von den Problemwahrnehmungen ab. So kann etwa, wenn <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

als Angriff auf den demokratischen Verfassungsstaat deniert wird,<br />

als Gegenmaßnahme nicht allein politische Bildung eingesetzt werden, vielmehr<br />

ist dann davon auszugehen, dass vielfältige Mittel der Repression zum Einsatz<br />

kommen, die dem verhaltensbasierten Gefahrengut entgegentreten.<br />

Um hier eine Verortung vornehmen zu können, ist der Rückgriff auf die Begriffsgeschichte<br />

der Prävention hilfreich. Caplan (1964) bietet eine psychologische<br />

Differenzierung an. Er untergliedert Prävention in einem Dreischritt, der<br />

parallel zu den heutigen Begriffsverständnissen von Prävention, Intervention und<br />

Repression verläuft. Dieser grundlegenden Differenzierung folgten eine ganze<br />

Reihe weiterer feinerer Untergliederungsvorschläge, die aber für eine Zuordnung<br />

der Landesprogramme wenig geeignet sind, da die Programme nicht über die dafür<br />

notwendige Prägnanz verfügen.


414 Franziska Schmidtke<br />

Tabelle 3 Präventionsstufen nach Caplan (1964)<br />

Primäre Prävention Sekundäre Prävention Tertiäre Prävention<br />

Bedeutung gesellschaftliche<br />

Bedingungen für<br />

regelkonformes<br />

Verhalten schaffen<br />

Maßnahmen Aufklärung,<br />

Beratung, Bildung,<br />

Qualizierung<br />

Verhinderung von<br />

Normverletzungen<br />

Gegendemos, Opferhilfe,<br />

Aufarbeitung<br />

Direkte Auseinandersetzung<br />

mit dem<br />

Phänomen<br />

Gesetzeslage, Strafverfolgung<br />

Zielgruppen Alle Gefährdete Manifest Betroffene<br />

Folgen wir daher Caplans Differenzierung, lassen sich Schwerpunkte der Landesprogramme<br />

darin einordnen. Auch hier gilt es eine idealtypische Einordnung<br />

vorzunehmen, die zunächst allein auf den politischen Dokumenten aufbaut, nicht<br />

auf die Förderpraxis.<br />

Tabelle 4 verzeichnet Schwerpunkte der Gegenstrategien. Keines der Landesprogramme<br />

ist vollkommen einseitig auf eine der drei Präventionsformen fokussiert.<br />

Vielmehr nden wir vor allem übergreifende Ansätze vor, die zumindest<br />

in den grundlegenden politischen Papieren verschiedene Bereiche der Prävention<br />

abdecken. Der Bereich der Primärprävention ist dabei gerade bei den neueren Programmen<br />

bzw. Programmüberarbeitungen in den Vordergrund gerückt. Besonders<br />

im Fokus steht dabei die Fürsorge des Staates durch Demokratieförderung und<br />

-entwicklung. So ist etwa im erst 2013 implementierten Programm aus Schleswig-<br />

Holstein dem Titel nach die Ausrichtung klar gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, in seiner<br />

strukturellen Förderung unterstützt es hingegen die ächendeckende Demokratieentwicklung<br />

im Land. Auch Mecklenburg-Vorpommern hat in seiner Umsetzungsstrategie<br />

von 2008 einen deutlichen Schwerpunkt auf eben solche Themen formuliert,<br />

und ebenso nimmt das überarbeitete Brandenburger Handlungskonzept aus<br />

dem Jahr 2005 Demokratieentwicklung und die Förderung der demokratischen<br />

Kultur als ein Ziel auf.


Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />

415<br />

Tabelle 4<br />

Zentrale Gegenstrategien der Landesprogramme<br />

Land<br />

Dominierende<br />

Gegenstrategie<br />

Brandenburg Prävention Stärkung demokratischer<br />

Kultur<br />

Zielstellung Zielgruppen<br />

Berlin Prävention Stärkung u. Weiterentwicklung<br />

einer Kultur<br />

der Anerkennung, Antidiskriminierung,<br />

des<br />

Respekts und Menschenwürde<br />

Sachsen b<br />

Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

Prävention,<br />

Repression<br />

Prävention<br />

Thüringen Prävention,<br />

Repression<br />

Sachsen-Anhalt Prävention,<br />

Repression<br />

Stärkung der demokratischen<br />

Kultur und der<br />

FDGO<br />

Nachhaltige Stärkung<br />

der Zivilgesellschaft<br />

Aktivierung der Zivilgesellschaft<br />

Wachsende Sensibilisierung<br />

gegenüber<br />

demokratie-feindlichen<br />

Angeboten<br />

Bayern Repression Jeder Form von Extremismus<br />

entgegentreten<br />

Schleswig-<br />

Holstein<br />

Hamburg<br />

Prävention<br />

Prävention,<br />

Intervention<br />

Stärkung der demokratischen<br />

Zivilgesellschaft<br />

d<br />

Öffentlichkeit sensibilisieren,<br />

Bildung,<br />

Institutionen stützen,<br />

Betroffene stärken<br />

Kinder & Jugendliche,<br />

Initiativen, Betroffene,<br />

Bildungseinrichtungen,<br />

Pädagogen, Zuwanderer<br />

Jugendliche, Multiplikatoren,<br />

Initiativen,<br />

Betroffene<br />

Nicht ausformuliert<br />

Alle an Demokratisierungsprozessen<br />

beteiligte<br />

Personen c<br />

Kinder, Jugendliche,<br />

Gefährdete, Täter,<br />

Initiativen, Pädagogen<br />

Jugend, Betroffene,<br />

Zugewanderte, Täter<br />

Täter, Jugendliche,<br />

Eltern, Pädagogen<br />

Kinder, Jugendliche,<br />

Lehrkräfte und Pädagogen<br />

Kinder, Jugendliche,<br />

Betroffene, Institutionen,<br />

Multiplikatoren<br />

a Das Leitziel wird konkretisiert auf: Demokratische Diskurse unterstützen, verbessertes<br />

Wissen ermöglichen, Demokratiekompetenz stärken, Minderheitenschutz und die<br />

Partizipation von Minderheiten weiterentwickeln, partizipative Alltagspraxis erlebbar<br />

machen, Interkulturalität festigen und fördern (Vgl Senatsverwaltung für Arbeit, Integration<br />

und Frauen, 2012, S. 3ff.).<br />

b Datengrundlage im Falle Sachsens ist die Förderrichtlinie des Programms „Weltoffenes<br />

Sachsen“, die Auswertung der Sachberichte zur Förderperiode 2005 (vgl. Sächsische<br />

Staatskanzlei, 2006 und der Koalitionsvertrag von 2009).<br />

c Konkret erwähnt werden: Politiker, Parteien, Kirchen, Vereine u. Verbände, Gremien<br />

der Wirtschaft, Kultur u. Wissenschaft, Bürger.<br />

d Die Aufzählung nennt zudem: Demokratie- und Toleranzerziehung, soziale Integration,<br />

interkulturelles und interreligiöses Lernen, antirassistische Bildungsarbeit, kulturelle<br />

und geschichtliche Identität sowie die Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebungen“<br />

(Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein, 2013, S. 6).


416 Franziska Schmidtke<br />

Dieser übergreifende Fokus auf Primärprävention kann weiter ausdifferenziert<br />

werden. 7 Wie schon im vorigen Kapitel angesprochen, beziehen sich die Landesprogramme<br />

gerne positiv auf eine demokratische Kultur. Deren Absicherung und<br />

Förderung können jedoch auf sehr verschiedenen Ebenen durchgesetzt werden.<br />

Eine Beratung von kommunalen Verwaltungsstellen etwa adressiert ein politisches<br />

Subsystem, das vielfach als Rahmen für die Handlung Einzelner und Gruppen<br />

wirkt und damit eine Struktur auf Makroebene darstellt. Andererseits können die<br />

Förderpraktiken aber auch auf Gruppen, wie Aktionsbündnisse, also einer Mesoebene,<br />

oder ganz grundlegend beim Individuum, und damit der Mikroebene,<br />

ansetzen. 8 Eine solche Ebenenunterscheidung parallel zum Ordnungsvorschlag<br />

nach Caplan ist hilfreich, um weitere Differenzierungen zwischen den Landesprogrammen<br />

sichtbar zu machen. Bundesländer etwa, die mit ihren Programmen<br />

zivilgesellschaftliche Gruppen aktivieren, ja sogar erst etablieren wollten, förderten<br />

dementsprechend auf einer Mesoebene. In den neuen Bundesländern stellte<br />

eben dieser Aufbau zum Beispiel vielfach zunächst eine Aufgabe der Programme<br />

dar. Brandenburg begleitete diesen Prozess intensiv durch seine Förderpraxis und<br />

initiierte etwa 1998 das Aktionsbündnis gegen Gewalt, <strong>Rechtsextremismus</strong> und<br />

Fremdenfeindlichkeit und 2002 den Landespräventionsrat. Auch in Mecklenburg-<br />

Vorpommern ist dies der Fall. Zunehmende Bedeutung gewann die Gemeinwesensberatung,<br />

also die gezielte Fortbildung, Beratung und Begleitung kommunaler<br />

Strukturen in ihrer Sensibilität für demokratische Partizipations- und Verfahrensweisen.<br />

Daneben wirken die Landesprogramme in unterschiedlichem Maße strukturbildend.<br />

So lassen sich die Programme unterscheiden nach solchen, die einige<br />

Strukturen und Träger mit einem bestimmten Aufgabenprol nanziell unterstützen<br />

und solchen, die vorrangig fortwährende Projektförderungen zur Verfügung<br />

stellen, auf die sich grundsätzlich alle Vereine, Initiativen und Institutionen im<br />

Land bewerben können. Strukturförderungen sind vor allem in Bereichen wie der<br />

Gemeinwesensberatung und der Opferberatung angesiedelt. Sie sollen landesweit<br />

oder zumindest überregional zur Verfügung stehen und stellen wichtige Säulen<br />

einer Landesstrategie dar. Dagegen widmet sich die allgemeine Projektförderung<br />

ganz breit der Umsetzung der Programmziele. Ihr nanzieller Aufwand ist zumeist<br />

begrenzt, beispielsweise stellt Thüringen auch kleinere Summen für Mikroprojekte,<br />

so genannte „Feuerwehrmittel“, zur Verfügung, die in einem Schnell-<br />

7 Entwicklungspotenzial bei der Analyse von Präventionsstrategien bemängeln auch<br />

Rot, Geseman und Aumüller in ihrer Evaluation des Berliner Programms (2010).<br />

8 Berlin formuliert in einem Handlungsfeld einen konkreten Bildungsauftrag und fokussiert<br />

damit die Individualeben.


Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />

417<br />

verfahren abgerufen werden können, um beispielsweise die Vorbereitung oder die<br />

Anfahrt zu einer Demonstration abzusichern.<br />

In dem erst 2013 verabschiedeten Hamburger Landesprogramm dominiert dagegen<br />

eindeutig die Projektförderung. 9 Die Hansestadt als urbanes Zentrum konnte<br />

bei der Aushandlung ihres Programms bereits auf gut entwickelte Strukturen<br />

zurückgreifen. Das Hamburger Beratungsnetzwerk ist zum Beispiel eine zentrale,<br />

strukturbildende, Einrichtung für den Stadtstaat und be ndet sich in Förderung<br />

der Bundesprogramme. Daher war in diesem Fall der Bedarf an weiterer Strukturbildung<br />

nicht gegeben und ndet somit auch keinen Niederschlag im Landesprogramm.<br />

Stattdessen gingen die für 2014 eingeplanten 500.000€ vollständig in<br />

die Projektförderung.<br />

Ausgeschlossen sind Projektförderungen in den Programmhaushalten von<br />

Schleswig-Holstein und Bayern. In Schleswig-Holstein ießt der vergleichbar<br />

kleine Finanzrahmen von 300.000€ jährlich allein in die Personal- und Sachmittelausstattung<br />

der Regionalzentren für Demokratiebildung. Auch Bayern sieht<br />

keine Projektmittel in seinem Handlungskonzept vor. Darüber hinaus ist aber hier,<br />

anders als in Schleswig-Holstein, auch die Förderung, die durch das Handlungskonzept<br />

angekündigt wird, ausschließlich auf staatliche Stellen und Behörden<br />

wie Polizei, Verfassungsschutz und Jugendämter ausgerichtet. Eine Förderung<br />

zivilgesellschaftlicher Initiativen ndet nicht statt. Mit dieser expliziten und ausschließlichen<br />

staatlichen Ausrichtung sticht das bayrische Handlungskonzept in<br />

der Programmlandschaft besonders hervor. Etablierte Strukturprojekte sind von<br />

dem Beispiel Bayern abgesehen zumeist in zivilgesellschaftlicher Trägerschaft,<br />

werden als weitgehend unabhängiger Partner wahrgenommen und von den Landeskoordinierungsstellen<br />

zwar betreut, aber nicht vollständig gesteuert. Beispielhaft<br />

für dieses Vorgehen ist etwa der „Berliner Ratschlag für Demokratie“ oder<br />

die Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) in<br />

Brandenburg. Zumeist stellen die Programme aber beides, also Projektmittel und<br />

Strukturförderung, bereit.<br />

4 Strukturelle Zuschnitte der Landeprogramme<br />

Um die hochgesteckten Ziele der einzelnen Strategien auch nur nahe kommen zu<br />

können und die inhaltliche Arbeit in den Vordergrund zu stellen, benötigen die<br />

Landesprogramme eine funktionierende Struktur. Ferner drücken auch einige<br />

Strukturmerkmale der Programme die Nachdrücklichkeit des politischen Willens<br />

9 Projektförderung steht weiterhin in Sachsen im Vordergrund.


418 Franziska Schmidtke<br />

aus, der in allen Papieren zum Ausdruck kommt, in der umgesetzten Struktur aber<br />

unterfüttert werden muss.<br />

Eines dieser Merkmale ist der Anspruch, dass die Landesprogramme tatsächlich<br />

Maßnahmen und Bestrebungen als politische Querschnittsaufgabe erfassen.<br />

Praktisch kann dies umgesetzt werden, indem alle Ministerien an den Programmen<br />

beteiligt sind. Wohlbekannte Instrumentarien der Ministerialbehörden sind dafür<br />

sogenannte interministerielle Arbeitsgruppen (IMAG). Darin sind Ansprech- und<br />

Kontaktpersonen verschiedener (nicht unbedingt aller) Ministerien vertreten und<br />

bringen dabei die unterschiedlichen Maßnahmen, Ansätze und Instrumentarien<br />

ihres Ressorts ein. In der Tat sind solche Arbeitsgruppen in den meisten Bundesländern<br />

implementiert. Allein Bayern, Sachsen und Schleswig-Holstein nutzen<br />

das Instrumentarium nicht. In Schleswig-Holstein ist dieser Zustand der Tatsache<br />

geschuldet, dass es sich um ein Programm handelt, das stark auf die Strukturbildung<br />

orientiert ist. Hier werden keine Mittel für Projektanträge verteilt, sodass die<br />

vergleichsweise statische Förderpraxis eine IMAG nicht unmittelbar notwendig<br />

erscheinen lässt. Zudem zählt das schleswig-holsteinische Programm das landesweite<br />

Beratungsnetzwerk zu seiner Struktur und hierin sind nicht alle, aber doch<br />

eine Reihe von Ministerien vertreten, 10 sodass auch hier die ressortspezischen<br />

Sichtweisen zu einem Teil des Landesprogramms gehören. In Sachsen ist die<br />

Struktur des Landesprogramms etwas untypisch aufgebaut. Hier entscheidet die<br />

Geschäftsstelle des Landesprogramms über die Projektförderung, allerdings unter<br />

Beteiligung der fachlich zuständigen Ressorts. Es gibt einen Koordinator des Programms.<br />

Bayern andererseits kennt eine solche Vernetzung der Ministerien nicht<br />

in seinem Handlungskonzept. Die betreuende Informationsstelle gegen Extremismus<br />

ist aus dem Fachressort des Inneren besetzt – und eine weitere begleitende<br />

Struktur ist nicht vorhanden. Von diesen Fällen abgesehen nden wir in allen Landesprogrammen<br />

eine IMAG als Teil der tragenden Struktur. Ihr Aufgabenbereich<br />

differiert hingegen und reicht von Bündelung bis hin zu Programmüberwachung<br />

und Vergabeinstanz. In einzelnen Fällen, wie Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-<br />

Vorpommern, geht aus der IMAG noch eine weitere kleine Gruppe hervor, besetzt<br />

aus Vertretern von Ministerien, die besonders involviert sind. Diese, in Sachsen-<br />

Anhalt genannte Steuerungsgruppe, besitzt eine abstimmende Funktion zwischen<br />

Programmbeirat und IMAG und in Mecklenburg-Vorpommern ist der Vergaberat<br />

für die Vergabe der Fördermittel verantwortlich. In Mecklenburg-Vorpommern<br />

kommt der IMAG ein besonders großer Aufgabenbereich zu, der von Begleitung<br />

10 Konkret sind dies: Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft, das Innenministerium,<br />

das Ministerium für Justiz, Kultur und Europa und das Ministerium für Soziales,<br />

Gesundheit, Familie und Gleichstellung des Landes Schleswig Holstein.


Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />

419<br />

der Arbeit der Regionalzentren für demokratische Kultur, über eine Stärkung und<br />

Bündelung bestehender Landesförderprogramme in diesem Feld bis hin zur Koordinierung<br />

des Mitteleinsatzes reicht.<br />

Die Zentren der Programme sind die Koordinierungsstellen, die einen Knotenpunkt<br />

in der häug zunächst unübersichtlich wirkenden Förderstruktur bilden. Sie<br />

setzen das Landesprogramm um; sie steuern und vernetzen dabei zumeist Projekte<br />

der Landesförderung als auch Projekte, die in Bundesförderung stehen. Somit ießen<br />

hier (oft) Bundes- und Landesprogramm in einer Stelle zusammen, was aus<br />

fachlicher und pragmatischer Sicht begrüßenswert ist. Allein in Bayern verläuft<br />

die Koordination der Bundes- und Landesmittel getrennt voneinander ab. Die Anbindung<br />

dieser Stellen ist unterschiedlich geregelt. Sie nden sich meist in einem<br />

Sozial- oder Bildungsministerium wieder, bzw. in einer diesen Ressorts nachgeordneten<br />

Einrichtung wie den Landeszentralen für politische Bildung. Seltener sind<br />

die Innenministerien mit der Betreuung betraut. Dabei ist die konkrete Anbindung<br />

nicht ohne Implikationen. Wiederholt wurde etwa in Brandenburg gefordert, die<br />

Koordinierung direkt an der Staatskanzlei anzubinden, um die politische Bedeutung<br />

des Programms zu unterstreichen. Hingegen hat die Anbindung auf Referatsebene<br />

keine besondere politische Ausstrahlung. Ebenfalls in Brandenburg gab es<br />

sogar – vorübergehend, im Jahr 2002 – eine Beauftragte der Landesregierung für<br />

die Umsetzung des Landesprogramms. Eine solche herausgehobene Stellung kann<br />

der Sichtbarkeit eines Programms durchaus behil ich sein. Derweil sind die Programme<br />

mit Ansiedlung an das Innenressort auch inhaltlich dem zuzuordnen; es<br />

sind die Programme, die stärker auf eine (staatliche) Auseinandersetzung mit dem<br />

vor allem gewalttätigen Phänomen vorsehen wie Bayern und Sachsen.<br />

Schließlich sind die meisten Programme noch mit einer dritten Institution ausgestattet.<br />

In einem Programmbeirat (die Bezeichnung variiert) sind Vertreter von<br />

der Zivilgesellschaft und Akteure der Projektlandschaft repräsentiert sowie politische<br />

Vertreter, Experten aus Wissenschaft und Forschung und Vertreter der Landesverwaltung,<br />

um die Umsetzung des Programms gemeinsam zu beraten. Neben<br />

der ressortübergreifenden Umsetzung durch eine IMAG können so Träger der<br />

Förderlandschaft und politische Vertreter aller Parteien zusammentreten. Vorteil<br />

einer solchen Konstruktion ist die breite Partizipation, die das Programm sogleich<br />

in besonderem Maße legitimiert und Kon ikte über die Verteilung von Fördermitteln<br />

frühzeitig unterbinden kann.


420 Franziska Schmidtke<br />

Tabelle 5<br />

Struktur der Landesprogramme<br />

Brandenburg<br />

Berlin<br />

Sachsen<br />

Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

Thüringen<br />

Sachsen-Anhalt<br />

Bayern<br />

Schleswig-Holstein<br />

Hamburg<br />

a Doppelhaushalt 2013/2014.<br />

Ministerium für Bildung,<br />

Jugend und Sport<br />

Landesstelle für Gleichbehandlung<br />

– gegen Diskriminierung,<br />

Integrationsbeauftragen<br />

Landespräventionsrat – Innenministerium<br />

/ Koordinator des<br />

Programms<br />

Landeszentrale für politische<br />

Bildung – Ministerium für<br />

Bildung, Wissenschaft und<br />

Kultur<br />

Ministerium für Familie,<br />

Soziales und Gesundheit<br />

Geschäftsstelle des Netzwerks<br />

für Demokratie und Toleranz<br />

in der Landeszentrale für<br />

politische Bildung – Kultusministerium<br />

Bayrische Informationsstelle<br />

gegen Extremismus – Innenministerium<br />

Rat für Kriminalitätsverhütung<br />

Ministerium für Inneres<br />

und Bundesangelegenheiten<br />

Behörde für Arbeit, Soziales,<br />

Familie und Integration<br />

Ja Nein 1,2<br />

Ja Nein 2,5<br />

Nein Ja 3,26 a<br />

Ja Nein k.A.<br />

Ja Ja 3,7<br />

Ja Ja k.A.<br />

Nein Nein k.A.<br />

Nein Ja 0,3<br />

Ja Nein 0,5<br />

Land Koordinierung IMAG Programmbeirat<br />

Haushaltsansatz<br />

2014<br />

in Mio. €<br />

5 Fazit<br />

Zunächst die gute Nachricht: Die nun fast ächendeckende Verwendung von Landesprogrammen<br />

zur <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention und Demokratieförderung ist<br />

begrüßenswert. Sie verdeutlichen, dass ein übergreifendes Problembewusstsein<br />

und Handlungsdruck besteht. Dabei unterscheiden sich die Programme, trotz


Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />

421<br />

ähnlicher Kernelemente, in Ausrichtung, Zielstellung und struktureller Umsetzung<br />

teils erheblich. Es war Aufgabe des vorliegenden Artikels, diese herauszuarbeiten.<br />

Über die Feststellung von Unterschieden hinaus schließt sich nunmehr die Frage<br />

an, welches Vorgehen nun (sozusagen) das Angemessene, das Wirksame und<br />

das Erfolgreiche ist. Wie schon in der Einleitung bemerkt, müssen hierfür die jeweiligen<br />

Kontextfaktoren bedacht werden. In Mecklenburg-Vorpommern etwa hat<br />

sich seit dem Einzug der NPD in den Schweriner Landtag ein politischer Konsens<br />

durchgesetzt, der es impliziert, und die Dokumente lassen diesen Schluss zu, dass<br />

dortige Handlungskonzept im Landtag in seinen Grundsätzen nicht anzugreifen.<br />

Politische Debatten um die Ausrichtung, um Gleichzeitigkeit von Rechts- und<br />

Linksextremismus im Land, haben so keinen Platz im Landtag. Anders sieht es<br />

in Ländern wie Hessen aus, in der der politische Streit im Landtag geradezu zelebriert<br />

wird und als Element der regionalen politischen Kultur zu bedenken gibt.<br />

Auch lässt die verschiedene Verankerung organisierter rechtsextremer Gruppen<br />

unterschiedliche Herangehensweisen und Auseinandersetzungen mit dem Phänomen<br />

zu. So wird eine Konzeption in Schleswig-Holstein notwendigerweise anders<br />

aussehen müssen als in Brandenburg.<br />

Mit diesen einschränkenden Bemerkungen im Rücken bleibt trotzdem der Blick<br />

über den Tellerrand fruchtbar. Theoretisch-konzeptionelle Differenzierungen der<br />

Programme betreffen die Problemdenition. Dabei spiegeln die Differenzierungen<br />

wissenschaftliche Diskurse wider, die sich historisch gesehen zu großen Teilen<br />

auch entlang dieser entwickeln. Die theoretisch-konzeptionellen Unterscheidungen<br />

übertragen sich zudem auf die Auswahl der Gegenmaßnahmen. So zeigte die<br />

inhaltliche Ausrichtung der Landesprogramme durchaus einen länderübergreifenden<br />

Entwicklungsprozess, der Prävention, Intervention und Repression als sich<br />

gegenseitig ergänzende Maßnahmen fasst, sowie dabei zugleich aber repressive<br />

Programmteile zunehmend verringert und stattdessen vielfältige primärpräventive<br />

Mittel in den Vordergrund stellt. Zudem sind es verstärkt Vorgehensweisen, die<br />

auf makrosoziale Umstände gerichtet sind, also beispielsweise Gemeinwesensberatung,<br />

hervorheben.<br />

Neben der inhaltlichen Ausrichtung wurde die Binnenstruktur der Landesprogramme<br />

herangezogen, um qualitative Anforderungen an ein Landesprogramm<br />

überprüfen zu können. Zum Teil de nieren die Landesprogramme eigenständig<br />

Anforderungen, indem etwa ein multiperspektivischer Blick auf das Phänomen<br />

durch die Beteiligung mehrerer (am besten aller) Ressorts verankert ist oder indem<br />

eine dauerhafte wissenschaftliche Rückbindung im Programm eingeschrieben<br />

ist. Diese Kriterien stellen auch von außen betrachtet Qualitätsmerkmale dar,<br />

für die Auseinandersetzung mit einem vielschichtigen und sich stets im Wandel


422 Franziska Schmidtke<br />

bendlichen Phänomen. Des Weiteren ist auch die landesspezi sche Ergänzung<br />

der Bundesprogramme vorteilhaft, die durch eine gemeinsame Koordinierung von<br />

Bundes- und Landesprogrammen gesichert werden kann.


Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />

423<br />

Literatur<br />

Backes, U. (1989). Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente<br />

einer normativen Rahmentheorie. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

Beck,U. (1986). Risikogesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.<br />

Best, H. & Schmidtke, F. (2013). Validitätsprüfung ausgewählter Indikatoren rechtsextremer<br />

Einstellungen. Expertise für die Thüringer Staatskanzlei. Erfurt<br />

Caplan, G. & Felix, R. H. (1964). Principles of Preventive Psychiatry. New York: avistock<br />

Publications.<br />

Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2014). Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung<br />

in Deutschland. http://www.uni-leipzig.de/~kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf (Datum<br />

des Zugriffs: 02.12.2014).<br />

Friedrich, W. (1992). Über Ursachen der Ausländerfeindlichkeit und rechtsex tremer Verhaltensweisen<br />

in den neuen Bundesländern. In: Ausländerfeind lichkeit und rechtsextreme<br />

Orientierungen bei der ostdeutschen Jugend. Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Leipzig.<br />

Heitmeyer, W., Buhse, H., Liebe-Freund, J., Möller, K., Müller, J., Ritz, H., Siller, G. & Vossen,<br />

J. (1992). Die Bielefelder <strong>Rechtsextremismus</strong>-Studie. Erste Langzeituntersuchung<br />

zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher. Weinheim und München: Juventa.<br />

Heitmeyer, W. (2002 bis 2012). Deutsche Zustände Folge 1 bis 10. Frankfurt am Main bzw.<br />

Berlin: Suhrkamp.<br />

Jaschke, H.-G. (1994). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit . Opladen: Westdeutscher<br />

Verlag.<br />

Kowalsky, W. (1993). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Anti-<strong>Rechtsextremismus</strong> in modernen Industriegesellschaften.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte, 2/3, S.14-25.<br />

Kreis, J. (2007). Zur Messung von rechtsextremer Einstellung: Probleme und Kontroversen<br />

am Beispiel zweier Studien. Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum Berlin, Nr. 12.<br />

Mayring, P. (2000). Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken . Weinheim:<br />

Deutscher Studien Verlag.<br />

Melzer, W., Schröder, H. & Schubarth, W. (1992). Jugend und Politik in Deutschland: Gesellschaftliche<br />

Einstellungen, Zukunftsorientierungen und <strong>Rechtsextremismus</strong>-Potential<br />

Jugendlicher in Ost- und Westdeutschland, Opladen: Leske + Budrich. (WF: war<br />

Melzer nicht Alleinautor?<br />

Pilz, G.A. (1994). Jugend, Gewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>. Münster, Hamburg: LIT.<br />

Scherr, A. (2014). Pädagogische Konzepte gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>. Eine Bilanzierung<br />

der Erfahrungen. In M. Blome & B. Manthe (Hrsg.), Zum Erfolg verdammt. Bundesprogramme<br />

gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> (S. 8 – 15). Düsseldorf: Eigenverlag.<br />

Schubarth, W. & Melzer, W. (Hrsg.) (1995). Schule, Gewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong>, 2.<br />

Au. Opladen: Leske + Budrich.<br />

taz (2013). Nazis auch im Westen, Berlin.<br />

Verzeichnis der Landesprogramme und begleitenden Publikationen<br />

Bayrisches Staatsministerium des Inneren (2009). Bayrisches Handlungskonzept gegen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, München.<br />

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2014). Für Toleranz und<br />

Demokratie – Präventiv gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>. Das Bundesprogramm Toleranz fördern<br />

– Kompetenz stärken, Berlin.


424 Franziska Schmidtke<br />

Bündnis 90/Die Grünen Fraktion im Sächsischen Landtag (Hrsg.) (2011). Weltoffenes<br />

Sachsen? Demokratieförderung in Sachsen zwischen Landesprogramm oder Gesinnungs-TÜV,<br />

Dresden.<br />

Christlich Demokratische Union Deutschlands Landesverband Sachsen/ Freie Demokratische<br />

Partei Landesverband Sachsen (2009). Freiheit. Verantwortung. Solidarität. Gemeinsam<br />

für ein starkes und selbstbewusstes Sachsen, Dresden.<br />

Edinger, Michael (2010). Gefährdungen der demokratischen Kultur in Thüringen. <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

und politische Entfremdung (=Expertise für das Thüringer Ministerium<br />

für Soziales, Familie und Gesundheit), Erfurt.<br />

Roth, Ronals/ Geseman, Frank/ Aumüller, Jutta (2010). Abschlussbericht zur Evaluation<br />

des Berliner Landsprogramms gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, Rassismus und Antisemitismus,<br />

Berlin.<br />

Hamburg/ Hamburg Bekennt Farbe (2013). Hamburg – Stadt mit Courage. Landesprogramm<br />

zur Förderung demokratischer Kultur, Vorbeugung und Bekämpfung von<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, Hamburg.<br />

Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein (2013). Landesprogramm zur Demokratieförderung<br />

und <strong>Rechtsextremismus</strong>bekämpfung, Kiel.<br />

Landesregierung Brandenburg (2005). „Tolerantes Brandenburg“ – für eine starke und<br />

lebendige Demokratie. Handlungskonzept der Landesregierung für eine demokratische<br />

Gesellschaft mit Zivilcourage gegen Gewalt, <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit,<br />

URL: http://www.tolerantes.brandenburg.de/media_fast/-5791/Handlungskonzept.<br />

pdf (letzter Zugriff: 10.12.2014).<br />

Landeszentrale für politische Bildung/ Netzwerk für Demokratie und Toleranz (Hrsg.)<br />

(2012). Landesprogramm für Demokratie, Vielfalt und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt,<br />

Magdeburg.<br />

Landtag Mecklenburg-Vorpommern (2008). Unterrichtung durch die Landesregierung.<br />

Landesprogramm „Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken!“ Strategie der Landesregierung<br />

zur Umsetzung des Landesprogramms (=Drucksache 5/1599), Schwerin.<br />

Sächsische Staatskanzlei (2006). Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz. Auswertung<br />

der Sachberichte zur Förderperiode 2005, Dresden.<br />

Senat der Freien Hansestadt Bremen (2013). Fünfter Bericht über <strong>Rechtsextremismus</strong> und<br />

Fremdenfeindlichkeit im Lande Bremen (2008-2012), Bremen.<br />

Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales/ Der Beauftragte des Senats von<br />

Berlin für Integration und Migration (Hrsg.) (2011). Berlin schaut hin. Das Landesprogramm<br />

gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, Antisemitismus und Rassismus, Berlin.<br />

Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales/ Der Beauftragte des Senats von<br />

Berlin für Integration und Migration (Hrsg.) (2012). Leitlinien des Landesprogramms<br />

„Demokratie. Vielfalt. Respekt. Gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, Antisemitismus und Rassismus,<br />

Berlin.<br />

Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit (Hrsg.) (2012). DenkBunt.<br />

Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit, Erfurt.


Deradikalisierung als Methode<br />

Theorie und Praxis im nationalen<br />

und internationalen Vergleich.<br />

Trends, Herausforderungen und Fortschritte.<br />

Daniel Köhler<br />

1 Einleitung<br />

„Deradikalisierung“ als Begriff wird in der deutschen wissenschaftlichen, politischen<br />

und praktischen Landschaft erst seit einigen wenigen Jahren vereinzelt<br />

verwendet. Obgleich im internationalen Bereich eine steigende Zahl von akademischen<br />

und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen und entsprechenden<br />

Programmen seit über 20 Jahren zu beobachten ist, scheint sich in Deutschland<br />

der Anschluss an die internationale Debatte nur sehr langsam zu vollziehen. Wird<br />

doch in aller Regel noch sehr verallgemeinernd von „Ausstiegsprogrammen“ oder<br />

„sozialpädagogischer Präventionsarbeit“ gesprochen, vielleicht auch, um eine mit<br />

dem Begriff ‚Deradikalisierung’ mitschwingende Verschiebung der Debatte in<br />

den Sicherheitsbereich zu vermeiden. Dennoch lässt sich leicht zeigen, dass besonders<br />

in Deutschland seit den ersten Bundesprogrammen in den 1990er Jahren eine<br />

weltweit einzigartig dynamische und pluralistische Landschaft von Trägern jener<br />

‚Ausstiegsprogramme’ mit vielfältigsten Ansätzen und Zielgruppen entstanden ist.<br />

Ein Erfahrungsschatz, der allerdings nur zu sehr geringen Anteilen wissenschaftlich<br />

oder politisch (besonders im internationalen Bereich) genutzt wurde, was<br />

sicherlich auch instabilen Finanzierungsverhältnissen und teilweise erheblichen<br />

Konkurrenzsituationen geschuldet ist. Weiterhin erscheint es verwunderlich, dass<br />

in der bundesdeutschen Praktikerlandschaft und Wissenschaft nur äußerst spärlich<br />

der Stand der internationalen Forschung und entsprechende Erfahrungen anderer<br />

(besonders europäischer) Programme aufgegriffen und diskutiert wurden. Bereits<br />

im Jahr 2008 ließ sich ein erster Höhepunkt innerhalb der internationalen Debat-<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_18, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


426 Daniel Köhler<br />

te um ‚Deradikalisierung’ beobachten, als das Time Magazine die Idee der Umkehr<br />

von Radikalisierung als eine der wichtigsten und vielversprechendsten Ideen<br />

für die Zukunft präsentierte (Ripley, 2008). Kurze Zeit später erschienen zwei<br />

der einschlägigsten Publikationen zu diesem Thema bis dato (Bjørgo & Horgan,<br />

2009; Horgan, 2009), welche immer noch nicht in deutscher Sprache verfügbar<br />

und hierzulande auch nur vereinzelt zur Kenntnis genommen worden sind. Eine<br />

Ausnahme bilden dabei die Sicherheitsbehörden, welche schon seit 2009 innerhalb<br />

des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) bundesübergreifend<br />

in der Arbeitsgruppe Deradikalisierung die aktuelle Forschung und Erfahrungen<br />

aus anderen Ländern intensiv diskutiert haben 1 . Im September 2011 startete die<br />

Europäische Kommission im Rahmen ihrer Terrorismusbekämpfungsstrategie ein<br />

europaweites Netzwerk von Praktikern, Politikern und Wissenschaftlern: das Radicalisation<br />

Awareness Network (RAN). Obwohl die Ergebnisse und die Efzienz<br />

des RAN bisher recht überschaubar geblieben sind, ist bemerkenswert, dass unter<br />

den acht Arbeitsgruppen auch eine speziell zu dem Thema ‚Deradikalisierung’<br />

eingerichtet wurde. Im Januar 2014 legte dann die damalige EU Innenkommissarin<br />

Cecilia Malmström einen 10 Punkte Plan zur Bekämpfung von Extremismus<br />

und Terrorismus in der EU vor 2 , welcher auch die Empfehlung an alle Mitgliedsstaaten<br />

enthielt, umfangreiche ‚Deradikalisierungsprogramme’ („exit strategies“)<br />

zu etablieren, was bis dahin nur in einigen wenigen EU Staaten der Fall war (z. B.<br />

Norwegen, Dänemark, Schweden, Deutschland, England). Besonders in den letzten<br />

Jahren ist europa- und weltweit eine weitaus stärkere Beschäftigung mit ‚Deradikalisierungsprogrammen’<br />

sowohl in der Wissenschaft als auch unter Politikern<br />

zu beobachten, was in direktem Zusammenhang mit dem syrisch/irakischen Bürgerkrieg<br />

und der daraus resultierenden Sicherheitsproblematik der so genannten<br />

‚Foreign Fighters’ und Rückkehrern steht.<br />

Das folgende Kapitel wird konsequenterweise einen weiteren Schritt in die<br />

Richtung darstellen, die beschriebene Lücke zwischen der deutschen und internationalen<br />

‚Deradikalisierungslandschaft’ durch eine gezielte Anbindung der deutschen<br />

Erfahrungen und Debatten an die internationalen Linien der Forschung und<br />

Politik weiter zu schließen.<br />

1 http://www.verfassungsschutz.de/print/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamistischer-terrorismus/gemeinsames-terrorismusabwehrzentrum-gtaz<br />

(letzter Zugriff: 1.<br />

Dezember 2014)<br />

2 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-14-18_en.htm (letzter Zugriff: 1. Dezember<br />

2014)


Deradikalisierung als Methode<br />

427<br />

2 Theorie<br />

Beginnend in den späten 1980er Jahren mit einem Artikel von James Aho (1988)<br />

wurden bereits schrittweise umfänglich vorhandene Erkenntnisse der Kriminologie<br />

(für einen Überblick siehe: Laub & Sampson, 2001) in Bezug auf die Beendigung<br />

krimineller Karrieren (im Bereich der ‚Desistance’-Forschung) und der Forschung<br />

zu Sekten und Jugendgangs im Rahmen politikwissenschaftlicher Ansätze<br />

zur Erforschung politischer Gewalt zusammengeführt. Obwohl die kriminologische<br />

Forschung nur begrenzt auf das Phänomen politisch oder religiös motivierter<br />

Gewalt anwendbar war und ist, ließen sich zumindest grundlegende praktische<br />

Erkenntnisse mit empirisch abgesicherter Wirksamkeit im Bereich der Senkung<br />

von Rückfallquoten und nachhaltigerer Reintegration mit großem Gewinn in der<br />

frühen Deradikalisierungsforschung einbringen (für eine detaillierte Übersicht<br />

über die Schnittmengen siehe: Koehler, 2013b, 2014a). Sogar eines der wichtigsten<br />

Konzepte der internationalen Deradikalisierungsforschung – die Unterscheidung<br />

zwischen einer psychischen/ideologischen und rein physischen Distanzierung<br />

(‚Deradicalization’ – ‚Disengagement’ 3 ) – ndet eine Parallele in der Kriminologie<br />

(zu primary und secondary desistance siehe z. B.: Maruna, Lebel, Mitchell,<br />

& Naples, 2006). Grundsätzlich also – und diese Unterscheidung ist essentiell, um<br />

zentrale Konzepte und Methoden in der Praxis und Theorie der Deradikalisierung<br />

zu verstehen – bezeichnet ‚Deradikalisierung’ den individuellen oder kollektiven<br />

kognitiven (oder: ideologischen) Wandel von einer kriminellen, ideologisch-radikalen<br />

oder extremistischen zu einer nicht kriminellen und moderaten Identität<br />

und/oder Persönlichkeit. Deradikalisierung muss dabei stark von der rein physischen<br />

Distanzierung oder Herauslösung (Disengagement) abgegrenzt werden, die<br />

den rein physischen Verhaltenswandel beschreibt und die ideologische bzw. identitäre<br />

Ebene des Prozesses außer Acht lässt (vgl. Bjørgo, 2009; Bjørgo & Horgan,<br />

2009; Bjørgo, Van Donselaar, & Grunenberg, 2009; Horgan, 2008, 2009; Noricks,<br />

2009). Dieser Unterscheidung folgend kann es möglich sein, dass Individuen zwar<br />

aus extremistischen Umfeldern herausgelöst werden (d. h. kein strafrechtlich relevantes<br />

Verhalten, keine Gruppenbezüge usw. mehr aufweisen), aber dennoch<br />

eine entsprechende radikale Ideologie vertreten bzw. diese verinnerlicht haben.<br />

Andererseits können Personen in Gruppen und Verhaltensstrukturen aktiv sein<br />

(d. h. nicht herausgelöst), aber die Ideologie bereits aufgegeben haben. Die Frage,<br />

3 Diese beiden englischen Begriffe haben bisher keine Entsprechung in der deutschen<br />

Forschung, sind aber essentiell, um die Charakteristik zentraler Konzepte und Methoden<br />

zu verstehen. Daher werden in diesem Kapitel die Begriffe Deradikalisierung und<br />

Herauslösung bzw. physische Distanzierung zur Unterscheidung verwendet.


428 Daniel Köhler<br />

inwieweit die ideologische Ebene notwendigerweise oder auch legitimiert in der<br />

praktischen Arbeit eine Rolle spielen sollte, ist dabei stark umstritten. So ist die<br />

Kritik grundsätzlich berechtigt, ob strafrechtlich irrelevante, d. h. von der Meinungsfreiheit<br />

abgedeckte, Einstellungen und Verhaltensweisen ein Gegenstand<br />

von Programmen sein sollten, welche, teilweise von staatlichen Strukturen oder<br />

mit staatlicher Finanzierung durchgeführt, deren Änderung oder Anpassung zum<br />

Ziel haben. Weiterhin ist auch die praktische Umsetzbarkeit und Nachweisbarkeit<br />

der ideologischen Wirkungsweisen von Deradikalisierungsprogrammen kritisiert<br />

worden (Horgan, 2009), was unter anderem zu dem Plädoyer geführt hat, das Konzept<br />

zugunsten der rein physischen Herauslösung komplett aufzugeben (Noricks,<br />

2009, S. 314).<br />

Nichtsdestotrotz ist die Auseinandersetzung mit dem Ideologiebegriff zentral,<br />

um die Methoden von Deradikalisierungsprogrammen beurteilen und konzeptionell<br />

einordnen zu können, da es grundlegend bei dieser Tätigkeit um die individuelle<br />

oder kollektiv begleitete Distanzierung (auf physischer und/oder psychischer<br />

Ebene) zu Milieus und Gruppen geht, welche sich durch eine bestimmte (als extremistisch<br />

oder radikal eingeordnete) Ideologie und kollektive Identität auszeichnen.<br />

Entscheidend sind dabei die destruktiven Interaktionsmechanismen zwischen<br />

solchen radikalen sozialen Bewegungen und ihren Umgebungsgesellschaften im<br />

Rahmen einer „Kontrastgesellschaft“ zu verstehen und zu erkennen (vgl. für eine<br />

detaillierte Ausführung Koehler, 2014c; Koehler, 2015), um die entsprechenden<br />

interventiven Effekte von Deradikalisierungsprogrammen als Stärkung von demokratischen<br />

und pluralistischen Diskursen und Gesellschaften zu begreifen. ‚Deradikalisierung’<br />

von Einzelpersonen und Gruppen ist damit als eine gesamtgesellschaftliche<br />

Aufgabe weit über die Einzelfallhilfe hinaus zu begreifen, welche<br />

konkrete positive Effekte im Bereich der Terrorismusbekämpfung und Stärkung<br />

der gesellschaftlichen ‚Immunkraft’ gegen menschenfeindliche und gewaltverherrlichende<br />

Bewegungen und Ideologien zeigt.<br />

Im deutschen Fachdiskurs nden sich nur wenige Veröffentlichungen zu Ausstiegs-<br />

oder Deradikalisierungsprogrammen, die auch nur ansatzweise den Stand<br />

der internationalen Debatten aufgreifen (als positive Beispiele siehe z. B.: Baer,<br />

Möller, & Wiechmann, 2014; Rieker, 2009; 2014). In älteren Diskursen wurden<br />

oftmals einzelne sozialpädagogische Konzepte (z. B. die akzeptierende Jugendarbeit)<br />

verteidigt oder kritisiert (vgl. z. B.: Buderus, 1998; Krafeld, 2001; Möller,<br />

2008). Dies allerdings oftmals ohne eine entsprechende theoretische Tiefe zum<br />

Thema Ausstieg und/oder Deradikalisierung zu erreichen. Generell wurden individuelle<br />

Ausstiegsmotive und –verläufe nur äußerst selten und mit recht geringer<br />

wissenschaftlicher Qualität in der deutschen Forschungslandschaft untersucht (siehe<br />

z. B.: de Ahna, 1981; Hafeneger, 1993; Hoffmeister & Sill, 1992; Möller, 2010a,


Deradikalisierung als Methode<br />

429<br />

2010b, 2010c; Möller & Schuhmacher, 2007; Nauditt & Wermerskirch, 2013;<br />

Rommelspacher, 2006). Im Bereich der internationalen Terrorismusforschung<br />

dagegen wurden auf Grundlage etlicher qualitativer Studien einige Faktoren mit<br />

erheblicher praktischer Relevanz in Bezug auf Deradikalisierungsprozesse und –<br />

programme festgestellt. So können zum Beispiel Veränderungen in der Gruppe,<br />

der persönlichen Präferenzen oder des sozialen Umfeldes (Reinares, 2011) individuelle<br />

Ausstiegsprozesse auslösen. Weiterhin lassen sich „schiebende“ (engl.<br />

„Push“) und „ziehende” (engl. “Pull”) Faktoren identi zieren (Aho, 1988; Bjørgo<br />

& Horgan, 2009).<br />

Generell beinhaltet das Verlassen einer radikalen Gruppe oder das Ablassen<br />

von kriminellem Verhalten eine individuelle Entscheidung, teilweise verbunden<br />

mit dem Wunsch nach Veränderung und dem Willen ein „normales Leben“ zu<br />

führen (Bjørgo & Horgan, 2009; Fink & Haerne, 2008; Horgan, 2009). Ein persönliches<br />

traumatisches Ereignis kann dabei eine kognitive Öffnung (engl. “Cognitive<br />

opening“) schaffen, was in vielen Studien als bedeutender Faktor bei der<br />

Deradikalisierung aufgezeigt wurde (ebd.). Weitere zentrale und wissenschaftlich<br />

gestützte Elemente dieses Prozesses sind (Bjørgo, et al., 2009, S. 36-40): negative<br />

soziale Sanktionen aufgrund der Gruppenmitgliedschaft, Verlust des Glaubens<br />

in die Gruppenideologie (siehe auch: Rosenau, Espach, Ortiz, & Herrera,<br />

2014, S. 284) oder Politik der Bewegung, eine Desillusionierung mit den gruppeninternen<br />

Prozessen, Verlust der Zuversicht auf Erfolg, Statusverlust innerhalb der<br />

Gruppe und Erschöpfung („schiebende Faktoren“). Alter, Karriereperspektiven<br />

und persönliche Zukunft, Familie und Verantwortung gehören dagegen zu den<br />

„ziehenden Faktoren”.<br />

Zusammengefasst spielen externe (z. B. Ereignisse, Umfeldveränderungen) und<br />

interne (z. B. Burnout, Ideologiezweifel) Faktoren üblicherweise zusammen und<br />

beeinussen bzw. bedingen sich gegenseitig. Trotz aller dieser Erkenntnisse sind<br />

die motivationalen und prozessualen Aspekte der Deradikalisierung immer noch<br />

unzureichend erforscht und die Einblicke sind bestenfalls als bruchstückartig zu<br />

bezeichnen.<br />

Da der Deradikalisierungsprozess weder statisch in eine Richtung verläuft noch<br />

unumkehrbar ist, wurden entsprechend auch einige Faktoren in Studien belegt,<br />

die den Prozess behindern oder verhindern können, bzw. dazu geeignet sind, ihn<br />

wieder umzukehren. Bjørgo (Bjørgo, et al., 2009, S. 40-42) zum Beispiel unterstreicht<br />

die Bedeutung der positiven Charakteristika der Gruppe (Freundschaften,<br />

Beziehungen, Spaß), negative Gruppensanktionen (Feme) bei Ausstieg, den<br />

Schutzverlust gegen Feinde und die eventuell drohenden Sanktionen des Strafverfolgungssystems.<br />

Zudem können auch die Perspektivlosigkeit und die Angst vor<br />

Stigmatisierung bedeutende Faktoren sein.


430 Daniel Köhler<br />

Nimmt man die hier kurz angerissenen grundlegenden Erkenntnisse der Forschung<br />

zusammen, lassen sich essentielle Kernelemente der praktischen Deradikalisierungsarbeit<br />

ableiten, welche weiter unten im Detail erläutert werden.<br />

3 Typologie von Deradikalisierungsprogrammen<br />

Weltweit haben sich in den letzten Jahrzehnten etliche und vielfältigste Programme<br />

gebildet, die sich in den Bereich ‚Deradikalisierung’ einordnen lassen. Dabei<br />

gehen moderne Deradikalisierungs- im Kern auf Demobilisierungsprogramme<br />

der 1970er und 1980er Jahre zurück, welche oftmals im Rahmen langwieriger<br />

Bürgerkriege auf bestimmte Kon iktparteien ausgelegt waren. Die Demobilisierung<br />

des „Schwarzen Septembers“ der PLO zum Beispiel beinhaltete individuelle<br />

Anreize zu Heiraten und eine Familie zu gründen (vgl. Dechesne, 2011, S. 287).<br />

In Italien versuchte ein ähnliches Programm die Auösung der „Roten Brigaden“<br />

(ebd.) zu verstetigen, sowie es auch in Nordirland als Bestandteil des ‚Good Friday<br />

Agreement’ von 1998 (Horgan & Braddock, 2010, S. 269) und in Kolumbien<br />

mit einem staatlichen Programm zur Entwaffnung und Reintegration ehemaliger<br />

FARC Mitglieder seit 1997 durchaus erfolgreich versucht wurde (ebd., S. 271).<br />

Diese Programme arbeiteten umfassend mit nanziellen Anreizen und Unterstützung<br />

bei der sozialen Reintegration. Bei späteren Programmen wurden auch ideologische<br />

oder theologische Elemente hinzugefügt, was die starke Beachtung der<br />

umfassend staatlich nanzierten und organisierten Deradikalisierungsprogramme<br />

im Nahen Osten und Süd-Ost-Asien erklärt. Sowohl in Indonesien als auch in<br />

Jemen („Religious Dialogue Committee“ ab 2002) und Saudi-Arabien (ab 2003)<br />

spielen theologische Argumentation und Deradikalisierung inhaftierter islamistischer<br />

Terroristen eine zentrale Rolle (vgl. Horgan & Braddock, 2010; Noricks,<br />

2009; Rabasa, Pettyjohn, Ghez, & Boucek, 2010). Diese Programme wurden zu<br />

Vorbildern für ähnliche Initiativen in Ägypten, Jordanien, Algerien, Tadschikistan,<br />

Malaysia, Singapur, Irak und Thailand (ebd.). Unter dem Eindruck und der<br />

(positiven) Erfahrung der ideologischen Deradikalisierung (wenn auch unter umfassender<br />

wissenschaftlicher Kritik) wurden ebenfalls staatliche Programme mit<br />

vergleichbaren Ansprüchen in Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden<br />

gegründet. Auch in Norwegen, Schweden und Deutschland wurden seit 1998 (in<br />

Deutschland ab 2000) erste Erfahrungen mit Ausstiegsprogrammen für Rechtsextremisten<br />

gesammelt. Vergleicht man die zentralen Charakteristika entsprechender<br />

Programme weltweit, so lassen sich drei Kernlinien aufzeigen, welche für eine<br />

Typologisierung essentiell sind. Die hier skizzierten Typen sind notwendig, um bestimmte<br />

strukturelle Eigenschaften (Potentiale und Grenzen, Stärken und Schwä-


Deradikalisierung als Methode<br />

431<br />

chen), sowie Wirkungsweisen besser verstehen zu können. Zudem lassen sich aus<br />

den hier eingeführten Typen auch Kriterien zur Evaluation und fallbezogenen Vernetzung<br />

ableiten. Die drei Kernlinien sind: Trägerschaft (staatlich/nicht-staatlich),<br />

Kontaktstruktur (aktiv/passiv) und Rolle der Ideologie (zentral/nebensächlich).<br />

Streng genommen können nur Programme, die eine ideologische Aufarbeitung beinhalten,<br />

auch ‚Deradikalisierungsprogramm’ genannt werden. Allerdings haben<br />

etliche Programme die ideologische Komponente ‚nachgelagert’, bzw. sich auf geringer<br />

ideologisierte Zielgruppen spezialisiert.<br />

<br />

D<br />

aktiv<br />

<br />

<br />

C<br />

<br />

E<br />

<br />

<br />

<br />

staatlich<br />

Nicht-staatlich<br />

B<br />

<br />

<br />

F<br />

G<br />

passiv<br />

A<br />

=ideologische Aufarbeitung spielt eine zentrale Rolle<br />

Abbildung 1<br />

Typologie von Deradikalisierungsprogrammen<br />

Während Typ A und B nicht-staatliche Organisationen sind, die passiv (d. h. die<br />

Ansprache und Kontaktinitiative von Ausstiegswilligen oder vermittelnden Dritten<br />

voraussetzend) arbeiten, lassen sich nur selten nicht-staatliche Träger nden, die<br />

in der Lage zur aktiv-aufsuchenden Ansprache sind (Typ C). Üblicherweise ist es<br />

aufgrund von Datenschutzrichtlinien (zumindest in westlichen Ländern) für Nichtregierungsorganisationen<br />

nur sehr schwer möglich an Namen und Adressen von<br />

aktiven Extremisten und Terroristen zu kommen. In Deutschland praktiziert lediglich<br />

ein nicht-staatlicher Träger diesen Ansatz (vgl. Glaser, Hohnstein, & Greuel,<br />

2014, S. 56). Programme vom Typ A sind dabei in Deutschland recht verbreitet<br />

und können teilweise auf langjährige Erfahrungen zurückblicken. International<br />

sind neben staatlichen Programmen in Haftanstalten Programme vom Typ B am<br />

weitesten verbreitet. Die Typen D und E sind klassischerweise umfangreiche staat-


432 Daniel Köhler<br />

liche Deradikalisierungsprogramme in Gefängnissen, wobei der Zugriff auf mögliche<br />

Teilnehmer automatisch gegeben ist. Die bereits oben genannten Programme<br />

z. B. in Saudi Arabien stützen sich dabei auf intensive theologische Diskurse,<br />

während wiederum westliche Programme (z. B. in Dänemark und Großbritannien)<br />

diese Komponente ausdrücklich nicht beinhalten, bzw. an nicht-staatliche Partner<br />

abgegeben haben. Ein deutscher Sonderfall sei hier genannt: Das Programm Big-<br />

Rex in Baden-Württemberg betreibt als staatliches Programm aktiv aufsuchende<br />

Arbeit und versucht zur Teilnahme in dem Ausstiegsprogramm zu motivieren. Ein<br />

Beispiel für Typ F wäre das Ausstiegsprogramm für Rechtsextremisten des Bundesamtes<br />

für Verfassungsschutz, welches auf die Eigeninitiative der Ausstiegswilligen<br />

setzt. Inwiefern die ideologische Aufarbeitung hier eine Rolle spielt, ist<br />

leider aufgrund der Intransparenz unbekannt. Der Typ G steht für Public Private<br />

Partnerships, wie zum Beispiel das Beratungsnetzwerk Radikalisierung des Bundesamtes<br />

für Migration und Flüchtlinge (BAMF).<br />

Begreift man nun Deradikalisierung nicht lediglich als sozialpädagogische<br />

Einzelfallhilfe, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Teilaufgabe der Extremismus-<br />

und Terrorismusbekämpfung, so ist auch eine neue Einordnung dieser<br />

Methodik notwendig.<br />

Das Netzwerk der Terrorismusbekämpfung<br />

Makrosozial Mesosozial Mikrosozial<br />

Prävention<br />

z. B. Bildung, Forschung,<br />

Jugendarbeit,<br />

Sozialarbeit<br />

z. B. Communiy Coaching,<br />

LAPs, etc.<br />

z. B. Workshops mit<br />

ehemaligen Extremisten<br />

in Schulen<br />

Repression Legislative, Exekutive,<br />

Bundesweite Sicherheitsarchitektur<br />

z. B. Gruppenverbote,<br />

Stadtteilbeamte<br />

z. B. Verhaftung, HD<br />

Intervention Gegennarrative z. B. Familienberatung z. B. Deradikalisierungsprogramme<br />

Abbildung 2<br />

Das Netzwerk der Terrorismusbekämpfung


Deradikalisierung als Methode<br />

433<br />

Obwohl Deradikalisierungs- bzw. Ausstiegsprogramme in Deutschland oftmals<br />

als „tertiäre“ oder „indizierte“ Prävention verstanden werden (z. B.: Baer, 2014,<br />

S. 59) und sich sicherlich jede sozialpädagogische Maßnahme als Intervention deuten<br />

lässt, zielt die hier vorgeschlagene Einordnung auf den gesellschaftlichen und<br />

systemischen Rahmen und sollte dementsprechend verstanden werden. Während<br />

Prävention Radikalisierungsprozesse frühzeitig verhindern soll, zielt Repression<br />

auf die Eingrenzung eines aktiven radikalen Milieus ab. Intervention dagegen<br />

beinhalten Maßnahmen, welche das aktive radikale Milieu gezielt ansprechen,<br />

um in Ergänzung zur Repression Strukturen aufzubrechen und eine individuelle<br />

oder kollektive Abkehr von der radikalen oder extremistischen Position zu<br />

ermöglichen – und dies auf vielfältigste Weise. Drei Größenordnungen (makro-,<br />

meso- und mikrosozial) lassen sich dabei identizieren. Grundsätzlich sollten die<br />

entsprechenden Methoden und Ansätze in einer partnerschaftlichen Ergänzung<br />

gedacht werden. So machen individuelle Deradikalisierungsprogramme keinerlei<br />

Sinn, wenn staatliche Strukturen Straftaten nicht entsprechend der Gesetzeslage<br />

ahnden oder sogar die gesetzliche Grundlage fehlt. Auch in der Prävention, z. B.<br />

der Schulbildung oder Ausbildung von Lehrkräften, ist ein dezidiertes Fachwissen<br />

über Radikalisierung zur frühzeitigen Erkennung notwendig, weshalb auch vielfältigste<br />

Träger, vom Staats- und Verfassungsschutz bis hin zu zivilgesellschaftlichen<br />

Initiativen, entsprechende Schulungen und Workshops anbieten.<br />

4 Praxis<br />

Die praktischen Aspekte von Deradikalisierungsarbeit umfassend zu beschreiben<br />

geht über den Rahmen dieses Kapitels hinaus. Dennoch sei kurz ein Einblick in<br />

zentrale praktische Aspekte gegeben.<br />

Vergleichsstudien zahlreicher Deradikalisierungsprogramme weltweit (allerdings<br />

überwiegend im Bereich Islamismus) haben die Bedeutung von drei<br />

praktischen Hauptsäulen hervorgehoben: die affektive, die pragmatische und die<br />

ideologische Ebene (Rabasa, et al., 2010, S. 41 ff.). Während der Abbau und die<br />

Aufarbeitung ideologischer Deutungs- und Bezugsrahmen die eigentliche Essenz<br />

von Deradikalisierungsprogrammen ausmacht, bestimmt die pragmatische Ebene<br />

die methodische Unterstützung in praktischen Lebensfragen (Sicherheit, Bildung,<br />

Beruf usw.). Die affektive Ebene wird von erfolgreichen Deradikalisierungsprogrammen<br />

durch die Stärkung emotionaler Bezugsstrukturen und Netzwerken zur<br />

Kontrastierung der radikalen affektiven Bezüge umgesetzt. In Deutschland können<br />

laut einer aktuellen Untersuchung mindestens 18 Ausstiegsprogramme mit<br />

unterschiedlichsten Reichweiten und Ansätzen identiziert werden (Glaser, et al.,


434 Daniel Köhler<br />

2014, S. 47), wovon mindestens 12 durch staatliche Träger umgesetzt werden und<br />

nur 3 bundesweit arbeiten (ebd.). Alle diese Programme erheben den Anspruch<br />

der ideologischen Aufarbeitung, obwohl sich auch erhebliche Differenzen bei der<br />

tatsächlichen Umsetzung dieser zentralen Aufgabe zeigen (ebd., S. 71). Auf der<br />

pragmatischen Ebene bedienen sich Deradikalisierungsprogramme in aller Regel<br />

bekannter und durch kriminologische Forschung gestützter Methoden der Reintegration,<br />

wobei sich auch de facto eine Schnittmenge zur internationalen Forschung<br />

und Praxis ergibt.<br />

So kann zum Beispiel ein Wohnortwechsel die Voraussetzung für eine „angemessene<br />

und sichere Unterkunft” sein (Gadd, 2006, S. 180). Gleichzeitig wird<br />

damit die eventuelle individuell notwendige „Abtrennung“ vom radikalen sozialen<br />

Umfeld erreicht (Laub & Sampson, 2001, S. 49), was in vielen kriminologischen<br />

Studien mit einem deutlich positiven Effekt auf die Rückfallquote in Verbindung<br />

gebracht werden konnte (z. B. Osborn, 1980). Arbeit, Bildung und persönliche<br />

zwischenmenschliche Beziehungen gehören ebenfalls zu den Elementen mit der<br />

am umfassendsten belegten positiven Wirkung auf die Verhaltens- und Einstellungsänderung<br />

im Bereich krimineller und radikaler Karrieren. Des Weiteren zählen<br />

die persönliche Aufarbeitung und Neubewertung der eigenen Vergangenheit<br />

(Gadd, 2006) und der Wandel individueller biographischer Erklärungsnarrative<br />

hin zu einer positiven und dynamischen Selbstwirksamkeit (Maruna, 2004) sowie<br />

die Wahrnehmung eines verdienten Neuanfangs bei der betreffenden Person zu<br />

Standardelementen in der praktischen Arbeit.<br />

Einen besonderen praktischen Aspekt stellt dabei die Sicherheitsfrage von Aussteigenden<br />

dar. Konsequenterweise ist besonders in sicherheitsrelevanten Fällen<br />

eine intensive Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren<br />

geboten. Als ein weltweit beachtetes und bisher einzigartiges Deradikalisierungsprojekt<br />

auf Basis einer Public Private Partnership mit bundesweitem Umfang<br />

sei hier das Beratungsnetzwerk Radikalisierung des BAMF genannt. Seit 2012<br />

arbeitet das BAMF eng mit vier nicht-staatlichen Partnern vor Ort in der Betreuung<br />

von Angehörigen sich radikalisierender oder bereits radikalisierter Jihadisten<br />

zusammen. Es ist dabei zu beachten, dass Familienberatung eine Sonderform<br />

von Deradikalisierung darstellt (vgl. Abbildung 2). Als Ziel der Intervention gilt<br />

hier durch das affektive (in der Regel familiäre) Umfeld einer betreffenden Person<br />

einen evtl. vorliegenden Radikalisierungsprozess zu verlangsamen, zu stoppen<br />

und den individuellen Deradikalisierungsprozess auszulösen – ein Zeitpunkt, an<br />

dem ein gesondertes Programm für die individuelle Betreuung greifen muss (vgl.<br />

dazu im Detail: Dantschke & Koehler, 2013; Koehler, 2013a, 2014b). Das BAMF<br />

Beratungsnetzwerk, welches derzeit auch auf Länderebene Pendants in enger Kooperation<br />

bildet, hat aufgrund der einzigartigen Struktur und enormen Rezeption


Deradikalisierung als Methode<br />

435<br />

in der Zielgruppe (über 1000 Anrufe und über 300 Beratungsfälle seit Beginn,<br />

vgl. Endres, 2014) weltweite Beachtung gefunden (siehe z. B.: Gielen, 2014; Ranstorp<br />

& Hyllengren, 2013; Vidino, 2014). Entscheidend ist bei diesem Netzwerk die<br />

fallbezogene enge Kooperation auf verschiedenen Ebenen (Bund und Länder) mit<br />

verschiedenen staatlichen Behörden auf Grundlage konkreter Standards und Verantwortlichkeiten<br />

(vgl. Koehler, 2014b). Im Bereich der nationalen und internationalen<br />

Deradikalisierungsforschung und –praxis ist dieser Ansatz hoch innovativ<br />

und hat weltweit die Entwicklung entsprechender Modellprojekte stimuliert. Es ist<br />

also abschließend für das noch immer selten praktizierte Konzept der engen Kooperation<br />

zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Trägern zur Sicherung von<br />

Effektivität und Efzienz zu plädieren. Allerdings scheinen dabei nicht nur große<br />

wechselseitige Vorbehalte, sondern auch fehlende Kriterien und Standards entscheidende<br />

Hindernisse darzustellen.<br />

5 Evaluation und Standards<br />

Zu den grundsätzlichen Problemen und Kritikpunkten aller Deradikalisierungsprogramme<br />

gehören die Frage nach effektiver und glaubwürdiger Evaluation der<br />

Arbeit und verwendeten Ressourcen in Bezug auf die erwünschten Effekte sowie<br />

die Etablierung von allgemeinen und umfassenden Standards, welche Vergleiche<br />

von Programmen und das Aufzeigen besonders erfolgreicher Ansätze ermöglichen.<br />

Deradikalisierungsprogramme zu evaluieren hat sich aufgrund der oben skizzierten<br />

Differenzierung zu rein physischer Distanzierung als besonders problematisch<br />

erwiesen. Jene rein physische Herauslösung aus radikalen oder extremistischen<br />

Milieus ist relativ einfach zu messen und zu evaluieren (durch nicht-straffälliges<br />

Verhalten, Messung der Rückfallquoten, Kontaktabbruch zu ehemaliger Gruppe<br />

usw.). Dagegen beinhaltet Deradikalisierung durch die implizierte kognitive<br />

Veränderung einen Prozess, welcher sich der sicheren empirischen Überprüfung<br />

entzieht. Zusätzlich ist der Zugang zu den Klienten solcher Programme aufgrund<br />

hoher Sicherheitsstandards und Datenschutzkriterien oftmals sehr schwierig.<br />

Im internationalen Diskurs wurden einige Ansätze diskutiert, allerdings ohne<br />

großächige Anwendung zu nden – z. B. die ‘Multi Attribute Utility Technology<br />

(MAUT)’ (Horgan & Braddock, 2010) oder multidimensionale, vertikale, und<br />

horizontale Methoden (Romaniuk & Fink, 2012). Im Bereich der Kriminologie<br />

wurden zwar sehr vielversprechende Ansätze der linguistischen Analyse vorgestellt<br />

(Maruna, 2001), diese in der Deradikalisierungspraxis aber noch nicht erprobt,<br />

geht es doch um die weitaus komplexere Fragestellung der Messung einer<br />

ideologisch-kognitiven Veränderung. In Konsequenz verwenden die meisten Staa-


436 Daniel Köhler<br />

ten, die über Deradikalisierungsprogramme verfügen und diese nanzieren, eher<br />

quantitative, rein numerische Kriterien der Evaluation (z. B. Anzahl der betreuten<br />

Fälle, Dauer der Betreuung, Rückfallquoten, Kosten von Personal usw.). Zivilgesellschaftliche<br />

Initiativen greifen zumeist auf einen guten Leumund der durch das<br />

Programm betreuten Personen zurück. Die Frage der Evaluation von Deradikalisierungsprogrammen<br />

ist auch aufgrund der Aktualität und starken Nachfrage nach<br />

derartigen Programmen Gegenstand verschiedener Grundlagenforschungsprojekte<br />

weltweit.<br />

Grundsätzlich sind die ersten Schritte zu einer ef zienten und effektiven Evaluation<br />

Transparenz (durch öffentlich zugängliche und qualitativ hochwertige<br />

Selbstevaluation und Nachvollziehbarkeit von Arbeitsweisen und struktureller<br />

Organisation) im Rahmen des praktisch Sinnvollen und Externalität (Evaluation<br />

durchgeführt durch unabhängige und anerkannte Experten im Feld). Die Evaluationen<br />

sollten quantitativ (z. B. Fallzahlen, Kosten des Programms, Reintegrationsfaktoren<br />

[Arbeitslosenquote nach Abschluss des Programms, Abbruchraten von Bildungsmaßnahmen<br />

etc.], Efzienz interner Strukturen) und qualitativ (z. B. Studien<br />

über Methoden, Wirksamkeit, Effektivität, interne Organisation usw. durch teilnehmende<br />

Beobachtung, Interview- und Fallstudien mit Aussteigern, Mitarbeitern etc.)<br />

sein. Diese Schritte sind allerdings nur der Anfang zu einem umfassenden Evaluationsmechanismus.<br />

Ein weiterer essentieller Schritt ist die Etablierung umfassender<br />

qualitativer Standards der Deradikalisierungsarbeit, um ein Richtmaß für die Evaluation<br />

abzuleiten. Besonders die Vereinheitlichung von De nitionen und ethischpraktischen<br />

Richtlinien ist hier zentral. Da dies zumindest unter deutschen nichtstaatlichen<br />

Praktikern in den letzten 14 Jahren weitestgehend (mit einigen wenigen<br />

Ausnahmen) – insbesondere auch von den ‚großen’ Programmen mit bundesweitem<br />

Selbstanspruch – vernachlässigt wurde, bildete sich eine stark heterogene Landschaft,<br />

welche in ihrer Pluralität zwar viele Stärken besitzt, aber auch nur schwerlich<br />

– was als eine Schwäche gesehen werden kann – die Setzung einheitlicher<br />

Standards zulässt. Auf staatlicher Seite wurde dafür mit der oben genannten ‚AG<br />

Deradikalisierung’ im GTAZ die Grundlage geschaffen. Im zivilgesellschaftlichen<br />

Bereich zeichnet sich durch die Gründung der ‚Bundesarbeitsgemeinschaft Ausstieg<br />

zum Einstieg’ (BAG) im März 2014 ein erster Versuch in diese Richtung ab.<br />

Die derzeit neun Programme umfassende BAG entstand aus einem Teil des Trägerbestandes<br />

des XENOS-Sonderprogramms „Ausstieg zum Einstieg“. Das XENOS-<br />

Sonderprogramm war mit einer Förderperiode von 2009 bis 2013 Bestandteil des<br />

Bundesprogramms „XENOS – Integration und Vielfalt“ aus Mitteln des Bundesministeriums<br />

für Arbeit und Soziales (BMAS) und des Europäischen Sozialfonds<br />

(ESF) geschaffen worden. Die Entwicklung von umfassenden Standards ist erklärtes<br />

Ziel der BAG und obwohl nicht alle relevanten zivilgesellschaftlichen Träger


Deradikalisierung als Methode<br />

437<br />

in ihr vertreten sind, ist dieser Schritt im zivilgesellschaftlichen Bereich – welcher<br />

lange von Rivalitäten und Dominanzansprüchen einzelner Programme gekennzeichnet<br />

war – doch längst überfällig. Zumindest im Bereich der Familienberatung<br />

gibt es bereits einige ausführlichere Ansätze (z. B.: Koehler, 2013a, 2014b).<br />

6 Kritik und interne Differenzen<br />

Wie bereits mehrfach angedeutet, sind sowohl Theorie als auch Praxis der Deradikalisierung<br />

vielfacher Kritik ausgesetzt gewesen. Einige noch immer gültige<br />

Kritikpunkte seien hier kurz genannt: Intransparenz in Bezug auf Arbeitsweisen,<br />

strukturelle Organisation und (Miss-)erfolge in der Arbeit wurden sehr häug gegen<br />

staatliche und nicht-staatliche Programme vorgebracht. Der oftmals nur partielle<br />

Einblick in die Arbeitsweisen und internen Richtlinien von Deradikalisierungsprogrammen<br />

hat auch deren Evaluation erheblich erschwert. Einzelne Programme, die<br />

auf eine Medienwirkung Ausgestiegener setzen, können diese methodischen Zweifel<br />

ebenfalls nicht zerstreuen. Da Transparenz (über Methoden, Finanzierungsquellen,<br />

Organisation usw.) ein grundlegender Qualitätsstandard ist, muss darauf<br />

hingewiesen werden, dass aktuell kein deutsches Programm dieser Anforderung<br />

ausreichend genügt. Meilensteine in der Herstellung von Transparenz in Bezug<br />

auf die eigenen Arbeitsweisen wurden allerdings von einem staatlichen (Buchheit,<br />

2014) und einem nicht-staatlichen Programm (Jende, 2014) gesetzt, hinter welchen<br />

insbesondere die drei großen bundesweiten Programme weit zurückliegen.<br />

Die fehlende Zusammenarbeit von staatlichen und nicht-staatlichen Programmen<br />

ist immer wieder zu recht bemängelt worden (z. B.: Glaser, et al., 2014, S. 52)<br />

und bedeutet für beide Seiten zwangsläu g erhebliche qualitative Einschnitte in<br />

der Betreuung, da vergleichende Forschung deutlich Stärken und Schwächen staatlicher<br />

und nicht-staatliche Träger bei einzelnen Aspekten der Deradikalisierungsarbeit<br />

gezeigt hat und eine arbeitsteilige Herangehensweise sinnvoll ist.<br />

Auch die Frage der Finanzierung nicht-staatlicher Programme wurde von diesen<br />

immer wieder hervorgehoben. Auf der einen Seite ist eine stabile Finanzierung<br />

nicht-staatlicher Träger eine wichtige Aufgabe verschiedener Ebenen (Bund<br />

und Länder), aber dennoch sollte nicht verkannt werden, dass nicht-staatliche Programme,<br />

welche mit ihrer Unabhängigkeit vom Staat für sich werben, sich durchaus<br />

konterkarieren, wenn sie von staatlicher Finanzierung insofern abhängig sind,<br />

dass bei Ausbleiben jener Förderung (und dies in regelmäßigen Abständen) medienwirksam<br />

mit dem Bankrott gedroht wird.<br />

Die wettbewerbsartige Situation zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen<br />

hat dabei zusätzlich zu dem Eindruck geführt, dass einzelne Projekte in medien-


438 Daniel Köhler<br />

wirksamer Öffentlichkeit Abhilfe suchen, um Alleinstellungsmerkmale gegenüber<br />

anderen Programmen zu betonen oder zu suggerieren, obwohl derartige Medienkampagnen<br />

nicht immer in strategisch sinnvoller Weise im Einklang mit den Zielen<br />

eines Deradikalisierungsprogrammes stehen (z. B. im Bereich der Glaubwürdigkeit<br />

und Zielgruppenansprache).<br />

All diese Kritikpunkte sind berechtigt und gültig und müssen im Rahmen<br />

einer stetig wachsenden Trägerlandschaft mit zunehmenden internationalen Vernetzungen<br />

methodisch gelöst werden. Die bereits angesprochenen positiven Musterbeispiele<br />

zeigen, dass Transparenz über Methoden und Struktur im Sinne der<br />

Vertrauensbildung von staatlichen und nicht-staatlichen Trägern möglich ist, ohne<br />

Kernkompetenzen zu verlieren und dabei einen konstruktiven Dialog über Ansätze<br />

zu führen.<br />

7 Ausblick<br />

Diesen kurzen Abriss über Grundzüge der aktuellen nationalen und internationalen<br />

Debatte über Deradikalisierungsprogramme zusammenfassend, lassen sich<br />

einige wichtige Trends und Herausforderungen herausstreichen. Familienberatungsprogramme<br />

mit methodischer Ausrichtung als komplementäre Deradikalisierungsprogramme<br />

haben weltweit eine hohe Aufmerksamkeit und Nachfrage<br />

seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs erlebt. Neben rein staatlichen und rein<br />

nicht-staatlichen Ansätzen stellen Public Private Partnerships, wie im BAMF Beratungsnetzwerk<br />

erprobt, eine entscheidende Innovation in Theorie und Praxis dar.<br />

Besonders im Hinblick auf die fehlende Kooperation zwischen staatlichen und<br />

nicht-staatlichen Trägern im Bereich Ausstieg aus rechtsextremen Szenen zeigt<br />

die Erfahrung aus dem Bereich Jihadismus die Notwendigkeit, aber auch Möglichkeit<br />

der efzienten Arbeitsteilung. Als großer Mangel ist die immer noch fehlende<br />

Grundlagenforschung zu Radikalisierungs- und Deradikalisierungsprozessen in<br />

Deutschland, sowie das allgemein geringe Interesse an Ausstiegsverläufen anzumerken.<br />

Besonders da in Deutschland eine weltweit einzigartige Fülle von verschiedenen<br />

langjährig erprobten Ansätzen unterschiedlichster Konstellationen<br />

existiert, ist ein Nachziehen entsprechender Forschung dringend notwendig. Erste<br />

Ansätze dazu wurden auch durch die Schaffung einer ersten unabhängigen und<br />

begutachteten Fachzeitschrift 4 und einer internationalen Forschungsinitiative aus<br />

Praktikern und Wissenschaftlern 5 zum Thema Deradikalisierung gesetzt.<br />

4 www.journal-derad.com (letzter Zugriff: 9. Februar 2015)<br />

5 www.deradikalisierung.de (letzter Zugriff: 9. Februar 2015)


Deradikalisierung als Methode<br />

439<br />

Literatur<br />

Aho, J. A. (1988). Out of hate: A Sociology of Defection from Neo-Nazism. Current Research<br />

on Peace and Violence, 11(4), 159-168.<br />

Baer, S. (2014). Pädagogische Zugänge in der <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention und Intervention<br />

– Entwicklungen und Standards in Deutschland und Europa. In S. Baer, K. Möller &<br />

P. Wiechmann (Eds.), Verantwortlich Handeln: Praxis der Sozialen Arbeit mit rechtsextrem<br />

orientierten und gefährdeten Jugendlichen (pp. 47-66). Opladen: Barbara Buderich.<br />

Baer, S., Möller, K., & Wiechmann, P. (Eds.). (2014). Verantwortlich Handeln: Praxis der<br />

Sozialen Arbeit mit rechtsextrem orientierten und gefährdeten Jugendlichen. Opladen:<br />

Barbara Budrich.<br />

Bjørgo, T. (2009). Processes of disengagement from violent groups of the extreme right.<br />

In T. Bjørgo & J. Horgan (Eds.), Leaving Terrorism Behind. Individual and collective<br />

disengagement (pp. 30-48). New York: Routledge.<br />

Bjørgo, T., & Horgan, J. (2009). Leaving Terrorism Behind: Individual and Collective Disengagement.<br />

London/New York: Routledge.<br />

Bjørgo, T., Van Donselaar, J., & Grunenberg, S. (2009). Exit from right-wing extremist<br />

groups. Lessons from disengagement programs in Norway, Sweden and Germany. In T.<br />

Bjørgo & J. Horgan (Eds.), Leaving Terrorism Behind. Individual and collective disengagement.<br />

(pp. 135-151). New York: Routledge.<br />

Buchheit, F. (2014). Ausstiegshilfe im Spannungsfeld polizeilicher und pädagogischer Intentionen.<br />

In P. Rieker (Ed.), Hilfe zum Ausstieg? Ansätze und Erfahrungen professioneller<br />

Angebote zum Ausstieg aus rechtsextremen Szenen (pp. 77-94). Weinheim/Basel:<br />

Juventa.<br />

Buderus, A. (1998). Fünf Jahre Glatzenp ege auf Staatskosten. Köln: Pahl Rugenstein.<br />

Dantschke, C., & Koehler, D. (2013). Angehörigenberatung und Deradikalisierung. Theoretische<br />

und praktische Implikationen, sowie erster inhaltlicher Bericht über die Beratungsstelle<br />

Hayat. Journal Exit-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und<br />

demokratische Kultur, 1(2013), 184-199.<br />

de Ahna, K. (1981). Entwicklungen zum Ausstieg. Fördernde und hemmende Bedingungen.<br />

In BMI (Ed.), Auseinandersetzungen mit dem Terrorismus. Möglichkeiten der poitischen<br />

Bildungsarbeit. Bonn.<br />

Dechesne, M. (2011). Deradicalization: not soft, but strategic. Crime, Law and Social<br />

Change, 55(4), 287-292.<br />

Endres, F. (2014). Die Beratungsstelle „Radikalisierung“ beim Bundesamt für Migration<br />

und Flüchtlinge. JEX Journal EXIT-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und<br />

demokratische Kultur, 1(2014), 1-12.<br />

Fink, C. N., & Haerne, E. B. (2008). Beyond Terrorism: Deradicalization and Disengagement<br />

from Violent Extremism: International Peace Insitute.<br />

Gadd, D. (2006). The role of recognition in the desistance process: A case analysis of a<br />

former far-right activist. Theoretical Criminology, 10(2), 179-202.<br />

Gielen, A.-J. (2014). Antiradicalisering in België, Denemarken en Duitsland. Tijdschrift<br />

voor Sociale Vraagstukken, 1(2014), 20-23.<br />

Glaser, M., Hohnstein, S., & Greuel, F. (2014). Ausstiegshilfen in Deutschland. Ein vergleichender<br />

Überblick über Akteure und Vorgehensweisen. In P. Rieker (Ed.), Hilfe zum<br />

Ausstieg? Ansätze und Erfahrungen professioneller Angebote zum Ausstieg aus rechtsextremen<br />

Szenen (pp. 45-76). Weinheim: Beltz Juventa.


440 Daniel Köhler<br />

Hafeneger, B. (1993). Rechte Jugendliche: Einstieg und Ausstieg: sechs biographische Studien.<br />

Bielefeld: Böllert, KT-Verlag.<br />

Hoffmeister, D., & Sill, O. (1992). Zwischen Aufstieg und Ausstieg. Autoritäre Einstellungsmuster<br />

bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Opladen: Leske & Budrich.<br />

Horgan, J. (2008). Deradicalization or Disengagement? A Process in Need of Clarity and a<br />

Counterterrorism Initiative in Need of Evaluation. Perspectives on Terrorism, 2(4).<br />

Horgan, J. (2009). Walking away from terrorism: accounts of disengagement from radical<br />

and extremist movements. London/New York: Routledge.<br />

Horgan, J., & Braddock, K. (2010). Rehabilitating the Terrorists? Challenges in Assessing<br />

the Effectiveness of De-radicalization Programs. Terrorism and Political Violence,<br />

22(2), 267-291.<br />

Jende, S. (2014). Qualität in der Ausstiegsberatung. Jena: drudel 11 e.V.<br />

Koehler, D. (2013a). Family Counselling as Prevention and Intervention Tool Against ‘Foreign<br />

Fighters’. The German Hayat Program. JEX Journal EXIT-Deutschland. Zeitschrift<br />

für Deradikalisierung und demokratische Kultur, 3(2013), 182-204.<br />

Koehler, D. (2013b). Über die Notwendigkeit einer deutschen Deradikalisierungsforschung<br />

und die entsprechenden Grundlagen. Journal Exit-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung<br />

und demokratische Kultur, 1(2013), 20-40.<br />

Koehler, D. (2014a). Deradicalization. In N. Hall, A. Corb, P. Giannasi & J. Grieve (Eds.),<br />

Routledge International Handbook on Hate Crime (pp. 420-429): Taylor & Francis.<br />

Koehler, D. (2014b). Grundlegende Qualitätsstandards in der Angehörigenberatung als Teilbereich<br />

der Deradikalisierungsarbeit. JEX Journal EXIT-Deutschland. Zeitschrift für<br />

Deradikalisierung und demokratische Kultur, 3, 226-244.<br />

Koehler, D. (2014c). Rechtsextremer Terrorismus und Ultra-Militanz als Gruppenphänomen?<br />

Der Ein uss der Gruppe auf rechtsextreme Radikalisierungsprozesse. Zeitschrift<br />

für Internationale Strafrechtsdogmatik, 9(2014), 450-460.<br />

Koehler, D. (2015). Contrast Societies. Radical Social Movements and their relationships<br />

with their target societies. A theoretical model. Behavioral Sciences of Terrorism and<br />

Political Aggression, 7(1), 18-34.<br />

Krafeld, F. J. (2001). Zur Praxis der pädagogischen Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen.<br />

In W. S. Schubarth, R. (Ed.), <strong>Rechtsextremismus</strong> in der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Eine Bilanz (pp. 271-291). Opladen.<br />

Laub, J. H., & Sampson, R. J. (2001). Understanding Desistance from Crime. Crime and<br />

Justice, 28(2001), 1-69.<br />

Maruna, S. (2001). Making good : how ex-convicts reform and rebuild their lives (1st ed.).<br />

Washington, D.C.: American Psychological Association.<br />

Maruna, S. (2004). Desistance from Crime and Explanatory Style: A New Direction in the<br />

Psychology of Reform. Journal of Contemporary Criminal Justice, 20(2), 184-200.<br />

Maruna, S., Lebel, T. P., Mitchell, N., & Naples, M. (2006). Pygmalion in the reintegration<br />

process: Desistance from crime through the looking glass. Psychology, Crime and Law,<br />

10(3), 271-281.<br />

Möller, K. (2008). Distanz(ierung) durch Integration. Aufsuchende Arbeit mit rechtsextrem<br />

und menschenfeindlich orientierten Jugendlichen. Konzept – Praxis – Evaluation. Bremen:<br />

Verein für akzeptierende Jugendarbeit e.V., Bremen.<br />

Möller, K. (2010a). Ausstiege aus dem <strong>Rechtsextremismus</strong>. Wie professionelle Ausstiegshilfen<br />

Themen- und Bearbeitungsdiskurse über <strong>Rechtsextremismus</strong> (re-)produzieren und


Deradikalisierung als Methode<br />

441<br />

modizieren. In A. Groenemeyer (Ed.), Doing Social Problems (pp. 220-245): VS Verlag<br />

für Sozialwissenschaften.<br />

Möller, K. (2010b). Der Einstieg nach dem Ausstieg. Was Distanzierungen von rechtsextremen<br />

Haltungen Nachhaltigkeit verleiht (Teil I). . Violence Prevention Network, Infobrief,<br />

2(2010).<br />

Möller, K. (2010c). Wie kann Ausstiegsarbeit gelingen? Ausstiegsprozesse aus der rechten<br />

Szene. Berlin: Friedrich Ebert Stiftung.<br />

Möller, K., & Schuhmacher, N. (2007). Rechte Glatzen: rechtsextreme Orientierungs- und<br />

Szenezusammenhänge – Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skinheads.<br />

Wiesbaden: VS-Verlag.<br />

Nauditt, K., & Wermerskirch, G. (2013). Lessons Learned – Können die erfolgreichen Ansätze<br />

der arbeitsmarktorientierten Ausstiegsarbeit für andere europäische Länder adaptiert<br />

werden? In R. Melzer & S. Sera n (Eds.), <strong>Rechtsextremismus</strong> in Europa. Länderanalysen,<br />

Gegenstrategien und arbeitsmarktorientierte Ausstiegsarbeit. (pp. 429-444).<br />

Berlin: Friedrich Ebert Stiftung.<br />

Noricks, D. M. E. (2009). Disengagement and Deradicalization: Processes and Programs. In<br />

P. K. Davis & K. Cragin (Eds.), Social Science for Counterterrorism. Putting the Pieces<br />

Together. Santa Monica: Rand Corporation.<br />

Osborn, S. G. (1980). Moving Home, Leaving London and Delinquent Trends. British Journal<br />

of Criminology, 20(1), 54-61.<br />

Rabasa, A., Pettyjohn, S. L., Ghez, J. J., & Boucek, C. (2010). Deradicalizing Islamist Extremists.<br />

Santa Monica: RAND Corporation.<br />

Ranstorp, M., & Hyllengren, P. (2013). Prevention of Violent Extremism in Third Countries.<br />

Measures to prevent individuals joining armed extremist groups in con ict zones: Center<br />

for Asymmetric Threat Studies – Swedish National Defence College.<br />

Reinares, F. (2011). Exit From Terrorism: A Qualitative Empirical Study on Disengagement<br />

and Deradicalization Among Members of ETA. Terrorism and Political Violence, 23(5),<br />

780-803.<br />

Rieker, P. (2009). <strong>Rechtsextremismus</strong>: Prävention und Intervention. Ein Überblick über<br />

Ansätze, Befunde und Entwicklungsbedarf. Weinheim München: Juventa.<br />

Rieker, P. (Ed.). (2014). Hilfe zum Ausstieg? Ansätze und Erfahrungen professioneller Angebote<br />

zum Ausstieg aus rechtsextremen Szenen. Weinheim: Beltz Juventa.<br />

Ripley, A. (2008, Mar. 13). Future Revolutions. 4. Reverse Radicalism. Time Magazine.<br />

Romaniuk, P., & Fink, C. N. (2012). From Input To Impact. Evaluating Terrorism Prevention<br />

Programs.: Center on Global Counterterrorism Cooperation.<br />

Rommelspacher, B. (2006). „Der Hass hat uns geeint“ : junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg<br />

aus der Szene. Frankfurt/Main ; New York: Campus.<br />

Rosenau, W., Espach, R., Ortiz, R. D., & Herrera, N. (2014). Why They Join, Why They<br />

Fight, and Why They Leave: Learning From Colombia’s Database of Demobilized Militants.<br />

Terrorism and Political Violence, 26(2), 277-285.<br />

Vidino, L. (2014). Foreign Fighters: An Overview of Responses in Eleven Countries. Zurich:<br />

Center for Security Studies (CSS), ETH Zurich.


Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit<br />

der Stammtische treffen<br />

Die lokale politische Kultur als begünstigender Faktor<br />

für die Herausbildung von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

Reiner Becker<br />

Politische Einstellungen entwickeln sich nicht im luftleeren Raum: Die Herausbildung<br />

rechtsextremer Orientierungen bei Jugendlichen vollzieht sich zunächst<br />

in einem Dreieck primärer Sozialisationsinstanzen von Familie, Schule und Peergroup<br />

(Möller, 2000), in der zunehmend auch die politische Kultur im sozialen<br />

Nahraum mit ihren gesellschaftlichen Wertevorstellungen, aktuellen aber auch<br />

tradierten Einstellungsmustern gegenüber so genannten gesellschaftlich schwachen<br />

Gruppen und den mit ihr einhergehenden Gelegenheitsstrukturen für die<br />

Aktivitäten von rechtsextremen Gruppierungen als eine nachgeordnete Sozialisationsinstanz<br />

von besonderer Bedeutung ist (Becker & Palloks, 2013). Die skandierten<br />

Vorurteile und Ressentiments der wiederholt reklamierten „Mitte der Gesellschaft“<br />

an Stammtischen und in Vereinen – oder wie im Winter 2014/2015 auf<br />

vielen Straßen in deutschen Städten im Rahmen der so genannten Pegida-Demonstrationen<br />

– können rechtsextremen (jugendlichen) Akteuren die Bestätigung und<br />

ein angenommenes Mandat geben, das sie für ihre (gewaltorientierten) Aktivitäten<br />

benötigen. Ohne Blick auf die politische Kultur konkreter sozialer Nahräume lassen<br />

sich daher, so die erkenntnisleitende Perspektive dieses Beitrags, einerseits die<br />

Ursachen für <strong>Rechtsextremismus</strong> und die begünstigenden Faktoren für die Etablierung<br />

rechtsextremer Szenen nur unzureichend herausarbeiten und andererseits<br />

nur unzureichende Präventions- und Interventionsansätze konturieren.<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_19, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


444 Reiner Becker<br />

1 Politische Kultur als Teil der politischen Sozialisation<br />

Die Herausbildung und die Verfestigung von politischen Einstellungen ist ein<br />

komplexer Prozess und vollzieht sich zunächst auf der Individualebene und Mesoebene<br />

des institutionellen Lebens, dann auf der gesellschaftlichen Makroebene<br />

sowie auf Ebene der politischen Kultur.<br />

Politische Sozialisation auf der Individualebene geschieht in der Abhängigkeit<br />

von den primären Instanzen der politischen Sozialisation wie Familie, der Peergroup<br />

und der Schule aber auch den Medien. Hier gilt es zwischen manifesten<br />

Gehalten der politischen Sozialisation (z. B. welche politische Einstellungen geben<br />

Eltern an ihre Kinder weiter, welchen Bestandteil nimmt das Thema Politik<br />

und Gesellschaft in den Unterrichtscurricula an Schulen ein) und Prozessen auf<br />

einer (eher) latenten Ebene zu unterscheiden. Bezogen auf die Familie weisen Forschungsbefunde<br />

etwa auf die Bindungsqualität zwischen Eltern und Kind als einen<br />

relevanten Faktor der politischen Sozialisation hin (Hopf, Rieker, Sanden-Marcus<br />

& Schmidt, 1995) oder zeigen den Zusammenhang von Erziehungsstilen, Beziehungsqualitäten<br />

und der Qualität der manifesten politischen Sozialisation (Becker,<br />

2008). Die Sozialisationsinstanz Schule gewinnt z. B. über die Möglichkeit für<br />

Schüler und Schülerinnen an demokratischer Teilhabe oder Nichtteilhabe an Relevanz<br />

(Gänger, 2007). Die Peergroup bzw. Jugendcliquen bilden neben Familie und<br />

Schule einen weiteren lebensweltlichen Bezugspunkt für Af nisierungsprozesse<br />

und spielen insbesondere in der Abgrenzung gegenüber anderen Jugendlichen bzw.<br />

Jugendkulturen und den anderen primären Sozialisationsinstanzen eine wesentliche<br />

Rolle (Küpper & Möller, 2014, S. 37f.). In der Regel sind dabei rechtsextrem<br />

orientierte Jugendcliquen (zunächst) eher erlebnisorientiert und weniger ideologisiert<br />

und sie werden eher in ländlichen Räumen wahrgenommen (Hafeneger &<br />

Becker, 2007).<br />

Politische Sozialisation auf der interaktiven Individualebene zu betrachten, bedeutet<br />

allerdings nicht, dass es sich dabei um rein individualisierte, isolierte Prozesse<br />

handelt. Vielmehr werden sie von institutionell vermittelten Prozessen auf<br />

gesellschaftlicher Ebene beeinusst. So führt eine tatsächliche bzw. wahrgenommene<br />

relative Deprivation als Folge des ökonomischen Wandels zu höheren Anfälligkeiten<br />

für rechtsextreme Ideologien bei bestimmten Bevölkerungsgruppen<br />

(Hofstadter, 1964). Scheuch und Klingemann haben im <strong>Rechtsextremismus</strong> eine<br />

„normale Pathologie von freiheitlichen Industriegesellschaften“ gesehen (Scheuch<br />

& Klingemann, 1967, S. 13), nach der ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen<br />

Modernisierungsprozessen, Anomie (vgl. Durkheim, 1993; Merton, 1995),<br />

rigiden Handlungsweisen und der Unterstützung von rechtsextremen Parteien besteht.<br />

Erfahrungen von unterschiedlichen Formen von Desintegration als Folge des


Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />

445<br />

sozialen Wandels (vgl. Heitmeyer, 1997) und der Pluralisierung bzw. Individualisierung<br />

von Lebenslagen (Beck, 1986) verweisen ebenfalls auf die Ein üsse von<br />

gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen auf die individuellen Dispositionen.<br />

Eine dritte Ebene der politischen Sozialisation stellt die politische Kultur dar.<br />

Diese bezieht sich „auf unterschiedliche politische Bewusstseinslagen, ‚Mentalitäten‘,<br />

‚typische‘ bestimmten Gruppen oder ganzen Gesellschaften zugeschriebene<br />

Denk- und Verhaltensweisen“ (Nohlen, 1998, S. 499). Dabei unterscheidet sich<br />

politische Kultur von einer allgemeinen Kultur ebenso wie von Formen des politischen<br />

Verhaltens. Sie beschreibt vielmehr Präpositionen politischen Handelns auf<br />

der Ebene von Meinungen (Beliefs), Einstellungen (Attitudes) – demnach auch Einstellungen<br />

gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen – und Werten (Values),<br />

wobei die Ebene der Werte die intensivste und beständigste darstellt. Almond und<br />

Verba (1963) sehen einen engen Zusammenhang zwischen der politischen Kultur<br />

und der Stabilität des politischen Systems: Das Beispiel der Weimarer Republik<br />

zeigt, dass ein demokratisches System sich nur dann schwer etablieren und stabilisieren<br />

kann, wenn wesentliche gesellschaftliche Eliten und Bevölkerungsgruppen<br />

ein solches System ablehnen. Dieser Aspekt verweist auf ein weiteres wesentliches<br />

Element der politischen Kultur, das der Beständigkeit. Mentalitäten, Einstellungen<br />

und Werte sind nicht (nur) abhängig von den Konjunkturen aktueller ökonomischer,<br />

politischer und gesellschaftlicher Großwetterlagen, vielmehr werden sie auf<br />

individueller und auch auf kollektiver Ebene tradiert (vgl. Becker, 2008, Rosenthal,<br />

1990, 1999; Welzer, Moller & Tschuggnall, 2003) und werden Bestandteil des<br />

kollektiven Gedächtnisses (Assmann, 1992). Politische Kultur ist also sowohl das<br />

Produkt kollektiver als auch individueller Geschichte (Pye, 1968). Dabei produzieren<br />

Gruppen kollektive Erinnerungen, indem alle Gesellschaften ein Bewusstsein<br />

von „ihren“ Vergangenheiten haben, um sich in dieser zu vergegenwärtigen<br />

(Halbwachs, 1967, 1985; Hobsbawm, 1998). Jede Generation verschafft sich somit<br />

die Erinnerungen, die sie zur Bildung ihrer Identität benötigt und es besteht „kein<br />

Vergangenheitsbild ohne Gegenwartsbezug“ (François & Schulze, 2005).<br />

2 Einstellungen und politische Kultur<br />

Seit der ersten SINUS-Studie aus dem Jahr 1981 weisen empirische Studien regelmäßig<br />

auf die Verbreitung von rechtsextremistischen Einstellungen in der (zunächst<br />

westdeutschen) Gesellschaft hin (vgl. Sinus-Institut, 1981). Solche Untersuchungen<br />

dokumentieren auch die „Qualität“ der politischen Kultur der Bundesrepublik,<br />

belegen sie doch die Einstellungen einer Mehrheitsgesellschaft gegenüber


446 Reiner Becker<br />

gesellschaftlich schwachen Gruppen über einen langen Zeitraum. Die Studien zur<br />

Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (vgl. Heitmeyer, 2002 – 2012) differenzieren<br />

z. B. abwertende Haltungen gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen<br />

in zuletzt zwölf Syndrom-Elementen und dokumentieren eindrucksvoll über<br />

einen Zeitraum von zehn Jahren die Zu- und Abnahme von Vorurteilen gegenüber<br />

den einzelnen Gruppen. Ein zentrales Ergebnis der Langzeitstudie lautet: „Unter<br />

denjenigen, die sich von Krisen bedroht fühlen, ist die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit<br />

deutlich höher, variierend nach den Umständen“ (Heitmeyer,<br />

2012, S. 26). Auch die so genannten „Mitte-Studien“ können solcherlei Verläufe<br />

dokumentieren, danach hatten 2014 5,6% der Befragten ein geschlossenes rechtsextremes<br />

Weltbild, wobei die Zahl der Befragten, die ein geschlossenes rechtsextremes<br />

Weltbild aufweisen im Vergleich zu 2002 (9,7%) gesunken ist (vgl. Decker,<br />

Kiess & Brähler, 2014). In der Bilanzierung der zehnjährigen Erhebung kommt<br />

Heitmeyer weiter zu dem Schluss, dass sich eine „rohe Bürgerlichkeit“ herausgebildet<br />

habe, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben<br />

der kapitalistischen Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Ef zienz orientiere und somit<br />

die Gleichwertigkeit von Menschen antastbar mache und einen Klassenkampf<br />

von oben inszeniere (Heitmeyer, 2012, S. 34f.). In der Leipziger „Mitte-Studie“<br />

kommen die Autoren u. a. zu dem Ergebnis, dass die starke Wirtschaft als eine<br />

„narzisstische Plombe“ wirke, sich jedoch ein „sekundärer Autoritarismus“ etabliert<br />

habe, der sich gegen solche „fremden“ gesellschaftlichen Gruppen richte, die<br />

sich nicht dem Primat der sekundären Autorität, der Ökonomie, unterwerfe (vgl.<br />

Decker et al., 2014, S. 65ff.). Solcherlei empirischen Befunde rekurrieren jedoch<br />

selten auf die Spezika der politischen Kultur oder auf die Ebene der Tradierung.<br />

Doch gerade die Abwertungen von bestimmten gesellschaftlich schwachen Gruppen<br />

beruhen z. T. auf einer langen „Tradition“. Gesellschaftliche Gruppen werden<br />

nach ethnischen, kulturellen, religiösen oder vermeintlich „biologischen“ Merkmalen<br />

voneinander unterschieden und dabei sind diese Unterscheidungen in der<br />

Regel Ausdruck und Resultat langer, z. T. jahrhundertealter politischer und kultureller<br />

Auseinandersetzungen (vgl. Rommelspacher, 2006). So stellt das Stereotyp<br />

von den Juden als den „Fremden“ bzw. den „Anderen“ ein Kategorisierungs- und<br />

Erweiterungskonzept dar, das über zwei Jahrtausende in diversen Abwandlungen<br />

erhalten geblieben ist: „Die im Laufe der Jahrhunderte zusätzlich entstandenen<br />

spezischen Stereotype bilden zusammen und miteinander verknüpft ein kognitives<br />

System von Glaubensinhalten, welches das emotionale Ressentiment gegenüber<br />

Juden mental stützt. Die Sprache archiviert Komponenten des kollektiven<br />

Bewusstseins und macht sie über ihre bedeutungstragenden Formen transparent“<br />

(Schwarz-Friesel & Reinharz, 2013, S. 105). Ein ähnlicher Tradierungsmechanismus<br />

gilt für den Rassismus oder für die Abwertung von Sinti und Roma.


Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />

447<br />

3 Politische Kultur und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

im ländlichen Raum<br />

Die bisherigen Ausführungen zur politischen Kultur beziehen sich auf eine gesamtgesellschaftspolitische<br />

Perspektive. Doch können auch Spezika einer politischen<br />

Kultur für konkrete soziale – lokale und regionale – Nahräume beschrieben<br />

werden, wie die folgenden sechs Dimensionen zeigen:<br />

1. Betrachtet man konkrete Entfaltungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume<br />

extrem rechter Organisationen und Gruppierungen im lokalen bzw. regionalen<br />

Nahraum, dann zeigen die Befunde aus der Forschung zu <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />

soziale Bewegung, dass die lokale politische Kultur, die konkreten Einstellungsmentalitäten<br />

und Vorurteilskulturen mitentscheidend dafür sind, ob es vor Ort<br />

eher günstige oder hinderliche Entfaltungsmöglichkeiten gibt (Klärner & Kohlstruck,<br />

2006). Eine Erklärung hierfür ndet sich u. a. in der Theorie des geplanten<br />

Verhaltens (Fishbein & Ajzen, 1975), wonach Individuen ihre Handlungen<br />

danach ausrichten, ob das Umfeld, z. B. das Gemeinwesen, diese Handlungen<br />

„aus Überzeugung“, auf Basis geteilter Werte und Überzeugungen, missbilligt<br />

oder toleriert. Hier treffen nun die abstrakten Items der Einstellungsforschung<br />

mit der Wirklichkeit der Stammtische und interaktiven Alltagsbezügen zusammen:<br />

Vorurteile gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen nden sich eher<br />

im ländlichen denn im städtischen Raum wieder. Der Af nisierungsaufbau bei<br />

rechtsextrem orientierten Jugendlichen kann dadurch begünstigt werden, wenn<br />

sie mit solcherlei Vorurteilen in ihrem sozialen Nahraum groß werden – in der<br />

Dorfschänke oder im Feuerwehrgerätehaus, in Vereinen oder in Kirmesburschenschaften.<br />

Dies kann so weit führen, dass rechtsextrem orientierte Jugendliche<br />

für ihr Verhalten ein Mandat und eine „stille“ Unterstützung in den Vorurteilskulturen<br />

der Erwachsenen ihres sozialen Nahraums annehmen.<br />

2. Weiter zeigen die Ergebnisse aus der Einstellungsforschung für die Bundesrepublik,<br />

dass rechtsextreme Einstellungen kein Ost-West- sondern eher ein Stadt-<br />

Land-Problem sind. So ist z. B. Fremdenfeindlichkeit dort höher, wo kaum Migranten<br />

leben (vgl. Decker, Kiess & Brähler, 2012). Dieser für viele irritierende<br />

Befund lässt sich mit den Annahmen der so genannten Kontakttheorie erklären,<br />

wonach der persönliche Kontakt mit „Fremden“ zur Reduktion von Vorurteilen<br />

und Feindseligkeiten beitragen kann, weil er die Haltung zum Zusammenleben<br />

der eigenen mit fremden Gruppen verändert (vgl. Asbrock et. al., 2012). Der<br />

persönliche Kontakt zu „Fremden“ kann als ein Prozess der „Deprovinzialisierung“<br />

beschrieben werden, in dem zunehmend andere kulturelle Standards<br />

und Gewohnheiten wahrgenommen und akzeptiert werden (Pettigrew, 1998).


448 Reiner Becker<br />

3. Vorliegende Forschungsbefunde zum <strong>Rechtsextremismus</strong> im ländlichen Raum<br />

weisen auf den verdichteten sozialen Konformitätsdruck in kleineren Gemeinden<br />

hin. Das Motto „Jede/r kennt jede/n“ drückt eines der Grundcharakteristika<br />

dörichen Lebens aus, die grundsätzlich engeren Beziehungsgeechte auf<br />

dem Land. Das kann Ausdruck einer spezischen Lebensqualität sein, bedeutet<br />

aber – als Kehrseite der Medaille –, dass abweichende Einstellungen und Verhaltensweisen<br />

von der örtlichen Gemeinschaft nicht akzeptiert oder gar sanktioniert<br />

werden können. Gleichzeitig droht der Bedeutungsverlust des Lokalen<br />

und der Verlust dör icher Gemeinschaftsstrukturen im Zeitalter eines anhaltenden<br />

ökonomisch-strukturellen Wandels und Krisen „auf dem Land“: Vielerorts<br />

– und dies betrifft nicht mehr nur Regionen in Ostdeutschland – ziehen<br />

junge, gut ausgebildete Bewohner und Bewohnerinnen des Ortes weg und es<br />

droht eine zunehmende Homogenisierung der lokalen Bevölkerungsstrukturen<br />

(Buchstein & Heinrich, 2010).<br />

4. Die Zivilgesellschaft gilt in der Auseinandersetzung mit einem lokalen <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

als ein Schlüssel für gelingende Interventionen. Dabei hängt das<br />

Engagement der Bevölkerung davon ab, welche dominante Problemsicht auf<br />

den <strong>Rechtsextremismus</strong> unter den zentralen Akteuren der lokalen Öffentlichkeit<br />

vorherrschend ist (Klemm, Strobl & Würtz, 2006). Zentrale Akteure vor<br />

Ort sind diejenigen, welche wichtige Knotenpunkte in einem lokalen Beziehungsgeecht<br />

darstellen; dazu gehören Bürgermeister, Pfarrer oder Vereinsvertreter.<br />

Wird von diesen zentralen Akteuren das Problem eher verharmlost,<br />

so fällt in der Regel das Engagementpotential bei der restlichen Bevölkerung<br />

geringer aus und sie werden zu „Verhinderern“ statt „Ermöglichern“; wenn die<br />

zentralen Akteure sich eine Problemlage zu eigen machen und zu Engagement<br />

ermutigen, ist der gegenteilige Effekt zu beobachten. Für die „Zivilgesellschaft“<br />

als ein eher normativ besetztes Konzept gilt zugleich, dass freiwillige<br />

Assoziationen, Vereine, Bewegungen und Verbände nicht per se demokratisch,<br />

pluralistisch und für jedermann offen sind. Vielmehr versagt eine „zivilgesellschaftliche<br />

Gegenwehr“ dann, wenn die örtliche Zivilgesellschaft mit ihren<br />

ausgeprägten Vorurteilskulturen mehr Teil des Problems denn der Lösung ist<br />

(Roth, 2004).<br />

5. Es gilt gleichwohl die Erkenntnis, wenn der soziale Zusammenhalt in der eigenen<br />

Kommune als stark und positiv eingeschätzt wird, so sinkt für den Einzelnen<br />

die Wahrscheinlichkeit für fremdenfeindliche Einstellungen (Grau & Heitmeyer,<br />

2013). Die Qualität des „sozialen Zusammenhalts“ fokussiert dabei auf<br />

die Werte- und Zielvorstellungen einer lokalen Zivilgesellschaft, auf die lokale<br />

soziale Ordnung und Kontrolle, auf die Formen der sozialen Solidarität und der<br />

Reduktion von ökonomischen Ungleichheiten, auf den Grad von sozialen Inter-


Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />

449<br />

aktionen (soziale Netzwerke und soziales Kapital) sowie auf die lokale Verbundenheit<br />

und Identität (ebd., S. 62). Die Qualität des sozialen Zusammenhalts in<br />

einer Kommune ist im Rahmen von Interventions- und Präventionsstrategien<br />

somit von hoher Relevanz.<br />

6. Ein weiteres Spezi kum einer lokalen politischen Kultur betrifft die Bedeutung<br />

von tradierten, lokalen Mythen und Geschichten. Das kollektive Gedächtnis<br />

einer politischen Kultur kristallisiert sich auch in ihren Erinnerungsorten<br />

wieder (vgl. François & Schulze, 2005, S. 8). Auf deutsche Erinnerungsorte<br />

bezogen, kann dabei z. B. zwischen „Orten“ (z. B. dem Berliner Reichstag, der<br />

Berliner Mauer, der KZ-Gedenkstätte Auschwitz) und „Ereignissen“ (z. B. der<br />

Reformation, Brandts Kniefall 1972, der Gewinn der Fußball-WM 1954 usw.)<br />

unterschieden werden. Erinnerungsorte sind nicht zeitlos, sondern unterliegen<br />

ebenfalls der jeweiligen Lesart der Gegenwart und den ihr vorausgegangenen<br />

Narrativen. Gleichzeitig dienen solche Erinnerungsorte zur Vergegenwärtigung<br />

in „Raum und Zeit“. Mit Blick auf das Gemeinwesen kann dieser Aspekt<br />

bedeuten, dass lokale Mythen über den Ort, historische Bezüge und Rückvergewisserungen<br />

in Zeiten des o. g. Bedeutungsverlustes des Lokalen von tragender<br />

Bedeutung sind. Hier stellt sich wiederum die Frage, welche Geschichte(n)<br />

in der dörichen Öffentlichkeit tradiert und welche Geschichte(n) verschwiegen<br />

oder bestenfalls verschämt zu Hause am Küchentisch weitererzählt werden.<br />

4 Beratung im kommunalen Raum –<br />

ein Beispiel für Intervention und politische Kultur<br />

Die Frage nach der Bedeutung einer spezi schen lokalen politischen Kultur in<br />

der Auseinandersetzung mit <strong>Rechtsextremismus</strong> ist keine akademische Dehn- und<br />

Lockerungsübung, sondern wird dann relevant, wenn mögliche Gelingensfaktoren<br />

für erfolgreiche Interventions- und Präventionsmaßnahmen konturiert werden<br />

sollen. Mobile Beratung im Kontext von <strong>Rechtsextremismus</strong> (als ein Beispiel für<br />

Intervention) ist ein noch recht junges Feld mit zugehöriger Profession. Sie wurde<br />

1998 im Rahmen des Landesprogramms „Tolerantes Brandenburg“ erstmals<br />

erprobt und ab 2001 mit dem Bundesprogramm „CIVITAS“ des Bundesministeriums<br />

für Familie, Frauen, Senioren und Jugend (BMFSFJ) zunächst in den ostdeutschen<br />

und ab 2007 über das Programm „kompetent. für Demokratie“ auch in<br />

den westdeutschen Bundesländern angeboten. Mithilfe eines Fallbeispiels aus der<br />

Praxis des beratungsNetzwerks hessen – Mobile Intervention gegen <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

sollen exemplarisch hinderliche und begünstigende Faktoren der lokalen


450 Reiner Becker<br />

politischen Kultur im Rahmen von Beratungsprozessen aufgezeigt werden<br />

einer Beratungsanfrage heißt es:<br />

1<br />

. In<br />

„Die Jugendp egerin einer Gemeinde berichtet von zahlreichen Vorkommnissen<br />

mit einem rechtsextremen Hintergrund u. a. in den selbstverwalteten Jugendräumen<br />

und auch in der Gemeinde. Die rechtsextrem orientierte Jugendclique des Ortes, mit<br />

z. T. gewaltbereiten Jugendlichen, hat Kontakt zur organisierten Szene; so fanden in<br />

den Jugendräumen gemeinsame Versammlungen statt. Die Gemeinde schloss die Jugendräume<br />

und möchte diese mit einem neuen Konzept wieder öffnen. Gleichzeitig<br />

weisen die Vorfälle auf die Verharmlosung der Problematik in Teilen der Gemeinde<br />

hin.“<br />

Ohne näher über den weiteren Verlauf der Beratung in dieser Kommune zu berichten,<br />

können für die Darstellung der Ausgangsbedingungen für Beratung vier<br />

zentrale Thesen formuliert werden, die auf eine spezi sche lokale politische Kultur<br />

verweisen.<br />

A Vorkommnisse in Kommunen werden häufig zur Standortfrage<br />

stilisiert.<br />

Die Vorkommnisse mit einem rechtsextremen Hintergrund in einer Kommune<br />

und der Umgang mit ihnen ist sicherlich kein „Gewinnerthema“. Kommunal verantwortliche<br />

Akteure wie Bürgermeister und Bürgermeisterinnen stehen in der<br />

Regel unter einem großen Handlungsdruck, wenn solcherlei Vorkommnisse, z. B.<br />

durch eine Berichterstattung in der Lokalpresse, öffentlich werden. Es zeigt sich<br />

eine große, ernstzunehmende Sorge um den Ruf der Gemeinde und eine Infragestellung<br />

des friedlichen Zusammenlebens und sozialen Zusammenhalts. In der<br />

Beratung gilt es daher, gemeinsam mit Bürgermeistern und anderen kommunalen<br />

Verantwortungsträgern zu eruieren, wie sie die politische Situation und die Stimmungslage<br />

in ihrem Ort einschätzen. Idealtypisch lassen sich hier vier Gruppen<br />

unterscheiden:<br />

1 Die Landeskoordinierungsstelle des beratungsNetzwerks hessen an der Philipps-Universität<br />

Marburg hat seit 2007 ein eigenes System zur Dokumentation und Evaluation<br />

von Beratungsprozessen entwickelt. Die Berater und Beraterinnen im Netzwerk dokumentieren<br />

hiermit nach einem standardisierten Verfahren, welches einen idealtypischen<br />

Beratungsprozess modelliert, ihre Arbeit. Dies ermöglicht eine kontinuierliche<br />

Auswertung der Beratungsprozesse nach verschiedenen Aspekten und Fragestellungen,<br />

vgl. auch Becker (2013). Das vorliegende Beispiel bezieht sich auf einen (hier<br />

anonymisierten) Beratungsfall aus dem Jahr 2008.


Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />

451<br />

• Die Gruppe der „besorgten Bürger“, die darauf drängt, dass „etwas unternommen<br />

wird“;<br />

• die Gruppe der „Gleichgültigen“, die keinen Problemdruck verspürt bzw. diesen<br />

negiert;<br />

• die Gruppe der „Relativierer“, die sich in erster Linie Sorge um das Image der<br />

Gemeinde macht und daher eher auf starke Positionierungen gegen den lokalen<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> verzichten möchte;<br />

• die Gruppe der (stillen) „Sympathisanten“, welche die Positionen der lokalen<br />

Rechtsextremisten mehr oder weniger teilt und gleichzeitig darauf bedacht ist,<br />

kein unnötiges Aufsehen zu produzieren.<br />

In dieser vierten idealtypischen Gruppe nden sich vor allem die lokalen Träger<br />

von Vorurteilen gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen. In dieser Gemengelage<br />

ist es nun von entscheidender Bedeutung, welche Problemsicht die politisch<br />

und zivilgesellschaftlich kommunal verantwortlichen Akteure einnehmen. Wirkt<br />

sich die Frage der drohenden Rufschädigung des Standortes derart aus, dass eher<br />

die Positionen der Relativierer und (stillen) Sympathisanten geteilt werden, dann<br />

agieren Bürgermeister in der Regel eher passiv und problemverharmlosend; „bestenfalls“<br />

delegiert man die Problemlösung an die Verantwortlichen in der Jugendarbeit,<br />

so wie es zunächst in diesem Fallbeispiel auch geschehen ist. Der lokale<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> ist dann kein Problem mehr für die politische Kommune und<br />

soziale Gemeinschaft des Ortes, sondern wird zu einem reinen Jugendproblem.<br />

B Rechtsextrem orientierte Jugendliche fühlen sich im ländlichen Raum<br />

oftmals durch ihr Erwachsenenumfeld bestätigt.<br />

Bezogen auf einen drohenden Imageverlust erscheint es zunächst durchaus plausibel,<br />

das Problem des lokalen <strong>Rechtsextremismus</strong> zu verharmlosen und ggf. zu<br />

externalisieren, ihn nicht als einen Teil der lokalen Gesellschaft und in ihr entstanden<br />

zu verstehen. Eine solche Verdrängungsstrategie stößt dann an Grenzen, wenn<br />

(wie in dem o. g. Fallbeispiel) die rechtsextrem orientierten Jugendlichen in der<br />

besagten Gemeinde groß geworden und bekannt sind. Das Phänomen der rechten<br />

Jugendcliquen ist vor allem ein Phänomen des ländlichen Raums (vgl. Hafeneger<br />

& Becker, 2007) und oftmals werden Jugendliche in einem Erwachsenenumfeld<br />

und einer mentalen Kultur sozialisiert, die in (großen) Teilen spezi sche Vorurteilskulturen<br />

und Ressentiments ausgeprägt hat. Schlimmstenfalls nden die<br />

Jugendlichen darin eine Legitimation für ihr Handeln, sie agieren mit dem Gefühl,<br />

eine „schweigende Mehrheit“ zu repräsentieren, meinen das in die Tat umzusetzen,<br />

was sie an Stammtischen oder in Vereinsheimen hören. Eine Beratung von<br />

Kommunen setzt daher einerseits mit der Frage nach den Rahmenbedingungen


452 Reiner Becker<br />

und der aktuellen Situation der kommunalen Jugendarbeit an, wäre aber selbst<br />

schlecht beraten, wenn sie andererseits die Spezika des Gemeinwesens mit seiner<br />

politischen Kultur und ihren Tradierungen außer Acht lassen würde. Auch in dem<br />

exemplarischen Fall wurde zunächst nach neuen Konzepten für die Jugendarbeit<br />

gefragt; die zunehmende Eskalation vor Ort (verstärktes Auftreten von rechtsextremen<br />

Aktivisten, eine Zunahme von gewalttätigen Vorfällen) führte jedoch dazu,<br />

dass die Lösungskompetenz nicht in der Jugendarbeit alleine gesehen wurde. Vielmehr<br />

wurden zwei weitere Beratungen nachgefragt (von der örtlichen Feuerwehr<br />

und einem Sportverein), denn viele der rechtsextrem orientierten Jugendlichen<br />

nahmen nach wie vor am Vereinsgeschehen der Kommune teil.<br />

C Die besonderen Beziehungsgeflechte, insbesondere im ländlichen<br />

Raum, sind eine Herausforderung für die Beratung.<br />

Die spezischen Beziehungsgeechte vor Ort in einem Beratungsdesign zu ignorieren,<br />

bedeutet in der Regel, dass die Arbeit erfolglos sein wird. Oftmals ist es<br />

Ziel der Beratung im kommunalen Raum, die Bürger und Bürgerinnen des Ortes<br />

für die Thematik zu sensibilisieren und für ein eigenes Engagement, etwa in Form<br />

eines Bündnisses oder eines „runden Tisches“ zu aktivieren. Hinderlich können<br />

enge Beziehungsge echte dann sein, wenn der von den Individuen (wahrgenommene)<br />

Konformitätsdruck groß und in großen Teilen der örtlichen Bevölkerung die<br />

Problemsicht gering ist. Hinderlich für ein Engagement kann auch sein, wenn persönliche<br />

Beziehungen zu den Familien der rechtsextrem orientierten Jugendlichen<br />

bestehen und eine scheinbar klare und öffentliche „Freund-Feind-Positionierung“<br />

nicht möglich ist – gerät man in diesem Kontext mit den Nachbarn in Konikt, ist<br />

es nicht nur ein politischer, sondern zugleich ein persönlicher Kon ikt im Nahbereich<br />

der Nachbarschaft (Palloks & Steil, 2008, S. 35). So hinderlich die engen<br />

Beziehungsgeechte als Ausdruck des sozialen Zusammenhalts im Beratungsprozess<br />

sein können, so nützlich können sie auch sein, wenn sich deutungsmächtige<br />

Akteure des Ortes als relevante Knoten im kommunalen Beziehungsge echt für<br />

ein bürgerschaftliches Engagement stark machen, Position beziehen und anderen<br />

Menschen des Ortes „ein gutes Vorbild“ sind. Solche relevanten Akteure zu identizieren,<br />

gehört zum kleinen Einmaleins der Mobilen Beratung in Kommunen.<br />

Im o. g. Fallbeispiel gelang es dem Beratungsteam, mithilfe wichtiger Akteure des<br />

Ortes ein breites Bürgerbündnis zu initiieren.<br />

D Aktuelle Beratungsfälle in Kommunen beruhen oftmals auf zurückliegenden<br />

Vorkommnissen und tradierten Vorurteilskulturen.<br />

Vielerorts zeigt die Beratungspraxis, dass aktuellen Vorkommnissen mit einem<br />

rechtsextremen Hintergrund, etwa das Aufkommen rechtsextrem orientierter Ju-


Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />

453<br />

gendcliquen im lokalen Raum, Vorkommnisse vorausgehen, die mitunter schon<br />

Jahre zurückliegen können. So zeigt die Replikationsstudie zu rechten Jugendcliquen<br />

in Hessen aus dem Jahr 2007 (Hafeneger & Becker, 2007), dass in einigen<br />

Orten schon fünf Jahre zuvor, zum Zeitpunkt einer ersten hessenweiten Erhebung,<br />

von solchen Jugendcliquen berichtet wurde (vgl. Hafeneger, Jansen, Niebling,<br />

Claus & Wolf, 2002). In einigen aktuellen Beratungsfällen zeigt sich weiterhin,<br />

dass die einstigen Jugendlichen, die Mitglied solcher Cliquen waren, heute als Erwachsene<br />

ein nach außen bürgerliches Leben führen, sie aber gleichzeitig für die<br />

aus dem Ort stammenden rechtsextrem orientierten Jugendlichen einen wichtigen<br />

Anlaufpunkt darstellen. Eine bisher nicht untersuchte Frage lautet, ob sich die<br />

Konjunkturen eines lokalen <strong>Rechtsextremismus</strong> erklären lassen und wieso einige<br />

Orte – wenn auch in großen zeitlichen Abständen – immer wieder mit solcherlei<br />

Vorkommnissen konfrontiert sind. Eine mögliche Antwort ndet sich in der näheren<br />

Betrachtung der Ergebnisse eines spezi schen Präventionsprojektes, welches<br />

auf den Aspekt der politischen Kultur im ländlichen Raum zielte.<br />

5 Spurensuche nach „vergessenen Geschichten“ –<br />

ein Beispiel für Prävention und politische Kultur<br />

Die Bandbreite von schulischen und außerschulischen Angeboten zur Prävention<br />

von <strong>Rechtsextremismus</strong> ist von vielfältigen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen<br />

geprägt (vgl. Rieker, 2009) 2 . Sie richtet sich aber in den meisten Konzeptionen an<br />

die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen, kaum aber an Erwachsene, die, wirft<br />

man den Blick auf die Ergebnisse der meisten Einstellungsstudien, im Vergleich zu<br />

Jugendlichen größere Vorurteile gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen<br />

zeigen. An dieser Stelle kann von einem Ansatz der historisch-politischen Bildung<br />

berichtet werden, das Projekt „Die vergessenen Geschichten Oberschelds“ 3 ,<br />

2 Rieker (2009) führt die folgenden Angebote auf: Angebote auf Ebene einer primären<br />

Prävention richten sich an Kinder und Jugendliche ohne Affinität zu <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Dies sind Angebote der frühen Prävention, des interkulturellen Lernens oder der<br />

politischen Bildung. Auf Ebene der sekundären Prävention sind Angebote zu differenzieren,<br />

die sich an rechtsextrem gefährdete oder rechtsextrem orientierte Jugendliche<br />

richten; auf Ebene der tertiären Prävention finden sich Angebote zum Ausstieg aus<br />

dem <strong>Rechtsextremismus</strong> und Angebote für die Arbeit mit Eltern und Angehörigen von<br />

Rechtsextremisten wieder.<br />

3 Gefördert wurde das Projekt durch den Lokalen Aktionsplan (LAP) Wetzlar/Lahn-<br />

Dill im Rahmen des Bundesprogramms „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“;<br />

Informationen zum LAP unter www.toleranz-wz-ldk.de. Das Projekt lief von Januar


454 Reiner Becker<br />

welches sowohl auf jüngere als auch ältere Einwohner eines Dorfes fokussierte<br />

und in dessen Mittelpunkt die Frage stand, warum im kollektiven Gedächtnis des<br />

Ortes die Zeit des Nationalsozialismus keine Rolle spielt. Methodisch orientierte<br />

sich dieses Projekt an pädagogischen Ansätzen aus den 1980er Jahren, in denen<br />

nach dem Motto, „Grabe, wo Du stehst“, (Lindqvist, 1989) die konkreten Lebensorte<br />

von Jugendlichen und Erwachsenen der Ausgangspunkt für die historischpolitische<br />

Bildung darstellte und Lebensorte als Lernorte der lokalen-historischen<br />

Spurensicherung betrachtet wurden (Lecke, 1983).<br />

Der heute etwas über 2000 Einwohner zählende Ort in Mittelhessen ist historisch<br />

stark verwurzelt mit dem Eisenerzbergbau. Bis heute prägen die Erzählungen<br />

über die Zeit der Gruben und des Hochofens am Rande des Ortes das kollektive<br />

Gedächtnis des Dorfes. Daneben existierten jedoch Geschichten und Bilder, die<br />

keinen Eingang in die öffentlichen Erzählungen des Dorfes gefunden haben: Es<br />

sind Erzählungen vom z. T. dramatischen Wandel des Dorebens und vom drohenden<br />

Niedergang des Bergbaus Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre, von der<br />

wachsenden Bedeutung der NSDAP im Ort und von deren großen Wahlerfolgen<br />

schon vor der letzten demokratischen Wahl im März 1933. Völlig unbekannt – zumindest<br />

in der breiten lokalen Öffentlichkeit – war die Bedeutung von Zwangsarbeit<br />

im Ort; Hunderte von Menschen aus sechs Nationen leisteten am Hochofen<br />

und in den Gruben um Oberscheld ab Anfang der 1940er Jahre Zwangsarbeit.<br />

In dem Projekt „Die vergessenen Geschichten Oberschelds“ hat der „Jugend-<br />

Arbeits-Kreis Oberscheld“ (JAKOb e.V.), ein Träger der Offenen Jugendarbeit,<br />

gemeinsam mit einer Gruppe von Jugendlichen versucht, einen Teil dieser „vergessenen<br />

Geschichten“ zu bergen und einen Bezug zu Fremdenfeindlichkeit und<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> heute herzustellen, zumal der Ort in der Vergangenheit immer<br />

wieder Ausgangspunkt für die Herausbildung rechtsextrem orientierter Jugendcliquen<br />

oder Ort von Vorkommnissen mit einem rechtsextremen Hintergrund war.<br />

Dies war auch 2001 der Anlass für ehrenamtlich Engagierte des Dorfes, eine offene<br />

Jugendarbeit für den Ort zu entwickeln und bis heute anzubieten (vgl. Born<br />

& Reuter, 2013) 4 .<br />

Gemeinsam mit neun Jugendlichen sichtete ein Projektteam Dokumente im<br />

International Tracing Service (ITS) Bad Arolsen und im Hessischen Hauptstaatsarchiv,<br />

Wiesbaden, zur Dorfgeschichte. Weiterhin wurden historische Zeitungsartikel<br />

ausgewertet und Fotos aus dieser Zeit gesammelt. Ein wesentlicher Bestand-<br />

2013 bis März 2014. Weitere Informationen zu JAKOb e.V. siehe www.projekt-jakob.<br />

de.<br />

4 Der Autor ist Gründungsmitglied des Vereins und hat das Projekt „Die vergessenen<br />

Geschichten Oberschelds“ wissenschaftlich begleitet.


Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />

455<br />

teil des Projekts waren Leitfadeninterviews mit neun Senioren und Seniorinnen<br />

des Ortes – Angehörige der so genannten „Generation Hitler-Jugend“ -, die von<br />

den Jugendlichen gemeinsam mit einer pädagogischen Betreuerin durchgeführt<br />

wurden. Die Leitfadeninterviews und die Dokumente aus den Archiven wurden in<br />

einem weiteren Schritt wissenschaftlich ausgewertet, in Textform gebracht und in<br />

einer knapp 120-seitigen Broschüre veröffentlicht (vgl. JAKOb e.V., 2013).<br />

Neben der „Freilegung“ der lokalen Geschichte der Zwangsarbeit konnten<br />

in relativ kurzer Zeit weitere Geschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus<br />

durch die Sichtung der Dokumente und der Auswertung der Interviews geborgen<br />

werden: über die Macht der NSDAP-Ortsgruppe, über so genannte „Sektenprozesse“<br />

(so ein Titel der heimischen Dill-Zeitung), über Zwangssterilisierungen<br />

und Euthanasie, über Verurteilung und Inhaftierung von jungen Menschen wegen<br />

„Kameradendiebstahls“, über die Inhaftierung von Dorfbewohnern wegen des falschen<br />

Parteibuches, über die Hinrichtung eines jungen Mannes wegen „Desertion“<br />

oder über die tragische Liebesgeschichte einer jungen Dorfbewohnerin und eines<br />

jungen Tschechen, die mit dessen Tod in einem Konzentrationslager „wegen verbotenem<br />

Geschlechtsverkehrs“ tragisch endete. Das Projekt schloss (vorläug) mit<br />

der Präsentation der Ergebnisse und einem „Erzähl-Café“ ab, an dem über 200<br />

Menschen aus dem Dorf und aus Nachbarorten teilgenommen haben.<br />

Ohne an dieser Stelle weiter auf die Ergebnisse des Projektes einzugehen, lassen<br />

sich einige bemerkenswerte Aspekte bezüglich der politischen Kultur im ländlichen<br />

Raum und ihrer Bedeutung für lokale Anfälligkeiten für <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

herausarbeiten:<br />

1. Trotz aller medialen Konjunkturen in der Aufarbeitung des so genannten Dritten<br />

Reiches, trotz aller zahlreichen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen<br />

Veröffentlichungen zum Thema Nationalsozialismus verdeutlicht<br />

dieses Projekt, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus dort ins Stocken<br />

gerät und nach wie vor lokale Blockaden und Schweigespiralen vorzu nden<br />

sind, wo das Erkenntnisinteresse dem konkreten sozialen Nahraum gilt. Ein<br />

ständiger Begleiter für alle Projektbeteiligten war von Anfang an die Frage, wie<br />

„das Dorf“ auf die Ergebnisse reagieren würde. Ängste und Befürchtungen,<br />

dass der Verein Schaden erleiden könne, weil die mehr oder weniger verdrängte<br />

Dorfgeschichte nunmehr zum Thema wird oder ob gar die Jugendlichen oder<br />

die Mitglieder des Projektteams als „Nestbeschmutzer“ gesehen werden, waren<br />

während der gesamten Projektphase wiederholt Gegenstand von zahlreichen<br />

Diskussionen. Auch wenn alle lokalen NS-Größen namentlich bekannt sind,<br />

bestand die Befürchtung, dass deren Angehörige sich an den Pranger gestellt<br />

fühlen könnten.


456 Reiner Becker<br />

2. Natürlich kann kein kausaler Zusammenhang zwischen einem früh ausgeprägten<br />

lokalen Nationalsozialismus und einem wiederkehrenden lokalen <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

am Beispiel eines einzigen Ortes gezeigt werden. Allerdings zeigt<br />

sich in den o. g. Ängsten und Befürchtungen innerhalb des Projektteams und<br />

dem damit verbundenen stetig drohenden Scheitern des Projekts ein spezi -<br />

scher Konformitätsdruck: Wie auch bei den Beratungen von Kommunen nach<br />

aktuellen rechtsextremistischen Vorkommnissen sind es auch hier die lokalen<br />

Beziehungsgeechte, die Engagement hemmen oder gar unmöglich machen.<br />

Die Bedeutung dieser Beziehungsge echte zeigt sich so stark, dass selbst 70<br />

Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine offene Thematisierung des lokalen<br />

Nationalsozialismus auf große Hindernisse stößt.<br />

3. Viele der Geschichten, die der jüngeren Generation bisher unbekannt waren,<br />

sind den „Alten“ bekannt: So konnten alle Interviewpartner mal mehr, mal<br />

weniger detailliert über die Zwangsarbeit im Ort berichten. Weiterhin fällt<br />

auf, dass in den Erinnerungen der Interviewpartner das Treiben der NSDAP-<br />

Ortsgruppe deutlich weniger Raum einnimmt als etwa die Erinnerungen an<br />

Kindheit, an die Kriegszeit oder auch an die Opfer der Oberschelder Nationalsozialisten.<br />

Sehr vorsichtig deuten einige nur Geschichten über alltägliche<br />

Drangsalierungen, Verfolgung bis hin zu gewalttätigen Vorkommnissen an,<br />

sprechen keine Namen „der Täter“ aus, berichten aber gleichzeitig, dass sich<br />

nach dem Krieg für alle NS-Ortsgrößen jemand gefunden habe, der sie in ihren<br />

Entnazizierungsverfahren entlastet habe. Dies hängt mit einem der markantesten<br />

Ergebnisse der Interviewauswertung zusammen: Im Rückblick auf diese<br />

Zeit, trotz der zuvor geschilderten Geschichten von Schikanen, Ausgrenzungen<br />

bis hin zum Totschlag, pegt die Generation der Interviewpartner scheinbar bis<br />

heute ein Bild von ihrem Dorf, in dem alle immer zusammengehalten haben<br />

und die „Gemeinschaft“ immer funktionierte: Kein Zweifel, keine kritische<br />

Reexion, eher selten ein getrübter Blick auf eine verpasste und verschenkte<br />

Jugend, die von der NSDAP und ihren Gliederungen auch in Oberscheld durch<br />

und durch organisiert war. Es scheint, dass diesen Kindern und Jugendlichen<br />

der „Generation Hitler-Jugend“ nach dem Krieg von ihren Eltern das Tabu<br />

auferlegt worden sei, das Ideal der Dorfgemeinschaft zu wahren und nicht in<br />

Verruf zu bringen, auch auf Kosten derer, die in ihrem Ort viel bitteres Leid<br />

erfahren haben. Hier scheint sich auf Ebene einer Dorfgemeinschaft ein Mechanismus<br />

zu zeigen, der für die Tradierung von NS-Erlebnissen innerhalb von<br />

Familien herausgearbeitet wurde:


Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />

457<br />

„Je umfassender das Wissen über Kriegsverbrechen, Verfolgung und Vernichtung<br />

ist, desto stärker fordern die familiären Loyalitätsverp ichtungen, Geschichten zu<br />

entwickeln, die beides zu vereinbaren erlauben – die Verbrechen »der Nazis« oder<br />

»der Deutschen« und die moralische Integrität der Eltern oder Großeltern“ (Welzer<br />

et al., 2003, S. 53).<br />

Übertragen auf das Gemeinwesen ndet sich in den Interviews zum Projekt ebenfalls<br />

eine solche Form der kollektiven Abspaltung: Trotz aller Offenheit gegenüber<br />

den Jugendlichen bezüglich der Schilderung vom Leid vieler Menschen im Dorf<br />

und vom Treiben der lokalen NS-Schergen kommt stellvertretend ein Interviewpartner<br />

bei der Frage nach der Stimmung im Dorf in der Zeit des Nationalsozialismus<br />

zum Ergebnis: „Die Oberschelder haben zusammengehalten“ (JAKOb e.V.,<br />

2013, S. 44).<br />

6 Fazit und Ausblick<br />

Die diskutierten theoretischen Ansätze und die empirischen Befunde zur Bedeutung<br />

der lokalen politischen Kultur für die Ursachenbeschreibung von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

verdeutlichen aus einer Wissenschaft-Praxis-Perspektive, dass Sozialraumanalysen<br />

mit einem gründlichen Blick auf die lokalen Einstellungen,<br />

Mentalitäten und Werte notwendig sind, um das Phänomen <strong>Rechtsextremismus</strong><br />

zu verstehen und um adäquate Konzepte zur Prävention und Intervention zu entwickeln.<br />

Dabei gilt nicht nur der Blick auf die lokale politische Kultur mit ihren aktuellen<br />

Einstellungen und Mentalitäten, sondern auch erstens auf ihre möglichen tradierten<br />

kollektiven (lokalen) Geschichten, die eher verschwiegen werden und zweitens<br />

auf Vorurteilskulturen, wie z. B. Antisemitismus, die einer langen Tradierung<br />

unterliegen. Solcherlei Tradierungslinien im Zusammenhang mit aktuellen Formen<br />

des <strong>Rechtsextremismus</strong> systematisch in Analysen zu berücksichtigen, stellen<br />

einen bisher blinden Fleck in der Einstellungsforschung dar. Der tiefe, detaillierte<br />

Blick auf die Binnenstruktur und die politische Kultur eines Gemeinwesens offenbart<br />

eine Komplexität, welche mit den Methoden der Einstellungsforschung kaum<br />

zu erfassen ist. Treffen die abstrakten Items auf die Wirklichkeit der Stammtische,<br />

lassen sich zwar einzelne Indikatoren messen, die Gründe, in welcher Qualität<br />

ein Gemeinwesen auf lokale rechtsextreme Vorkommnisse reagiert bzw. reagieren<br />

könnte, lassen sich hieraus kaum ableiten. Eine tiefere Analyse der lokalen Ausgangsbedingungen<br />

ist dann vonnöten, wenn Maßnahmen der Prävention oder der<br />

Intervention die Menschen im Gemeinwesen miteinbeziehen und sich nicht „nur“


458 Reiner Becker<br />

auf die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen fokussieren soll. Die sensible Thematisierung<br />

lokaler Vorurteilskulturen und die Frage nach den jeweiligen „vergessenen<br />

Geschichten“, die Relevanz der lokalen Beziehungsge echte, die Angst der<br />

Menschen vor der Zerrüttung des sozialen Zusammenhalts – all dies sind Faktoren<br />

für das Gelingen oder Scheitern von Beratung oder Präventionsarbeit.<br />

Schließlich besteht, so zumindest ein vorläu ger Befund, kein kausaler Zusammenhang<br />

zwischen spezi schen Formen und „Auswüchsen“ eines einstigen<br />

lokalen Nationalsozialismus und aktuellen Formen eines lokalen <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Die Zusammenschau der Beratungspraxis im kommunalen Raum und der<br />

Ergebnisse des hier skizzierten Modellprojekts zeigen allerdings, dass in beiden<br />

Bereichen ein lokaler Konformitätsdruck mit großer Wirkungsmacht zu konstatieren<br />

ist. Denn sowohl das öffentliche Schweigen über Vorfälle, die 70 Jahre zurückliegen,<br />

als auch das öffentliche Schweigen über aktuelle Vorfälle mit einem<br />

rechtsextremen Hintergrund hängen damit zusammen, so die These, dass das Bild<br />

der (Dorf)Gemeinschaft nicht getrübt werden darf. Lokale Schweigekartelle und<br />

-spiralen über die „vergessenen Geschichten“ können dann die Auseinandersetzung<br />

mit aktuellen lokalen Vorkommnissen hinsichtlich der Frage erschweren, ob<br />

und in welcher Form die lokale, tradierte politische Kultur mit ihren jeweiligen<br />

Vorurteilskulturen die aktuelle Herausbildung von <strong>Rechtsextremismus</strong> vor Ort begünstigt<br />

oder verhindert. Eine Implementierung von Maßnahmen der Prävention<br />

bzw. Intervention gelingt daher nur unter ausreichender Berücksichtigung der engen<br />

Beziehungsgeechte vor Ort (vgl. Hafeneger & Becker, 2012).


Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />

459<br />

Literatur<br />

Almond, G. A. & Verba, S. (1963). The civic culture: political attitudes and democracy in<br />

ve nations. Princeton: Princeton Univ. Press.<br />

Asbrock, F.,Kauff, M., Issmer, C., Christ, O., Pettigrew, T. & Wagner, U. (2012). Kontakt<br />

hilft – auch wenn es die Politik nicht immer leichtmacht. In W. Heitmeyer, W. (Hrsg.),<br />

Deutsche Zustände. Folge 10. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 199-219.<br />

Assmann, J. (1992). Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität<br />

in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck<br />

Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp.<br />

Becker, R. (2013). <strong>Rechtsextremismus</strong> und die Aufgabe demokratiefördernder Beratung.<br />

Journal für politische Bildung, 2, 37-45.<br />

Becker, R. & Palloks, K. (Hrsg.) (2013). Jugend an der Roten Linie. Analysen und Erfahrungen<br />

mit Interventionsansätzen zur <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention. Schwalbach/Ts.:<br />

Wochenschau Verlag<br />

Becker, R. (2008). Ein normales Familienleben. Interaktion und Kommunikation zwischen<br />

rechten Jugendlichen und ihren Eltern. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.<br />

Born, S. & Reuter, A. (2013). „Jugendlichen Raum geben…“.Bürgerliches Engagement im<br />

Kontext der pädagogischen Arbeit mit rechtsaf nen Jugendlichen. In R. Becker & K.<br />

Palloks (Hrsg.), Jugend an der Roten Linie. Analysen und Erfahrungen mit Interventionsansätzen<br />

zur <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag,<br />

S. 36-71.<br />

Buchstein, H. & Heinrich, G. (Hrsg.) (2010). <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland. Demokratie<br />

und <strong>Rechtsextremismus</strong> im ländlichen Raum. Schwalbach/Ts.: Wochenschau<br />

Verlag.<br />

Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2014). Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung<br />

in Deutschland. http://www.uni-leipzig.de/~kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf<br />

(Datum des Zugriffs: 01.12.2014).<br />

Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2012). Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen.<br />

Bonn: Verlag J.H.W. Dietz.<br />

Durkheim, E. (1993). Der Selbstmord. Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Fishbein, M. & Ajzen, I. (1975). Belief, attitude, intention and behaviour: an introduction<br />

to theory and research. Reading, Mass. u. a.: Addison-Wesley.<br />

François, E. & Schulze, H. (2005). Deutsche Erinnerungsorte. München: C.H. Beck.<br />

Gänger, S. (2007). Schule und Ethnozentrismus: die subjektive Wahrnehmung von Sozialisationsinstanzen<br />

und ihre Bedeutung für die Entstehung politischer Orientierungen.<br />

Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.<br />

Grau, A. & Heitmeyer, W. (Hrsg.) (2013). Menschenfeindlichkeit in Städten und Gemeinden.<br />

Weinheim und Basel: Beltz Juventa.<br />

Hafeneger, B. & Becker, R. (2012). <strong>Rechtsextremismus</strong> im ländlichen Raum – im Spannungsfeld<br />

politischer Bildung, Beratung und pädagogischer Arbeit mit rechten Jugendlichen.<br />

In St. Debiel, A. Engel, I. Hermann-Stietz, G. Litges, S. Penke & L. Wagner (Hrsg.),<br />

Soziale Arbeit in ländlichen Räumen. Wiesbaden: Springer VS, S. 147-160.<br />

Hafeneger, B. & Becker, R. (2007). Rechte Jugendcliquen. Zwischen Unauffälligkeit und<br />

Provokation. Eine empirische Studie. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.


460 Reiner Becker<br />

Hafeneger, B., Jansen, M. M., Niebling, T., Claus, J. & Wolf, T. (2002). Rechte Jugendcliquen<br />

in Hessen. Szene, Aktivitäten, Folgerungen. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.<br />

Halbwachs, M. (1985). Das Gedächtnis und seine soziale Bedingungen . Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp.<br />

Halbwachs, M. (1967). Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke<br />

Heitmeyer, W. (Hrsg.) (2002 – 2012). Deutsche Zustände. Folgen 1 – 10. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp.<br />

Heitmeyer, W. (1997). Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland:<br />

Auf dem Weg von der Konsens- zur Kon iktgesellschaft. Band 1. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp.<br />

Hobsbawm, E. (1998). Wieviel Geschichte braucht die Zukunft. München, Wien: Carl Hanser<br />

Verlag.<br />

Hofstadter, R. (1964). The Pseudo-Conservative Revolt. In D. Bell (Hrsg.) The Radical<br />

Right. Garden City: Doubleday, S. 75-95.<br />

Hopf, Ch., Rieker, P. Sanden-Marcus, M. & Schmidt, C. (1995). Familie und <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Familiale Sozialisation und rechtsextreme Orientierungen. Weinheim, München<br />

: Juventa.<br />

JAKOb e.V. (Hrsg.) (2013). Die vergessenen Geschichten Oberschelds. Dillenburg.<br />

Klärner, A. & Kohlstruck, M. (Hrsg.) (2006). Moderner <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland.<br />

Hamburg: Hamburger <strong>Edition</strong>.<br />

Klemm, J., Strobl, R. & Würtz, S. (2006). Aktivierung einer demokratischen Stadtkultur –<br />

Erfahrungen von zwei Kleinstädten im lokalen Umgang mit <strong>Rechtsextremismus</strong>. In A.<br />

Klärner & M. Kohlstruck (Hrsg.), Moderner <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland . Hamburg:<br />

HIS-Verlag, S. 116-140.<br />

Küpper, B. & Möller, K. (2014). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit<br />

– Terminologische Ausgangspunkte, empirische Befunde und Erklärungsansätze.<br />

In S. Baer, K. Möller & P. Wiechmann (Hrsg.), Verantwortlich Handeln: Praxis der<br />

sozialen Arbeit mit rechtsextrem orientierten und gefährdeten Jugendlichen. Opladen,<br />

Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 15-46.<br />

Lecke, D. (Hrsg.) (1983). Lebensorte als Lernorte: Handbuch Spurensicherung. Skizzen<br />

zum Leben, Arbeiten und Lernen in der Provinz. Frankfurt/M.: Verlag Jugend & Politik.<br />

Lindqvist, S. (1989). Grabe, wo du stehst: Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte.<br />

Bonn: Dietz.<br />

Merton, R. K. (1995). Soziologische Theorie und soziale Struktur . Berlin, New York: de<br />

Gruyter.<br />

Möller, K. (2000). Rechte Kids. Eine Langzeitstudie über Auf- und Abbau rechtsextremistischer<br />

Orientierungen bei 13-15jährigen. Weinheim, München: Juventa.<br />

Nohlen, D. (1998) (Hrsg.). Lexikon der Politik. Band 7: Politische Begriffe. München: C.H.<br />

Beck.<br />

Palloks, K. & Steil, A. (2008). Von Blockaden und Bündnissen. Weinheim, München: Juventa.<br />

Pettigrew, T. (1998). Intergroup contact theory. Annual Review of Psychology, 49, 65-85.<br />

Pye, L. W. (1968). Political Culture. In D. L. Sills, (Hrsg.), Encyclopedia of the Social Sciences,<br />

Band 12. New York: Macmillan, S. 218-224.<br />

Rieker, P. (2009). <strong>Rechtsextremismus</strong>: Prävention und Intervention. Ein Überblick über<br />

Ansätze, Befunde und Entwicklungsbedarf. Weinheim, München: Juventa.


Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />

461<br />

Rommelspacher, B. (2006). „Der Hass hat uns geeint“. Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg<br />

aus der Szene. Frankfurt/M.: Campus.<br />

Rosenthal, G. (Hrsg.) (1999). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von<br />

Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. 3. korrigierte Au age. Gießen: Psychosozial-Verlag.<br />

Rosenthal, G. (Hrsg.) (1990). „Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun“.<br />

Zur Gegenwärtigkeit des „Dritten Reiches“ in Biographien. Opladen: Leske und Budrich.<br />

Roth, R. (2004). Die dunklen Seiten der Zivilgesellschaft. Grenzen einer zivilgesellschaftlichen<br />

Fundierung von Demokratie. In A. Klein, K. Kern, B. Geißel & M. Berger (Hrsg.),<br />

Zivilgesellschaft und Sozialkapital. Herausforderungen politischer und sozialer Integration.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.41-64.<br />

Scheuch, E. K. & Klingemann, H.-D. (1967). Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen<br />

Industriegesellschaften. Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialpolitik,<br />

Jg. 1967, H. 12, S. 11-29.<br />

Schwarz-Friesel, M. & Reinharz, J. (2013). Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert.<br />

Berlin, Boston: De Gruyter.<br />

Sinus-Institut (1981). 5 Millionen Deutsche: „Wir sollten wieder einen Führer haben...“.<br />

Die SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei Deutschen. Reinbek bei<br />

Hamburg: Rowohlt.<br />

Welzer, H., Moller, S. & Tschuggnall, K. (2003). Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus<br />

und Holocaust im Familiengedächtnis. 4. Auage. Frankfurt/M.: Fischer.


Demokratiepädagogik<br />

als präventionswirksame Idee<br />

Wolfgang Beutel, Kurt Edler, Mario Förster und Hermann Veith<br />

Der nachfolgende Beitrag eröffnet vier verschiedene Perspektiven auf die Demokratiepädagogik<br />

als präventionswirksame Idee: Vor dem Hintergrund wiederkehrender<br />

Eruptionen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit werden mit Blick<br />

auf gesellschaftliche Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit zunächst einige<br />

zentrale demokratiepädagogische Zielsetzungen und Ansatzpunkte erläutert (1.).<br />

Danach wird mit sozialisationstheoretischen Argumenten begründet, warum die<br />

Befähigung zur Übernahme der Bürgerrolle in der Demokratie an institutionalisierte<br />

Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme in den Bildungseinrichtungen<br />

gebunden ist (2.). Eine dritte Perspektive entfaltet Erfahrungen und Ergebnisse<br />

des jugend- und schulbezogenen Wettbewerbs „Förderprogramm Demokratisch<br />

Handeln“ (3.). Ein anschließender vierter Blick gilt der aktuellen Arbeit des Jenaer<br />

Kompetenzzentrums <strong>Rechtsextremismus</strong>, dessen Aufgabe es ist, universitäre Projekte,<br />

Praxisprogramme und Forschungen zur Prävention gegen Rechts systematisch<br />

zu erfassen, zu koordinieren und fachöffentlich darzustellen (4.). Alle vier<br />

Perspektiven bündeln miteinander seit langem verwobene Diskurse, Forschungs-,<br />

Beratungs- und Entwicklungsansätze aus unseren Arbeitsbereichen, die wir mit<br />

einer knappen Bilanz aufeinander beziehen (5).<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_20, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


464 Wolfgang Beutel et al.<br />

1 Demokratiepädagogik<br />

Demokratiepädagogik ist ein Begriff, der eine breite konzeptuelle, aber auch<br />

schulentwicklungspraktische und lernbezogene Strategie beschreibt, die in der<br />

Pädagogik von Wissenschaft und Praxis re ektiert, konkretisiert und etabliert<br />

werden soll. Grundlegend ist die Annahme, dass die Erfahrung von Anerkennung<br />

und Mitwirkung – also die demokratisch-partizipative Integration in das Gemeinwesen<br />

– aller Bürgerinnen und Bürger von möglichst früh an die beste Prävention<br />

gegen die Herausbildung vormoderner oder gar radikaler politischer Identitäten ist.<br />

Ausgehend von den sozialpolitischen Erschütterungen, die durch die menschenverachtenden<br />

Übergriffe auf Asylsuchende in den frühen 1990er Jahre ausgelöst<br />

wurden (a), sollen grundlegende Ziele des demokratiepädagogischen Reformansatzes<br />

skizziert (b) und aktuelle Herausforderungen (c) beschrieben werden.<br />

(a) Anfänge: An der Wiege der Demokratiepädagogik steht in den frühen 1990er<br />

Jahren eine Serie erschreckender Ereignisse. Nach dem Aufweichen der bis dahin<br />

vorherrschenden Ost-West-Blockkonfrontation brachen im Inneren des wiedervereinigten<br />

Deutschlands – für viele unerwartet – individuelle Haltungen durch, die<br />

in ihrer archaischen Gewalttätigkeit die demokratische Gesellschaft verunsicherten<br />

und herausforderten. Ein rechtsextremer Mob, der nicht vom Staat befohlen<br />

war, kam „aus der Mitte“ der Gesellschaft zum Vorschein und tobte sich aus. In<br />

Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen eskalierte der offenbare<br />

Hass gegen Asylsuchende in Mord- und Brandanschlägen. Die Zivilgesellschaft<br />

war gefordert. Zum Überdenken der alten theoretischen Erklärungsansätze blieb<br />

kaum Zeit, obwohl der deutlich vernehmbare Applaus aus dem bürgerlichen Lager<br />

auch in dieser Hinsicht hätte nachdenklich stimmen müssen.<br />

In Reaktion auf das fortwirkende Wiedererstarken der Menschenfeindlichkeit<br />

wurde unter anderem auch das BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“<br />

(Edelstein & Fauser, 2001) aufgelegt. Die Akteure entwickelten sehr schnell und<br />

mit großer Energie Handreichungen und Materialien zu einer Demokratisierung<br />

von Schule und Unterricht. Aber die Laufzeit bis 2007 war zu kurz, um nachhaltige<br />

schulsystemische Veränderungen zu erzielen. Nur einzelne Bundesländer<br />

ermöglichten Anschlüsse. So blieb vieles auf halber Strecke stehen und nach Ansicht<br />

der Projektpartner auch zentrale Fragen unbearbeitet. So kam erstens die<br />

DDR-Geschichte nicht vor. Zweitens fehlte die Dimension der Interkulturalität.<br />

Und drittens gab es fast keine politischen Analysen des <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />

Die Demokratiepädagogik, die durch das Geschehen der Wende in ihrer Resonanz<br />

und Entwicklung beschleunigt wurde, verstand sich als präventiv gehaltvoll<br />

in dem Sinne, dass sie – in kritischer Abgrenzung zu einer offensichtlich nicht<br />

hinreichend efzienten politischen Bildung in der Schule – dem, was wir im wei-


Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />

465<br />

testen Wortsinne unter Demokratie verstehen, durch eine wirksame pädagogische<br />

Lern- und Erfahrungswelt den Rücken stärken wollte. Zugleich verstand sie sich –<br />

politisch gesehen – selbst auch als eine Erzeugerin demokratischer Praxis und<br />

demokratischer Strukturen. Ihre politische Normativität wirkte jedoch bisweilen<br />

so überbordend, das sich in den Wissenschaftlerkreisen der Politik und ihrer Didaktik<br />

eine Art protestantischer Allergie dagegen entfaltete, deren Symptome allerdings<br />

mittlerweile deutlich abklingen.<br />

(b) Ziele: Aus der Perspektive der damaligen Akteure ging es darum, einer<br />

tiefer greifenden Schädigung der Demokratie entgegen zu wirken. Dazu erschien<br />

die Reform einer Schule, die sich formal als demokratisch erklärt, es aber in Wirklichkeit<br />

nicht ist, unerlässlich. Jede neue junge Generation soll, aus der Sicht der<br />

Demokratiepädagogik, das Recht und die Möglichkeit haben, sich diejenigen<br />

Kompetenzen anzueignen, die die Demokratinnen und Demokraten von morgen<br />

benötigen. Das ist eine universelle, frühe Prävention, die nicht darauf wartet, bis<br />

das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Schule, in der sie sich abspielt, muss<br />

sich – so das Credo z. B. der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik<br />

(Edler, 2012) – als Lern- und Lebensort gestalten, an dem Demokratie erfahrbar<br />

wird. Die Hindernisse für eine solche umfassend demokratische Schule liegen, so<br />

die damalige, aber auch die heutige Sichtweise, im Schulsystem, von dessen stabiler<br />

und weitergehenden praktischen Wirkung weiterhin auszugehen ist. Schule,<br />

wie sie strukturell etabliert ist, wird sich aktuell grundlegend kaum verändern<br />

lassen. Sie ist für demokratiewirksame Präventionsarbeit eine gegebene Voraussetzung.<br />

Die Konsequenz daraus ist, auf eine Pädagogik mit reformerischem Mut<br />

und systemischer Intelligenz sowie eine Bildungspolitik zu setzen, die die Krusten<br />

eines antiquierten Schulverständnisses und eines institutionalistischen Demokratiebegriffs<br />

wenigstens immer wieder in Frage stellt. Bei diesem Bemühen ist die<br />

Demokratiepädagogik in den letzten Jahren tatsächlich ein gutes Stück vorangekommen,<br />

und sie hat dabei starke Akteure als Partner gewonnen. Die Aufgabe<br />

bleibt für lange Zeit bestehen!<br />

(c) Neue Kon ikte: Aber dennoch gilt auch: Die Zeiten ändern sich. Die Globalisierung<br />

kultureller und religiöser Konikte ist im Klassenzimmer angekommen.<br />

Alte Welterklärungen greifen nicht mehr. Wo sie dennoch trotzig weiter vorgetragen<br />

werden, wirken sie verharmlosend. Wir sind verunsichert. Ein Beispiel dafür<br />

zeigt sich darin, dass Kinder und Jugendliche nun bisweilen als Akteure von<br />

Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit auftreten, womit wir nie gerechnet<br />

hätten. So sagt eine Schülerin einer fassungslosen Lehrerin ins Gesicht: „Ich brauche<br />

keine Freiheit. Ich habe meinen Glauben.“ Schülerinnen und Schüler teilen<br />

ihre Klasse in Muslime und Christen ein, sie ordnen ihnen eine unterschiedliche<br />

Wertigkeit zu. Ungleichwertigkeitsvorstellungen, bekanntlich immer ein Spezi -


466 Wolfgang Beutel et al.<br />

kum totalitärer Ideologien, machen sich in ganz neuen Formen breit. Damit einher<br />

gehen bei radikalisierten Schülergruppen die beredt vorgetragene Ablehnung von<br />

Demokratie als politischer Ordnung und Lebensform sowie die Rechtfertigung<br />

von Terror und Massenmord. Ein Zwölfjähriger beispielsweise wirbt auf seiner<br />

Facebookseite für den Islamistischen Staat (IS).<br />

Was wir derzeit in den Metropolen beobachten, stellt die Demokratiepädagogik<br />

vor ganz neue Herausforderungen. Schulgemeinschaften geraten in Aufruhr. Ein<br />

sich religiös wähnendes Mobbing greift um sich. Die Abwehrreaktionen lassen<br />

nicht auf sich warten. Der innere Frieden der Schule steht auf dem Spiel, und die<br />

Hilosigkeit staatlicher Instanzen ist offenkundig, zumal die Auseinandersetzung<br />

bereits manche Grundschulen erfasst. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung<br />

steht die Demokratiepädagogik vor einer neuen Herausforderung. Sie muss ihren<br />

blinden Fleck bezüglich der innergesellschaftlichen Widerspruchsentwicklung<br />

überwinden und präventive, aber auch interventive Konzepte zur Abwehr von<br />

Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit entwickeln – darin liegt eine ihrer<br />

zentralen Zukunftsaufgaben.<br />

2 Demokratiekompetenz, Sozialisationsforschung<br />

und Demokratiepädagogik<br />

Gerade weil die Schule von allen Heranwachsenden besucht wird, bietet sie die<br />

beste Lernumgebung zur Einübung in demokratische Praktiken. Allerdings zeigt<br />

sich, dass hier in den Bildungseinrichtungen selbst noch erhebliche Lernbedarfe<br />

bestehen. Denn wenn sich Jugendliche aus religiösen Erwägungen selbstbewusst<br />

gegen demokratische Lebensformen aussprechen, ist das auch ein Indiz dafür, dass<br />

die Internalisierung demokratischer Grundwerte durch politische Bildung alleine<br />

keineswegs gesichert wird (a). Demokratie-Lernen erfordert vielmehr ein institutionelles<br />

Curriculum, das von Anfang an (b) auf Gelegenheiten zur Teilhabe und<br />

Mitwirkung setzt (c) und damit Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bietet,<br />

aktiv „Demokratiekompetenz“ (d) zu entwickeln.<br />

(a) Grenzen der Mündigkeit: Im Fall der Schülerin, die aus Glaubensgründen demokratische<br />

Lebensformen ablehnt, stellt sich die Frage, ob man ihr aufgrund ihrer<br />

religiösen Überzeugung die „Mündigkeit“ absprechen darf. Immerhin artikuliert<br />

sie selbstbewusst ihren eigenen Willen, indem sie auf Wertvorstellungen einer Religionsgemeinschaft<br />

verweist, an denen sie sich moralisch-praktisch orientiert – und<br />

sie agiert auch nicht menschenfeindlich, da sie Andersgläubige weder diskriminiert<br />

noch zur Gewalt gegen diese aufruft. Herausfordernd ist jedoch, dass sie sich in<br />

ihrer Glaubensüberzeugung so entschieden auch vom westlichen „democratic way


Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />

467<br />

of living“ distanziert. Allem Anschein nach hat sie sich im Laufe ihrer biogra-<br />

schen Entwicklung ein politisch folgenreiches Urteil über eine Gesellschaft gebildet,<br />

der es nicht gelungen ist, ihr im schulischen Bildungsprozess die Unterschiede<br />

zwischen Religion und Politik hinreichend erfahr- und begreifbar zu machen. Das<br />

Verhalten der Schülerin pauschal als „unmündig“ zu bewerten, würde jedoch bedeuten,<br />

ihre Glaubensüberzeugungen zu verletzen, mit der Folge, dass sie sich in<br />

ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Demokratie bestätigt ndet.<br />

Was sich an dem Beispiel zeigt, ist ein allgegenwärtiges alltagsweltliches Dilemma,<br />

das uns mit unseren eigenen kategorialen Interpretationsschemata konfrontiert.<br />

Ganz offenbar reicht der moderne Begriff der „Mündigkeit“ nicht mehr<br />

hin, um eines der zentralen moralisch-politischen Bildungsziele unserer Gegenwart<br />

zu kennzeichnen. Er zieht nämlich Grenzen, die historisch mit Prozessen der<br />

Rationalisierung und Säkularisierung verbunden waren und er bindet den Vernunftgebrauch<br />

an ein aufgeklärtes, in abendländischen Traditionszusammenhängen<br />

stehendes Subjekt. In globalisierten Einwanderungsgesellschaften mit konkurrierenden<br />

soziokulturellen Wertorientierungen und Narrativen leben jedoch<br />

viele Subjekte neben- und miteinander und die Moderne bildet längst nicht mehr<br />

den für alle tragenden lebensweltlichen Hintergrund. Zwischen solcherart unterschiedlichen<br />

Menschen kann Verständigung nur gelingen, wenn wahrgenommene<br />

Differenzen des Glaubens, der Herkunft oder der Kultur akzeptiert und Freiheitsrechte<br />

gegenseitig anerkannt werden. Denn demokratische Gesellschaften sind auf<br />

die Mitwirkung aller ihrer Mitglieder angewiesen – und zwar unabhängig von<br />

besonderen sozialen Zugehörigkeiten oder dem Säkularisierungsgrad einer Religionsgemeinschaft.<br />

Entscheidend ist vielmehr, dass die Einzelnen in der Lage<br />

sind, Angelegenheiten, die ihr Zusammenleben betreffen, in gewaltlosen, verlässlichen,<br />

verbindlichen und Unterschiede anerkennenden Formen gemeinsam zu regeln.<br />

Das Ziel politischer Bildung heißt darum „Demokratiekompetenz“, ein Ziel,<br />

das die Schülerin im beschriebenen Fall zum Schrecken der Lehrperson augenscheinlich<br />

nicht erreicht hat.<br />

Man kann dafür sicherlich auch außerschulische Gründe geltend machen.<br />

Gleichzeitig aber sollte man sich daran erinnern, dass in den großen, in Deutschland<br />

durchgeführten Jugendstudien seit den 1990er Jahren wiederkehrend darauf<br />

hingewiesen wurde, dass die nachwachsenden Jugendgenerationen ein erkennbar<br />

geringes Interesse an politischen Fragen haben, wenngleich die Demokratie als<br />

Staatsform mehrheitlich befürwortet wird (Deutsche Shell, 2002). Gerademal ein<br />

Drittel der 15- bis 17-Jährigen nimmt am politischen Geschehen bewusst Anteil.<br />

Auch diese Befunde stimmen nachdenklich, weil sie aus einer anderen Perspektive<br />

ebenfalls die Frage aufwerfen, wie nachhaltig der „democratic way of living“ überhaupt<br />

in den jugendlichen Lebenspraktiken verankert ist. Demokratiekompetenz


468 Wolfgang Beutel et al.<br />

jedenfalls sieht anders aus als eine unbestimmte Politik- und Parteienverdrossenheit<br />

(Deutsche Shell 2010) – und sie lässt sich schon gar nicht auf das Zugeständnis<br />

reduzieren, dass die Demokratie als Staatsform durchaus legitimationswürdig ist.<br />

Sie zeigt sich vielmehr in der Bereitschaft, im eigenen Handeln stetig und wahrnehmbar<br />

Verantwortung auch für andere zu übernehmen.<br />

(b) Demokratielernen von Anfang an: Der Einwand, dass demokratische Beteiligung<br />

ein gewisses Maß an „Reife“ voraussetzt und Kinder noch nicht verstehen<br />

können, warum es sinnvoll ist, Angelegenheiten, die ihr gemeinsames Zusammenleben<br />

betreffen, mit Hilfe demokratischer Verfahren zu regeln, dient häug nur zur<br />

Legitimation nicht partizipatorisch angelegter pädagogischer Arrangements – als<br />

ob ein allzu früher Kontakt mit demokratischen Prozeduren entwicklungsgefährdend<br />

sei. Im Vorschul- oder Grundschulalter, so das Argument, könne man noch<br />

nicht begreifen, wie Demokratie als eine staatliche Herrschaftsform funktioniert.<br />

Zudem würde es die sozialmoralische Kompetenz von Kindern überfordern, wenn<br />

sie die Folgen getroffener Entscheidungen abschätzen oder ihre Entscheidungsgründe<br />

im Licht verallgemeinerbarer Prinzipien rechtfertigen müssten. Im Übrigen<br />

werde jeder Versuch, mit Kindern politische Bildung zu betreiben, maximal<br />

ein soziales, nie aber ein politisches Lernen erzeugen, denn „letztlich bleibt der<br />

Unterricht (in der Grundschule, Anm. d. Autoren) sogar da, wo er explizit den Anspruch<br />

auf politisches Lernen oder Demokratie-Lernen erhebt, soziales Lernen“<br />

(Massing, 2007, S. 25). Die ersten beiden Argumente sind stark, das dritte ist der<br />

wissenschaftspropädeutischen Tradition fachlicher politischer Bildung geschuldet<br />

und pädagogisch letztlich so nicht haltbar, dennoch aber in der Praxis der Lehrerbildung<br />

nach wie vor sehr wirksam.<br />

Aber sind die Argumente, dass Schülerinnen und Schüler in den Vor- und<br />

Grundschulen weder ein demokratisches Bewusstsein haben können noch „mündig“<br />

sind, tatsächlich so stark, um die Ablehnung demokratischer Formen in Kindertagesstätten<br />

und Grundschulen zu rechtfertigen? Die Erfahrungen in Einrichtungen,<br />

die sich dezidiert als kinderdemokratische Lernorte verstehen, weisen in<br />

eine andere Richtung (Fauser, Prenzel & Schratz, 2007). Tatsächlich lernen die<br />

Kinder, sich frühzeitig miteinander über ihre Wünsche und Vorstellungen zu verständigen.<br />

Zwar gelingt diese Kommunikation nicht immer reibungsfrei, so dass<br />

pädagogische Hilfestellungen erforderlich sind. Aber zumindest funktioniert die<br />

Interessen- und Perspektivenkoordination in der sozialen Handlungspraxis schon<br />

so gut, dass die egozentrischen Befangenheiten im Denken der Kinder den Verständigungsprozess<br />

nicht unmöglich machen. Sie stören ihn zwar hier und da, aber<br />

letztlich sind es genau diese sozialen Irritationen und die damit verbundenen emotionalen<br />

Dissonanzen, die die soziale und kognitive Entwicklung der einzelnen<br />

innerhalb der Lerngruppe vorantreiben.


Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />

469<br />

In der sozialkognitiven Sozialisationsforschung ist dieses Phänomen seit langem<br />

bekannt. Überall dort, wo Kinder herausgefordert werden, in eigener Verantwortung<br />

ihre Angelegenheiten zu regeln, entwickeln sie ihre eigenen Normen und<br />

Umgangsformen. Die Regeln, die dabei entstehen, sind keineswegs beliebig. Wenn<br />

die Kinder nämlich längerfristiger miteinander auskommen, spielen, kooperieren<br />

und kommunizieren wollen, dann müssen sich ihre gegenseitigen Abmachungen<br />

in ihrer konkreten Interaktionspraxis auch bewähren (Krappmann, 1994). Dort<br />

wo dies nicht der Fall ist, kommt es zu Kon ikten – und das kommt durchaus<br />

häuger vor, weil es den Jüngeren schwer fällt, Absprachen auf Gegenseitigkeit zu<br />

prüfen. In Anlehnung an Lawrence Kohlberg lässt sich sagen, dass ihr kindliches<br />

Regelverständnis noch nicht konventionell stabilisiert ist (Kohlberg, 1996). Die<br />

pädagogische Aufgabe besteht in diesen Fällen darin, die Störung im Verständigungsprozess<br />

zu bearbeiten und die Kinder darin zu unterstützen, Lösungen zu<br />

nden, die für alle verträglich sind. Es spricht nichts dagegen, damit so früh wie<br />

möglich zu beginnen.<br />

(c) Institutionalisierte Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme: Lerngruppen,<br />

die über längere Zeiträume miteinander verträglich auskommen müssen,<br />

protieren davon, wenn die sich entwickelnden sozialkognitiven und moralischen<br />

Fähigkeiten auch institutionell abgesichert sind und die Kinder die Formen kennen,<br />

die ihre Einbeziehung stärken und ihre Mitbeteiligung fördern. Mit anderen<br />

Worten: Je früher Kinder in Kindertagesstätten und Grundschulen in demokratische<br />

Praktiken hinein sozialisiert werden, desto selbstverständlicher und normaler<br />

erscheinen ihnen demokratische Lebensformen. Wie das funktioniert, lässt sich<br />

anhand vielfältiger Beispiele aus der Schulpraxis erläutern: Im morgendlichen Gesprächskreis,<br />

der Keimzelle des „kommunikativen Handelns“ (Habermas, 1981),<br />

lernen die Kinder, dass man, wenn man selbst gehört und ernst genommen werden<br />

will, sich gegenseitig zuhören, aber auch Argumente vortragen muss, um Fragen<br />

zu klären, die auch die Gruppe beschäftigen. Auf dem Gesprächskreis bauen<br />

die unterschiedlichen Formen und Foren der demokratischen Mitbestimmungen<br />

auf. Klassen- und Kinderräte sind dabei mehr und anderes als lediglich formale<br />

Gremien der Schülermitbeteiligung. Wo sie etabliert sind, haben die Kinder die<br />

Möglichkeit, gleichberechtigt Sachverhalte zu klären, die sie selbst, ihr Zusammenleben<br />

und ihre Zusammenarbeit in Schule und Unterricht betreffen. Das setzt<br />

aber voraus:<br />

1. dass das Recht eines jeden Kindes in der Lerngruppe gesichert ist, als vollwertiges<br />

Subjekt einen Platz zu haben und als Mitglied der Gemeinschaft unabhängig<br />

von den besonderen Merkmalen seiner Person anerkannt zu werden.<br />

Wir sprechen hier in einem umfassenden Sinn von „Inklusion“;


470 Wolfgang Beutel et al.<br />

2. dass alle Mitglieder dauerhaft – ob als Personen oder Repräsentanten in Ämtern<br />

– die Chance zur gleichberechtigten Mitwirkung und Mitbestimmung bei<br />

der Gestaltung ihres Zusammenlebens und der Koordination ihres Handelns<br />

haben müssen. Wir sprechen hier von „Partizipation“;<br />

3. dass alle thematisch anfallenden Angelegenheiten transparent und nachvollziehbar<br />

zur Diskussion gestellt werden müssen. Täuschungsversuche sind dabei<br />

untersagt. Wir sprechen hier von „Transparenz“;<br />

4. dass konkurrierende Interessen im Rahmen der selbst gegebenen Ordnung thematisiert,<br />

debattiert und abgewogen werden, um Beschlüsse vorzubereiten und<br />

Entscheidungen durchzusetzen. Der sozialphilosophisch inspirierte Begriff<br />

hierfür ist „Deliberation“;<br />

5. dass die Gruppenmitglieder die Möglichkeit haben, sich selbst zu fragen, ob die<br />

Normen, die sie ihren Entscheidungen zugrunde legen, auch richtig sind. Der<br />

Begriff hierfür ist „Legitimität“;<br />

6. dass alle Beteiligten immer wieder überprüfen, ob die eigenen Arbeitsformen<br />

und die beschlossenen Maßnahmen auch tatsächlich zielführend und ef zient<br />

sind.<br />

Die genaue Einhaltung dieser pädagogischen Grundsätze, die gleichzeitig als<br />

demokratisches Regelwerk dienen – sie rekurrieren im Übrigen auch auf die im<br />

„Magdeburger Manifest“ (2007) dargelegten Grundlagen demokratiepädagogischer<br />

Reexion und Praxisentwicklung –, berechtigt die Beteiligten zur Erwartung,<br />

dass die getroffenen Absprachen und Abmachungen verbindlich gelten.<br />

Während die formalisierte Praxis der Verständigung elementare demokratische<br />

Grundprinzipien erfahrbar werden lässt, erzeugt die Verpichtung, sich an die getroffenen<br />

Beschlüsse zu halten, nach und nach die moralisch-praktischen Grundlagen<br />

für ein demokratisches Wertbewusstsein – und dieses Wertbewusstsein ist<br />

deutlich früher vorhanden als die entsprechende Reexionsform, auf die sich auch<br />

der klassische Begriff der „Mündigkeit“ stützt.<br />

(d) Demokratiekompetenz: Demokratische Praktiken unterstützen die Entwicklung<br />

grundlegender sozialer und moralischer Kompetenzen (z. B. Empathie und<br />

Perspektivenübernahme, Toleranz und Koniktregulation). Der Kompetenzbegriff<br />

wird in der jüngeren Bildungsdiskussion zur Bezeichnung von Fähigkeitspotenzialen<br />

gebraucht, die erforderlich sind, um bereichsspezi sch unterscheidbare<br />

Anforderungen und Probleme mit Aussicht auf Erfolg zu bearbeiten. Demokratiekompetenz<br />

realisiert und bewährt sich folglich nicht im Wissen über demokratische<br />

Institutionen, Prozesse und Ziele, sondern in der Praxis der Verständigung.<br />

Diese Praxis stellt den Einzelnen vor genaue Anforderungen, deren Erfüllung den<br />

Bestand und die Erneuerung demokratischer Verhältnisse gewährleisten. Diese


Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />

471<br />

Anforderungen gelten sowohl für die kleinen Demokraten und Demokratinnen in<br />

den Bildungseinrichtungen als auch für die großen in den gewählten öffentlichen<br />

Gremien.<br />

Die Kompetenzen, die die Kinder und Jugendlichen erwerben, wenn sie in der<br />

sozialen Alltagspraxis beständig mit demokratisch zu lösenden Handlungsproblemen<br />

oder Systemerfordernissen konfrontiert werden, lassen sich konkretisieren.<br />

Zunächst lernen sie, das rationale Potenzial einer politischen Ordnung zu nutzen,<br />

die institutionell auf die öffentliche und gemeinsame Regelung gesellschaftlicher<br />

Angelegenheiten abgestimmt ist, um bei Interessen- und Zielkon ikten zwischen<br />

Gruppen oder Personen zu praktisch verbindlichen Entscheidungen und Abmachungen<br />

zu kommen. Die dazu erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten bilden<br />

den Kern der Demokratiekompetenz (Beutel, Buhl, Fauser & Veith, 2009; Veith,<br />

2010). In der Praxis heißt das, die Schülerinnen und Schüler, aber auch schon die<br />

Kinder in den Kindertagesstätten sind dabei zu lernen,<br />

1. dass Zugehörigkeit (Inklusion) ein Grundrecht ist und Wertschätzung für andere<br />

von jedem Einzelnen Toleranz erfordert;<br />

2. dass es in der Gemeinschaft auf jeden ankommt und durch partizipative Einbindung<br />

über Kooperation das Bewusstsein individueller und gemeinschaftlicher<br />

Verantwortung wächst;<br />

3. dass es wichtig ist, um Sachverhalte zu verstehen und Interessenlagen zu bewerten,<br />

sich im klassischen Sinn der politischen Bildung zu informieren, d. h.<br />

sich Wissen und Methoden anzueignen, die es ermöglichen, über Fragen der<br />

Regelung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu urteilen;<br />

4. dass es notwendig ist, nicht nur soziale Perspektiven zu übernehmen und zu<br />

koordinieren, um zwischen den Interessen Einzelner und dem Gemeinwohl<br />

abzuwägen, sondern auch verständigungsorientiert zu kommunizieren. Nur so<br />

lassen sich verbindliche, für alle Beteiligten akzeptable Entscheidungen herbeiführen.<br />

5. dass das gemeinschaftliche Leben stabilisiert wird, wenn die Beteiligten in stetiger<br />

Anwendung diskursiver Praktiken überprüfen, ob die Prämissen des eigenen<br />

Handelns demokratischen Ansprüchen genügen. Man entwickelt dadurch<br />

persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit;<br />

6. dass es Mühen erspart, wenn man sich vergewissert, ob die eingesetzten Methoden<br />

noch zielführend sind bzw. der Aufwand im Verhältnis zu den eingesetzten<br />

Mitteln steht. Mit der Fähigkeit zur sachbezogenen und fachgerechten Bewertung<br />

von Handlungsfolgen wird eine besondere Form der Evaluationskompetenz<br />

benötigt, die zur Überprüfung auch des eigenen Handelns unerlässlich ist.


472 Wolfgang Beutel et al.<br />

Die Wertschätzung der Demokratie erweist sich nicht primär im Reden über politische<br />

Sachverhalte, sondern in der unmittelbaren Praxis einer inklusiv und partizipatorisch<br />

angelegten, auf Transparenz und Abwägung gegründeten und nach<br />

Legitimitäts- und Efzienzkriterien selbstüberprüfbaren Handlungspraxis.<br />

3 Das Förderprogramm Demokratisch Handeln<br />

Der Wettbewerb Demokratisch Handeln will auf einer solchen sozialisatorischen und<br />

lerntheoretisch begründbaren Basis demokratisches Engagement, demokratische Haltung<br />

und demokratische Kultur in Schule und Jugendarbeit stärken. Er versucht, dieses<br />

Konzept in Schulen und Jugendeinrichtungen zu entdecken, mit den Akteuren reexiv<br />

zu bearbeiten, weiterzuentwickeln und zu multiplizieren. Das praktische Ziel dabei<br />

ist: Gemeinsam mit anderen sollen Fragen und Probleme des Gemeinwohls sichtbar<br />

gemacht und bearbeitet und so ein Korridor zu politischer Verantwortung geöffnet<br />

werden. Lernen soll sich mit Handeln verbinden. Leistungen für die Demokratie und<br />

das Gemeinwesen sollen fachlich thematisiert, gefördert und öffentlich anerkannt<br />

werden. Der Wettbewerb wird seit 1989 jährlich für alle allgemeinbildenden Schulen<br />

in Deutschland ausgeschrieben. Entscheidend ist aber nicht der Wettbewerb als Selbstzweck,<br />

sondern vielmehr die mit ihm verbundenen programmatischen, schulentwicklungsbezogenen<br />

und förderungswirksamen Aspekte und Instrumente in Blick auf die<br />

beteiligten Akteure – Lehrkräfte ebenso wie Schülerinnen und Schüler – sowie in<br />

Blick auf die Schule insgesamt (Beutel & Fauser, 2013).<br />

Die Genese dieses Wettbewerbs und Förderprogramms entspringt dem langjährigen<br />

Engagement von Hildegard Hamm-Brücher für eine Verbesserung der<br />

politischen Bildung und für eine Stabilisierung und bürgerschaftliche Weiterentwicklung<br />

der Demokratie in Deutschland (Hamm-Brücher, 2001). Dieses Ziel<br />

hatte in den 1980er-Jahren angesichts der bereits seinerzeit anwachsenden „Politikverdrossenheit“<br />

an Gewicht gewonnen. Hinzu kam Ende der 1980er Jahre die<br />

Neugründung und Etablierung der Partei der „Republikaner“, die nationalistisches<br />

und ausländerfeindliches Gedankengut vertrat und bei Wählerinnen und Wählern,<br />

vor allem auch bei Jugendlichen, in dieser Zeit Erfolg fand. Die Sorge um Anziehungskraft<br />

und Ein uss von rechtsextremen – nationalistischen, rassistischen,<br />

antisemitischen – Gruppierungen in der Politik und besonders bei Heranwachsenden,<br />

ist so gesehen ein beständiges Motiv für dieses schulnahe pädagogische<br />

Programm. Damit verbindet sich zugleich die Absicht, einer solchen Entwicklung<br />

durch eine lebendige und von den Bürgerinnen und Bürgern getragene Demokratie<br />

entgegenzutreten, für deren Aktualität und Lebendigkeit ein schul- und jugendnahes<br />

Erfahrungslernen einen ganz zentralen Ankerpunkt bildet.


Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />

473<br />

Am Wettbewerb und seinen Programmelementen teilnehmen können Schülerinnen<br />

und Schüler als einzelne, in Gruppen oder zusammen mit Lehrpersonen<br />

aller Schularten und Schulstufen, auch mit Eltern und mit Jugendarbeitern. Von<br />

einer Fachjury werden bundesweit jährlich etwa 50 Projekte zur Teilnahme an<br />

der „Lernstatt Demokratie“ ausgewählt. Dort können sie ihre Ergebnisse präsentieren<br />

und gemeinsam mit anderen Teilnehmern und Experten an Themen und<br />

Formen demokratischen Engagements arbeiten. Bereits seit 1995 wird das Förderprogramm<br />

durch eine „Regionale Beratung“ – aktive fachliche Partnerinnen und<br />

Partner auf Ebene der Bundesländer – ergänzt. Besondere Bedeutung erreicht die<br />

Regionalberatung, weil sie ein Netzwerk für lokale und landesbezogene Veranstaltungen<br />

mit Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften – über den Kreis der<br />

bundesbezogen 50 ausgewählten Projekte hinaus – bereitstellt. Das erweitert den<br />

Wirkungsradius und verbreitert damit die Präventionsidee des Programms. Ein<br />

weiterer Aspekt der Förderung und Unterstützung liegt in der fachlichen und kriterienbasierten<br />

Publizistik über herausragende und innovative Projekte: Für viele<br />

Schulen, Bildungseinrichtungen und ihre Akteure bedeutet eine solche fachöffentliche<br />

Darstellung – in pädagogischen Zeitschriften ebenso wie in der lokalen und<br />

überregionalen Presse – eine wichtige Anerkennung.<br />

Das „Förderprogramm Demokratisch Handeln“ und seine Ergebnissen haben<br />

in der jüngeren Diskussion um Schulentwicklung durch nicht-staatliche Programme<br />

zunächst starke Kritik erfahren, vor allem in der grundlegenden fachdidaktischen<br />

Debatte um „Demokratiepädagogik oder Politische Bildung“ (zuletzt: Goll,<br />

2011), letztlich aber doch vielfach Beachtung gefunden, exemplarisch sichtbar im<br />

Zusammenhang mit der Ausformulierung von Qualitätskriterien im Rahmen des<br />

Deutschen Schulpreises (Fauser, Prenzel & Schratz, 2007), der infolgedessen eine<br />

starke demokratiepädagogische Grundierung in sich trägt. Nachfolgend sollen einige<br />

Wirkungsaspekte des Programms angesprochen werden.<br />

a. Schularten: Seit 1990 sind bei dem Wettbewerb in bislang 24 Ausschreibungen<br />

5046 Projekte eingereicht worden. Beteiligt haben sich Gruppen aller Schularten<br />

und Schulformen und aus allen Bundesländern. In den Projekten werden pädagogisch<br />

und politisch wichtige Themen in übertragbaren und wirksamen Formen<br />

des Lernens bearbeitet. Die Themen sind: Demokratie in der Schule; Gewalt; das<br />

Zusammenleben und der Umgang mit Minderheiten; Umwelt und Umweltschutz;<br />

Auseinandersetzung mit der Geschichte, besonders der NS-Geschichte sowie das<br />

Handeln in der kommunalen Öffentlichkeit und Politik. Mit über 1100 Schulen<br />

und Projektgruppen ist bei der Lernstatt Demokratie und zahlreichen anderen Veranstaltungen<br />

zusammengearbeitet worden. Mit Blick auf die Schularten zeigt sich,


474 Wolfgang Beutel et al.<br />

• dass bei den Gymnasien viele Projekte aus der Sekundarstufe II stammen, dass<br />

also vor allem in der Sekundarstufe II des Gymnasiums Formen der tätigen<br />

Auseinandersetzung mit Politik den herkömmlichen Politikunterricht ergänzen;<br />

• dass die meisten uns von Gymnasien vorgelegten Projekte nicht unmittelbar<br />

mit dem Fachunterricht „Politik“ zu tun haben, sondern aus anderen Fachbereichen<br />

stammen und vielfach fächerübergreifenden oder außerunterrichtlichen<br />

Charakter haben;<br />

• dass umgekehrt die als „gesellschaftswissenschaftlich“ bezeichneten Fächer, in<br />

denen Fragen des Lebens und Zusammenlebens erörtert oder eine ästhetischszenische<br />

Auseinandersetzung damit gesucht werden, stärker vertreten sind als<br />

der klassische Politikunterricht;<br />

• dass der Anteil der Projekte aus Grundschulen von Anbeginn des Programms<br />

höher ausgefallen ist, als dies beim Programmstart erwartet worden war;<br />

• dass Förder- und Sonderschulen sichtbar beteiligt sind. Hier sind zudem vielfältige<br />

Formen der Kooperation mit umliegenden Sekundarschulen und auch<br />

Gymnasien zu beobachten.<br />

b. Demokratiepädagogik und Schulentwicklung: Das Förderprogramm Demokratisch<br />

Handeln belegt, dass es in der Praxis vielfältige Ansätze demokratischen<br />

Handelns gibt. Wir wissen demgegenüber allerdings auch, dass dieser Sachverhalt<br />

zu wenig Gegenstand systematischer und professionell relevanter Kommunikation<br />

und Reexion wird. Für die Qualität und Entwicklung der Schule und des Lehrerhandelns<br />

ist aber nicht nur wichtig, was in Schulen tatsächlich geschieht, sondern<br />

auch, ob und wie dies dargestellt, fachlich zum Thema gemacht und weitervermittelt<br />

und damit professionell verfügbar wird. Hier bietet das Förderprogramm durch<br />

seine überregionale Anlage, die sich in der regionalen Beratung und Begleitung<br />

mit länderspezisch differenzierenden Angeboten zur Multiplikation und Fortbildung<br />

verbindet sowie durch die Integration zivilgesellschaftlicher und staatlicher<br />

Ressourcen einen Kontext, der zugleich evaluativ und unterstützend ist.<br />

c. Projektpädagogik und Politik: Die Projekte sind einerseits „politiknah“.<br />

Denn viele der Projekte sind auf den Ebenen des Unterrichts, des Schullebens und<br />

der über die Schule hinausreichenden Aktivitäten im klassisch modernen, aufklärerischen<br />

Sinne politisch gehaltvoll. Sie fordern den Streit über Ziele, die Verständigung<br />

über unterschiedliche Interessen und Strategien, den Verzicht auf unvertretbaren<br />

Eigennutz. Sie pegen das eigene Handeln und die Verantwortung dafür,<br />

sie bewegen sich im öffentlichen Raum und erzeugen selbst Öffentlichkeit. Die<br />

Projekte sind zugleich aber auch „politikfern“ (Beutel & Fauser, 1995), weil sie das<br />

politische System – seine Konikte, Ereignisse, seine Protagonisten und Vertreter


Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />

475<br />

sowie die politischen Parteien selbst – quantitativ gesehen eher selten zum Thema<br />

machen und weil die Verfahren der Willensbildung und Entscheidung, die in<br />

der Schulverfassung im Kleinen die Verfahren der Politik im Großen nachbilden<br />

sollen, eher in geringem Maße als Feld demokratischen Engagements auftauchen.<br />

Insgesamt gesehen hilft das Förderprogramm seit Beginn seiner Arbeit dazu,<br />

Aspekte und Wirkungsbedingungen demokratiepädagogischer Intervention in<br />

Schule – hier liegt schon rein quantitativ zweifelsohne der Programmschwerpunkt<br />

– und jugendpädagogischen Einrichtungen und Kontexten sichtbar zu machen.<br />

Dabei hat sich seit Ende der 1990er-Jahre durch eine verstärkte fachliche<br />

Auswertung und publizistische Darstellung sowohl der „Best-Practice“ des Programms,<br />

als auch der in dieser pädagogischen Praxis sichtbar werdenden strukturellen<br />

Bedingungen und Kriterien für demokratiepädagogische Schulentwicklung<br />

die Wahrnehmung dieser Seite des Lernens in institutionellen Kontexten erheblich<br />

stärken lassen und entscheidend zur Ausformulierung der Demokratiepädagogik<br />

als pädagogischer Entwicklungstatsache und Gestaltungsaufgabe beigetragen.<br />

Es ist schon bei seiner Begründung sichtbar geworden, dass der Zusammenhang<br />

zwischen Gewaltprävention, <strong>Rechtsextremismus</strong>, Fremdenfeindlichkeit und antidemokratischer<br />

Haltung einerseits sowie demokratischer Erfahrung und Verantwortung<br />

andererseits ein Konstitutivum des Programms ist. Dabei ist klar, dass es<br />

bislang keine evidenzbasierte Form des Nachweises einer solchen programmspezischen<br />

Wirkung gibt. Gleichwohl unterstützt „Demokratisch Handeln“ aktuelle<br />

Arbeiten zur Messung der Verstehenstiefe von Demokratielernen<br />

1 systematisch<br />

und die an der Programmdurchführung beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen<br />

gehen davon aus, in dieser Richtung in absehbarer Zeit Fortschritte und damit eine<br />

Stärkung der Demokratiepädagogik als präventionswirksamer Idee erreichen zu<br />

können<br />

4 Thüringer Aktionsplan Demokratiebildung<br />

Zu dem vorweg ausgeführten fügt sich seit 2012 der Blick auf Aktivitäten und<br />

das Netzwerk des NSU. Bislang stehen in der öffentlichen Diskussion einerseits<br />

die strafrechtlich relevanten Fragen und anderseits die Versäumnisse der Sicherheitsbehörden<br />

im Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine weitergehende Diskussion<br />

1 Derzeit arbeiten Mario Förster und Michaela Weiß an der Stärkung der Messgenauigkeit<br />

eines Fragebogeninstruments zum „Demokratieverstehen“ im Rahmen ihrer Qualifikationsarbeiten<br />

an der Universität Göttingen. Die dabei gewählten Lernsituationen<br />

oder „Vignetten“ sind von „Best-Practice“-Projekten des Förderprogramms inspiriert.


476 Wolfgang Beutel et al.<br />

möglicher Konsequenzen und Antworten auf die Frage nach der Verantwortung<br />

des Einzelnen sind nicht erkennbar. Scheinbar haben „wir“ noch nichts aus dieser<br />

jüngeren massiven rechtsorientierten und gewalttätigen Struktur gelernt. Die Notwendigkeit<br />

einer intensiven Suche nach Antworten, wie man die Herausforderungen<br />

einer sich stetig verändernden Gesellschaft in unsicheren Zeiten vermittelt<br />

und Heterogenität nicht nur als Aufgabe erkennt, sondern vor allem als Chance<br />

begreift, ist für die Demokratiepädagogik offensichtlich. Überdeutlich wird dies<br />

aktuell in der Auseinandersetzung mit den zahlreichen PEGIDA-Demonstrationen<br />

in Deutschland, welche im Herbst 2014 begannen und deren Teilnehmende scheinbar<br />

vor allem durch zahlreiche diffuse Ängste mobilisiert werden.<br />

Der Zustand der Demokratie kann sich daher nicht nur an der Höhe der Wahlbeteiligung<br />

und der praktischen Resonanz ihres institutionellen Gefüges widerspiegeln:<br />

Dies greift zu kurz und beschreibt unser gemeinsames Wertesystem nur<br />

unzureichend. Aufgrund der besonderen – auch lokal spezi schen – Verantwortung<br />

bei der Aufarbeitung des NSU-Komplexes wird daher im Kompetenzzentrum<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> der Friedrich-Schiller-Universität Jena an einem Aktionsplan<br />

Demokratiebildung gearbeitet. Für die Ausbildung demokratischer Einstellungen<br />

und Werthaltungen ist es notwendig, die Möglichkeiten und Grenzen von Lerngelegenheiten<br />

und Bildungsangeboten in den Blick zu nehmen und diese – soweit<br />

möglich – auf ihre Präventionschancen zu überprüfen. Zwar kann nicht erwartetet<br />

werden, dass bei der Bildung und Erziehung durch Institutionen wie den Kindergärten,<br />

Schulen und Hochschulen sich gewissermaßen nebenbei und von Natur aus<br />

alle demokratie- und menschenrechtsfeindliche Einstellungen beheben lassen. Es<br />

bleibt aber unbestritten, dass diese immer noch die umfassendsten Interventionszugänge<br />

gegen die Herausbildung von Vorurteilen und Intoleranz darstellen. Neben<br />

Bildungsinhalten ist für die Beurteilung einer wirksamen Demokratieerziehung<br />

das Handeln des professionellen pädagogischen Personals in den Blick zu nehmen.<br />

Hier liegen Beratungs- und Entwicklungsaufgaben. Der Umgang mit Vielfalt und<br />

deren Anerkennung ist für professionelle Akteure in pädagogischen Arbeitsfeldern<br />

eine grundlegende Kompetenz ihres beruichen Wirkens, die erlernt und vor<br />

allem verinnerlicht werden muss. Doch ergibt sich diese nachweislich nicht allein<br />

durch die beruiche Qualikation (Bischoff, König & Zimmermann, 2013).<br />

Mit dem Aktionsplan Demokratiebildung wird in Thüringen versucht, sich<br />

adäquaten Antworten zu nähern, wie Bildung für Demokratie gestärkt werden<br />

kann. Einmalig ist dabei der Ansatz, dass sich der Vorschlag nicht auf einzelne<br />

Bildungsbereiche beschränkt, sondern „von der vorschulischen Erziehung bis<br />

zum Hochschulstudium“ eine umfassende Perspektive einnehmen wird. Bereits<br />

vorhandene Initiativen, Strukturen und Projekte in Thüringen sollen dabei systematisch<br />

aufgegriffen und einbezogen werden. Ein Schwerpunkt des Aktionsplans


Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />

477<br />

ist zunächst die Lehrerbildung in allen ihren drei Phasen. Parallel zur Arbeit am<br />

Aktionsplan Demokratiebildung wurde im Wintersemester 2014/15 unter dem Titel<br />

„Angegriffene Demokratie – Befunde und Gegenmittel“ eine interdisziplinäre<br />

Ringvorlesung begonnen, die als fakultatives Angebot für Studierende aller Fachrichtungen<br />

gedacht ist und ebenso Lehrpersonen ansprechen soll, da sie durch das<br />

Thüringer Lehrerfortbildungsinstitut als Fortbildung anerkannt ist. Die Veranstaltungsreihe<br />

wird im Sommersemester 2015 und Wintersemester 2015/16 fortgesetzt<br />

werden. Als ein weiteres Element des Aktionsplans ist für den Oktober 2015 eine<br />

Fachtagung in Jena geplant.<br />

5 Resümee<br />

Ausgehend von der Annahme, dass die Entwicklung von demokratischen Haltungen<br />

und Kompetenzen auch in gefestigten Demokratien nicht selbstläu g erfolgt,<br />

lässt sich der Anspruch der Demokratiepädagogik dahingehend zusammenfassen,<br />

dass es in allen Bildungseinrichtungen darum gehen muss, Kinder und Jugendliche<br />

frühzeitig in die Verantwortung für die Gestaltung ihres gemeinsamen Zusammenlebens<br />

zu bringen. Die damit verbundenen Koordinationsaufgaben schaffen<br />

Reexionsanlässe, die pädagogisch zur Einübung in demokratische Praktiken genutzt<br />

werden sollten. Indem man lernt, Differenzen in wertschätzenden, informierten,<br />

abwägenden und verständigungsorientierten Diskussionsprozessen zu klären,<br />

um Lösungen zu nden und Entscheidungen vorzubereiten, die man treffen und<br />

danach verbindlich einhalten muss, begreift man den Sinn und Wert von demokratischen<br />

Prozeduren und Institutionen nachhaltiger, insbesondere dann, wenn der<br />

fachpolitische Unterricht auf diesen Erfahrungen aufbauen kann. Es gibt keinen<br />

Grund, warum es in öffentlichen Bildungseinrichtungen nicht möglich sein soll,<br />

in diesem Sinn pädagogische Bezüge von Anfang an demokratisch zu gestalten.<br />

Praxiswirksame Initiativen wie das Förderprogramm Demokratisch Handeln und<br />

der Aktionsplan Demokratiebildung tragen dazu bei, die zahlreichen diesbezüglichen<br />

Aktivitäten zu bündeln und zu systematisieren, um sie in der Beratung und<br />

Begleitung von Schule und Schulentwicklung zu nutzen, aber auch um sie öffentlichkeitswirksam<br />

zu präsentieren. In der Summe ergibt sich damit ein differenziertes<br />

Bild von demokratiepädagogischer Grundlagenforschung, damit korrespondierender<br />

Praxisprogramme und Öffentlichkeitsarbeit, deren gemeinsamer Fokus die<br />

Idee präventionswirksamer Konzeptentwicklung bildet.


478 Wolfgang Beutel et al.<br />

Literatur<br />

Beutel, W., Buhl, M., Fauser, P. & Veith, H. (2009). Demokratiekompetenz durch Demokratieverstehen<br />

– Überlegungen zur Konstruktion eines Instruments zur Messung „demokratischer<br />

Verstehensintensität“. In W. Beutel & P. Fauser (Hrsg.), Demokratie, Lernqualität<br />

und Schulentwicklung (S. 177-208). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.<br />

Beutel, W. & Fauser, P. (1995). Die Schule: politikfern – und dennoch politisch? Ein Werkstattbericht<br />

aus dem Förderprogramm Demokratisch Handeln. In W. Beutel & P. Fauser<br />

(Hrsg.). Politisch bewegt? Schule, Jugend und Gewalt in der Demokratie (S. 9-35). Seelze-Velber:<br />

Friedrich Verlag.<br />

Beutel, W. & Fauser, P. (Hrsg.) (2001). Erfahrene Demokratie. Wie Politik praktisch gelernt<br />

werden kann. Opladen: Leske + Budrich.<br />

Beutel, W. & Fauser, P. (Hrsg.) (2013). Demokratie erfahren. Analysen, Berichte und Anstöße<br />

aus dem Wettbewerb „Förderprogramm Demokratisch Handeln“. Schwalbach/<br />

Ts.: Wochenschau Verlag.<br />

Bischoff, U., König, F. & Zimmermann, E. (2013). Mehr Partizipation wagen. DJI Impulse,<br />

9(4), 20-22.<br />

Deutsche Shell (Hrsg.) (2002). Jugend 2002: Jugend zwischen pragmatischem Idealismus<br />

und robustem Materialismus (14. Shell Jugendstudie). Frankfurt/Main: Fischer.<br />

Deutsche Shell (Hrsg.) (2010). Jugend 2010: Eine pragmatische Generation behauptet sich<br />

(16. Shell Jugendstudie). Frankfurt a. M.: Fischer.<br />

Edelstein, W. & Fauser, P. (2001). Demokratie lernen und leben. Gutachten für ein Modellversuchsprogramm<br />

der Bund-Länder-Kommission. Materialien zur Bildungsplanung<br />

und zur Forschungsförderung. H. 96. Bonn: BLK.<br />

Edler, K. (2012). Die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe) – Ein<br />

Portrait. In. W. Beutel, P. Fauser & H. Rademacher (Hrsg.), Jahrbuch Demokratiepädagogik.<br />

Aufgabe für Schule und Jugendbildung 2012 (S. 313 – 315). Schwalbach/Ts.:<br />

Wochenschau Verlag.<br />

Fauser, P., Prenzel, M. & Schratz, M. (Hrsg.) (2007). Was für Schulen! Gute Schule in<br />

Deutschland. Der Deutsche Schulpreis 2006. Seelze-Velber: Klett/Kallmeyer.<br />

Goll, T. (Hrsg.) (2011). Bildung für die Demokratie. Beiträge von Politikdidaktik und Demokratiepädagogik<br />

(Dortmunder Schriften zur politischen Bildung, Bd. 1). Schwalbach/<br />

Ts.: Wochenschau Verlag.<br />

Habermas, J. (1981). Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.<br />

Hamm-Brücher, H. (2001). „Dann müssen wir doch in Zeiten der Freiheit etwas tun ...“. Hildegard<br />

Hamm-Brücher im Gespräch mit Jugendlichen. In W. Beutel & P. Fauser (Hrsg.),<br />

Erfahrene Demokratie. Wie Politik praktisch gelernt werden kann (S. 257-271). Opladen:<br />

Leske + Budrich.<br />

Hurrelmann, K. & Albert, M. (2006). Jugend 2006. 15. Shell Jugendstudie: Eine pragmatische<br />

Generation unter Druck. Frankfurt a. M.: Fischer.<br />

Krappmann, L. (1994). Sozialisation und Entwicklung in der Sozialwelt gleichaltriger Kinder.<br />

In K.A. Schneewind (Hrsg.), Psychologie der Erziehung und Sozialisation (S. 495-<br />

524). Göttingen: Hogrefe.<br />

Kohlberg, L. (1996). Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.<br />

Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (Hrsg.) (2013). Merkmale demokratiepädagogischer<br />

Schulen. Ein Katalog. Hamburg. Zugriff am 26.01.2015, http://


Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />

479<br />

li.hamburg.de/contentblob/3137664/data/pdf-merkmalskatalog-demokratiepaedagogischer-schulen-2013.pdf<br />

.<br />

„Magdeburger Manifest“ der Demokratiepädagogik (2007), In W. Beutel & P. Fauser,<br />

(Hrsg.). Demokratiepädagogik. Lernen für die Zivilgesellschaft (S. 200-202). Schwalbach/Ts.:<br />

Wochenschau Verlag.<br />

Massing, P.(2007). Politische Bildung in der Grundschule – Überblick, Kritik, Perspektiven.<br />

In D. Richter (Hrsg.), Politische Bildung von Anfang an (S. 18-35). Schwalbach/Ts.:<br />

Wochenschau-Verlag.<br />

Veith, H. (2010): Das Konzept der Demokratiekompetenz. In: D. Lange & G. Himmelmann<br />

(Hrsg.): Demokratiedidaktik: Impulse für die politische Bildung (S. 142-156). Wiesbaden:<br />

VS Verlag für Sozialwissenschaften.


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

Eine Studie zu den Erfahrungen<br />

von Betroffenen rechter Gewalt 1<br />

Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

1 Einleitung<br />

Jahrelang wurden Angehörige der Opfer der vom „Nationalsozialistischen Untergrund“<br />

Getöteten verdächtigt, an kriminellen Machenschaften beteiligt oder gar<br />

für die Tötung der eigenen Familienmitglieder verantwortlich zu sein. Trotz deutlicher<br />

Hinweise und Appelle an die Polizei, dass die Täter und/oder Täterinnen im<br />

rechtsextremen Milieu zu suchen seien, erwiesen sich die Ermittlungsbehörden<br />

sprichwörtlich als auf dem rechten Auge blind. Das Versagen der Behörden, stellte<br />

Eva Högl, die Obfrau der SPD im Untersuchungsausschuss des Bundestages<br />

fest, beruhe zum großen Teil auf „routinierten, oftmals rassistisch geprägten Verdachts-<br />

und Vorurteilsstrukturen in der Polizei“ (Carstens, 2013). Der Zentralrat<br />

der Muslime in Deutschland kritisierte „Vorurteilsstrukturen bei den Behörden<br />

gegenüber bestimmten Minderheiten und Gruppen, die dem strukturellen Rassismus<br />

in Deutschland Vorschub leisteten“ (Carstens, 2013) – Polizeivertreter und<br />

-vertreterinnen reagierten empört auf die Vorwürfe.<br />

Fest steht, dass die Angehörigen durch Polizeiermittlungen wegen zu Unrecht<br />

vermuteter krimineller bzw. maöser Verbindungen nach ihren tragischen Verlusten<br />

ein zweites Mal schwer geschädigt und in ihrem Vertrauen in den Rechtsstaat<br />

auf die Probe gestellt wurden. Diese nochmalige Opferwerdung wird in den Sozialwissenschaften<br />

als Sekundäre Viktimisierung bezeichnet, „bei der der Betroffene<br />

durch eine unangemessene Reaktion seitens seines sozialen Nahraums und<br />

1 Ausführlicher dargestellt ist diese Studie in Quent, Geschke und Peinelt (2014).<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_21, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


482 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

der Instanzen sozialer Kontrolle verletzt wird“ (Kie & Lamnek, 1986, S. 239).<br />

Gerade behördenvermittelte Erfahrungen sekundärer Viktimisierung können bei<br />

den Opfern zu einem massiven Vertrauensverlust in die Institutionen des demokratischen<br />

Rechtsstaates führen. Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt<br />

wiesen in einer gemeinsamen Erklärung anlässlich des zweiten Jahrestages der<br />

Selbstenttarnung des NSU darauf hin, dass noch immer „viele Betroffene mit Polizeibeamten<br />

und Staatsanwaltschaften konfrontiert [sind], die rassistische Motive<br />

ignorieren oder verharmlosen oder den Betroffenen eine Mitverantwortung für<br />

die Angriffe zuschreiben“ (ezra, LOBBI e.V., Mobile Beratung für Opfer rechter<br />

Gewalt [Sachsen-Anhalt], ReachOut Berlin, Opferperspektive Brandenburg e.V. &<br />

Opferberatung für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt der RAA Sachsen<br />

e.V., 2013). Von derartigen Schilderungen berichten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen<br />

der Opferberatungsprojekte in zahlreichen Fällen. Quantitative Untersuchungen<br />

und Statistiken darüber, welche Wahrnehmungen und Erfahrungen Opfer<br />

rechter Gewalt bei ihren Kontakten mit der Polizei machen, existieren bisher nicht.<br />

An diesem Dezit setzte die vorliegende Untersuchung 2 an, indem sie versuchte,<br />

die folgenden Forschungsfragen empirisch zu beantworten:<br />

1. Wie nehmen Betroffene das polizeiliche Handeln in der Tatsituation und im<br />

Zuge der Aufarbeitung des Vorfalles wahr?<br />

2. Erfahren Opfer rechter Gewalt die Polizei als hilfreich bei der Aufarbeitung<br />

ihrer Viktimisierung?<br />

3. Handelt es sich bei wahrgenommenem Fehlverhalten durch die Polizei um Einzelfälle<br />

oder systematische Effekte?<br />

Zunächst werden im Folgenden einige theoretische Überlegungen angestellt über<br />

die Folgen der Viktimisierung durch rechte Gewalt für die Betroffenen und ihre<br />

sozialen Kollektive sowie die Konsequenzen für eine offene Gesellschaft. Danach<br />

werden ausgewählte empirische Befunde einer Befragung von Opfern rechter Gewalt<br />

dargestellt.<br />

2 Die Studie wurde mit finanzieller Unterstützung durch das Thüringer Landesprogramm<br />

für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit realisiert.


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

483<br />

2 Theoretischer Hintergrund<br />

2.1 Opfererfahrungen, Diskriminierung, Gewalt<br />

Dass Menschen dazu tendieren, Opfererfahrungen auszublenden und sich mit dem<br />

Schicksal von Gewaltopfern nicht näher befassen wollen, ist in der menschlichen<br />

Psyche verankert: Psychologen und Psychologinnen weisen auf die Neigung hin,<br />

die Existenz von Opfern möglichst zu verdrängen oder bei ihnen eine Mitschuld<br />

zu vermuten, um nicht an die eigene Schwäche erinnert zu werden oder Schuldgefühle<br />

in sich selbst zu erwecken (Mitscherlich: zitiert in Bolick, 2010). Abgewehrt<br />

wird zudem die Infragestellung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen gegenüber<br />

sozialen Minderheiten. Denn die Opfer rechter Gewalt unterliegen meist über<br />

die Ausübung einer rechtsextremistischen oder rassistisch motivierten Gewalttat<br />

hinaus „der Durchsetzung eines länger andauernden Machtverhältnisses, das auch<br />

nach dem Übergriff durch die Androhung weiterer Gewaltausübung aufrechterhalten<br />

wird. […] Opfer rechtsextremistischer Macht haben in der Regel unter einer<br />

lang währenden Unterordnung ihrer Person unter einen Täter bzw. eine Tätergruppe<br />

zu leiden.“ (Böttger, Lobermeier & Plachta, 2014, S. 42) Erscheinungsformen<br />

dieser andauernden Unterordnung reichen von Gewalt als „direktester Form<br />

von Macht“ (Popitz, 1992, S. 46), über strukturelle Schädigungen bis zu anderen,<br />

strafrechtlich häu g nicht relevanten Formen der „negativen Diskriminierung“<br />

(Castel, 2009). Diese negative Diskriminierung macht aus „eine[r] Differenz eine<br />

Dezienz, die für ihren Träger zu einem unaustilgbaren Makel wird. Negativ diskriminiert<br />

zu werden heißt, aufgrund einer Eigenart abgestempelt zu werden, die<br />

man sich nicht ausgesucht hat, die aber für die anderen zum Stigma wird. Eine<br />

entstandene Alterität wird zum Faktor der Ausgrenzung.“ (Castel, 2009, S. 14).<br />

Gegner und Gegnerinnen werden als Kollektive (beispielsweise die ‚Ausländer‘,<br />

die ‚Jüdinnen und Juden‘, die ‚Reichen‘ …) identi ziert. Die von den Tätern und<br />

Täterinnen als Opfer denierten Individuen sind in ihrer als homogen fremd konstruierten<br />

Gruppe in aller Regel beliebig austauschbar und für ihre Viktimisierung<br />

nicht persönlich verantwortlich. Die (von den Tätern und Täterinnen angenommene)<br />

Gruppenzugehörigkeit der Betroffenen ist Anlass für deren Gewalterfahrung<br />

(Köbberling, 2010, S. 189). Die durch die Gewalt transportierte Botschaft richtet<br />

sich nicht nur an das angegriffene Individuum, sondern an die gesamte Gruppe,<br />

zu der es gezählt wird: Die Gewalt wirkt sich daher auf die gesamte Gemeinschaft<br />

aus („kollektive Viktimisierung“) (Köbberling, 2010, S. 189) und intendiert die<br />

Einschüchterung der gesamten Gruppe (Finke, 2010, S. 207).


484 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

2.2 Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit<br />

als Legitimation für rechte Gewalt<br />

Nicht nur rechte Gewalttäter und -täterinnen sind gruppenbezogen menschenfeindlich<br />

eingestellt. 2014 stimmen über 50 Prozent der deutschen Bevölkerung<br />

abwertenden Aussagen gegenüber Sinti und Roma zu; bis zu 3/4 der Bevölkerung<br />

werten Asylbewerber und Asylbewerberinnen ab (Decker, Kiess & Brähler, 2014,<br />

S. 50). Den in der Gesellschaft vorhandenen Ungleichwertigkeitsvorstellungen<br />

liegt die generelle Ideologie zugrunde, „dass Ungleichwertigkeit von Gruppen die<br />

Gesellschaft bestimmt und dies auch gut so [ist]“ (Groß, Zick & Krause, 2012,<br />

S. 12). Diese Hierarchisierung der sozialen Gruppen in der Gesellschaft dient<br />

Tätern und Täterinnen schließlich „als Legitimation von […] massiver Anwendung<br />

von Gewalt“ (Heitmeyer, 2003, S. 19). Dass menschenfeindliche Denkweisen<br />

von Teilen der Gesellschaft geteilt werden, „begründet umgekehrt für die Betroffenen<br />

die Angst vor erneuter Viktimisierung. In der Regel trifft rechte Gewalt<br />

Menschen, die vielfältiger Diskriminierung unterworfen sind, und denen in der<br />

Gesellschaft subalterne, d. h. untergeordnete Positionen zugewiesen werden. Oft<br />

werden MigrantInnen mehrfach Opfer von Gewalt. Sehr oft haben sie schon zuvor<br />

eine Vielzahl von Abwertungen wie Beleidigungen und Herabwürdigungen<br />

erfahren.“ (Köbberling, 2010, S. 190). Rechte Gewalt wird daher auch diskutiert<br />

als „unerwünschte Zuspitzung und Radikalisierung von Einstellungen […], die in<br />

der ‚Mitte der Gesellschaft‘ verankert sind, und durchaus als akzeptable Elemente<br />

demokratischer Positionen gelten“ (John zitiert in: Köbberling, 2010, S. 190). Dabei<br />

ist diese negative Diskriminierung, wie Castel (2009, S. 11) ausführt, für die<br />

Demokratie nicht deshalb problematisch, „weil es keine Chancengleichheit gibt,<br />

sondern weil diese ganz im Gegenteil durchaus möglich und auch rechtlich garantiert<br />

ist. Diskriminierung ist skandalös, weil sie eine Verweigerung von Rechten<br />

ist, von verfassungsmäßigen Rechten.“<br />

2.3 Primäre, sekundäre und tertiäre Viktimisierung<br />

Viktimisierung bezeichnet den Prozess des Zum-Opfer-Werdens. Dieser Prozess<br />

besteht aus „Interaktionen von Täter, Opfer und anderen [Nicht-]Akteuren und<br />

ist durch unterschiedliche Dispositionen und Tatfolgen gekennzeichnet“ (Bolick,<br />

2010, S. 39). Mit Pfeiffer und Strobl ist dann von einer Viktimisierung zu sprechen,<br />

„wenn eine durch Konvention oder Recht legitimierte normative Erwartung enttäuscht<br />

und das dieser Enttäuschung zugrunde liegende Ereignis auf die soziale<br />

Umwelt bezogen wird“ (zitiert in: Böttger et al., 2014, S. 31 f.). Eine Opfererfahrung


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

485<br />

wäre dem folgend zum Beispiel auch die Erfahrung eines türkischen Jugendlichen,<br />

der im Gegensatz zu seinen deutschen Klassenkameraden keinen Ausbildungsplatz<br />

bekommt, obwohl er einen gleich guten oder sogar besseren Schulabschluss<br />

hat. In dem Beispiel wird die allgemein geteilte normative Erwartung des Prinzips<br />

der Chancengleichheit verletzt. Für den polizeilichen und juristischen Handlungsrahmen<br />

sind dagegen Strafrechtsnormen bindend (Böttger et al., 2014, S. 31 f.).<br />

Bei der Viktimisierung werden drei Stufen unterschieden, die aber nicht<br />

zwangsläug aufeinanderfolgen müssen (Kie & Lamnek, 1986, S. 167): Primäre<br />

Viktimisierung umfasst die eigentliche Opferwerdung, also die Schädigung einer<br />

oder mehrerer Personen durch einen oder mehrere Täter und Täterinnen. Ausgelöst<br />

und beein usst wird diese Phase durch verschiedene Situationsmerkmale,<br />

Opfereigenschaften, Opferverhalten, die Art der Täter-Opfer-Beziehungen und Tätereigenschaften<br />

(Kie & Lamnek, 1986, S. 170).<br />

Sekundäre Viktimisierung ist eine Verschärfung der primären und entsteht<br />

durch Fehlreaktionen des sozialen Nahraums von Betroffenen (Freunde und<br />

Freundinnen, Bekannte, Familienangehörige) und/oder Instanzen der formellen<br />

Sozialkontrolle (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte) nach der primären Opferwerdung<br />

(Kie & Lamnek, 1986, S. 239). Sie entsteht also nicht unmittelbar aus<br />

der Tat, „sondern [wird] durch Akteure produziert […], welche mit dem Opfer der<br />

Straftat irgendeinen Umgang haben (und zwar im Hinblick auf dessen primäre<br />

Viktimisierung)“ (Kölbel & Bork, 2012, S. 39). Die primäre Viktimisierung wird<br />

dadurch verstärkt, die Betroffenen fühlen sich, als ob sie noch einmal zum Opfer<br />

geworden sind. Dabei umfasst der Begriff sowohl den Vorgang der Einwirkung<br />

der Akteure als auch die Folgen dieser Einwirkung (Kölbel & Bork, 2012). Neben<br />

den genannten können auch die Täter und Täterinnen und deren Angehörige, die<br />

Öffentlichkeit, insbesondere die Medien, und die Verteidigung der Täter und Täterinnen<br />

im Gerichtsverfahren die sekundäre Viktimisierung positiv oder negativ<br />

beeinussen bzw. verhindern oder hervorrufen (Kie & Lamnek, 1986, S. 239).<br />

Die dritte Stufe ist die tertiäre Viktimisierung, die zu einer Verfestigung der<br />

Opferidentität und damit zu einem veränderten Selbstbild führt.<br />

2.4 Reaktionen von Ermittlungsbehörden<br />

Die Polizei ist häu g der erste Kontakt für Betroffene nach einer Tat. Sie wird<br />

vom Opfer selbst oder von Zeugen und Zeuginnen verständigt und trifft in diesem<br />

Fall zum Teil noch am Tatort auf die Kon iktparteien. Die Geschädigten erwarten<br />

dabei von der Polizei, dass sie als Opfer ernst genommen werden, Gehör und<br />

Beachtung nden und konkrete Hilfe erfahren (Haupt, Weber & Bürner, 2003,


486 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

S. 60). Ein Problem besteht dabei in den unterschiedlichen Betrachtungs- und Herangehensweisen<br />

von Polizei und Betroffenen. Für Letztere ist klar, dass sie das<br />

Opfer der Tat sind. Die Polizei hingegen muss zunächst versuchen, die Situation<br />

unabhängig zu beurteilen. Zu ihrem Auftrag gehört es, vor Ort Be- und Entlastendes<br />

zusammenzutragen. Weiterhin zählen für sie derartige Situationen eher zum<br />

Berufsalltag, während die Betroffenen mit einem einschneidenden Erlebnis konfrontiert<br />

sind (Bolick, 2010, S. 44). Weiterer Kontakt mit der Polizei ergibt sich für<br />

die Betroffenen bei eventuellen Zeugenaussagen oder der Erstattung einer Anzeige.<br />

Das geschieht meist kurze Zeit nach der Tat auf der zuständigen Dienststelle.<br />

Sekundäre Viktimisierung kann im Umgang mit der Polizei ebenso wie im<br />

sozialen Umfeld aus Bagatellisierungen, unsensiblem Verhalten und Mitschuldvorwürfen<br />

resultieren. Ein sensibles, verständnisvolles Vorgehen ist auch unter<br />

Beibehaltung von Distanz und Sachlichkeit möglich, ebenso das Ansprechen<br />

von Widersprüchlichkeiten, ohne eine Vorwurfshaltung einzunehmen (Fröhlich-<br />

Weber, 2008, S. 75). Das ist vor allem im Umgang mit traumatisierten Personen<br />

wichtig, denen es mitunter schwerfällt, über das Erlebte zu sprechen, oder die sich<br />

(partiell) nicht mehr an den Vorfall erinnern (Rothkegel, 2013, S. 268). Besondere<br />

Schwierigkeiten können sich durch Sprach- und Kulturbarrieren bei Opfern rassistischer<br />

Gewalt ergeben (Haupt et al., 2003, S. 61; Bolick, 2010, S. 44). Ein erhöhtes<br />

Risiko sekundärer Viktimisierung besteht im Falle von fahrlässigem oder absichtlichem<br />

Fehlverhalten der Polizei, in Form von stigmatisierendem oder beleidigendem<br />

Verhalten gegenüber den Opfern, oder wenn Einzelpersonen oder Gruppen<br />

(vermeintlich) aus dem Polizeialltag bekannt sind und als polizeifeindlich gelten<br />

oder bereits als Täter oder Täterinnen in Erscheinung traten und ihnen deswegen<br />

der Opferstatus versagt wird (Bolick, 2010, S. 45). Viktimologen empfahlen daher<br />

bereits 1986, „gerade solche Vertreter der formellen sozialen Kontrolle mehr als<br />

bisher mit der Problematik der sekundären Viktimisierung vertraut zu machen,<br />

die erfahrungsgemäß im Rahmen ihrer Alltagsroutine weniger mit den Opfern<br />

schwerwiegender Straftaten zu tun haben“(Kie & Lamnek, 1986, S. 252f).<br />

2.5 Folgen von Gewalterfahrungen<br />

Obwohl die Tatmotive bei rechter Gewalt in der Weltanschauung der Täter oder<br />

Täterinnen zu suchen sind und Betroffene für ihr Leiden in Folge der Viktimisierung<br />

nicht verantwortlich sind, tendieren Gewaltopfer dazu, auf der Suche nach<br />

Erklärungen und Ursachen nach Schuld in der eigenen Person zu suchen. Gerade<br />

die scheinbare Irrationalität rechter Gewalt lässt Betroffene umso rastloser nach<br />

Gründen der Gewalterfahrung fragen. Dabei hängt es entscheidend von der Art


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

487<br />

und Weise des Umganges durch Erstkontakte (oft die Polizei) und das nahe soziale<br />

Umfeld (zum Beispiel Familie, Freunde und Freundinnen, Kollegen und<br />

Kolleginnen) sowie von der Verfügbarkeit professioneller Unterstützung ab, wie<br />

das Gewaltopfer die eigene Viktimisierung interpretiert und verarbeitet: Ob dem<br />

Opfer die Schuld oder eine Mitschuld an einer Gewalterfahrung vermittelt wird,<br />

hat Einuss auf sein Selbstbild und Verhalten nach der Tat. Weil weltanschauliche<br />

Tatmotive oft wenig greifbar sind, besteht die Gefahr, Eskalationsgründe im Verhalten<br />

der Opfer zu suchen. Die Gefahr sekundärer und tertiärer Viktimisierung<br />

bei Opfern rechter Gewalt ist daher besonders groß. Dies erfordert vom sozialen<br />

Umfeld und den fallrelevanten Akteuren ein hohes Maß an Sensibilität. Für die<br />

Beratungspraxis für Opfer rechter Gewalt steht dieser Aspekt im Vordergrund:<br />

Betroffene werden „nicht aufgrund individueller Faktoren, sondern wegen ihrer<br />

Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen, kulturellen, sozialen oder politischen<br />

Gruppen Opfer von gruppenbezogener Gewalt“ (Thüringer Hilfsdienst für Opfer<br />

rechter Gewalt, 2009, S. 16). Weiterhin werden Betroffene zumeist unverhofft zum<br />

Opfer. Das heißt, der Tat gehen keine Provokationen seitens des Opfers voraus,<br />

sie geschieht nicht aufgrund persönlicher Differenzen oder Interessenkon ikte,<br />

sondern basiert auf Ungleichwertigkeitsvorstellungen aufseiten der Täter und Täterinnen.


488 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

Abbildung 1 Prozessmodell nicht begleiteter rechtsmotivierter Viktimisierung<br />

Das heuristische Prozessmodell in Abbildung 1 verdeutlicht die Folgen nicht begleiteter<br />

Viktimisierung von schwachen Gruppen in der Gesellschaft. Mit der primären<br />

Viktimisierung – der Opferwerdung einer Person, einer Gruppe oder Organisation<br />

durch einen oder mehrere Täter (Kie & Lamnek, 1986, S. 170) – wird das<br />

Opfer direkt geschädigt. Zudem können sekundäre und tertiäre Viktimisierungen<br />

eintreten. Mit der Tat wird zudem eine Botschaft der Einschüchterung an diejenige<br />

soziale Gruppe kommuniziert, welcher der oder die Betroffene durch die Täter<br />

oder Täterinnen zugerechnet wird (beispielsweise Asylsuchende, Punks …). Gesellschaftlich<br />

werden die Gleichwertigkeit der Menschen sowie ihr universelles<br />

Recht auf Unversehrtheit infrage gestellt.<br />

Zusätzlich sind auch die Reaktionen der von der Gewalttat provozierten Akteure<br />

entscheidend: Wie geht der oder die Betroffene mit der Viktimisierung um? Wie<br />

nimmt die durch die Tat viktimiserte Gruppe den Angriff auf? Wie reagiert die<br />

Gesellschaft auf die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte von Individuen? Art<br />

und Weise des Umganges können die individuellen, kollektiven und sozialen Negativfolgen<br />

der Gewalttat im Weiteren abschwächen oder verstärken. Entsteht bei<br />

dem oder der Betroffenen und dessen sozialer Gruppe der Eindruck, allein gelassen<br />

zu werden und mit der Tat unter der schwebenden Drohung der Wiederholung


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

489<br />

selbst fertig werden zu müssen, kann dies dazu führen, dass das Vertrauen in die<br />

Gesellschaft schwindet und Betroffene Möglichkeiten zum Selbstschutz suchen,<br />

beispielsweise indem sie sich bewaffnen. Eine Eskalation von Konfrontationsgewalt<br />

aufgrund mangelnder Opferunterstützung als Ausdruck der „Mängel in der<br />

staatlichen <strong>Rechtsextremismus</strong>bekämpfung“ (Roth, 2010, S. 29) ist eine mögliche<br />

Folge. Durch versagte Unterstützung oder die Erfahrung negativer Diskriminierung<br />

im Nachtatsbereich kann ein Keil zwischen Opfer, deren soziale Gruppe und<br />

die Gesellschaft getrieben werden, indem Differenzen betont und Machtgefälle<br />

verfestigt werden. Wird dies durch potenzielle Täter und Täterinnen entsprechend<br />

wahrgenommen, fühlen diese sich in der Selbstwahrnehmung als Vollzieher der<br />

Mehrheitsmeinung bestätigt und im ärgsten Fall zu (weiteren) Taten motiviert.<br />

Unterbrochen werden können dieser Kreislauf und das Leiden der auf diese Weise<br />

Ausgegrenzten durch die Aufhebung des Machtverhältnisses zwischen jenen,<br />

die sich aufgrund ihrer (vermeintlichen) Machtposition zur Abwertung, Unterdrückung<br />

und Schikane berechtigt und befähigt sehen und jenen, die nicht als gleichwertig<br />

anerkannt werden. Es wird hier die These vertreten, dass je stärker die<br />

soziale Unterstützung und Solidarität ist, welche die Betroffenen erfahren und je<br />

entschiedener rechte Gewalt geächtet wird, desto effektiver können negative Folgen<br />

vermieden und das Ausmaß rechter Gewalt langfristig reduziert werden.<br />

2.6 Wirkungsweisen der Opferunterstützung<br />

Abbildung 2 zeigt als idealtypisches Modell Wirkungsweisen der Opferunterstützung<br />

bei rechter Gewalt in der Gesellschaft. Erfahren viktimisierte Individuen<br />

und Kollektive unmittelbar nach der primären Opfer-Werdung gelungene Unterstützung<br />

durch Behörden, ihr soziales Umfeld und ggf. professionelle Beratungsdienste,<br />

kann es gelingen, darauf aufbauende Viktimisierungsstufen zu vermeiden.


490 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

Abbildung 2<br />

Idealtypisches Prozessmodell rechtsmotivierter Viktimisierung mit Opferberatung<br />

Betroffenen wird dann – neben der Einschüchterung durch den Täter bzw. die<br />

Täterin – auch vermittelt, nicht verantwortlich für die Viktimisierung zu sein und<br />

Folgen nicht allein tragen zu müssen. Die soziale Ächtung der Tat und ihrer weltanschaulichen<br />

Motive stärkt die Betroffenen, ihre soziale Integration und delegitimiert<br />

die Gewalt der Täter und Täterinnen. Den Gewaltopfern fällt es auf diese<br />

Weise leichter, die Tat zu verarbeiten, ohne dass eine Distanz zur Gesellschaft<br />

entsteht. Durch die öffentliche Vertretung der Opferinteressen können zudem verdrängte<br />

Ungleichwertigkeitszuschreibungen und Ungleichbehandlungen mit dem<br />

Ziel problematisiert werden, schwache Gruppen gesellschaftlich gleichzustellen.<br />

Mit der sozialen Macht von abgewerteten Gruppen steigt für potenzielle Gewalttäter<br />

und -täterinnen das Risiko, während ihre subjektive Überlegenheit und die<br />

imaginierte Legitimität der Diskriminierung schwacher Gruppen abnehmen. In<br />

der gesellschaftlichen Debatte, der behördlichen Praxis und bei der Konzeption<br />

von Maßnahmen zur Prävention von rechter Gewalt und der Unterstützung von<br />

Betroffenen ist daher von herausragender Wichtigkeit, die Viktimisierungsfolgen<br />

für die Betroffenen zu minimieren, deren Wahrnehmungen ernst zu nehmen sowie<br />

die Bedeutung der Tat für das Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft zu


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

491<br />

thematisieren: Denn rechte Gewalt vermittelt „sowohl dem Opfer als auch dessen<br />

Gruppe, dass sie nicht willkommen sind, dass sie kein Recht auf volle Partizipation<br />

am Leben in der Gesellschaft haben sollen“ (OSCE/ODIHR, 2008, zitiert in:<br />

Finke, 2010, S. 207).<br />

3 Untersuchungsdesign und -methode<br />

3.1 Datenerhebung<br />

Die Daten der vorliegenden Studie wurden mithilfe von standardisierten Telefoninterviews<br />

erhoben, welche vom Frühling bis Frühsommer 2014 geführt wurden.<br />

Die Interviewer und Interviewerinnen waren ausführlich geschulte, auf Honorarbasis<br />

entlohnte Studierende der Sozialwissenschaften mit thematischem Interesse<br />

am Arbeitsfeld. Die Telefoninterviews dauerten im Durchschnitt 35 Minuten<br />

(20 bis 75 Minuten) und die Erfassung der Daten verlief computergestützt. Die<br />

Antworten der Befragten wurden anschließend mittels des Statistik-Software-Programms<br />

SPSS 21.0 analysiert.<br />

3.2 Aufbau des Fragebogens<br />

Der Fragebogen umfasste insgesamt 131 Fragen, von denen im Folgenden nur ein<br />

Teil genauer betrachtet wird. Unter anderem wurden Wahrnehmungen des polizeilichen<br />

Handelns in und direkt nach der Tatsituation erfragt. Als Antwortformate<br />

wurde je nach Frage oder Aussage meist der Grad der Zustimmung auf einer 5-stu-<br />

gen Skala mit „stimme völlig zu“ „stimme eher zu“, „teils/teils“, „lehne eher<br />

ab“ und „lehne völlig ab“ vorgegeben, zusätzlich gab es die Option „weiß nicht“<br />

3<br />

und die Möglichkeit, gar nicht zu antworten. Abschließend wurden im Fragebogen<br />

einige soziodemograsche Daten (zum Beispiel Alter, Staatsangehörigkeit,<br />

Migrationsstatus) erhoben.<br />

3 In den entsprechenden folgenden Textabschnitten sind die gestellten Fragen bzw. Aussagen<br />

jeweils ausformuliert und »kursiv« dargestellt.


492 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

3.3 Akquise der Stichprobe<br />

Der Zugang zu den Interviewpartnern und -partnerinnen erfolgte über die Thüringer<br />

Opferberatungsstelle ezra 4 . Ursprünglich wurden 107 Betroffene, Zeugen<br />

und Zeuginnen telefonisch kontaktiert. Darunter gab es 5 Personen, die auch nach<br />

mehrmaligen Versuchen telefonisch nicht erreicht werden konnten. In insgesamt<br />

8 Fällen wären die Interviews nicht in deutscher Sprache möglich gewesen, wobei<br />

die Übersetzung des Interviewinstrumentes im Rahmen der Untersuchung nicht<br />

zu nanzieren war. Zudem gab es mehrere Personen, die aus verschiedenen persönlichen<br />

Gründen nicht zur Teilnahme an der Studie bereit waren. So nannten die<br />

Befragten unter anderem, dass sie befürchteten, durch die Befragung wieder an<br />

die traumatischen Erlebnisse erinnert zu werden; sie gaben an, aktuell zu vielen<br />

psychischen Belastungen unterworfen zu sein; dass sie keine Zeit hätten oder sie<br />

waren in Einzelfällen bereits ins Herkunftsland zurückgezogen, wie über Dritte<br />

(Freunde oder Freundinnen der Betroffenen oder Kooperationspartner von ezra)<br />

zu erfahren war. Insgesamt bilden N=44 vollständige Interviews die Grundlage<br />

der folgenden statistischen Auswertungen.<br />

3.4 Beschreibung der Stichprobe<br />

Von den 44 Befragten waren 33 Personen männlich (das entspricht 75% der Stichprobe)<br />

und 11 Personen weiblich (25%). Das Alter der Befragten lag zwischen 15<br />

und 60 Jahren mit einem Mittelwert bei 33 Jahren (wobei von einer Person keine<br />

Angaben vorlagen). Die meisten Betroffenen waren zwischen 22 und 28 Jahre alt.<br />

41 der Befragten (also 93%) hatten die deutsche Staatsangehörigkeit, 3 weitere gaben<br />

russische, türkische oder sudanesische Staatsangehörigkeit an. Auf die Frage<br />

„Sind Sie oder Ihre Eltern (oder Großeltern) im Ausland geboren?“ antworteten<br />

10 der Befragten mit „ja“ (23%), 34 Personen mit „nein“ (77%). Die Frage nach<br />

der „derzeitigen beru ichen Situation“ ergab 22 „Angestellte“ (50%), 7 „Arbeiter/Arbeiterinnen“<br />

(16%), 6 „Arbeitslose“ (14%), 5 „Studierende“ (11%) sowie 1<br />

„Auszubildende“, 1 „Freiberu er“, 1 „Schüler“ und 1 „Unternehmer“.<br />

4 ezra (www.ezra.de) ist die mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer<br />

Gewalt in Thüringen. Beraten, begleitet und unterstützt werden von ezra<br />

Menschen, die aus Motiven gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit angegriffen<br />

werden – also deshalb, weil die Täter und Täterinnen sie einer von ihnen abgelehnten<br />

Personengruppe zuordnen.


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

493<br />

4 Ergebnisse<br />

4.1 Wahrnehmungen der Polizei in der Tatsituation<br />

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie dargestellt. Zunächst widmen wir<br />

uns der Frage, wie Betroffene das polizeiliche Handeln unmittelbar nach den rechten<br />

Gewalttaten erfahren und bewerten. Die entsprechenden Fragen beschäftigten<br />

sich mit der subjektiven Sicht der Betroffenen auf die Arbeit der Polizei während<br />

und direkt nach dem Vorfall. Diese Fragen wurden nur jenen 32 Personen gestellt,<br />

die vorher angegeben hatten, gleichzeitig mit der Polizei in der Tatsituation gewesen<br />

zu sein. Zusammenfassend sind die Ergebnisse in Abbildung 3 dargestellt,<br />

danach werden sie im Einzelnen detaillierter vorgestellt.<br />

"IchfühltemichvonderPolizeivorOrt<br />

alsBetroffenerernstgenommen."<br />

25<br />

16<br />

9<br />

25<br />

22<br />

3<br />

"DiePolizeitbeamtenhörtenmirkaum<br />

zu."<br />

9<br />

19<br />

9<br />

19<br />

37<br />

6<br />

"DerPolizeiwarklar,dassichder/die<br />

BetroffenederGewalttatwar."<br />

25<br />

25<br />

3<br />

16<br />

19<br />

6<br />

6<br />

"InsgesamthabendiePolizistenmich<br />

anständigbehandelt."<br />

19<br />

34<br />

16<br />

12<br />

12<br />

6<br />

"DiePolizeibeamtengingenohne<br />

Vorurteileaufmichzu."<br />

16<br />

25<br />

12<br />

12<br />

22<br />

9<br />

3<br />

"AllesinAllemerfülltendiePolizisten<br />

ihrePflicht,vorOrtBelastendesund<br />

EntlastendesfüreineTatbeteiligungzu<br />

finden."<br />

22<br />

31<br />

3<br />

19<br />

16<br />

6<br />

3<br />

0 20 40 60 80 100<br />

stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe<br />

Abbildung 3 Wahrnehmungen der Polizei in der Tatsituation (N=32) in Prozent 5<br />

5 Durch Rundungsfehler ergeben die Prozentsummen auch in den folgenden Abbildungen<br />

manchmal 99 % oder 101 %.


494 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

Die Aussage „Ich fühlte mich von der Polizei vor Ort als Betroffener ernst genommen.“<br />

wurde von 13 Personen (41%) zustimmend, von 3 Personen (9%) mit<br />

„teils/teils“ und von 15 Personen (47%) ablehnend beantwortet. Das heißt, weniger<br />

als die Hälfte der befragten Personen fühlte sich nach dem Vorfall von den am<br />

Einsatzort aktiven Polizisten und Polizistinnen ernst genommen.<br />

Die Aussage „Die Polizeibeamten hörten mir kaum zu.“ beantworteten 9 Personen<br />

(28%) mit Zustimmung, 3 Personen (9%) mit „teils/teils“ und 18 Personen<br />

(56%) mit Ablehnung. Somit ist über ein Drittel der Befragten der Meinung, dass<br />

die Polizeibeamten und -beamtinnen ihnen kaum zugehört haben.<br />

Der Aussage „Der Polizei war klar, dass ich der/die Betroffene der Gewalttat<br />

war.“ stimmten 16 Personen (50%) zu, 1 Person antwortete mit „teils/teils“ und<br />

11 Personen (34%) lehnten sie ab. Folglich hatte die Hälfte der befragten Personen<br />

kurz nach der Tat nicht das Gefühl, dass die Polizei vor Ort sie als Betroffene der<br />

Gewalttat betrachtete.<br />

Die Aussage „Insgesamt haben die Polizisten mich anständig behandelt.“<br />

wurde von 17 Personen (53%) mit Zustimmung, von 5 Personen (16%) mit „teils/<br />

teils“ und von 8 Personen (25%) mit Ablehnung beantwortet. Dementsprechend<br />

fühlte sich ein Viertel der Befragten durch die Polizei nicht anständig behandelt.<br />

Die nächste Aussage „Die Polizeibeamten gingen ohne Vorurteile auf mich<br />

zu.“ wurde von 13 Personen (41%) mit Zustimmung, von 4 Personen (12%) mit<br />

„teils/teils“, und von 11 Personen (34%) mit Ablehnung beantwortet, wobei 3 Personen<br />

(9%) „weiß nicht“ angaben. Mehr als die Hälfte der Befragten hatte demnach<br />

teilweise oder vollständig das Gefühl, mit Vorurteilen seitens der Polizeibeamten<br />

und -beamtinnen konfrontiert zu sein.<br />

Die Aussage „ Alles in allem erfüllten die Polizisten ihre P icht, vor Ort Belastendes<br />

und Entlastendes für eine Tatbeteiligung zu nden.“ wurde von 17 Personen<br />

(53%) mit Zustimmung, von 1 Person mit „ teils/teils“, und von 11 Personen<br />

(34%) mit Ablehnung beantwortet, wobei 2 Personen (6%) „ weiß nicht“ angaben.<br />

Folglich war die Mehrzahl der Betroffenen der Meinung, die Polizei hat vor Ort<br />

ihre Picht erfüllt, während ein Drittel dem widersprach.<br />

Insgesamt zeigt sich, dass ungefähr jeder Zweite sich in der Tatsituation durch<br />

die Polizei nicht ernst genommen fühlte und nicht das Gefühl hatte, die Polizei behandle<br />

ihn als Betroffenen der Gewalttat. Jeder Vierte fühlte sich durch die Polizei<br />

nicht anständig behandelt und jeder Zweite sah sich mit Vorurteilen seitens der<br />

Polizeibeamtinnen und -beamten konfrontiert. Zudem teilte jeder Dritte nicht die<br />

Ansicht, die Polizisten und Polizistinnen hätten vor Ort ihre Picht erfüllt, Be- und<br />

Entlastendes für eine Tatbeteiligung zu nden.<br />

Zwei weitere Fragen beschäftigten sich mit Wahrnehmungen der Betroffenen<br />

bzgl. der Anerkennung des politischen Tatmotivs durch die Polizei. Diese Er-


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

495<br />

gebnisse sind zusammenfassend in Abbildung 4 dargestellt und werden nun im<br />

Einzelnen kurz beschrieben. Die Aussage „Den Polizisten war wichtig, den politischen<br />

Hintergrund der Tat aufzuklären.“ wurde von 9 Personen (28%) zustimmend,<br />

von 3 Personen (9%) mit „teils/teils“, und von 18 Personen (56%) ablehnend<br />

beantwortet. Das heißt, nur weniger als ein Drittel war der Meinung, die Polizei sei<br />

am politischen Hintergrund der Tat interessiert gewesen.<br />

Diese Sichtweise bestätigen auch die Reaktionen der Befragten auf die Aussage<br />

„Die Polizeibeamten ignorierten das politische Motiv der Tat.“. 18 Personen<br />

(56%) wählten hier zustimmende Antworten, 12 Personen (38%) ablehnende. Folglich<br />

fand diese Aussage die Zustimmung von mehr als der Hälfte der Befragten.<br />

Zusammenfassend muss also diesbezüglich konstatiert werden, dass mehr als die<br />

Hälfte der Befragten bezweifelte, dass die Polizeibeamten und -beamtinnen in der<br />

Tatsituation wirklich an der Aufklärung der politischen Tathintergründe interessiert<br />

waren.<br />

"DenPolizistenwarwichtig,<br />

denpolitischenHintergrund<br />

derTataufzuklären."<br />

16<br />

12 9<br />

12<br />

44<br />

6<br />

"DiePolizeibeamten<br />

ignoriertendaspolitische<br />

MotivderTat."<br />

40<br />

16<br />

19<br />

19<br />

6<br />

0 20 40 60 80 100<br />

stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe<br />

<br />

Abbildung 4 Einschätzung der Befragten bezüglich der Anerkennung des politischen<br />

Motivs der Tat durch die Polizei (N=32) in Prozent<br />

4.2 Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei<br />

in der Tatsituation<br />

Wahrnehmungen sekundärer Viktimisierung wurden durch weitere 5 Fragen an<br />

jene 32 Personen erfasst, die gleichzeitig mit der Polizei in der Tatsituation waren.<br />

Die Ergebnisse sind zusammenfassend in der folgenden Abbildung 5 dargestellt<br />

und werden anschließend genauer beschrieben.


496 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

"VorOrthabenmichdie<br />

Polizistenbehandelt,alsseiich<br />

dereigentlicheTäter."<br />

12<br />

9<br />

22<br />

53<br />

3<br />

"IchfühltemichvonderPolizei<br />

behandeltwieeinMensch<br />

zweiterKlasse."<br />

31<br />

3<br />

6<br />

19<br />

37<br />

3<br />

"DiePolizistenzeigten<br />

SympathienfürdieTäter."<br />

3<br />

6<br />

3<br />

19<br />

56<br />

12<br />

"IchfühltemichvonderPolizeiin<br />

meinemMenschenrechten<br />

verletzt."<br />

19<br />

6<br />

16<br />

56<br />

3<br />

"DurchVorwürfederPolizisten<br />

fühlteichmicherneut<br />

geschädigt."<br />

16<br />

12<br />

3 3<br />

62<br />

3<br />

0 20 40 60 80 100<br />

stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe<br />

Abbildung 5<br />

Wahrnehmungen der Polizei in der Tatsituation (N=32) in Prozent<br />

Auf die Aussage „Vor Ort haben mich die Polizisten behandelt, als sei ich der<br />

eigentliche Täter.“ reagierten 7 Personen (22%) mit Zustimmung und 24 Personen<br />

(75%) mit Ablehnung. Diese Befunde zeigen, dass über ein Fünftel der Befragten<br />

sich durch die Polizei als Täter und Täterin und nicht als Opfer einer Straftat behandelt<br />

fühlte.<br />

Die Aussage „Ich fühlte mich von der Polizei behandelt wie ein Mensch zweiter<br />

Klasse.“ beantworteten 11 Personen (34%) zustimmend, 2 Personen (6%) mit<br />

„teils/teils“ und 18 Personen (56%) ablehnend. Insofern hatte über ein Drittel der<br />

Befragten das Gefühl einer zweitklassigen Behandlung.<br />

Die Aussage „Die Polizisten zeigten Sympathien für die Täter.“ wurde von 3<br />

Personen (9%) mit Zustimmung, von 1 Person mit „teils/teils“ und von 24 Personen<br />

(75%) mit Ablehnung beantwortet. Somit hatten 4 Personen, also 12% der<br />

Stichprobe, den mehr oder weniger starken Eindruck, die Täter bzw. Täterinnen<br />

hätten Sympathien seitens der Polizei genossen.<br />

Auf die Aussage „Ich fühlte mich von der Polizei in meinen Menschenrechten<br />

verletzt.“ reagierten 8 Personen (25%) zustimmend und 23 Personen (72%) ablehnend.<br />

Folglich berichtete ein Viertel der Befragten hier von dem Gefühl, in der<br />

Tatsituation durch die Polizei in ihren Menschenrechten verletzt worden zu sein.<br />

Die Aussage „Durch Vorwürfe der Polizisten fühlte ich mich erneut geschädigt.“<br />

wurde von 9 Personen (28%) mit Zustimmung, von 1 Person mit „teils/<br />

teils“, von 21 Personen (66%) mit Ablehnung beantwortet. Somit fühlten sich 10


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

497<br />

Personen, also knapp ein Drittel der Befragten, durch Vorwürfe der Polizisten oder<br />

Polizistinnen erneut geschädigt. Insgesamt zeigen diese Ergebnisse, dass sich zwischen<br />

12% und 34% der Befragten durch verschiedene Aspekte des Verhaltens der<br />

Polizeibeamten und -beamtinnen in der Tatsituation erneut viktimisiert fühlten.<br />

4.3 Wahrnehmung der Polizei im Nachtatsbereich<br />

Anschließend wurden vier weitere Fragen zu Wahrnehmungen der Polizeibeamten<br />

und -beamtinnen im Nachtatsbereich, also bei Zeugenaussagen nach dem ursprünglichen<br />

Vorfall, gestellt. Die Fragen und Antworten der 39 Personen, die<br />

solche Zeugenaussagen gemacht haben, sind zusammenfassend in Abbildung 6<br />

dargestellt und werden im Folgenden detailliert betrachtet.<br />

"IchfühlemichdurchdasAuftretenvon<br />

Polizisteneingeschüchtert."<br />

8<br />

18<br />

5<br />

18<br />

51<br />

"IchfühlemichvonderPolizeiungerecht<br />

behandelt."<br />

8<br />

18<br />

21<br />

26<br />

28<br />

"IchhattedenEindruck,diePolizisten<br />

wolltensichnichtmitdenMotivendes<br />

Vorfallsauseinandersetzen."<br />

38<br />

21<br />

15<br />

21<br />

5<br />

"DiePolizistenhabenmirnahegelegt,<br />

niemandenvondemVorfallzuerzählen."<br />

3 3<br />

13<br />

82<br />

"Polizistenhabenmirvorgeworfen,<br />

selberSchuldfürdieEskalationder<br />

Situationgewesenzusein."<br />

5<br />

13<br />

3<br />

15<br />

64<br />

0 20 40 60 80 100<br />

stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe<br />

Abbildung 6 Wahrnehmungen der Polizei im Nachtatsbereich (N=39) in Prozent<br />

<br />

Die Aussage „Ich fühlte mich durch das Auftreten von Polizisten eingeschüchtert.“<br />

wurde von 10 Personen (26%) bejaht, 2 Personen (5%) wählten die Antwortmöglichkeit<br />

„teils/teils“ und 27 Personen (69%) haben dies abgelehnt. Demnach<br />

fühlte sich ein Drittel der Befragten durch das Auftreten der Polizeibeamten und<br />

-beamtinnen eingeschüchtert.<br />

Auf die Aussage „Ich fühle mich von der Polizei ungerecht behandelt.“ wurde<br />

von 10 Personen (26%) mit Zustimmung, von 8 Personen (21%) mit „ teils/teils“


498 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

und von 21 Personen (54%) mit Ablehnung reagiert. Insgesamt fühlte sich somit<br />

fast die Hälfte der Befragten im Nachtatsbereich durch die Polizei ungerecht behandelt.<br />

Um zu erfahren, wie die wahrgenommene Bereitschaft der Polizei war, die<br />

rechten Motive der Tat auch im Nachtatsbereich zu erfassen, wurde diese erneut<br />

abgefragt. Auf die Aussage „Ich hatte den Eindruck, die Polizisten wollten sich<br />

nicht mit den Motiven des Vorfalls auseinandersetzen.“ reagierten 23 Personen<br />

(59%) mit Zustimmung, 14 Personen (36%) mit Ablehnung und 2 Personen (5%)<br />

gaben „weiß nicht“ an. So hatten also fast zwei Drittel der Befragten auch im<br />

Nachtatsbereich den Eindruck, eine Auseinandersetzung mit den Tatmotiven sei<br />

für die Polizisten und Polizistinnen nicht von Interesse.<br />

Der Aussage „Die Polizisten haben mir nahegelegt, niemanden von dem Vorfall<br />

zu erzählen.“ stimmten 2 Personen (5%) zu, 37 Personen (95%) lehnten diese<br />

ab. Somit gibt es hier immerhin 2 dokumentierte Fälle, in denen die Polizei empfahl,<br />

den Vorgang geheim zu halten.<br />

Auf die Aussage „Polizisten haben mir vorgeworfen, selber schuld für die<br />

Eskalation der Situation gewesen zu sein.“ reagierten 7 Personen (18%) mit Zustimmung,<br />

1 Person mit „teils/teils“ und 31 Personen (79%) mit Ablehnung. Somit<br />

berichtete ungefähr ein Fünftel der Befragten, von der Polizei mehr oder weniger<br />

stark als Verantwortliche für die Eskalation betrachtet worden zu sein.<br />

Durch die Erfahrung von Gewalt und anschließender sekundärer Viktimisierung<br />

können sich die Einstellungs- und Verhaltensweisen der Betroffenen stark<br />

verändern, ihr Vertrauen in die Institutionen der Demokratie kann leiden.<br />

4.4 Folgen für das Vertrauen in die Institutionen<br />

Oben wurde bereits auf die Folgen nicht verarbeiteter primärer und sekundärer<br />

Viktimisierung für die Betroffenen und auch allgemeiner für den Zusammenhalt<br />

der Gesellschaft hingewiesen. Mittels drei verschiedener Fragen wurde das<br />

Vertrauen in die Bundesregierung, die Gerichte und die Polizei eruiert (siehe Abbildung<br />

7). Auf die Frage „Ich lese Ihnen jetzt eine Reihe von öffentlichen Einrichtungen<br />

vor. Sagen Sie mir bitte bei jeder, ob Sie ihr voll und ganz vertrauen,<br />

weitgehend, teilweise, eher nicht oder gar nicht vertrauen. Wie ist das mit der<br />

Bundesregierung?“ reagierten 15 Personen (34%) mit mangelndem Vertrauen, 19<br />

Personen (43%) mit „teilweise“ vorhandenem Vertrauen und 10 Personen (23%)<br />

vertrauensvoll. Die entsprechende Frage zu „… den Gerichten?“ führte bei 7 Personen<br />

(16%) zur Angabe von Vertrauensmangel, bei 17 Personen (39%) war das<br />

Vertrauen „teilweise“ gegeben und 20 Personen (45%) vertrauten den Gerichten.


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

499<br />

Die analoge Frage in Bezug zu „… der Polizei?“ ergab bei 17 Personen (39%)<br />

einen Mangel an Vertrauen, bei 18 Personen (41%) war das Vertrauen „teilweise“<br />

gegeben, während nur 8 Personen (18%) der Polizei ihr Vertrauen aussprachen.<br />

Insgesamt zeigt sich somit, dass fast die Hälfte der Befragten den Gerichten traute,<br />

aber nur ein Fünftel der Bundesregierung und etwas weniger als ein Fünftel der<br />

Polizei.<br />

"Wieistdasmit<br />

derBundesregierung?"<br />

2<br />

21<br />

43<br />

21<br />

14<br />

"…denGerichten?"<br />

11<br />

34<br />

39<br />

9<br />

7<br />

"…derPolizei?"<br />

7<br />

11<br />

41<br />

16<br />

23<br />

2<br />

0 20 40 60 80 100<br />

stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe<br />

<br />

Abbildung 7<br />

Antworten auf Fragen zum Vertrauen in verschiedene Institutionen (N=44)<br />

in Prozent<br />

Im repräsentativen Thüringen Monitor wird regelmäßig das Institutionenvertrauen<br />

der Thüringer Bevölkerung gemessen. Das entsprechende Item ist identisch mit<br />

dem in der vorliegenden Befragung der Betroffenen rechter Gewalt (Best, Dwars,<br />

Saalheiser & Salomo, 2013, Tabelle A17). Stellt man die Werte des durchschnittlichen<br />

Vertrauens der Thüringer Bevölkerung in die Polizei jenen gegenüber, die<br />

als Opfer rechter Gewalt Erfahrungen mit der Polizei im Freistaat machten, zeigt<br />

sich eine erhebliche Differenz (siehe Abbildung 8). Während 64% der Thüringer<br />

und Thüringerinnen (N=1.012) der Polizei weitgehend oder voll und ganz vertrauen<br />

und weitere 24% der Polizei zumindest teilweise vertrauen, sind es unter den<br />

Betroffenen rechter Gewalt (N=44) nur 18% mit Vertrauen und 41% mit teilweise<br />

vorhandenem Vertrauen. Fast ein Viertel der Befragten hat gar kein Vertrauen,<br />

weitere 16% nur ein geringes. Diese hohe Differenz signalisiert bei Opfern rechter<br />

Gewalt einen besorgniserregenden Vertrauensverlust in die Polizei.


500 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

Prozent<br />

45<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

41 42<br />

23<br />

24<br />

22<br />

16<br />

11<br />

7<br />

4 5<br />

3 2<br />

garnicht ehernicht teilweise weitgehend vollundganz k.A./weißnicht<br />

ThüringenMonitor2013<br />

OpferrechterGewalt2014<br />

Abbildung 8 Vertrauen in die Polizei bei Opfern rechter Gewalt (N=44) und im repräsentativen<br />

„Thüringen Monitor“ (N=1012) im Vergleich (in Prozent)<br />

<br />

5 Methodenreflexion und Ausblick<br />

für zukünftige Forschung<br />

Mit dieser Studie wurden erstmals in Deutschland quantitativ die Wahrnehmungen<br />

und Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei erhoben. Die<br />

Betroffenen haben ihre Wahrnehmungen in Thüringen gemacht, dennoch ist davon<br />

auszugehen, dass die dargestellten Erfahrungen in dieser oder ähnlicher Form<br />

auch in anderen Bundesländern zu beobachten sind.<br />

5.1 Methodenreflexion<br />

Natürlich hat die Methode dieser Untersuchung – so wie jedes andere Verfahren<br />

auch – ihre Nachteile und Schwächen. Diese sind einerseits in der Stichprobe der<br />

Befragten und andererseits in der ausgewählten Methode begründet.<br />

Nicht alle bei ezra in den letzten Jahren beratenen Opfer konnten erreicht und<br />

befragt werden (siehe oben). Und „inwieweit jene Opfer, die sich zu einer Mitarbeit<br />

bereitnden, für die Gesamtheit der Opfer repräsentativ sind, ist ungeklärt“ (Kie<br />

& Lamnek, 1986, S. 39). Insbesondere durch die Gewalttat stark traumatisierte<br />

Personen sind vermutlich weniger bereit, an solchen Befragungen teilzunehmen,<br />

da sie eine Retraumatisierung befürchten könnten.<br />

Viele Beratungsnehmer und -nehmerinnen von ezra konnten zudem aufgrund<br />

sprachlicher Barrieren nicht befragt werden. In Fällen, bei denen nicht davon aus-


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

501<br />

gegangen werden konnte, dass alle Items des Fragebogens richtig verstanden werden<br />

könnten, unterblieb von vornherein eine Kontaktaufnahme. Somit fand eine<br />

Vielzahl von Fällen insbesondere mit rassistischen Tatmotiven keinen Eingang in<br />

die Befragung, weil die zur Befragung notwendige professionelle Übersetzung des<br />

Fragebogens in verschiedene Sprachen und das Hinzuziehen von Dolmetschern<br />

und Dolmetscherinnen bzw. fremdsprachigen Interviewenden das enge Budget<br />

des Projektes weit überstiegen hätte. Insbesondere rassistisch-diskriminierte Menschen<br />

kommen daher hier gewissermaßen „zu kurz“, obwohl ihre Erfahrungen<br />

und Wahrnehmungen aus verschiedenen Gründen besonders aufschlussreich erscheinen.<br />

Insofern handelt es sich hier explizit nicht um eine repräsentative Stichprobe<br />

der von ezra in den letzten Jahren beratenen Menschen. Es besteht weiterer<br />

Forschungsbedarf.<br />

Zudem hat auch die Gültigkeit der Aussagen der Befragten ihre Grenzen. Insgesamt<br />

werden zwar Ergebnisse von Opferbefragungen für zuverlässiger gehalten<br />

als die von Täterbefragungen. Sie sind dennoch nicht frei von (systematischen)<br />

Verzerrungen: „Da die erfahrene Viktimisierung ein belastendes Erlebnis ist,<br />

dürfte eine Tendenz bestehen, die gesamte Tat oder doch einige ihrer Begleitumstände,<br />

zu verdrängen oder zu beschönigen“ (Kie & Lamnek, 1986, S. 39). Die<br />

Gültigkeit von Opferbefragungen ist vor allem deshalb eingeschränkt, da Vergangenes<br />

erfragt wird und der oder die Interviewte die Fragen als bedrohlich emp-<br />

nden kann. Aufgrund der besonderen Situation und Belastungen der Befragten<br />

kann es zu systematischen Verzerrungen der Erinnerungen an die Tatsituation<br />

kommen. Auch Rationalisierungen, Schuldzuweisungen und Entschuldigungsbestrebungen<br />

spielen eine Rolle und beein ussen die Objektivität der erhobenen<br />

Daten.<br />

Dennoch haben wir uns bei der Gestaltung des Fragebogens für sehr harte<br />

Items entschieden, also für solche Aussagen, die sehr eindeutig und von den Befragten<br />

leicht zu verstehen sind. Die Tendenz zur Beschönigung wie die Härte der<br />

Aussagen, die ein hohes Maß an Zustimmung bei den Befragten benötigen, sind<br />

bei der Interpretation der Daten zu beachten, denn sie führen insgesamt eher zu<br />

einer Unterschätzung der Problemlage.<br />

6 Zusammenfassung<br />

Die vorliegende Studie konnte die anfangs gestellten Fragen mit empirischen Antworten<br />

versehen. Deutlich wird aber auch der hohe Bedarf, diesen Bereich künftig<br />

weiter zu erforschen. Mit der Untersuchung werden erste, empirisch untersetzte<br />

Befunde vorgelegt für a) ein besseres Verständnis der Situation von Betroffenen


502 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

rechter Gewalt und b) die Aufdeckung struktureller Probleme im Umgang der<br />

Polizei damit. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie zusammenfassend<br />

dargestellt und auf die Ausgangsfragen bezogen.<br />

Das polizeiliche Handeln in der Tatsituation ist aus Sicht der Befragten sehr<br />

problematisch. So fühlte sich ungefähr jeder Zweite in der Tatsituation durch die<br />

Polizei nicht ernst genommen und hatte nicht das Gefühl, die Polizei behandle sie<br />

oder ihn als die Betroffenen der Gewalttat. Jeder Vierte fühlte sich durch die Polizei<br />

nicht anständig behandelt und jeder Zweite sah sich mit Vorurteilen konfrontiert.<br />

Zudem war jeder Dritte nicht der Ansicht, die Polizisten und Polizistinnen<br />

hätten vor Ort Ihre P icht erfüllt, Be- und Entlastendes für eine Tatbeteiligung<br />

zu nden. Bis zu einem Drittel der Befragten fühlte sich in der Tatsituation durch<br />

verschiedene andere Aspekte des Verhaltens der Polizeibeamten und -beamtinnen<br />

erneut viktimisiert, zum Beispiel als Täter bzw. Täterin (statt als Opfer) oder<br />

als Mensch zweiter Klasse behandelt oder in ihren oder seinen Menschenrechten<br />

verletzt. Mehr als die Hälfte der Befragten bezweifelte zudem, dass die Polizei<br />

in der Tatsituation wirklich an der Aufklärung der politischen Tathintergründe<br />

interessiert war.<br />

Auch im Nachtatsbereich wurde die Arbeit der Polizei häu g kritisiert. Ein<br />

Drittel der Befragten fühlte sich durch das Auftreten der Polizisten und Polizistinnen<br />

eingeschüchtert, fast die Hälfte ungerecht behandelt und auch hier entstand<br />

in mehr als der Hälfte der Fälle der Eindruck, die Polizei wolle sich nicht mit den<br />

Motiven des Vorfalls auseinandersetzen. Zudem berichtete ungefähr ein Fünftel<br />

der Befragten, von der Polizei als Verantwortliche für die Eskalation betrachtet<br />

worden zu sein.<br />

Bei der Aufarbeitung ihrer Viktimisierung wurde die Polizei von den Befragten<br />

nicht als hilfreich wahrgenommen, stattdessen erfuhren die Betroffenen eine<br />

sekundäre Viktimisierung, zum Beispiel indem sie durch die Polizei wie Täter<br />

bzw. Täterinnen behandelt oder für die Eskalation selbst verantwortlich gemacht<br />

wurden, oder weil es scheinbar kein Interesse seitens der Polizei gab, rechte Motive<br />

der Tat aufzuklären.<br />

Die Befunde zeigen, dass es sich bei den meisten der geschilderten Probleme<br />

nicht um Einzelfälle handelte, sondern es waren mehrere oder viele Personen davon<br />

betroffen. Es ist ein Verdienst dieser Studie, dies durch die standardisierte<br />

Befragung von 44 betroffenen Personen empirisch erfasst zu haben.


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

503<br />

7 Resümee<br />

Mit der Enttarnung des rechtsterroristischen NSU und der gesellschaftspolitischen,<br />

öffentlichen und juristischen Aufarbeitung der Faktoren, die zu der über ein Jahrzehnt<br />

hinweg nicht erkannten rechtsextremen Mord- und Raubserie geführt haben,<br />

hat die Debatte um rechte Gewalt und die Rolle der Ermittlungsbehörden an Fahrt<br />

gewonnen. Parlamentarische Untersuchungsgremien im Bund und in mehreren<br />

Bundesländern haben ausführliche Dokumentationen, Problembeschreibungen und<br />

Empfehlungen für Reformen des Sicherheitsapparates vorgelegt – mit dem Ziel, die<br />

Effektivität der Verfassungsschutzämter und der Polizei zu verbessern und somit<br />

die Kontrollfähigkeit über Täter und Täterinnen zu erhöhen. Während in anderen<br />

westlichen Staaten unabhängige Kommissionen, Medien, Zivilgesellschaft und<br />

Wissenschaft die Debatte über polizeilichen Rassismus zu den Ursachen führen,<br />

werden hierzulande die strukturellen und inneren Gründe polizeilichen Fehlverhaltens<br />

noch immer in erschreckendem Maße bagatellisiert, ignoriert oder als „Einzelfälle“<br />

abgetan. Die Perspektive der davon betroffenen Personen und Gruppen<br />

nimmt – trotz der aufrüttelnden Erfahrungsberichte und Erkenntnisse im Zusammenhang<br />

mit den Ermittlungen zur NSU-Mordserie – keine zentrale Rolle ein. Die<br />

nun vorliegende Studie leistet Pionierarbeit in der Darstellung davon, wie sich Betroffene<br />

rechter Gewalt fühlen und welche Erfahrungen sie mit der Polizei machen.<br />

Auf den vorherigen Seiten ist eines evident geworden: Negative Erfahrungen derjenigen,<br />

die als Opfer rechter Gewalt Hilfe suchen, sind keine Einzelfälle.<br />

8 Ausblick für die Forschung<br />

Die vorliegende Pilotstudie zeigt die Potenziale für die Erforschung der Erfahrungen<br />

der von Diskriminierung und Gewalt Betroffenen, indem sie denen, die häu-<br />

g nicht gehört werden, durch empirische Forschung eine Stimme gibt. Künftige<br />

Forschungen sollten auf die Dynamiken der Viktimisierung fokussieren sowie die<br />

Genese von Ungleichwertigkeitsvorstellungen aufhellen. So könnten bisher kaum<br />

genutzte Werkzeuge und Zugänge für die Präventions- und Interventionspraxis<br />

(weiter-)entwickelt werden. Für die Forschung sind interessante Befunde über das<br />

Mit- und Gegeneinander sozialer Gruppen in der Gesellschaft zu erwarten. Tiefer<br />

gehende Untersuchungen müssten größere, überregionale Stichproben von durch<br />

rechte Gewalt betroffenen Personen erheben. Dazu ist eine enge Zusammenarbeit<br />

mit den Opferberatungen und (migrantischen) Selbstorganisationen nötig. Zu berücksichtigen<br />

sind dabei auch die besonderen Herausforderungen bei der Befragung<br />

von nicht deutschsprachigen Menschen und die daraus folgende Notwendigkeit,<br />

kohärente Messinstrumente in unterschiedlichen Sprachen zu entwickeln.


504 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />

Literatur<br />

Best, H., Dwars, D., Saalheiser, A. & Salomo, K. (2013). Politische Kultur im Freistaat Thüringen.<br />

„Wie leben wir? Wie wollen wir leben?“ Zufriedenheit, Werte und gesellschaftliche<br />

Orientierungen der Thüringer Bevölkerung. Ergebnisse des Thüringen-Monitors<br />

2013.<br />

Bolick, K. (2010). Spezialisierte Opferberatung im Kontext rechter Gewalt. Zugriff am 08.<br />

Dezember 2014 http://digibib.hs-nb.de/resolve?id=dbhsnb_thesis_0000000549<br />

Böttger, A., Lobermeier, O. & Plachta, K. (2014): Opfer rechtsextremer Gewalt. Wiesbaden:<br />

Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Carstens, P. (2013, 22. August). NSU-Opfer kritisieren Untersuchungsausschuss. Frankfurter<br />

Allgemeine Zeitung. Zugriff am 08. Dezember 2014 http://www.faz.net/aktuell/politik/<br />

abschlussbericht-vorgestellt-nsu-opfer-kritisieren-untersuchungsausschuss-12542819.<br />

html<br />

Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2014). Die stabilisierte Mitte – Rechtsextreme Einstellung<br />

in Deutschland 2014. Zugriff am 08. Dezember 2014 http://www.uni-leipzig.<br />

de/~kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf Leipzig<br />

ezra, LOBBI e.V., Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt (Sachsen-Anhalt), ReachOut<br />

Berlin, Opferperspektive Brandenburg e.V. & Opferberatung für Betroffene rechter und<br />

rassistischer Gewalt der RAA Sachsen e.V. (2013). Opferberatungsprojekte fordern<br />

mehr Unterstützung und warnen vor der drohenden Abwicklung von Beratungsprojekten<br />

in Sachsen. Zugriff am 08. Dezember 2014 http://www.ezra.de/aktuell/artikel/?tx_<br />

ttnews%5Btt_news%5D=7714&cHash=a455f68748108c8bf0496efd4d3aaad8<br />

Finke, B. (2010). Vorurteilsmotivierte Hassgewalt und diversityorientierte Beratung. In J.<br />

Hartmann (Hrsg.): Perspektiven professioneller Opferhilfe. Theorie und Praxis eines<br />

interdisziplinären Handlungsfelds (S. 207 – 232). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Fröhlich-Weber, B. (2008). Das polizeiliche Ermittlungsverfahren. In F. Fastie (Hrsg.), Opferschutz<br />

im Strafverfahren (S. 75). Opladen: Verlag Barbara Budrich.<br />

Groß, E., Zick, A. & Krause, D. (2012). Von der Ungleichwertigkeit zur Ungleichheit:<br />

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Zugriff am 08. Dezember 2014 http://www.<br />

bpb.de/apuz/130404/von-der-ungleichwertigkeit-zur-ungleichheit-gruppenbezogenemenschenfeindlichkeit?p=all<br />

Haupt, H., Weber, U. & Bürner, S. (2003). Handbuch Opferschutz und Opferhilfe . Baden-<br />

Baden: Nomos.<br />

Heitmeyer, W. (2003). Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption<br />

und empirische Ergebnisse aus 2002 sowie 2003. In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche<br />

Zustände 2 (S. 13 – 32). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.<br />

Kie, W. & Lamnek, S. (1986). Soziologie des Opfers. Theorie, Methoden und Empirie der<br />

Viktimologie. München: Fink.<br />

Köbberling, G. (2010). Rechte Gewalt – Beratung im interkulturellen Kontext. In J. Hartmann<br />

(Hrsg.), Perspektiven professioneller Opferhilfe. Theorie und Praxis eines interdisziplinären<br />

Handlungsfelds (S. 189 – 206). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Kölbel, R. & Bork, L. (2012). Sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel. Berlin:<br />

Duncker & Humblot.<br />

Popitz, Heinrich (1992). Phänomene der Macht. Tübingen: Mohr.


Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />

505<br />

Quent, M., Geschke, D. & Peinelt, E. (2014). Die haben uns nicht ernst genommen. Eine<br />

Studie zu Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei. Zugriff am 08.<br />

Dezember 2014 http://www.ezra.de/ leadmin/projekte/Opferberatung/download/EzraStudie_klein.pdf<br />

Roth, R. (2010). Demokratie braucht Qualität! Beispiele guter Praxis und Handlungsempfehlungen<br />

für erfolgreiches Engagement gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>. Berlin: Friedrich-<br />

Ebert-Stiftung, Forum Berlin.<br />

Rothkegel, S. (2013): Psychosoziale Folgen rassistischer Gewalt und deren Verarbeitungsmöglichkeiten.<br />

In Opferperspektive e.V (Hrsg.), Rassistische Diskriminierung und rechte<br />

Gewalt. An der Seite der Betroffenen beraten, informieren, intervenieren. Münster:<br />

Westfälisches Dampfboot.<br />

Thüringer Hilfsdienst für Opfer rechter Gewalt (THO) (2009). Thüringer Tatorte: rechtsextreme<br />

Gewalt in Thüringen; Informationen und Handlungsmöglichkeiten. Jena.


Autorenverzeichnis<br />

Becker, Reiner, Dr.; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps Universität<br />

Marburg und Leiter des Demokratiezentrums im beratungsNetzwerk hessen.<br />

Best, Heinrich, Prof. em. Dr.; Institut für Soziologie und Vorsitzender des Kompetenzzentrums<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> der Friedrich-Schiller-Universität Jena.<br />

Beutel, Wolfgang, Dr. phil., Mitbegründer und Geschäftsführer des Förderprogramms<br />

„Demokratisch Handeln“ und Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft<br />

für Demokratiepädagogik.<br />

Edler, Kurt, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik<br />

und Leiter des Referats Gesellschaft am Landesinstitut für Lehrerbildung und<br />

Schulentwicklung in Hamburg.<br />

Feldmann, Dorina; Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische<br />

Studien (Universität Potsdam) im Forschungsprojekt „Überprüfung<br />

umstrittener Altfälle ‚Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg‘“.<br />

Frindte, Wolfgang, Prof. Dr.; Leiter der Abteilung Kommunikationspsychologie<br />

am Institut für Kommunikationswissenschaft und Mitglied im Direktorium des<br />

Kompetenzzentrums <strong>Rechtsextremismus</strong> der Friedrich-Schiller-Universität Jena.<br />

W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />

<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016


508 Autorenverzeichnis<br />

Förster, Mario, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kompetenzzentrum<br />

<strong>Rechtsextremismus</strong> an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Lehrbeauftragter<br />

im Arbeitsbereich Pädagogische Sozialisationsforschung am Institut für<br />

Erziehungswissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen.<br />

Gäde, Maria,Dr.; akademische Mitarbeiterin im Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft<br />

der Humboldt-Universität zu Berlin.<br />

Geschke, Daniel, Dr.; wissenschaftlicher Mitarbeiter der Servicestelle LehreLernen<br />

der Friedrich-Schiller-Universität Jena.<br />

Grumke, Thomas, Prof. Dr.; Politikwissenschaftler und Soziologe an der Fachhochschule<br />

für öffentliche Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen, Studienort<br />

Gelsenkirchen, im Fachbereich Polizeivollzugsdienst.<br />

Haußecker, Nicole, Dr.; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für<br />

Kommunikationspsychologie am Institut für Kommunikationswissenschaft der<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena.<br />

Heerdegen, Stefan, Diplom Sozialpädagoge (FH), Mitarbeiter der Mobilen Beratung<br />

in Thüringen (MOBIT).<br />

Kahane, Anetta, Journalistin; Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung.<br />

Knoppe, Franz, Dipl. Verwaltungswissenschaftler; Gründer & Koordinator der<br />

Künstlergruppe Grass Lifter<br />

Köhler, Daniel, M.A.; M.P.S.; studierte Religionswissenschaft, Politikwissenschaft<br />

und Betriebswirtschaftslehre an der Princeton University USA und der<br />

Freien Universität Berlin. Im Jahr 2014 gründete er das German Institute on Radicalization<br />

and De-radicalization Studies (GIRDS) und leitet es seitdem.<br />

Kopke, Christoph, Dr.; Dipl.-Politikwissenschaftler, Lehrbeauftragter an der<br />

Universität Potsdam und an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin,<br />

Projektmitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische<br />

Studien der Universität Potsdam im Forschungsprojekt „Überprüfung umstrittener<br />

Altfälle ‚Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg‘“.


Autorenverzeichnis<br />

509<br />

Laabs, Dirk, Journalist und Filmemacher; 2014 gemeinsam mit Stefan Aust Veröffentlichung<br />

des Buches „Heimatschutz – der Staat und die Mordserie des NSU“.<br />

Möller, Kurt, Prof. Dr.; Professor für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit,<br />

Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pege, Hochschule Esslingen.<br />

Quent, Matthias, M.A.; Doktorand am Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- und<br />

Wirtschaftssoziologie des Instituts für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität<br />

Jena.<br />

Salzborn, Samuel, Prof. Dr.; Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften<br />

am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen.<br />

Schellenberg, Britta, Dr.; Senior Researcher am Centrum für Angewandte Politikforschung<br />

und Lehrbeauftragte am Geschwister-Scholl Institut für Politikwissenschaft<br />

der Ludwig-Maximilians Universität München.<br />

Schilden, Frank, M.A.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprachund<br />

Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen.<br />

Schmidtke, Franziska, M.A.; wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin<br />

des Kompetenzzentrum <strong>Rechtsextremismus</strong> an der Friedrich-Schiller-Universität<br />

Jena.<br />

Schultz, Gebhard, Dipl.-Politikwissenschaftler; Projektmitarbeiter am Moses<br />

Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam<br />

im Forschungsprojekt „Überprüfung umstrittener Altfälle ‚Opfer rechtsextremer<br />

und rassistischer Gewalt in Brandenburg‘“.<br />

Veith, Hermann, Prof. Dr., Leiter des Arbeitsbereichs Pädagogische Sozialisationsforschung<br />

am Institut für Erziehungswissenschaft und Projektleiter im Projekt<br />

„Demokratiekompetenz und Demokratieverstehen“ der der Georg-August-<br />

Universität Göttingen.<br />

Würstl, Heike, M.A.; Soziologin und Mitarbeiterin der Stabsstelle für Extremismusprävention<br />

der Landespolizeidirektion Erfurt.

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!