Edition Rechtsextremismus
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<strong>Edition</strong> <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
Herausgegeben von<br />
F. Virchow, Düsseldorf, Deutschland<br />
A. Häusler, Düsseldorf, Deutschland
Die „<strong>Edition</strong> <strong>Rechtsextremismus</strong>“ versammelt innovative und nachhaltige Beiträge<br />
zu Erscheinungsformen der extremen Rechten als politisches, soziales und kulturelles<br />
Phänomen. Ziel der <strong>Edition</strong> ist die Konsolidierung und Weiterentwicklung<br />
sozial- und politikwissenschaftlicher Forschungsansätze, die die extreme Rechte<br />
in historischen und aktuellen Erscheinungsformen sowie deren gesellschaftlichen<br />
Kontext zum Gegenstand haben. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei transnationalen<br />
Entwicklungen in Europa.<br />
Herausgegeben von<br />
Fabian Virchow<br />
Düsseldorf, Deutschland<br />
Alexander Häusler<br />
Düsseldorf, Deutschland
Wolfgang Frindte • Daniel Geschke<br />
Nicole Haußecker • Franziska Schmidtke<br />
(Hrsg.)<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> und<br />
„Nationalsozialistischer<br />
Untergrund“<br />
Interdisziplinäre Debatten,<br />
Befunde und Bilanzen
Herausgeber<br />
Wolfgang Frindte<br />
Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />
Deutschland<br />
Daniel Geschke<br />
Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />
Deutschland<br />
Nicole Haußecker<br />
Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />
Deutschland<br />
Franziska Schmidtke<br />
Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />
Deutschland<br />
<strong>Edition</strong> <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
ISBN 978-3-658-09996-1<br />
DOI 10.1007/978-3-658-09997-8<br />
ISBN 978-3-658-09997-8 (eBook)<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograe;<br />
detaillierte bibliograsche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />
Springer VS<br />
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016<br />
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Lektorat: Jan Treibel, Stefanie Loyal<br />
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier<br />
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(www.springer.com)
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
Kapitel 1<br />
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien<br />
der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung von 1990 bis 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />
Wolfgang Frindte, Daniel Geschke, Nicole Haußecker<br />
und Franziska Schmidtke<br />
Kapitel 2<br />
Unschärfen, Befunde und Perspektiven<br />
Sonderfall Ost – Normalfall West? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />
Über die Gefahr, die Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> zu verschleiern<br />
Matthias Quent<br />
Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland . . . . . . 119<br />
Heinrich Best
6 Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen . . . . . . . . . . . . . 131<br />
Alte Probleme mit neuen Herausforderungen<br />
Kurt Möller<br />
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
aus der Sicht der Theorie eines identitätsstiftenden politischen<br />
Fundamentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149<br />
Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Kapitel 3<br />
„Nationalsozialistischer Untergrund“<br />
Nicht vom Himmel gefallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195<br />
Die Thüringer Neonaziszene und der NSU<br />
Stefan Heerdegen<br />
Uwe Böhnhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213<br />
Rekonstruktion einer kriminellen Karriere<br />
Heike Würstl<br />
Der Verfassungsschutz und der NSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225<br />
Dirk Laabs<br />
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter<br />
nach dem NSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259<br />
Thomas Grumke<br />
Fallbeispiel Grass Lifter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277<br />
Künstlerische Interventionen zum NSU im öffentlichen Raum in Sachsen<br />
Franz Knoppe und Maria Gäde
Inhaltsverzeichnis<br />
7<br />
Kapitel 4 Gesellschaftliche Reaktionen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301<br />
Herausforderungen für die ganze Gesellschaft<br />
Anetta Kahane<br />
„Lügenpresse“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309<br />
„<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Rassismus“ in den Medien<br />
Britta Schellenberg<br />
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt<br />
in Brandenburg (1990-2008). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341<br />
Zur Problematik der statistischen Erfassung politisch<br />
motivierter Kriminalität<br />
Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />
Demokratieferne Rebellionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359<br />
Pegida und die Renaissance völkischer Verschwörungsphantasien<br />
Samuel Salzborn<br />
Lachen gegen den Ungeist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367<br />
Zum Potenzial des politischen Kabaretts am Beispiel der Thematisierung<br />
des „NSU“-Diskurses<br />
Frank Schilden<br />
Kapitel 5<br />
Prävention und Intervention<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen . . . . . . . . . . . . . 389<br />
Grundlagen und Möglichkeiten der Prävention<br />
Kurt Möller<br />
Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention<br />
in den Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403<br />
Eine vergleichende Analyse der Landesstrategien<br />
Franziska Schmidtke
8 Inhaltsverzeichnis<br />
Deradikalisierung als Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425<br />
Theorie und Praxis im nationalen und internationalen Vergleich.<br />
Trends, Herausforderungen und Fortschritte<br />
Daniel Köhler<br />
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen . . . 443<br />
Die lokale politische Kultur als begünstigender Faktor<br />
für die Herausbildung von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
Reiner Becker<br />
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee . . . . . . . . . . . . . . . . 463<br />
Wolfgang Beutel, Kurt Edler, Mario Förster und Hermann Veith<br />
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481<br />
Eine Studie zu den Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt<br />
Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
Vorwort<br />
Deutschland ist ein Einwanderungsland<br />
Deutschland ist ein Einwanderungsland und laut Grundgesetz, Artikel 16a, Absatz<br />
1, auch ein Land, in dem politisch Verfolgte Asylrecht genießen. Am 21.01.2015<br />
stellte der Bundesinnenminister Thomas de Maizière den Migrationsbericht 2013<br />
mit den Worten vor: „Der Bericht macht deutlich, dass Deutschland im Hinblick<br />
auf die Zuwanderung gut aufgestellt ist“ (Quelle: bmi.bund.de). Das scheinen die<br />
Demonstrantinnen und Demonstranten, die seit Herbst 2014 auf die Straße gehen,<br />
um als „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida)<br />
zu demonstrieren, offenbar ganz anders zu sehen. Auf den Plakaten, die die<br />
Pegida-Leute (und wie sie alle heißen) mit sich führten, wurde nicht nur gegen<br />
den Islam und gegen eine verfehlte Einwanderungs- und Asylpolitik gehetzt. Die<br />
Leute sollen auf die Straße gehen, weil sie – so liest man auf der Facebook-Seite<br />
von Sügida (dem südthüringer Pegida-Ableger) – die „Schnauze voll haben,<br />
von den Lügenmärchen und den etablierten Parteien“. Auch von „Lügenpresse“,<br />
„Lügenpropaganda“ oder von deutschen Spitzenpolitikern, die ihr eigenes Volk<br />
verachten, ist auf den Facebook-Seiten der Pegida-Bewegungen die Rede. Nun<br />
werden bekanntlich Begriffe wie „Systemmedien“ oder „Lügenpresse“ gern von<br />
den rechtspopulistischen und rechtsextremen Szenen gebraucht, um die scheinbare<br />
„Gleichschaltung“ der Massenmedien im heutigen Deutschland zu kritisieren. Die<br />
Herkunft dieser Begriffe sollte auch den Pegida-Anhängern bekannt sein: In den<br />
1920er Jahren nutzten die Nationalsozialisten diese Begriffe, um die linke und die<br />
ausländische Presse zu diffamieren. Mit anderen Worten: Die patriotisch-euro-
10 Vorwort<br />
päischen Protagonisten 1 wissen, was sie sagen und tun. Es geht ihnen nur vordergründig<br />
um den Kampf gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“. Tatsächlich<br />
stellen sie die demokratische Verfasstheit dieses Landes und seinen Status<br />
als Einwanderungsland in Frage und sind insofern die eigentliche Bedrohung der<br />
Zivilisation.<br />
Auch wenn die Demonstrationsbereitschaft dieser Leute rapide abgenommen<br />
hat und sich Anfang 2015 in vielen Teilen Deutschlands ein breiter Widerstand<br />
gegen die islamfeindliche Pegida-Bewegung formierte und Tausende für mehr<br />
Weltoffenheit auf die Straße gingen, bleibt die Frage: Was wollen die „patriotischeuropäischen“<br />
Islamgegner und wer sind sie? Verweisen die Demonstrationen gar<br />
auf neue Formen des <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rechtspopulismus? Wie sehen diese<br />
neuen Formen aus und was kann man dagegen tun?<br />
Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigen sich die Beiträge des vorliegenden<br />
Sammelbandes.<br />
Die Bewegungen, die sich entweder Pegida, Nögida, Dügida, Sügida oder mit<br />
anderen recht kuriosen Namen bezeichnen, könnten eigentlich aus Sicht der Sozialwissenschaftlerinnen<br />
und -wissenschaftler als analytische Sternstunde betrachtet<br />
werden. Nun scheint sichtbar zu werden, was bisher im scheinbaren Dunkel anonymer<br />
Befragungen verschwand. Die 5-6% Antisemiten in Deutschland oder die<br />
5-7% Rechtsextreme oder die 17-22% Ausländerfeinde, wie aus einschlägigen sozialwissenschaftlichen<br />
Analysen abzuleiten war, gibt es in Deutschland schon seit<br />
Jahren. Aber so richtig wahrgenommen wurden sie selten. Denn: so genau scheint<br />
man es dennoch nicht zu wissen, wenn man sich nur auf herkömmliches sozialwissenschaftliches<br />
Instrumentarium (also auf Befragungen) verlässt. Jetzt kann man<br />
sie sehen, kann auf Facebook ihre Vorlieben oder Hobbys anschauen usw. Also:<br />
Das, was sich da auf den Pegida- oder Sügida-Demonstrationen zeigt, ist nicht neu.<br />
Parallel dazu stieg die Anzahl rassistischer Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte<br />
2014 stark an (Dernbach, 2015). Im Vergleich zum Vorjahr 2013, hat sich die<br />
Zahl der Angriffe mehr als verdreifacht; allein 67 Angriffe ereignete sich zudem<br />
im letzten Quartal 2014. Unter den insgesamt 150 registrierten Attacken waren<br />
Brand- und Sprengstoffanschläge, Angriffe auf deren Bewohner und volksverhetzende<br />
Parolen.<br />
Nun gilt es allerdings auch zu differenzieren: Unter den Pegida-„Wutbürgern“<br />
waren nicht nur Rechtsextremisten, Rechtspopulisten oder Anhänger der AfD.<br />
Auch Menschen, die sich bedroht fühlen oder Angst vor etwas haben, das sie<br />
1 Personenbezogene Bezeichnungen werden im vorliegenden Band der besseren Lesbarkeit<br />
wegen, wenn nicht anders hervorgehoben, in der männlichen Form wiedergegeben.
Vorwort<br />
11<br />
kaum aus eigener Erfahrung kennen, nahmen an den Pegida-Demonstrationen<br />
teil. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird nicht nur von „randständigen“<br />
Personengruppen geäußert, sondern ndet sich auch in der „stabilen Mitte“, wie<br />
Wilhelm Heitmeyer und Kollegen oder Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar<br />
Brähler in ihren repräsentativen Studien seit 2002 bis 2014 zeigen konnten.<br />
In welchem Verhältnis stehen nun aber die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit,<br />
der Rechtspopulismus und <strong>Rechtsextremismus</strong>? Auch um diese Frage<br />
geht es im vorliegenden Band.<br />
Theoretische Unschärfen und der <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
in der Mitte der Gesellschaft<br />
Rechtsextremistische Orientierungen setzen sich nach Heitmeyer et al. (1992) aus<br />
einer Ideologie der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der Gewaltaf nität<br />
(bis hin zu gewalttätigem Handeln) zusammen. Beide Dimensionen wurden in<br />
einschlägigen Publikationen (auf die im vorliegenden Band ausführlich eingegangen<br />
wird) durch Subdimensionen mit verschiedenen Facetten untergliedert und<br />
operationalisiert. Leserinnen und Leser werden sich erinnern, nach anfänglicher<br />
Euphorie und umfangreicher Rezeption gerieten in den 1990er Jahren sowohl die<br />
Heitmeyersche <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition als auch der von ihm und Kollegen<br />
vorgelegte Erklärungsansatz in die Kritik. Nicht zuletzt angesichts der ungelösten<br />
Denitionsprobleme wurde von einigen Forschern mit überwiegend politikwissenschaftlicher<br />
Ausrichtung Anfang der 2000er Jahre eine „Konsensde nition“<br />
vorgeschlagen. Rechtsextreme Einstellung solle in sechs Dimensionen gemessen<br />
werden: „Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur“, „Chauvinismus“, „Ausländerfeindlichkeit“,<br />
„Antisemitismus“, „Sozialdarwinismus“ und „Verharmlosung<br />
des Nationalsozialismus“. Die auf dieser Basis entwickelte Skala zur Messung<br />
von rechtsextremen Einstellungen wurde in mehreren Studien eingesetzt, zuletzt<br />
in den Mitte-Studien von Decker, Kiess und Brähler (2014), in der Studie der<br />
Friedrich-Ebert-Stiftung „Fragile Mitte – Feindselige Zustände“ (Zick & Klein,<br />
2014) und im Thüringen-Monitor 2014 (Best, Niehoff, Salheiser & Salomo, 2014).<br />
Die „Konsensdenition“ lehnt sich zwar an der o. g. <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition<br />
von Heitmeyer und Mitarbeitern an, greift aber nur eine der zwei Dimensionen –<br />
die „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ auf. Auch im Langzeit-Projekt Gruppenbezogene<br />
Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer, 2002 bis 2012) sollte von Anfang<br />
an – vergleichbar mit der o. g. „Konsensde nition“ – „nur“ eine der Dimensionen<br />
empirisch beobachtet werden, die in der ursprünglichen <strong>Rechtsextremismus</strong>-De-<br />
nition genannt sind – eben die Facetten (oder Elemente) der Ideologie der Un-
12 Vorwort<br />
gleichwertigkeit. Sowohl die Befunde der Mitte-Studien als auch und besonders<br />
die Ergebnisse aus dem Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF)<br />
haben die scheinbare Unterscheidung zwischen den brutalen Rechtsextremisten<br />
einerseits und der angeblich humanen Bevölkerung andererseits aufgelöst und auf<br />
grundsätzliche Gefährdungen der deutschen Gesellschaft aufmerksam gemacht.<br />
Die Erweiterung der wissenschaftlichen Perspektive war wichtig und notwendig,<br />
hatte aber auch zur Folge – und das ist die These der Herausgeberinnen und Herausgeber<br />
– dass die Gefährdung der Gesellschaft durch die sich in den letzten zwei<br />
Jahrzehnten neu organisierenden rechtsextremen Milieus und Bewegungen nicht<br />
primär im Fokus der wissenschaftlichen Analyse und Erklärung stand. Auf ein<br />
politisches Problem dieser Fokussierung verweist Anetta Kahane:<br />
„Das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hat den entscheidenden<br />
Vorteil, dass es deutlich macht, dass GMF nicht ausschließlich ein unter<br />
Rechtsextremisten verbreitetes Phänomen ist, sondern – die statistischen Erhebungen<br />
zeigen das – in allen gesellschaftlichen Gruppen vorkommt. Zugleich kann dies<br />
allerdings zu einer Entpolitisierung des Kampfes gegen den <strong>Rechtsextremismus</strong> führen“<br />
(Kahane, 2012, S. 307f.).<br />
Müssen die <strong>Rechtsextremismus</strong>forscherinnen und -forscher vor diesem Hintergrund<br />
möglicherweise ihre analytischen Instrumente schärfen?<br />
Der Nationalsozialistische Untergrund<br />
Im November 2011 wurde die rechtsterroristische Gruppierung Nationalsozialistischer<br />
Untergrund (NSU) aufgedeckt. Fast 14 Jahre waren Mundlos, Böhnhardt<br />
und Zschäpe untergetaucht. Zuvor waren die drei in der rechtsextremen Jenaer<br />
Jugendszene und im rechtsextremen „Thüringer Heimatschutz“ aktiv, nahmen an<br />
rechtsextremen Demonstrationen in Jena, Dresden und anderswo teil und bauten<br />
Bomben. Gefahndet wurde nach den drei Personen noch bis Anfang der 2000er<br />
Jahre. Seit dem 6. Mai 2013 ndet in München der Prozess zu den Mordtaten des<br />
Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) statt. Angeklagt sind Beate Zschäpe,<br />
die einzige Überlebende des Mordtrios, sowie vier mutmaßliche Helfer und Unterstützer<br />
des NSU. Die Anklage gegen Beate Zschäpe lautet Mittäterschaft in zehn<br />
Mordtaten, schwere Brandstiftung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.<br />
Ermordet wurden – so die Anklage – acht türkischstämmige und ein<br />
griechischer Kleinunternehmer sowie eine Polizistin. Am 7.6.2014 schreibt DER<br />
SPIEGEL, dass seit Bekanntwerden der NSU-Morde rund 700 Tötungsverbrechen
Vorwort<br />
13<br />
durch die Ermittlungsbehörden auf ein rechtsextremes Tatmotiv überprüft werden<br />
(Baumgärtner, Röbel & Winter, 2014, S. 34). DER SPIEGEL fragt in diesem Zusammenhang:<br />
„Gab es weitere Mörderbanden nach dem Muster des NSU? Oder<br />
gehen womöglich noch mehr Taten auf das Konto der Rechtsextremen Uwe Mundlos,<br />
Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe?“ (Baumgärtner, Röbel & Winter, 2014,<br />
S. 34). Nach den Recherchen des Opferfonds CURA der Amadeu Antonio Stiftung<br />
kamen seit 1990 bis 2013 184 Menschen durch die Folgen menschenfeindlicher<br />
Gewalt ums Leben (Erkol & Winter, 2013). Die nach dem November 2011 bekannt<br />
gewordenen Fahndungspannen, das Vernichten von Akten bei Polizei und<br />
Verfassungsschutz, die möglichen rechtsextremen Unterstützerinnen und Unterstützer<br />
des Terror-Trios und dessen Kontakte zum Verfassungsschutz beschäftigen<br />
noch immer Untersuchungsausschüsse auf Länder- und Bundesebene. Und so ist es<br />
nicht verwunderlich, dass die Morde des NSU, seine Vernetzung mit inländischen<br />
und ausländischen rechtsextremen Bewegungen und die Kontakte des NSU zum<br />
Verfassungsschutz schließlich und noch immer irritieren, verstören, hil os und<br />
wütend machen können.<br />
Gegenwärtig arbeiten in Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen<br />
parlamentarische Untersuchungsausschüsse zu den zahlreichen noch ungeklärten<br />
Fragen wie etwa den Umständen des Mords an der Polizistin Michèle Kiesewetter<br />
oder den auffälligen Verbindungen des hessischen Verfassungsschutzes zu dem<br />
Mord an Halit Yozgat in Kassel. Der politische Wille für die notwendige Aufklärung<br />
ist allerdings begrenzt. In Hessen konnte der Ausschuss nur gegen den<br />
Willen der schwarz-grünen Regierung eingesetzt werden, die argumentierte, der<br />
Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags hätte bereits alle Fragen geklärt.<br />
Aber ist das wirklich so?<br />
Nein, der Vorhang ist nicht geschlossen; nach wie vor sind viele Fragen offen.<br />
Das zeigen die in diesem Band versammelten Beiträge.<br />
Überblick über die Inhalte dieses Sammelbandes<br />
Ein großer Teil dieser Beiträge geht auf die 27. Jahrestagung Friedenspsychologie<br />
zurück, die Ende Juni 2014 unter dem Titel „ Nationalsozialistischer Untergrund,<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> und aktuelle Beiträge der Friedenspsychologie“ in Jena an der<br />
Friedrich-Schiller-Universität stattfand. Um die damals angestoßenen Debatten<br />
weiterzuführen und nach Antworten auf die vielen offenen Fragen zum <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />
zum Rechtspopulismus und zum NSU zu suchen, bieten die Buchbeiträge<br />
sehr vielfältige Anregungen aus theoretischen, empirischen und praktischen<br />
Perspektiven. Diese Perspektiven sind keinesfalls vollständig. Wie könnten sie
14 Vorwort<br />
das auch sein. Überdies dokumentieren die Beiträge auch die Vielfalt, die Unterschiedlichkeit<br />
und manche Widersprüchlichkeit in und zwischen den Sicht- und<br />
Handlungsweisen im Umgang mit dem <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />
Im Kapitel 1 legen die Herausgeberinnen und Herausgeber ein zusammenfassendes,<br />
quantitatives und qualitatives Review der deutschsprachigen und<br />
internationalen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung zum<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> in den Jahren 1990 bis 2013 vor. Aufbauend auf wissenschaftstheoretischen<br />
Grundlagen werden wissenschaftliche Publikationen zum<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> in ihrem Umfang und ihren theoretischen und empirischen<br />
Inhalten gesichtet und jeweils zentrale Forschungsfragen, De nitionsansätze, erklärende<br />
Theoriegebäude und Untersuchungsdesigns beispielhaft dargestellt und<br />
Dezite aufgezeigt.<br />
Das Kapitel 2 behandelt „Unschärfen, Befunde und Perspektiven“ der gegenwärtigen<br />
und künftigen <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung. Im ersten Beitrag dieses<br />
Kapitels zeigt Matthias Quent quellenreich auf, dass der <strong>Rechtsextremismus</strong> im<br />
Osten Deutschlands eine Geschichte hat, die bereits vor 1989 begann, aber weder<br />
ein originär ost- noch ein einzig westdeutsches Phänomen darstellt. Monokausale<br />
Erklärungsansätze, in denen von einem „Sonderfall Ost“ und einem „Normalfall<br />
West“ die Rede ist, sind zwar populär, aber unzureichend.<br />
Kurt Möller beschäftigt sich in seinem Beitrag „ <strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende<br />
Ablehnungen – alte Probleme mit neuen Herausforderungen“<br />
zunächst mit dem schon erwähnten Problem der begrif ichen Unschärfen, um<br />
anschließend die wichtigsten Befunde der letzten Jahre über das Ausmaß rechtsextremer<br />
Tendenzen in Deutschland und deren Entwicklungen zu analysieren.<br />
Letztlich – so Kurt Möller – ist der <strong>Rechtsextremismus</strong> ein strukturelles und kein<br />
konjunkturelles Problem.<br />
Heinrich Best nimmt die Befunde des Thüringen-Monitors, eine seit 2000 jährlich<br />
stattndende repräsentative Bevölkerungsbefragung zur politischen Kultur im<br />
Freistaat Thüringen, zum Anlass, um die bereits im Beitrag von Matthias Quent<br />
aufgeworfene Frage zu beantworten, ob es sich beim <strong>Rechtsextremismus</strong> im innerdeutschen<br />
Vergleich um ein spezisch ostdeutsches Phänomen handelt. Die Befunde,<br />
die der wissenschaftliche Leiter des Thüringen-Monitors präsentiert, scheinen<br />
einer solchen Antwort zumindest nicht zu widersprechen.<br />
Im vierten und letzten Beitrag dieses zweiten Kapitels präsentieren Wolfgang<br />
Frindte und Daniel Geschke eine neue sozialpsychologische Theorie – die „Theorie<br />
eines identitätsstiftenden politischen Fundamentalismus“ -, mit der eine erweiterte<br />
theoretische, empirische und potentiell auch praktische Perspektive auf<br />
rechtsextreme Tendenzen verbunden ist. <strong>Rechtsextremismus</strong> wird zunächst als<br />
Triple-Phänomen (Dreikomponenten-Ansatz) konzipiert: als fundamentalistische
Vorwort<br />
15<br />
Ideologie (der Ungleichwertigkeit), durch die Gewaltpotentiale (Gewaltakzeptanz,<br />
-bereitschaft und -handeln) und negative Gruppenemotionen legitimiert werden<br />
können. Die soziale Identität als Identi kation mit relevanten (rechtsextremen)<br />
Bezugsgruppen fungiert dabei als Mediator zwischen diversen Kontextbedingungen<br />
und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit, den Gewaltpotentialen<br />
und den Gruppenemotionen. Um diese Mediatorfunktion empirisch<br />
nachzuweisen, greifen die Autoren schließlich auf Sekundäranalysen eigener Studien<br />
zurück, die im Zeitraum von 1998 bis 2011 durchgeführt wurden.<br />
Kapitel 3 widmet sich dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ und vor allem<br />
auch seinem gesellschaftlichen, historischen und institutionellen Kontext aus verschiedenen<br />
Perspektiven: historisch, entwicklungssoziologisch, journalistisch-kriminalistisch,<br />
politikwissenschaftlich, sozialkonstruktivistisch und künstlerisch.<br />
Zunächst analysiert Stefan Heerdegen als Mitarbeiter der Mobilen Beratung in<br />
Thüringen „MOBIT“, einer Beratungsstelle zum praktischen Umgang mit extrem<br />
rechten Erscheinungsformen, in seinem Text den Kontext der Entstehung und der<br />
späteren Taten des NSU. Er beschreibt die Thüringer neonazistische, extrem rechte<br />
und Kameradschaftsszene der 1990er Jahre und führt auch für die nachfolgenden<br />
Jahre die personelle und strukturelle Einbindung des NSU-Trios in neonazistische<br />
Netzwerke wie den „Thüringer Heimatschutz“ oder „Blood & Honour“ detailliert<br />
aus. Sein Beitrag verweist auf die Kontinuität in rechter Ideologie, Organisierung<br />
und Gewalt bis zur Mordserie des NSU und sieht in letzterer keine wirklich überraschende<br />
oder neue Qualität.<br />
Im zweiten Text dieses Kapitels fokussiert Heike Würstl aus einer biogra eforschenden,<br />
entwicklungssoziologischen Perspektive auf den individuellen Werdegang<br />
eines Kernmitglieds des NSU. Im Rahmen dieser lebenslauforientierten<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung versucht sie anhand objektiver Lebensdaten von<br />
Uwe Böhnhardt zu erklären, welche individuellen, familiären, historischen und<br />
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seinen Weg zum rechtsextremen Mörder<br />
erklären können. Sie konstatiert im theoretischen Rahmen eines Desintegrationsansatzes<br />
(Anhut & Heitmeyer, 2007) Böhnhardts individuelle Unfähigkeit, seine<br />
vielfältigen Anerkennungsdezite zu kompensieren. Die rechtsextreme Ideologie<br />
und die vermeintliche Verantwortung der Nichtdeutschstämmigen für sein Scheitern<br />
ermöglichten es ihm demnach, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten und<br />
die Gewaltexzesse des NSU vor sich selbst zu rechtfertigen.<br />
Im dritten Abschnitt „ Der Verfassungsschutz und der NSU“ beschäftigt sich<br />
der Journalist Dirk Laabs mit dem Umgang staatlicher Behörden mit rechtsterroristischen<br />
Bedrohungen. Akribisch recherchiert (vgl. auch Aust & Laabs, 2014)<br />
dokumentiert er – u. a. mittels zahlreicher Zitate aus den Untersuchungsberichten<br />
verschiedener NSU-Ausschüsse und durch historische Referenzen –, dass das
16 Vorwort<br />
Bundesamt und auch die Landesämter für Verfassungsschutz keinesfalls „auf dem<br />
rechten Augen blind“ waren. Im Gegenteil: auf Grund zahlreicher V-Männer und<br />
Spitzel waren sie bestens informiert und rechter Terror wurde bereits vor und in<br />
den 90er Jahren antizipiert und für möglich gehalten. Er beschreibt auch die Konkurrenz<br />
zwischen verschiedenen Behörden (wie den Bundes- und Landeskriminalämtern<br />
und den Verfassungsschutzbehörden), welche sich bis hin zur Sabotage<br />
polizeilicher Arbeit bei der Verfolgung der Rechtsterroristen auswuchs; und auch<br />
das Versagen der Thüringer Justiz. Für die Verfassungsschützer ging dabei (und<br />
geht teilweise bis heute) „Quellenschutz vor Strafverfolgung“, wodurch nicht nur<br />
die neonazistische Szene deutschlandweit gestärkt, sondern auch die Festsetzung<br />
der Rechtsterroristen des NSU mehrfach verhindert wurde. Ohne die Unterstützung<br />
rechtsextremer Strukturen durch die Verfassungsschutzbehörden und die<br />
gezielte Ignoranz zahlreicher Hinweise auf den NSU hätte die militante Neonaziszene<br />
viel früher kontrolliert oder zerschlagen und die Morde des NSU vielleicht<br />
sogar verhindert werden können. Nicht zuletzt beschreibt Laabs auch für die Zeit<br />
nach dem Aufiegen des NSU die systematische Aktenvernichtung und damit kriminelle<br />
Verschleierung der staatlichen Verwicklung in rechtsextreme Strukturen,<br />
welche bisher kaum personelle Konsequenzen hatte. Sein Beitrag verweist auf viele<br />
offene Fragen zur Verbindung von staatlichen Behörden und Rechtsextremen.<br />
Die Opfer des NSU, ihre Angehörigen und auch die Gesellschaft insgesamt haben<br />
ein Recht auf die Aufklärung dieser Fragen, wobei zum Erhellen der Wahrheit ein<br />
langer Atem gefragt ist.<br />
Im vierten Text dieses Kapitels analysiert Thomas Grumke aus einer politikwissenschaftlichen<br />
Perspektive „Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter<br />
nach dem NSU“. Er beschreibt sehr detailliert die Strukturen und das Personal dieser<br />
Ämter und führt aus, wie sich ihr Image im Laufe der NSU-Affäre von einem<br />
„Frühwarnsystem der Demokratie“ bis hin zu einer „Gefahr für die Demokratie“<br />
entwickelt hat. Die Verantwortlichen entziehen sich der Verantwortung und deren<br />
Inkompetenz ist nicht nur individuell, sondern auch strukturell bedingt, z. B. gibt es<br />
keine einheitlichen Personalauswahl-, Ausbildungs- und Fortbildungsstandards und<br />
einen eklatanten Mangel an sozialwissenschaftlicher Analysekompetenz innerhalb<br />
der für den <strong>Rechtsextremismus</strong> zuständigen Ämter. Eine penible Untersuchung von<br />
analytischen Fehlern und fachlichen und praktischen Versäumnissen staatlichen<br />
Handelns hält er für dringend geboten, hier sieht er die verschiedenen Untersuchungsausschüsse<br />
in der Picht. Er mahnt, dass, wenn man die Verfassungsschutzbehörden<br />
für ein zentrales Element der wehrhaften Demokratie hält, man diese<br />
demnach auch in einen entsprechenden personellen und materiellen Stand versetzen<br />
müsse. Ernüchternd konstatiert er aber, dass deren strukturelle Neuausrichtung<br />
oder Neujustierung bisher überhaupt nicht in Sicht ist. Da <strong>Rechtsextremismus</strong> ein
Vorwort<br />
17<br />
gesamtgesellschaftliches Problem ist, sieht er auch alle in der P icht, damit erfolgreich<br />
umzugehen: „Aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger sind das Fundament einer<br />
demokratischen Kultur und so der beste Verfassungsschutz“.<br />
Im fünften und letzten Abschnitt des dritten Kapitels beschreiben Franz Knoppe<br />
und Maria Gäde als Kunstaktivisten und Mitglieder der Gruppe „Grass Lifter“<br />
(also die, die das Gras ausgraben) ihre „Künstlerische(n) Interventionen zum NSU<br />
im öffentlichen Raum in Sachsen“. Auf einer system- und kommunikationstheoretischen<br />
Perspektive aufbauend fragten sie sich zunächst, wie die sächsische Bevölkerung<br />
und lokale Behörden nach der Aufdeckung des NSU damit umgingen, dass<br />
die Rechtsterroristen jahrelang unter ihnen gelebt hatten und identi zierten hier<br />
sehr starke Verdrängungsmechanismen. Um diese zu durchbrechen, zur Reexion<br />
anzuregen und Diskurse auszulösen führten sie – inspiriert u. a. von den großartigen<br />
„THE YES MEN“ um Andy Bichlbaum (vgl. http://theyesmen.org) – vier<br />
verschiedene, sehr symbolkräftige und medienwirksame künstlerische Interventionen<br />
im öffentlichen Raum durch. Im Text beschreiben sie diese Kunstaktionen,<br />
unterlegt mit aussagekräftigen Bildern, sowie deren Logik und Grundprinzipien,<br />
ihre künstlerischen Motivationen, Ansätze, Taktiken, Prinzipien, Theorien und<br />
gruppendynamischen Prozesse, sowie die gesellschaftlichen Reaktionen darauf.<br />
Mit einem Schmunzeln nimmt man als Leser oder Leserin erfreut zur Kenntnis,<br />
wie es ihnen durch diese relativ unaufwändigen künstlerischen Aktionen gelungen<br />
ist, das vor Ort herrschende politische Meinungsvakuum mit künstlerischen Mitteln<br />
zu füllen und somit einen Beitrag zum Umkonstruieren unserer immer sozial<br />
konstruierten Realität zu leisten.<br />
In Kapitel 4 werden gesellschaftliche Reaktionen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> aus<br />
verschiedenen Perspektiven vorgestellt. Hier kommen Praktikerinnen und Praktiker<br />
zu Wort, die Medienberichterstattung und Reaktionen von Politikerinnen und<br />
Politikern auf diese werden analysiert und das Potenzial des politischen Kabaretts<br />
diskutiert. Dabei werden aktuelle Bezüge hergestellt, z. B. was Satire ist und darf –<br />
im Hinblick auf die Mohammed-Karikaturen – und welche Protestmotivation hinter<br />
der Teilnahme an Pegida-Demonstrationen steckt. Die Problematik der statistischen<br />
Erfassung politisch motivierter Kriminalität wird anhand ofzieller Zahlen<br />
und erweiternder Fallanalysen von Todesopfern rechtsextremer Gewalt diskutiert.<br />
Annetta Kahane eröffnet das vierte Kapitel als Praktikerin, schildert verschiedenste<br />
Szenen aus dem Osten und dem Westen Deutschlands und versucht damit<br />
ein Bild zu zeichnen, was <strong>Rechtsextremismus</strong> heute ist und wie er entstand. Die<br />
Gefahr sieht sie vor allem in der Synthese von nationalrevolutionären militanten<br />
und populistisch rassistischen Bewegungen, die in Deutschland probiert wird.<br />
Deshalb sollte die erste Praxis die des Schutzes von Minderheiten sein sowie die<br />
Zusammenarbeit von allen gesellschaftlichen Bereichen.
18 Vorwort<br />
Britta Schellenberg analysiert in ihrem Artikel die mediale Thematisierung<br />
von <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rassismus sowie die Debattenbeiträge von Akteuren,<br />
die an der Medienberichterstattung Kritik üben und setzt diese in Beziehung zu<br />
ihren jeweiligen Normvorstellungen und Problemwahrnehmungen. Dafür betrachtet<br />
sie den konkreten Fall „Mügeln“ und die öffentliche Debatte darüber. Ziel der<br />
empirischen Analyse ist es, problematische Strukturen jenseits des Neonazismus<br />
aufzuzeigen, die grundlegende Herausforderungen für eine demokratische Auseinandersetzung<br />
und die Strategieentwicklung im Bereich „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
und „Rassismus“ markieren.<br />
Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz widmen sich im<br />
darauffolgenden Beitrag der Frage des tatsächlichen Ausmaßes rechter Gewalt,<br />
speziell anhand der Zahl der Todesopfer. Dafür stellen sie Auszüge aus ihrem Forschungsprojekt<br />
vor und erläutern anhand einiger Beispiele, welche Fälle nicht statistisch<br />
in dem Bereich „Politisch motivierter Kriminalität – rechts“ erfasst werden<br />
aber anhand verschiedener Gutachten eindeutig als solche zu kategorisieren sind.<br />
Letztlich kommen sie zu dem Schluss, dass das staatliche Denitionssystem „Politisch<br />
motivierte Kriminalität“ (PMK) gegenüber älteren an „Staatsschutz“ und<br />
„Extremismus“ orientierten Denitionsansätzen politischer Gewalt bzw. Kriminalität<br />
und den entsprechenden polizeilichen Erfassungssystemen unzweifelhaft eine<br />
deutliche Verbesserung darstellt, aber das Erkennen entsprechender Motivlagen<br />
weiterhin erhebliche Anforderungen an die Analysekompetenz der Polizei stellt.<br />
Samuel Salzborn geht der hochaktuellen Frage nach, welche Protestmotivation<br />
hinter der Teilnahme an Pegida-Demonstrationen zu identi zieren ist – nämlich<br />
Egoismus und Demokratieferne – und diskutiert in diesem Kontext die jüngsten<br />
empirischen Ergebnisse. Danach geht er auf das Weltbild der Verschwörungsängste<br />
und auf Strategien des Umgangs damit ein und postuliert, nicht den Forderungen<br />
der Demonstrantinnen und Demonstranten nachzugeben, sondern ihnen mit aller<br />
Entschiedenheit entgegenzutreten. Abschließend kommt er zu dem Fazit, dass der<br />
rassistische Ruf gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“ in Wahrheit der Ruf<br />
nach einer antidemokratischen und autoritären Lösung eines Problems ist, das nur<br />
in den Ängsten und Phantasien seiner Anhänger besteht.<br />
Das vierte Kapitel wird dann mit dem Beitrag von Frank Schilden abgeschlossen,<br />
der zum Ziel hat, den Mythos der alles dürfenden Satire mindestens zu relativieren,<br />
zu erklären und in den entsprechenden Kontext zu rücken, um dann auf das<br />
Politische Kabarett näher einzugehen. Aus linguistischer Perspektive wird eine<br />
besondere Spielart kabarettistischer Vorträge am Beispiel der Thematisierung des<br />
„NSU“ aufgezeigt. Eine Reexion über das aufklärerische und didaktische Potenzial<br />
von Kabarett schließt den Beitrag ab.
Vorwort<br />
19<br />
Das Kapitel 5 stellt Analysen und Überlegungen zu Prävention und Intervention<br />
im Kontext von <strong>Rechtsextremismus</strong> vor. Dabei verschmelzen theoretische Überlegungen<br />
zur Angemessenheit von Prävention mit der Analyse konkreter Präventionsmodelle.<br />
Kurt Möller eröffnet das fünfte Kapitel und verbindet seine im Kapitel 2 dargelegten<br />
Überlegungen nun mit Empfehlungen für eine praktische Ausgestaltung,<br />
wie sie etwa im neu aufgelegten Bundesprogramm „Demokratie leben!“ angestrebt<br />
sind. Dafür zeichnet er Grundzüge des biograschen Aufbaus rechtsextremer Haltungen<br />
nach, um vor diesem Hintergrund Schlussfolgerungen für eine nachhaltig<br />
wirksame Bearbeitung zu formulieren.<br />
Daran anschließend stellt Franziska Schmidtke Vergleichsaspekte der von den<br />
Bundesländern formulierten Programme zur Auseinandersetzung mit <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und Demokratieförderung vor. Sie erläutert die inhaltliche Bandbreite<br />
der verschiedenen Programme und überprüft kritisch die Verknüpfung von inhaltlichen<br />
Zielen und strukturellen Umsetzungen, sowie die Wirkfähigkeit der Programme.<br />
Daniel Köhler greift aus der Vielfalt von Präventionsmaßnahmen die Ansätze<br />
der „Deradikalisierung“ heraus. Er erklärt die theoretischen Hintergründe der<br />
Methode und analysiert vor dem Hintergrund internationaler Vergleichsfälle die<br />
praktische Umsetzung in Deradikalisierungsprogrammen. Diese ordnet er schematisch<br />
und formuliert so Trends und Herausforderungen, die insbesondere der<br />
Weiterentwicklung und wissenschaftlichen Fundierung der deutschen Projektlandschaft<br />
dienen können.<br />
Reiner Becker formuliert in seinem Beitrag ein Plädoyer für die Einbeziehung<br />
der politischen Kultur im sozialen Nahraum bei der Erforschung der Ursachen<br />
für die Herausbildung einer rechtsextremen Szene. Er erläutert kenntnisreich Ebenen<br />
und Wirkungsweisen der politischen Kultur für die Entwicklung rechtsextremer<br />
Haltungen und leitet daraus Anforderungen für Maßnahmen der Prävention<br />
und Intervention ab. Schließlich untermauert er seine Argumentation durch einen<br />
Praxisbericht aus Hessen und zeigt anhand dessen die Bedeutung tradierter Vorurteilsstrukturen<br />
auf.<br />
Auch Wolfgang Beutel, Kurt Edler, Mario Förster und Hermann Veith verbinden<br />
ihre Fürsprache, hier für den Ansatz der Demokratiepädagogik als präventionswirksame<br />
Idee, mit konkreten Projektbeispielen. Sie entfalten die theoretischen<br />
Grundlagen der Demokratiepädagogik vor dem Hintergrund einer<br />
Dezitanalyse der Institution Schule und zeigen anhand von Praxisprojekten die<br />
vielfältige Einsetzbarkeit des Konzepts in verschiedenen Schulformen auf. Dieser<br />
Blick wird zudem ergänzt und erweitert durch eine Initiative des Kompetenzzentrums<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in der alle
20 Vorwort<br />
Bildungsbereiche aufgenommen sind und damit der Wirkungsbereich von Demokratiepädagogik<br />
weiter ausgebaut wird.<br />
Daniel Geschke und Matthias Quent wenden sich schließlich der bisher wissenschaftlich<br />
unterbelichteten Opferperspektive zu und präsentieren eine quantitative<br />
Untersuchung zur sekundären Viktimisierung von Opfern rechter Gewalt. Sie<br />
zeigen systematische Schwachpunkte im Umgang der Polizei mit den Betroffenen<br />
rechter Gewalt auf und tragen damit nicht nur zu einem wissenschaftlichen, sondern<br />
auch gesellschaftlich dringend notwendigen Diskurs bei.<br />
Schlussendlich wollen wir, die Herausgeberinnen und Herausgeber, uns bei all<br />
jenen bedanken, die am Zustandekommen des nun vorliegenden Band beteiligt<br />
waren. Unser Dank gilt natürlich zu allererst den Autorinnen und Autoren der folgenden<br />
Beiträge. Außerdem danken wir Lukas Erhard, Marius Meyer und Stephanie<br />
Wohlt für die gründliche und schnelle Hilfe bei der manchmal nicht leichten<br />
Korrekturarbeit am Manuskript.<br />
Bei der Stiftung für Technologie, Innovation und Forschung des Freistaates<br />
Thüringen bedanken wir uns für die nanzielle Unterstützung bei der Publikation<br />
des vorliegenden Buches.<br />
Das Buch erscheint als Band in der Reihe „<strong>Edition</strong> <strong>Rechtsextremismus</strong>“, die<br />
von Fabian Virchow und Alexander Häusler betreut und herausgeben wird. Ihnen<br />
danken wir für die Bereitschaft, auch unser Buch in dieser Reihe herauszubringen.<br />
Mit Springer VS und dem Verlag für Sozialwissenschaften verbindet uns eine<br />
lange und gute Zusammenarbeit. Auch diesmal hat sich der Bund bewährt. Unser<br />
besonderer Dank gilt deshalb Herrn Jan Treibel und Frau Stefanie Loyal für die<br />
Hilfe beim Fertigstellen des Endmanuskripts.<br />
Wir hoffen, dass sich die Leserinnen und Leser dieses Buches sowohl von der<br />
Pluralität der folgenden Beiträge als auch von den Differenzen zwischen den einzelnen<br />
Beiträgen anregen lassen, um im Sinne der gelebten Demokratie die theoretische<br />
und praktische Auseinandersetzung mit dem <strong>Rechtsextremismus</strong> und dem<br />
Rechtspopulismus fortzusetzen.<br />
Wolfgang Frindte, Daniel Geschke,<br />
Nicole Haußecker & Franziska Schmidtke<br />
Jena, im März 2015
Vorwort<br />
21<br />
Literatur<br />
Anhut, R. & Heitmeyer, W. (2007). Desintegrationstheorie – ein Erklärungsansatz. Universität<br />
Bielefeld: BI.research, 30, 55-58.<br />
Aust, S. & Laabs, D. (2014). Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU. München:<br />
Pantheon.<br />
Baumgärtner, M., Röbel, S., Winter, St. ( 2014, 7. Juni) Fundstück im Pappkarton. Der<br />
SPIEGEL, S. 34.<br />
Best, Niehoff, S., Salheiser, A. & Salomo, K. (2014). Die Thüringer als Europäer –<br />
Ergebnisse des THÜRINGEN-MONITORs 2014. Friedrich-Schiller-Universität Jena: Institut<br />
für Soziologie.<br />
Bundesministerium des Inneren, (2015). „Deutschland ist im Hinblick auf Zuwanderung<br />
gut aufgestellt“. Zugriff am 3.3.2015. www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/<br />
DE/2015/01/vorstellung-migrationsbericht-2013.html?nn=3315820<br />
Decker, O., Kiess, J., Brähler, E. (2014). Die stabilisierte Mitte – Rechtsextreme Einstellung<br />
in Deutschland 2014. Universität Leipzig: Kompetenzzentrum für <strong>Rechtsextremismus</strong>und<br />
Demokratieforschung der Universität Leipzig.<br />
Dernbach, A. (2015, 10. Februar). Dreimal mehr Angriffe auf Asylbewerberheime. Der Tagesspiegel.<br />
Zugriff am 16.3.2015 www.tagesspiegel.de.<br />
Heitmeyer, W. (2002 bis 2012). Deutsche Zustände Folge 1 bis 10. Frankfurt am Main bzw.<br />
Berlin: Suhrkamp.<br />
Heitmeyer, W., Buhse, H., Liebe-Freund, J., Möller, K., Müller, J., Ritz, H., Siller, G. & Vossen,<br />
J. (1992). Die Bielefelder <strong>Rechtsextremismus</strong>-Studie. Erste Langzeituntersuchung<br />
zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher. Weinheim und München: Juventa.<br />
Kahane, A. (2012). Das Konzept Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Praxis.<br />
Segen und Fluch der Komplexität. In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände 10. Berlin:<br />
Suhrkamp.<br />
Erkol, A., Winter, N. (2013). 184 Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt seit<br />
1990. Zugriff am 15.6.2014 www.mut-gegen-rechte-gewalt.de<br />
Zick, A. & Klein, A. (2014). Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen<br />
in Deutschland 2014. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.
Kapitel 1
Ein systematisierender Überblick<br />
über Entwicklungslinien<br />
der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />
von 1990 bis 2013<br />
Wolfgang Frindte, Daniel Geschke, Nicole Haußecker<br />
und Franziska Schmidtke<br />
1 Ausgangssituation<br />
Ist der <strong>Rechtsextremismus</strong> ein „Phänomen“ (Zick, 2004, S. 263), das der psychologischen<br />
und sozialwissenschaftlichen Beobachtung zugänglich ist, aber aus<br />
unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven erklärt werden kann? Ist der<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> gar ein „Forschungsfeld“ (Neidhardt, 2002, S. 781), das zwar<br />
theoretisch und methodisch schwach ausdifferenziert ist, aber disziplinübergreifend<br />
beforscht wird? Oder ist der Rechtextremismus ein „Modethema“ (Butterwegge,<br />
2000, S. 13), dessen Erforschung Konjunktur- und Dramatisierungszyklen<br />
folgt?<br />
Die Antworten auf diese Fragen bestimmen letztlich auch, ob die „<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung“<br />
einen eigenständigen Status als Forschungsfeld oder Forschungsprogramm<br />
in den Sozialwissenschaften 1 und der Psychologie besitzt oder<br />
besitzen sollte. Um Antworten auf diese und andere Fragen zu nden, wurden<br />
sozialwissenschaftliche und psychologische Publikationen, die im Zeitraum von<br />
1990 bis 2013 zum Thema „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ erschienen sind, analysiert. Basis<br />
der Analyse sind a) die Datenbanken zur psychologischen Fachliteratur PsycINFO<br />
(mit dem Schwerpunkt auf angloamerikanischen Publikationen) und PSYNDEX<br />
1 Zu den Sozialwissenschaften werden hier all jene Wissenschaften zugerechnet, die<br />
sich im weitesten Sinne mit der Erforschung des gesellschaftlichen Zusammenlebens<br />
beschäftigen, wie Soziologie, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaft, Kommunikationswissenschaft,<br />
Pädagogik.<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
26 Wolfgang Frindte et al.<br />
(deutsch- und anderssprachige Publikationen aus dem deutschsprachigen Raum),<br />
b) die Datenbank WISO (das Portal für Wirtschaftswissenschaften und Sozialwissenschaften,<br />
in dem überwiegend deutschsprachige Publikationen erfasst werden)<br />
und c) die (englischsprachige) interdisziplinäre Datenbank Web of Science. Ausgeklammert<br />
aus den folgenden Analysen wurden zunächst (aus arbeitsorganisatorischen<br />
Gründen) all jene Arbeiten, die sich ausschließlich mit Interventions- und<br />
Präventionsprogrammen im Kampf gegen den <strong>Rechtsextremismus</strong> beschäftigen. 2<br />
Einen Überblick über den aktuellen Stand entsprechender Programme ndet sich<br />
im Kapitel 4 dieses Bandes.<br />
Ausgangspunkt für die folgende Analyse ist die – im weitesten Sinne an Lakatos<br />
(1971, 1974), Herrmann (1983, S. 252) und Kuhn (1976) angelehnte – Auffassung,<br />
dass Forschungsprogramme jene Menge von Folgerungen umfassen, a)<br />
die sich aus der Festlegung sinnvoll zu bearbeitender Probleme ergeben, b) mit der<br />
Wahl bestimmter Problemlösungen und c) geeigneter Methoden verbunden sind<br />
und d) innerhalb von Wissenschaftsgemeinschaften getroffen werden.<br />
2 Publikationen in den deutschsprachigen<br />
Datenbanken WISO und PSYNDEX<br />
Zwischen Anfang 1990 und Ende 2013 verweist die sozialwissenschaftliche Datenbank<br />
WISO insgesamt auf ca. 4800 wissenschaftliche Publikationen (in Fachzeitschriften<br />
und Büchern; Suche am 18.02.2014) zum Suchbegriff „rechtsextrem“; in<br />
der psychologischen Datenbank PSYNDEX werden für diesen Zeitraum (Suchbefehl<br />
„rechtsextrem“, 18.02.2014) 460 themenbezogene Publikationen ausgewiesen<br />
(siehe Abbildung 1).<br />
2 Interventions- und Präventionsprogramme lassen sich – nach Herrmann (1983, S. 274)<br />
auch als „technologische Programme“ bezeichnen, mit denen primär ein für die nichtforschende<br />
Praxis unmittelbar nutzbares operatives (Hintergrund-) Wissen erarbeitet<br />
wird. Insofern scheint die folgende Ausklammerung derartiger Programme zunächst<br />
durchaus gerechtfertigt zu sein. Psychologische Ansätze zu Präventions- und Interventionsansätzen<br />
gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> finden sich u. a. in Ahlheim (2007), Becker<br />
und Palloks (2013), Borstel und Wagner (2006), Elverich (2011), Frindte und Preiser<br />
(2007), Glaser und Pfeiffer (2013), Melzer und Serfain (2013), Molthagen u. a. (2008),<br />
Rieker (2009), Schoeps u. a. (2007).
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
27<br />
Abbildung 1 Psychologisch und sozialwissenschaftlich relevante Publikationen zum<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> in den Jahren 1990 bis 2013.<br />
Während in den Sozialwissenschaften insgesamt eine relativ stabile und hohe Publikationsrate<br />
zum <strong>Rechtsextremismus</strong> zu beobachten ist, liegt diese Rate in der<br />
Psychologie – erwartungsgemäß, disziplintypisch und verständlicherweise – auf<br />
niedrigerem Niveau und scheint überdies in den 2000er Jahren leicht rückläu g<br />
zu sein. Auffallend sind außerdem die relativ hohen Publikationsspitzen – sowohl<br />
bei PSYNDEX als auch bei WISO – in den Jahren 1993 und 1994. Weitere Spitzen<br />
zeigen sich bei WISO auch zu Beginn, in der Mitte und am Ende der 2000er Jahre.<br />
Die folgende Abbildung 2 illustriert die im Zeitraum 1990 bis 2012 vom Verfassungsschutz<br />
erfassten und berichteten rechtsextremistisch motivierten Straf- und<br />
Gewalttaten (nach Verfassungsschutzbericht, 1990 – 2012).
28<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
Abbildung 2 Rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten 1991 bis 2012 (Quelle: Verfassungsschutz).<br />
In den Jahren 1992 und 1993 verzeichnet der Verfassungsschutz einen bedeutsamen<br />
Anstieg an rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten. Rückblickend<br />
verweist Andreas Klärner (2008, S. 26ff.) u. a. darauf hin, dass der parteiförmige<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> in den 1990er Jahren erheblich an Relevanz eingebüßt habe.<br />
An Stelle dessen gewannen vor allem jugendkulturelle rechtsextreme Tendenzen<br />
an Bedeutung.<br />
„Von Ostdeutschland aus breitete sich eine Welle fremdenfeindlicher Gewalt über<br />
ganz Deutschland aus, und die Täter stammten in erster Linie aus diesen neuen Jugendkulturen“<br />
(Klärner, 2008, S. 27).<br />
Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die z. T. pogromähnlichen Ausschreitungen<br />
gegen Unterkünfte von Flüchtlingen und Vertragsarbeitern im September<br />
1991 in Hoyerswerda, im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen (vgl. z. B. Richter<br />
& Schmidtbauer, 1993), sowie gegen Wohnhäuser türkischstämmiger Deutscher<br />
im Oktober 1991 in Hünxe, im November 1992 in Mölln und im Mai 1993 in So-
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
29<br />
lingen. Die in der o. g. Abbildung 1 erkennbaren Publikationsspitzen in den Jahren<br />
1993 und 1994 könnten somit u. U. eine wissenschaftliche Reaktion auf die 1992<br />
und 1993 erfolgte Eskalation des gewalttätigen <strong>Rechtsextremismus</strong> sein.<br />
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre öffnete sich die NPD für Angehörige<br />
der verbotenen Neonazi-Organisationen und für Anhänger rechtsextremer Skinheadgruppen.<br />
Auch Anhänger der Neuen Rechten propagierten in dieser Zeit<br />
rechtspopulistische Losungen. Insgesamt – so Klärner (2008, S. 29) – gewann der<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> in den 1990er Jahren an Breite und Vielfalt. Nicht nur die<br />
demokratische Öffentlichkeit reagierte auf diese Entwicklungen (z. B. durch Massendemonstrationen<br />
und „Lichterketten“ im Übergang von 1992 zu 1993, vgl. auch<br />
Kleger, 1996). Auch für die Sozialwissenschaften und die Psychologie wurde der<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> zunehmend zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen.<br />
Auch wenn ein Vergleich zwischen den Zeiträumen 1990 bis 2000 und 2001 bis<br />
2012 nur bedingt möglich ist, da der Verfassungsschutz im Jahre 2001 ein neues<br />
Verfahren zur Zählung entsprechender Straftaten einführte 3 , lassen sich die in der<br />
Abbildung 2 erkennbaren Schwankungen nach 2000 relativ gut erklären: Nachdem<br />
es im Jahre 2000 zu einer Folge aufsehenerregender Gewalttaten gekommen war<br />
(Ermordung von Alberto Adriano im Juni 2000, Handgranatenattentat in Düsseldorf<br />
im Juli 2000, Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge im Oktober<br />
2000), die deutsche Zivilgesellschaft sich gegen den <strong>Rechtsextremismus</strong> zur Wehr<br />
zu setzen versuchte und Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung einen Antrag<br />
zum Verbot der NPD beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hatten, verringerte<br />
sich in den Jahren 2001 bis 2003 die Anzahl der registrierten rechtsextremen<br />
Straf- und Gewalttaten. Im März 2003 scheiterte das NPD-Verbotsverfahren; 2004<br />
gelang der NPD der Einzug in den sächsischen Landtag. Und seit 2004 registriert<br />
der Verfassungsschutz wieder ein rasantes Ansteigen rechtsextremistischer Strafund<br />
Gewalttaten.<br />
3 „Die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder<br />
(IMK) hat am 10. Mai 2001 die Einführung des neuen Definitionssystems „Politisch<br />
motivierte Kriminalität“ rückwirkend zum 1. Januar 2001 beschlossen (vgl. auch<br />
den Beitrag von Feldmann, Kopke und Schultz in diesem Band). Zentrales Erfassungskriterium<br />
des neuen Meldesystems ist die politisch motivierte Tat. Als politisch motiviert<br />
gilt eine Tat insbesondere dann, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung<br />
des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer<br />
politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion,<br />
Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren<br />
Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet“ (Verfassungsschutzbericht,<br />
2001, S. 35).
30<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
Die unterschiedlichen Entwicklungen der wissenschaftlichen Publikationen<br />
zum Thema „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und die Entwicklung der rechtsextremistischen<br />
Straf- und Gewalttaten in den Zeiträumen von 1990 bis 2000 und von 2001 bis<br />
2013 legen es nahe, das Forschungsfeld des <strong>Rechtsextremismus</strong> im deutschsprachigen<br />
Raum für die Zeiträume 1990 bis 2000 und 2001 bis 2013 zunächst getrennt<br />
zu betrachten.<br />
2.1 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und<br />
psychologischen Publikationen zum <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
zwischen 1990 und 2000<br />
Um die mögliche Vielfalt der aufzu ndenden sozialwissenschaftlichen und psychologischen<br />
Publikationen nach Schwerpunkten ordnen zu können, wurden folgende<br />
Raster genutzt: Erstens wurde nach wissenschaftlichen Arbeiten mit Überblickscharakter<br />
gesucht; eine zweite Suchstrategie richtete sich auf Publikationen,<br />
in denen der Untersuchungsgegenstand „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und seine De nitionsmerkmale<br />
diskutiert werden; drittens wurde nach dominierenden Theoriebzw.<br />
Forschungsansätzen gefahndet, mit denen die Beschaffenheiten (Qualität<br />
und Quantität) 4 , mögliche Ursachen und Folgen rechtsextremer Entwicklungen erklärt<br />
bzw. untersucht werden; viertens schließlich werden – vor dem Hintergrund<br />
des ökosystemischen Ansatzes von Uri Bronfenbrenner (1979) – die wissenschaftlichen<br />
Publikationen danach geordnet, welche Rahmenbedingungen für rechtsextreme<br />
Tendenzen jeweils im Fokus der empirischen Forschung stehen (mikro-,<br />
meso- oder makrosystemische Bedingungen). 5<br />
Tabelle 1 liefert zunächst einen beispielhaften Überblick über die Publikationsschwerpunkte<br />
in den Datenbanken PSYNDEX und WISO für die Jahre von 1990<br />
bis 2000. Die Erläuterungen folgen in den anschließenden Abschnitten.<br />
4 Der Begriff Beschaffenheit wird hier in Anlehnung an Hegel benutzt: „Aber ferner<br />
gehört die Beschaffenheit zu dem, was das Etwas an sich ist“ (Hegel, 1986, S. 134).<br />
5 Eine solche Gliederung – angelehnt an Bronfenbrenner (1979) – ist im Umgang mit<br />
den verschiedenen Konzeptionen zur Erklärung des <strong>Rechtsextremismus</strong> nicht unüblich<br />
(siehe z. B. Birzer, 1996; Frindte, 1999; Grumke, 2001; Zick, 2004).
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
31<br />
Tabelle 1 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Publikationen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> (1990 bis 2000).<br />
Überblicksarbeiten<br />
z. B.: Dünkel<br />
& Geng, 1999;<br />
Frindte, 1999;<br />
Jaschke, 1994;<br />
Jäger, 1993;<br />
Otto & Merten,<br />
1993; Wasmuth,<br />
1997; Zick,<br />
1997<br />
Begriffsdebatten:<br />
„<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
– ein unscharfer<br />
Begriff<br />
Makro-soziale<br />
Rahmenbedingungen<br />
für rechtsextreme Tendenzen<br />
Denitionsvorschläge<br />
z. B.: Friedrich,<br />
1992; Heitmeyer<br />
u. a., 1992; Jaschke,<br />
1994; Melzer &<br />
Schubarth, 1995;<br />
Pilz, 1994<br />
Dominierende Theorie-<br />
und Forschungsansätze<br />
Sozialisations- und<br />
Desintegrationstheorie<br />
Heitmeyer, 1989;<br />
Heitmeyer u. a., 1992;<br />
Heitmeyer & Müller,<br />
1995<br />
Ost-West-Vergleiche<br />
z. B. Frindte, Jabs &<br />
Neumann, 1992; Maaz,<br />
1993; Oesterreich, 1993;<br />
Pollmer, Reissig &<br />
Schubarth, 1992<br />
Meso-soziale<br />
Bedingungen<br />
Sozialisationseinüsse<br />
z. B. Ettrich, Krause<br />
& Jahn, 1995;<br />
Heer, Boehnke<br />
& Butz, 1999;<br />
Hopf, Rieker,<br />
Sanden-Marcus &<br />
Schmidt, 1995<br />
Mikro-soziale<br />
und individuelle<br />
Bedingungen<br />
Täteranalysen<br />
Müller, 1997; Willems,<br />
Eckert, Würtz<br />
& Steinmetz, 1993
32<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
Tabelle 1 (Fortsetzung)<br />
Überblicksarbeiten<br />
Begriffsdebatten:<br />
„<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
– ein unscharfer<br />
Begriff<br />
Generelle Kritik<br />
am Rechtsextremis-mus-Begriff<br />
z. B. Butterwegge,<br />
2000; Teo, 1993<br />
Dominierende Theorie-<br />
und Forschungsansätze<br />
Kritik an der Desintegrationstheorie<br />
z. B. Bommes &<br />
Scherr, 1992; Eckert<br />
& Willems, 1996;<br />
Götz, 1997; König,<br />
1997, 1998; Pfahl-<br />
Traughber, 1998;<br />
Scherr, 1996; Schumann<br />
& Winkler,<br />
1997; Willems u. a.,<br />
1996; Winkler, 1996<br />
Makro-soziale<br />
Rahmenbedingungen<br />
für rechtsextreme Tendenzen<br />
Geschlechterunterschiede<br />
z. B. Birsl, 1994; Knapp,<br />
1993; Niebergall, 1995;<br />
Rippl & Seipel, 1999;<br />
Rommelspacher, 1993;<br />
Stenke, 1993; Utzmann-<br />
Krombholz, 1994;<br />
Volmerg, Bensch &<br />
Kirchhoff, 1995; Watts,<br />
1996<br />
Zusammenhänge von medialer<br />
Berichterstattung<br />
und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
z. B. Brosius & Esser,<br />
1996; Funk & Weiß,<br />
1995; Jäger & Link,<br />
1993; Lüdemann, 1995;<br />
Ohlemacher, 1993, 1999;<br />
Ruhrmann, Kollbeck &<br />
Möltgen, 1996; Scharf,<br />
1993; Willems, 1996<br />
Meso-soziale<br />
Bedingungen<br />
Bewegungsforschung<br />
z. B. Jaschke,<br />
1993; Hellmann,<br />
1995, 1998; Willems,<br />
1996<br />
Mikro-soziale<br />
und individuelle<br />
Bedingungen<br />
Autoritarismus als<br />
individuelle Disposition<br />
für rechtsextreme<br />
Orientierungen<br />
z. B. Funke, Frindte,<br />
Jacob & Neumann,<br />
1999; Hopf, 1993;<br />
Oesterreich, 1993;<br />
Seipel, Rippl &<br />
Schmidt, 1995
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
33<br />
2.1.1 Überblicksarbeiten<br />
Überblicke über den Stand der sozialwissenschaftlichen und psychologischen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung im Zeitraum von 1990 bis 2000 nden sich u. a. in<br />
Benz (1994), Deutsches Jugendinstitut (1995), Dünkel und Geng (1999), Falter,<br />
Jaschke und Winkler (1996), Frindte (1999), Heiland und Lüdemann (1996), Institut<br />
für Sozialforschung (1994), Jaschke (1994), Jäger (1993), Kowalsky und Schroeder<br />
(1994), Mecklenburg (1996), Otto und Merten (1993), Schubarth und Stöss (2000),<br />
Wahl (1993), Wasmuth (1997) und Zick (1997). Uli Jäger (1993) hebt z. B. folgende<br />
Konzeptionen hervor, die in den Sozialwissenschaften und der Psychologie zur<br />
Erklärung des <strong>Rechtsextremismus</strong> herangezogen werden: a) „Sozialpsychologische<br />
Ansätze“, die sich — folgt man dem Autor — um die zentrale Annahme<br />
einer zunehmenden Individualisierung der Jugendlichen (Beck, 1986; Heitmeyer<br />
et al., 1992; siehe ausführlicher unten) gruppieren, durch die die Jugendlichen<br />
einerseits aus den sozialen Einbettungen in traditionelle soziale Gruppen ausscheren,<br />
andererseits aber infolge einer bleibenden Sehnsucht nach Gemeinschaft<br />
u. U. ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gemeinschaften über abstrakte Kriterien und<br />
Kategorien (wie Nation, Kultur, Rasse etc.) zu denieren suchen; wobei sie sich in<br />
diesen Denitionsversuchen auf die De nitionsangebote rechtsextremer Parteien<br />
und Institutionen zu stützen vermögen. b) „Individualpsychologische Ansätze“,<br />
die als Fortführung und Reformulierung des Ansatzes von der „authoritarian personality“<br />
(Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson & Sanford, 1950) zu verstehen<br />
seien. c) „Gesellschaftskritische Ansätze“, nach denen jugendlicher <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
auch Ausdruck der gegenwärtigen jugendlichen Protestbewegungen sei.<br />
d) „Ökonomische Ansätze“, die davon ausgehen, dass die Verschlechterung von<br />
Existenzbedingungen durch tatsächliche oder drohende Arbeitslosigkeit und der<br />
damit verbundene Mangel an materiellen Gütern rechtsextreme Einstellungen befördern<br />
können. e) „Politische Ansätze“, in deren Mittelpunkt die Frage nach dem<br />
schwindenden Vertrauen der Jugendlichen in etablierte politische Parteien und Institutionen<br />
stehe. f) „Historische Ansätze“, in denen es u. a. um die Herausbildung<br />
obrigkeitsstaatlicher politischer Systeme in Deutschland gehe.<br />
Auffallendes Merkmal der Überblicksarbeiten (siehe Tabelle 1) ist, dass die<br />
verschiedenen Konzeptionen meist zwar ausführlich dargestellt, mögliche Bezüge<br />
zwischen den Konzeptionen aber in der Regel nicht thematisiert bzw. hergestellt<br />
werden.
34<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
2.1.2 „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ – ein unscharfer Begriff 6<br />
Neben politikwissenschaftlichen De nitionen, in denen <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />
Gegensatz zum demokratischen Verfassungsstaat bestimmt wird (z. B. Backes,<br />
1989; Kowalsky, 1993), wurden im Beobachtungszeitraum zahlreiche soziologisch-psychologische<br />
Denitionsvorschläge vorgelegt (z. B. Friedrich, 1992; Heitmeyer<br />
et al., 1992; Jaschke, 1994; Melzer & Schubarth, 1995; Pilz, 1994) und auch<br />
generelle Kritik am <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriff geübt (z. B. Butterwegge, 2000;<br />
Teo, 1993, 1995). Christoph Butterwegge (2000) präferiert z. B. den Rassismus-<br />
Begriff, der die Vorteile habe, gesellschaftliche Strukturzusammenhänge und<br />
historische Kontinuitäten seit dem Mittelalter (Kolonialismus) zu erfassen, ohne<br />
Modikationen und Ausdifferenzierungen (biologisch bzw. kulturell begründete<br />
Spielarten des Rassismus) zu ignorieren (in diesem Sinne auch Teo, 1993). Bommes<br />
und Scherr (1992) kritisieren die „homogenisierende Rede vom <strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
bei Heitmeyer und meinen damit die zu starke begrif iche Einengung<br />
auf einen jugendtypischen <strong>Rechtsextremismus</strong>, der Parteien und Organisationen<br />
außer Acht lasse.<br />
Ulrich Druwe (1996) hat verschiedene Studien der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />
hinsichtlich des jeweils gewählten Begriffs untersucht. In den dreizehn<br />
von ihm ausgewerteten Studien fand er elf verschiedene Bezeichnungen für das<br />
Phänomen, die wiederum mit insgesamt 42 verschiedenen Bedeutungen versehen<br />
waren, so dass von einer <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung mit einem gemeinsamen<br />
Untersuchungsgegenstand nicht die Rede sein könne.<br />
Versuche, <strong>Rechtsextremismus</strong> über einzelne Merkmale zu bestimmen, sind dabei<br />
nicht selten. So versteht Siller (1997, S. 13) z. B. den <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />
„Konglomerat von antidemokratischen, nationalistischen, rassistischen, autoritären,<br />
antisemitischen u.ä. Ideologien, Einstellungs- und/oder Handlungsmustern“.<br />
An der Nützlichkeit solcher De nitionen durch Aufzählung sind sicher Zweifel<br />
angebracht, da für die Anzahl und die Beziehung zwischen den Merkmalen, mit<br />
denen <strong>Rechtsextremismus</strong> beschrieben wird, kaum hilfreiche Kriterien angegeben<br />
werden (vgl. Winkler, 2001). Es stellt sich also die Frage, welche der jeweils aufgezählten<br />
Merkmale eine Person tatsächlich besitzen muss, um als rechtsextrem<br />
zu gelten.<br />
6 Mit „unscharf“ ist hier zunächst, im Sinne von Frege (1998, S. 70; zit. n. Seising, 2011,<br />
S. 150) die Abwesenheit einer „vollständigen und endgültigen“ Definition gemeint.<br />
Fraglich ist allerdings, ob eine solche endgültige Definition generell möglich und im<br />
speziellen Falle des <strong>Rechtsextremismus</strong> auch nötig ist.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
35<br />
Schlussendlich: <strong>Rechtsextremismus</strong> als monolithisches Gebäude erscheint im<br />
Zeitraum von 1990 bis 2000 vor allem als Konstruktion (der Wissenschaftler, Politiker,<br />
der Medien, der Alltagsdiskurse; Frindte et al., 1994). Thomas Kliche (1996)<br />
fragt deshalb, „ob es wissenschaftlich nicht sinnvoller wäre, das Konzept ,des‘<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> zugunsten dadurch überzeugender zu erfassender ,Rechtsextremismen‘<br />
aufzugeben“ (Kliche, 1996, S. 70).<br />
Zugespitzt: „Er ndet sich diese Gesellschaft also ,ihren‘ überaus funktionalen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> gerade selbst – unter tatkräftiger Mitwirkung der sozialwissenschaftlichen<br />
Deutungsindustrie“ (Kliche, 1996 S. 77)?<br />
2.1.3 Dominierende Theorie- und Forschungsansätze<br />
Dominanz der Desintegrationstheorie von Heitmeyer: Neben den o. g. Auseinandersetzungen<br />
über den Begriff von <strong>Rechtsextremismus</strong> dominierten in diesem<br />
Jahrzehnt vor allem Arbeiten, in denen auf der Basis der von Heitmeyer und Kolleg/innen<br />
vorgelegten Sozialisations- und Desintegrationstheorie rechtsextreme<br />
Tendenzen als Folge von individuellen Deprivationsproblemen betrachtet werden<br />
(Heitmeyer, 1989, 1993; Heitmeyer et al., 1992; Heitmeyer & Möller, 1995).<br />
Rechtsextremistische Orientierungen setzen sich nach Heitmeyer et al. (1992) aus<br />
einer Ideologie der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der Gewaltaf nität<br />
(bis hin zu gewalttätigem Handeln) zusammen. Beide Dimensionen werden durch<br />
Subdimensionen mit verschiedenen Facetten untergliedert und operationalisiert.<br />
Zur theoretischen Erklärung derartiger rechtsextremer Tendenzen haben Heitmeyer<br />
und Mitarbeiter (1992) eine Desintegrationstheorie auf der Grundlage von<br />
Becks „Risikogesellschaft“ (Beck, 1986) entwickelt. Die Autoren konstatieren<br />
„ein generalisiertes Auftreten von Individualisierungsschüben, die im Kern aus<br />
der Arbeitsmarktdynamik resultieren“ (Heitmeyer et al., 1992, S. 16). Diese Individualisierungsschübe<br />
bewirken, dass „die klassischen gemeinsamen Erfahrungsund<br />
Deutungszusammenhänge intergenerationell weitergebender intermediärer<br />
Instanzen damit an Wirksamkeit einzubüßen scheinen“ (Heitmeyer et al., 1992,<br />
S. 16-17).<br />
„Kollektive Handlungs- und Durchsetzungsformen verlieren an Bedeutung. Stabile<br />
Solidaritätsbindungen werden sowohl überüssig als auch unerreichbar“ (Heitmeyer<br />
et al., 1992, S. 19).
36<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
Als Folge werden Vereinzelungs-, Ohnmachts- und Handlungsunsicherheitserfahrungen<br />
beschrieben, die einer Orientierung an nationalen Kategorien Vorschub<br />
leisten. Dies betrifft nach Heitmeyer vor allem diejenigen, denen der Übergang zu<br />
einer autonomieorientierten Identität nicht gelingt, „weil sie nicht in ausreichendem<br />
Maße Ressourcen und Bezugspunkte der Identitätsbildung zur Verfügung<br />
haben“ (Heitmeyer et al., 1992, S. 32).<br />
Kritik an der Desintegrationstheorie: Nach anfänglicher Euphorie und umfangreicher<br />
Rezeption gerieten in den 1990er Jahren sowohl die Heitmeyersche<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition als auch der von ihm und Kollegen vorgelegte Erklärungsansatz<br />
in die Kritik (z. B. Bommes & Scherr, 1992; Eckert & Willems,<br />
1996; König, 1997, 1998; Pfahl-Traughber, 1998; Scherr, 1996; Schumann &<br />
Winkler, 1997; Winkler, 1996). Diese Kritik bezog sich auf die zu wenig differenzierende<br />
Konzeption, die der Heterogenität des Untersuchungsfeldes nicht gerecht<br />
werde.<br />
König (1997) kritisierte das ausschließlich soziologische Verständnis des jugendlichen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, den Heitmeyer auf soziale und ökonomische Desintegrationsprozesse<br />
zurückführt, anhand eines Fallbeispiels aus der Bielefelder<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>-Studie. Hopf (1994) konnte dagegen anhand der Daten einer<br />
Untersuchung von Melzer, Schröder und Schubarth (1992), in der etwa 1500 westdeutsche<br />
und 1300 ostdeutsche Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jahren<br />
verglichen wurden, die Plausibilität der sogenannten Deprivationsthese, nach<br />
der kumulierende Beeinträchtigungen in der sozialen Lage der Jugendlichen eine<br />
wichtige Voraussetzung für ausländerfeindliche und rechtsextreme Einstellungen<br />
darstellen, bestätigen.<br />
Eckert und Willems (1996) bezweifeln die Erklärungskraft des Desintegrationskonzepts.<br />
Auch die Ergebnisse von Hoffmann-Lange (1996) scheinen diese<br />
Zweifel zu bestätigen: Die Befunde bestätigen zwar, dass erlebte soziale Benachteiligung<br />
und soziale Unzufriedenheit zu erhöhter sozialer Desorientierung führen,<br />
diese wiederum aber nur geringen Ein uss auf ausländerfeindliche Einstellungen<br />
haben; im Osten noch weniger als im Westen Deutschlands (Beta = 0.19<br />
im Westen und Beta = 0.12 im Osten) 7 . Der Einuss von Normlosigkeit als einer<br />
anderen möglichen Folge aus einer anomietheoretischen Perspektive hat dagegen<br />
im Osten weitaus größeres Gewicht (Beta = 0.22 im Westen und Beta = 0.32 im<br />
Osten). Da die formale Schulbildung ebenfalls in die Regressionsgleichung aufgenommen<br />
wurde, diese auch ein starker Prädiktor ist (Beta = 0.31 im Westen<br />
7 Beta-Werte sind standardisierte Regressionskoeffizienten, die Werte von +1,0 bis –1,0<br />
einnehmen können und den Zusammenhang zwischen unabhängigen und abhängigen<br />
Variablen wiedergeben.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
37<br />
und Beta = 0.23 im Osten), aber zudem auch ein starker Prädiktor für soziale Desorientierung,<br />
lässt sich vermuten, dass der tatsächliche Einuss von Desintegration<br />
noch erheblich kleiner ist. Die multiple Regression klärt allerdings auch nur 26 %<br />
Varianz der abhängigen Variable ausländerfeindliche Einstellungen auf (17 % in<br />
der West- und 28 % in der Oststichprobe).<br />
Gegen eine einfache Desintegrationsthese spricht auch ein Befund von Sturzbecher<br />
(1997), der empirisch zeigen konnte, dass die Eltern sowohl gewaltbereiter<br />
wie auch fremdenfeindlicher Jugendlicher eine bessere nanzielle Situation<br />
angeben als die von anderen Jugendlichen. Held, Horn, Leiprecht und Marvakis<br />
(1991) und Held, Horn und Marvakis (1996) kommen zu Ergebnissen, die sogar<br />
nahelegen, dass gerade diejenigen Personen höhere Fremdenfeindlichkeit äußern,<br />
die bzgl. Erwerbsarbeit nicht benachteiligt sind. Auch lässt sich in ihren Untersuchungen<br />
kein Zusammenhang zwischen Fremdenfeindlichkeit und erlebter<br />
gesellschaftlicher Bedrohung und Unzufriedenheit mit der Wohn-, Arbeits- und<br />
Freizeitsituation nachweisen. Daraus folgernd charakterisieren die Autoren <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und Fremdenfeindlichkeit als „Wohlstandschauvinismus“, verbunden<br />
mit einer „Überidentikation mit den ‚deutschen‘ Wirtschaftsinteressen.“<br />
Kritisch gegenüber der Desintegrationstheorie von Heitmeyer und Mitarbeitern<br />
äußert sich auch Birgit Rommelspacher (1992, 1993, 1995). Mit dem von ihr<br />
geprägten Konzept der Dominanzkultur versucht Rommelspacher grundlegende<br />
Widersprüche, die die Dynamik moderner Gesellschaften bestimmen, zu erklären.<br />
Wesentliches Merkmal dieser Widersprüche scheint die Dialektik zwischen<br />
egalitären und demokratischen Konzepten und Bestrebungen einerseits und Dominanzansprüchen<br />
in Folge ethnischer oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Leistungsfähigkeit<br />
oder sexueller Orientierung andererseits zu sein. Die jeweiligen<br />
Dominanzansprüche werden durch hierarchische Gesellschaftsstrukturen gefördert<br />
und reproduziert. Der <strong>Rechtsextremismus</strong> gehöre dabei zu den radikalisierten<br />
und politisierten Formen, besagten Widerspruch einseitig zugunsten zunehmender<br />
Hierarchisierung, also durch ideologisch begründete Dominanz ausgewählter<br />
sozialer Gruppierungen gegenüber anderen Gruppierungen, zu lösen. 8 Mit dieser<br />
Auffassung wendet sich Rommelspacher explizit gegen sozialwissenschaftliche<br />
Analysen, in denen ausschließlich nach intrapsychischen und/oder sozialen Kon-<br />
ikten bzw. ökonomischen Benachteiligungen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft<br />
als Ursachen für <strong>Rechtsextremismus</strong> gefahndet wird. Auch Heitmeyers Arbeiten<br />
stehen somit im Fokus ihrer Kritik.<br />
8 Ähnliche Prozesse werden auch in der Theorie der sozialen Dominanz (Sidanius &<br />
Pratto, 1999) beschrieben, auf die später noch eingegangen wird.
38<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
Kontrovers zur Desintegrationstheorie von Heitmeyer und Mitarbeitern scheint<br />
auch der Ansatz zu stehen, der von Norbert Götz (1997) vorgestellt und empirisch<br />
geprüft wurde. Götz kritisiert die der Desintegrationstheorie zugrundeliegende<br />
„Modernisierungsverlierer-Hypothese“ und geht von der These aus, dass Rechtsextreme<br />
nicht – wie in der Desintegrationstheorie behauptet, Verlierer, sondern<br />
Gegner der reexiven Moderne seien (Götz, 1997, S. 397ff.). Um diese These zu<br />
explizieren, greift Götz auf den Ansatz des postmaterialistischen Wertewandels<br />
(nach Inglehart, 1977) und auf neuere Erkenntnisse der Autoritarismusforschung<br />
(Altemeyer, 1988; Oesterreich, 1993) zurück. Die empirischen Daten, mit denen<br />
Götz seinen Ansatz zu begründen sucht, stammen aus einer Studie zum <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />
die Richard Stöss (1993) in Berlin durchführte. Die Befunde sind<br />
nicht vollständig überzeugend, verweisen aber durchaus darauf, dass rechtsextrem<br />
orientierte Personen offenbar einerseits von den gesellschaftlichen Bedingungen<br />
einer reexiven Moderne 9 intellektuell und emotional überfordert sind und andererseits<br />
dies durch eine „unzeitgemäße Komplexitätsreduktion und Wirklichkeitskonstruktion“<br />
(Götz, 1997, S. 407) zu kompensieren versuchen.<br />
2.1.4 Rahmenbedingungen für rechtsextreme Tendenzen<br />
A<br />
Makro-soziale Bedingungen<br />
Ost-West-Vergleiche:<br />
Ein besonderer empirischer Fokus lag zunächst auf Ost-West-Vergleichen, um in<br />
den Folgen der politischen und wirtschaftlichen Wende in Ostdeutschland mögliche<br />
Wirkfaktoren für rechtsextreme Tendenzen ausndig zu machen (kaum eine<br />
Studie im Zeitraum von 1990 bis 2000 verzichtete auf derartige Vergleiche; als<br />
Auswahl z. B. Aschwaden, 1995; Friedrich, 1992, 1993; Frindte, Jabs & Neumann,<br />
1992; Maaz, 1993; Melzer, 1992; Melzer & Schubarth, 1992; Oesterreich, 1993;<br />
Pfahl-Traughber, 2000; Seidenstuecker, 1993).<br />
Auch Pollmer, Reissig und Schubarth (1992) berichten Ost-West-Befunde über<br />
Zusammenhänge von subjektiven Bendlichkeiten, Erwartungen für die Zukunft,<br />
Wertorientierungen, politischen Orientierungen, <strong>Rechtsextremismus</strong>, Ausländerfeindlichkeit,<br />
Aggressivität und Gewaltbereitschaft. Die in diesen und ähnlichen<br />
Studien erfolgte Fokussierung auf die Untersuchung von Jugendlichen, jungen Erwachsenen<br />
und Jugendkulturen dürfte ebenfalls eine Konsequenz aus dem Des-<br />
9 Der Begriff der reflexiven Moderne ist eng mit den Arbeiten von Ulrich Beck und<br />
Anthony Giddens verknüpft, die damit den Übergang von einer ersten Moderne zu<br />
einer zweiten Moderne zu beschreiben versuchen (vgl. Beck, Giddens & Lash, 1996).
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
39<br />
integrationsansatz von Heitmeyer sein (z. B. Frindte, 1999; Heitmeyer & Möller,<br />
1995).<br />
Geschlechterunterschiede 10 :<br />
Dass ausgeprägte fremdenfeindliche Vorurteile und rechtsextreme Gewaltbereitschaft<br />
nicht nur ein Männerproblem sind, von Frauen aber fremdenfeindliche<br />
Einstellungen subtiler bzw. geschlechterrollenspezisch geäußert werden, konnte<br />
ebenfalls in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen werden (z. B. Birsl, 1994;<br />
Geng, 1998; Hopf u. a., 1995; Knapp, 1993; Niebergall, 1995; Rippl, Boehnke, Hefler<br />
& Hagan, 1998; Rippl & Seipel, 1999; Rommelspacher, 1993; Siller, 1994; Stenke,<br />
1993; Utzmann-Krombholz, 1994; Volmerg, Bensch & Kirchhoff, 1995; Watts,<br />
1996). Dieser Umstand wurde mit zuverlässiger Konstanz in allen zugänglichen<br />
empirischen Untersuchungen des Zeitraums von 1990 bis 2000 repliziert, so bei<br />
Birsl, Busche-Baumann, Bons und Kurzer (1995), Held et al. (1996), Hoffmann-<br />
Lange (1996), Melzer und Schubarth (1995), Oesterreich (1993), Schumann und<br />
Winkler (1997), Sturzbecher, Dietrich und Kohlstruck (1994), Sturzbecher (1997).<br />
Wenn man die Befunde genauer betrachtet, so bekommt man jedoch den Eindruck,<br />
dass die Differenzen spezischer Dimensionen gar nicht so stark ausgeprägt sind,<br />
so v. a. der Bereich Ausländerfeindlichkeit bei Schubarth und Melzer (1993) und<br />
Utzmann-Krombholz (1994). Sehr viel erheblicher dagegen sind die Unterschiede<br />
zwischen Männern und Frauen, wenn rechtsextrem motivierte Straftaten (vgl.<br />
Willems et al., 1993) oder das Wahlverhalten rechter Parteien (vgl. Falter, 1994)<br />
betrachtet werden: In diesen Fällen sind Männer viel häuger vertreten.<br />
Zusammenhänge von medialer Berichterstattung und <strong>Rechtsextremismus</strong> (z. B.<br />
Brosius & Esser, 1996; Funk & Weiß, 1995; Jäger & Link, 1993; Jäger, 1997; Lüdemann,<br />
1995; Ohlemacher, 1993, 1996, 1998, 1999; Ruhrmann, Kollbeck & Möltgen,<br />
1996; Scharf, 1993; Willems, 1996):<br />
Bezüglich des Einusses der medialen Berichterstattung stellt Willems (1996)<br />
im Zusammenhang mit den ausländerfeindlichen Pogromen in Deutschland Anfang<br />
der neunziger Jahre fest, dass die Welle der Gewalt ihren ersten Kulminationspunkt<br />
nach der ausführlichen medialen Berichterstattung über die Brandanschläge<br />
und die Belagerung des Asylbewerberheimes in Hoyerswerda erreichte.<br />
Auch Brosius und Esser (1996) unterstreichen die Bedeutung von spektakulären<br />
Schlüsselereignissen und weisen in einer Zeitreihenanalyse nach, dass in einer<br />
ersten Phase der ausländerfeindlichen Ausschreitungen (Hoyerswerda und Rostock)<br />
tatsächlich eine Anstiftungswirkung von der medialen Berichterstattung des<br />
10 Selbstverständlich könnten Geschlechterunterschiede als Sozialisationseinflüsse auch<br />
unter der nachfolgenden Rubrik „Meso-soziale Bedingungen“ abgehandelt werden.
40<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
Fernsehens ausging (vgl. auch Ohlemacher, 1998, S. 5). Für eine zweite Phase,<br />
die durch Taten von Einzelnen gegen schon seit langer Zeit in Westdeutschland<br />
lebende Ausländer charakterisiert war, bei denen auch Opfer ums Leben kamen<br />
und sich die Bevölkerung mittels Demonstrationen und Lichterketten zu Wort meldete,<br />
konnten dagegen keine Nachahmungseffekte gezeigt werden. Ohlemacher<br />
(1998, S. 15) macht sogar nach diesen Ereignissen einen negativen Trend in den<br />
Gewalttaten gegen Fremde aus. Stereotypisierungen in der Medienberichterstattung<br />
und die Reduzierung des <strong>Rechtsextremismus</strong> auf ein Randgruppenproblem in<br />
Verbindung mit dramatisierenden Elementen in der medialen Darstellung werden<br />
zudem häug kritisiert (z. B. Hundseder, 1992, 1993; Jäger, 1999; Lamnek, 1990;<br />
Ohlemacher, 1996; Scharf, 1993).<br />
B<br />
Meso-soziale Bedingungen<br />
Sozialisationseinflüsse:<br />
Zusammenhänge zwischen schulischer und familiärer Sozialisation einerseits und<br />
rechtsextremen Orientierungen andererseits ließen sich empirisch relativ gut nachweisen<br />
(z. B. Ettrich, Krause & Jahn, 1995; He er, Boehnke & Butz, 1999; Hopf,<br />
Rieker, Sanden-Marcus & Schmidt, 1995). Nahezu alle quantitativen Untersuchungen<br />
betonen, dass ein hoher Zusammenhang dergestalt besteht, dass vorrangig<br />
Hauptschüler bzw. Personen, die über einen Hauptschulabschluss als höchsten<br />
formalen Bildungsabschluss verfügen, ausgeprägte rechtsextreme Orientierungen<br />
aufweisen (Hoffmann-Lange, 1996; Klein-Allermann u. a., 1995; Melzer & Schubarth,<br />
1995; Schumann & Winkler, 1997; Sturzbecher, Dietrich & Kohlstruck, 1994;<br />
Sturzbecher, 1997).<br />
Heer und Boehnke (1995) belegen in ihrer Untersuchung die Relevanz der<br />
Variablen Schulerfolg und Schultyp zur Vorhersage von fremdenfeindlichen Einstellungen.<br />
Die Befunde zeigen, dass Schulerfolg und die damit einhergehende<br />
positivere Selbsteinschätzung und ein höheres Maß elterlicher Kontrolle dazu geeignet<br />
waren, Ressourcen sozialen Kapitals zu schaffen, die ein Hineingleiten in<br />
deviante Subkulturen und ein Ausleben unterschwellig vorhandener Traditionen<br />
von Gewalt und <strong>Rechtsextremismus</strong> verhinderten.<br />
Noack und Wild (1999) zeigen allerdings auch, dass sich hinter dem Schultyp<br />
als „soziale Adresse“ eine ganze Menge weiterer Variablen verbergen können.<br />
Teils spiegele die besuchte Schule per Selektion die Zugehörigkeit zu sozialen<br />
Schichten und damit die Bildung sowie die nanzielle und beruiche Situation der<br />
Eltern wider; teils gehe der Schultyp mit Variationen in der zu Hause erfahrenen<br />
Erziehung einher.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
41<br />
Auf eine nicht unwichtige Sozialisationsinstanz, auf den Ein uss jugendlicher<br />
Cliquen und Milieus, machen die Arbeiten von Bohnsack, Loos, Schäffer, Städtler<br />
und Wild (1995), Farin und Seidel-Pielen (1993a,b), Geng (1998), Wetzels und<br />
Enzmann (1999) aufmerksam.<br />
Bewegungsforschung:<br />
Im Kontext der o. g. kritischen Auseinandersetzung mit der Desintegrationstheorie<br />
entwickelte sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre auch eine kontroverse Debatte<br />
um den <strong>Rechtsextremismus</strong> als soziale Bewegung (vgl. zum Überblick auch<br />
Schroeder, 2003, S. 113ff.). Basierend auf politikwissenschaftlichen und soziologischen<br />
Theorien sozialer Bewegungen verweist z. B. Jaschke auf das rechtsextreme<br />
Protestverhalten als „eine sich zur sozialen Bewegung formierende modernisierungskritische<br />
Reaktion auf zwei fundamentale Veränderungen der Gesellschaft –<br />
auf Ethnisierungsprozesse und auf Individualisierungsschübe“ (Jaschke, 1993,<br />
S. 105, zit. n. Schroeder, 2003, S. 114; vgl. auch Hellmann, 1998; Leggewie, 1994;<br />
Willems, 1996). Eine lesenswerte Zusammenfassung der sozial- und politikwissenschaftlichen<br />
Ansätze, mit denen der <strong>Rechtsextremismus</strong> als soziale Bewegung<br />
charakterisiert werden kann, ndet sich bei Rucht (1995) und Koopmans (1995).<br />
Rucht deniert soziale Bewegungen folgendermaßen:<br />
„Soziale Bewegungen sind ein besonderer Typus von Kollektiven, nämlich auf gewisse<br />
Dauer gestellte Netzwerke von Gruppen und Organisationen, die sozialen<br />
Wandel mit Mitteln des Protests herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen<br />
wollen. Die Gemeinsamkeit dieser Zielsetzung ist für kollektive Identität nicht hinreichend.<br />
Armeen und Friedensbewegungen mögen gleichermaßen an der Verhütung<br />
von Kriegen interessiert sein, aber sie bilden deshalb kein übergreifendes Kollektiv.<br />
Erst wer sich einer Bewegung als einem sozialen Zusammenhang, charakterisiert<br />
durch bestimmte Träger sowie bestimmte Handlungs- und namentlich Protestformen,<br />
zurechnet und dies möglichst praktisch bezeugt, teilt somit die kollektive Identität<br />
der Bewegung“ (Rucht, 1995, S. 11).<br />
In diesem Sinne lassen sich soziale Bewegungen auch als soziale Milieus (Hellmann,<br />
1995, S. 73) oder als Deutegemeinschaften (Frindte, 1998; S. 84ff.) verstehen.<br />
Deutegemeinschaften sind jene sozialen Gemeinschaften von Menschen, die<br />
die Welt in interindividuell ähnlicher Weise beobachten, beurteilen und darüber<br />
kommunizieren. Deutegemeinschaften erzeugen normativen Druck auf jene, die<br />
sich den jeweiligen Gemeinschaften zugehörig fühlen und sich mit den Bedeutungsräumen<br />
identi zieren. Nicht Fakten, sondern dieses Zugehörigkeitsgefühl<br />
und die entsprechende Identikation erzeugen einen normativen Zwang, Geschehnisse<br />
so zu beobachten und zu beurteilen, wie es die vermeintlichen prototypi-
42<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
schen Mitglieder der Gemeinschaft tun oder tun könnten. Deutegemeinschaften<br />
sind in diesem Sinne Meinungsmacher, Mythenmacher, Allmachtsvertreter. Sie<br />
erheben den Anspruch, mit normativer Kraft die Welt zu interpretieren und zu<br />
verändern. In diesem Sinne versuchen Deutegemeinschaften konkurrierende Deutungen<br />
von Welt zu unterdrücken und/ode r aus dem gesamtgesellschaftlichen<br />
und globalen Diskurs zu vertreiben, um an deren Stelle ihre eigenen Welt- und<br />
Lebensbegründungen zu etablieren. In gewissem Sinne lassen sich Deutegemeinschaften<br />
mit dem Gruppenkonstrukt vergleichen, das in der Theorie der sozialen<br />
Identität (SIT) von Henri Tajfel, John C. Turner und anderen genutzt wird (Tajfel<br />
& Turner, 1986; weitere verwandte Ansätze sind die Self-Categorization Theory,<br />
Turner, Hogg, Oakes, Reicher & Wetherell, 1987; das Social Identity Model of<br />
Deindividuation Phenomena, Reicher, Spears & Postmes, 1995). Auf diese sozialpsychologische<br />
Betrachtung sozialer Bewegungen haben Simon (1995) und Zick<br />
und Wagner (1995) aufmerksam gemacht. Simon weist in diesem Sinne darauf hin:<br />
„Aus sozialpsychologischer Perspektive setzt sich eine soziale Bewegung aus Personen<br />
zusammen, die sich nicht als Individuen, sondern als Vertreter einer sozialen<br />
Kategorie bzw. Gruppe verstehen, und die gemeinschaftlich einen sozialen Wandel<br />
herbeiführen wollen. Selbst-Interpretation als Gruppenmitglied (d. h. Priorisierung<br />
des kollektiven Selbst gegenüber dem individuellen Selbst) wird damit zur entscheidenden<br />
sozialpsychologischen Grundlage sozialer Bewegungen“ (Simon, 1995,<br />
S. 53).<br />
Allerdings betont Ruud Koopmans auch die zum damaligen Zeitpunkt (1995) noch<br />
vorhandenen empirischen De zite der Bewegungsforschung in der Analyse des<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>:<br />
„Eine … Herausforderung für die Bewegungsforschung ist die Welle von Gewalt<br />
gegen Ausländer und Asylanten, die Deutschland seit ein paar Jahren überschwemmt.<br />
Zwar hat dieses Phänomen eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Arbeiten ausgelöst,<br />
aber ich kenne keine Studie, die systematisch mit einer bewegungstheoretischen<br />
Perspektive arbeitet“ (Koopmans, 1995, S. 96).<br />
C<br />
Mikro-soziale und individuelle Bedingungen<br />
Täteranalysen<br />
In ihrer vielfach zitierten Analyse fremdenfeindlicher Gewalttäter zeigen Willems<br />
et al. (1993), dass fremdenfeindliche Straftaten in neun von zehn Fällen als<br />
Gruppentat verübt werden. Dabei spielen subkulturelle Skinheadgruppen wie auch
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
43<br />
unterschiedliche Freundes- und Freizeitcliquen die dominierende Rolle. Die Autoren<br />
verweisen auch darauf, dass „politische Vorstellungen, Motive und Strategien“<br />
von geringerem Einuss sind als „ausgeprägte fremdenfeindliche Feindbilder und<br />
Vorurteile. [...] Daneben gibt es jedoch auch jene Skins, die sich über die eigene<br />
fremdenfeindliche und rechtsorientierte Gruppe hinaus auch für rechtsextremistische<br />
Parteien und Ideologien interessieren und hier auch aktiv werden“ (Willems<br />
et al., 1993, S. 175). In diesem Zusammenhang identizieren die Autoren<br />
fünf zentrale Motive für rechtsextreme Gewalttaten: a) Action-Motive im Sinne<br />
expressiv-hedonistischer Gewalt, b) Geltung in der Gruppe, c) fremdenfeindliche<br />
Gewalt als Resultat allgemeiner Frustration und Orientierungslosigkeit, d) Ausländer-<br />
und Fremdenfeindlichkeit und e) politisch-rechtsradikale Motivation. Die im<br />
Rahmen dieser Analyse ebenfalls durchgeführte Tatverdächtigenstudie erbrachte<br />
überdies keinen Hinweis darauf, dass Diskontinuitäten formaler Familienstrukturen<br />
der Herkunftsfamilie (Eltern geschieden, getrennt lebend, wiederverheiratet,<br />
Eltern(teile) verstorben) als Einussfaktor auf fremdenfeindliche Straftaten angesehen<br />
werden müssen. Für die Straftäter (Gerichtsaktenanalyse) beschrieben die<br />
Autoren drei Konstellationen, die gehäuft auftraten: a) intakte Familienverhältnisse<br />
ohne Auffälligkeiten, b) formal intakte, unauffällige Familien mit starken Kon-<br />
ikten zwischen Eltern und Jugendlichem, oft im Zusammenhang mit nicht erfüllten<br />
Leistungserwartungen der Eltern und c) „zerrüttete Familienverhältnisse“. Da<br />
keine dieser Konstellationen besonders hervorgehoben wurde, ergibt sich somit ein<br />
Abbild der verschiedenen familiären Varianten, wie sie auch in der „Normalbevölkerung“<br />
auftreten, ohne dass die Kinder fremdenfeindliche Straftäter werden.<br />
Dem widersprechen Heitmeyer und Möller (1995). In ihrer Analyse von Gewalttätern<br />
mit fremdenfeindlicher bzw. rechtsextremistischer Motivation sprechen<br />
sie von einem signi kanten Unterschied im Vergleich zur übrigen Bevölkerung<br />
(Heitmeyer & Möller, 1995, S. 43), und dies allein bereits für Merkmale der formalen<br />
Familienstruktur. In der vertiefenden Interviewstudie mit rechtsextremen Gewalttätern<br />
stellen sie fest, dass mehr als die Hälfte der befragten jungen Menschen<br />
(25 von 45) aus so genannten ‚broken-home‘-Verhältnissen stammen (Heitmeyer<br />
& Möller, 1995, S.125).<br />
Autoritarismus als individuelle Disposition für rechtsextreme Orientierungen<br />
In mehreren Untersuchungen wird bei der Erklärung rechtsextremistischer Dispositionen<br />
Jugendlicher in den 1990er Jahren auch auf ein revidiertes Autoritarismuskonzept<br />
11 rekurriert. Man könnte fast behaupten, der „Autoritarismus“<br />
11 In seiner Arbeit „The Fortieth Anniversary of ‚The Authoritarian Personality‘“ verweist<br />
Jos Meloen (1991) auf nachhaltige Resonanz des Konzepts der “autoritären
44<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
entwickelte sich in den 1990er Jahren zu einem der beliebtesten Konzepte der<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung; operationalisiert als Facette des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
oder als unabhängige Variable zur Erklärung rechtsextremer Orientierungen. Das<br />
Revival des Autoritarismuskonzepts hängt natürlich auch mit der fälschlichen Annahme<br />
zusammen, vor allem der ostdeutsche <strong>Rechtsextremismus</strong> ließe sich durch<br />
die nachweisbaren Zusammenhänge zwischen rechtsextremen Einstellungen und<br />
autoritären Überzeugungen auf den nachhaltigen Ein uss der gesellschaftlichen<br />
Strukturen aus DDR-Zeiten zurückführen ( siehe auch den Beitrag von Quent in<br />
diesem Band). Spätestens seit den fremdenfeindlichen Gewaltaktionen zu Beginn<br />
der 1990er Jahre in Deutschland ist dieses Erklärungskonzept dann auch wieder<br />
in den Blickpunkt der deutschen massenmedialen und sozialwissenschaftlichen<br />
Diskurse gerückt. Das zeitliche Zusammenfallen der Wende in der DDR mit dem<br />
Aufammen fremdenfeindlicher Gewalt wurde vor allem in außerwissenschaftlichen<br />
Kreisen kausal interpretiert: Diesem Erklärungsmuster zufolge sei das<br />
autoritäre politische System der DDR der Nährboden für die Ausbildung autoritärer<br />
Persönlichkeiten und für rechtsextreme Tendenzen (so z. B. Maaz, 1990,<br />
1993; Pfeiffer, 1999). Stellmacher, Petzel und Sommer (2002) haben insgesamt<br />
19 empirische Studien aus ndig gemacht, in denen in den 1990er Jahren autoritäre<br />
Überzeugungen in Ost- und Westdeutschland verglichen wurden. In 13 der 19<br />
Persönlichkeit“ (Adorno et al., 1950). Die empirischen Replikationsversuche sind<br />
mittlerweile – ebenso wie die kritischen Auseinandersetzungen mit der Theory of Authoritarian<br />
Personality (TAP) – kaum noch zu überschauen (zusammenfassend Altemeyer,<br />
1996; Oesterreich, 1996, 2005a; Stone, Lederer & Christie, 1993). Ein innovativer<br />
Schritt in der Autoritaritarismusforschung gelang erst in den 1980er Jahren. Die<br />
Veröffentlichung von Bob Altemeyers erstem Buch „Right-wing Authoritarianism“<br />
(1981) gilt dabei als Zäsur und Beginn der modernen Autoritarismusforschung. Altemeyer<br />
stützt sich in seiner sparsamen theoretischen Konzeption auf lerntheoretische<br />
Erklärungen zur Entstehung von Autoritarismus (Bandura, 1979). Sein größerer Verdienst<br />
liegt aber vor allem in der einfacheren Operationalisierung autoritärer Überzeugungen:<br />
Altemeyer reduzierte auf der Basis einer Vielzahl zweifellos konkurrenzloser<br />
Experimente und Fragebogenstudien das ursprüngliche Konzept der TAP mit seinen<br />
neun Dimensionen auf drei Subdimensionen: Konventionalismus (ein hoher Grad des<br />
Festhaltens an sozialen Konventionen, die als von der Gesellschaft und den etablierten<br />
Autoritäten geteilt wahrgenommen werden), autoritäre Unterwürfigkeit (ein hohes<br />
Maß an Unterordnung unter Autoritäten, die als rechtmäßig in der Gesellschaft<br />
wahrgenommen werden) und autoritäre Aggression (gegen Personen oder Gruppen<br />
gerichtete allgemeine Aggressivität, die als von den etablierten Autoritäten sanktioniert<br />
wahrgenommen werden). Right-Wing-Authoritarianism ist nach Altemeyer eine<br />
Persönlichkeitseigenschaft bzw. eine individuelle Differenzvariable, nach der Menschen<br />
sich mehr oder weniger Autoritäten unterwerfen, gegen Außenseiter vorgehen<br />
und sich beständig konventionellen Normen anpassen (Altemeyer, 1996, S. 8).
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
45<br />
Studien wurden Unterschiede gefunden; allerdings waren in sieben Studien nur<br />
Unterschiede bezüglich einzelner Items oder einzelner Subskalen erkennbar. Zwei<br />
weitere Studien, in denen generelle Unterschiede berichtet werden, fanden zwar signikante,<br />
aber nur relativ geringe Differenzen. In den drei verbleibenden Studien<br />
werden zwar relativ große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen berichtet<br />
(Dalbert, 1993; Schoebel, 1997; Lederer, 2000). Die Untersuchungen stützten<br />
sich aber entweder auf relativ kleine Stichproben (Dalbert, 1993) oder auf eine<br />
nur geringe Anzahl von Items (Schoebel, 1997). Und auch Gerda Lederers (2000)<br />
Befunde sind mit Vorsicht zu genießen, da die Daten mit einem Jahr Verzögerung<br />
zwischen Ost und West erhoben wurden. Stellmacher, Petzel und Sommer (2002,<br />
S. 99) konstatieren deshalb, dass eine generell unterschiedliche Autoritarismusneigung<br />
zwischen ost- und westdeutschen Personen nur selten festgestellt wurde.<br />
Unabhängig von vermeintlichen oder tatsächlichen Ost-West-Unterschieden in<br />
den autoritären Überzeugungen dürfte das Autoritarismuskonzept durchaus einen<br />
hohen Erklärungswert besitzen. Seipel et al. (1995) zeigen z. B. mittels Strukturgleichungsmodellierung<br />
(N = 200), dass Gefühle starker politischer Machtlosigkeit<br />
gepaart mit ausgeprägtem Autoritarismus die Bereitschaft erhöhen, rechtspopulistische<br />
Parteien zu wählen. Funke et al. (1999) belegen den engen Zusammenhang<br />
zwischen den Facetten einer Ideologie der Ungleichwertigkeit (im Sinne der von<br />
Heitmeyer und Kollegen vorgelegten <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition, s. o.) und autoritären<br />
Einstellungen. Auch Hopf (1993) kann auf der Grundlage qualitativer<br />
Interviews nachweisen, dass es deutliche Zusammenhänge zwischen autoritären<br />
Dispositionen und rechtsextremen Orientierungen zu geben scheint.<br />
2.1.5 Zwischenfazit<br />
Die vor mehr als zehn Jahren von Friedhelm Neidhardt in einer Sammelrezension<br />
einschlägiger wissenschaftlicher Beiträge zum Forschungsfeld <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
(u. a. Boehnke, Fuß & Hagan, 2002; Funke, 2002; Neumann, 2001; Neumann<br />
& Frindte, 2002; Wahl, 2002; Würtz, 2000) getroffenen Feststellungen dürften<br />
den damaligen Status des Forschungsfeldes <strong>Rechtsextremismus</strong> für den Zeitraum<br />
von 1990 bis 1999/2000 auch insgesamt gut beschreiben. In seinem Fazit stellt<br />
Neidhardt (2002) u. a. fest, a) die von Heitmeyer (1992) vorgelegte De nition von<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> bestimme in beachtlichen Teilen die konzeptionelle Ausrichtung<br />
des Forschungsfeldes (Neidhardt, 2002, S. 781), biete aber b) einen Ausgangspunkt,<br />
um auch nach den „individuellen Bedingungen von <strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
(Neidhardt, 2002, S. 783) zu fahnden; c) trotzdem existiere im Forschungsfeld<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> ein „De zit an Theorie“ und ein „narrativer Überschuss mit
46<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
gelegentlichen Ansätzen zu Ad-hoc-Theoretisierungen“ (Neidhardt, 2002, S. 782);<br />
d) eine sehr große Praxisnähe vieler Beiträge fördere „die Tendenz zu subjektiven<br />
Befangenheiten, die sich leicht in eine kollektive Befangenheit methodischer<br />
und theoretischer Borniertheit“ (Neidhardt, 2002, S. 782) umsetze; e) die „auffälligste<br />
Forschungslücke“ (Neidhardt, 2002, S. 783) verbinde sich mit der Frage,<br />
„wann wird Fremdenfeindlichkeit gewalttätig – und wann werden die vorhandenen<br />
Gewaltpotenziale fremdenfeindlich?“ (Neidhardt, 2002, S. 783); f) auch hinsichtlich<br />
der sozialen Kontexte (familiäre, schulische und mediale Ein üsse), in denen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> entstehe und gefördert werde, sei die Forschung unbestimmt<br />
(Neidhardt, 2002, S. 783f.); außerdem bestehe g) eine „extreme Deutschlastigkeit<br />
des Forschungsfeldes“ (Neidhardt, 2002, S. 782) 12 ; und h) eine theoretische Fundierung<br />
des Forschungsfeldes <strong>Rechtsextremismus</strong> scheine „am ehesten in den sozialpsychologischen<br />
Beiträgen vorhanden“ (Neidhardt, 2002, S. 782).<br />
Versucht man dennoch aus den durchaus vielfältigen empirischen Befunden ein<br />
Erklärungsmuster abzuleiten, so ließe sich wohl formulieren: Die in den meisten<br />
sozialwissenschaftlichen und psychologischen Studien zwischen 1990 und 2000<br />
aufgezeigten Befunde lassen einen komplexen Zusammenhang zwischen rechtsextremen<br />
Tendenzen, wahrgenommener individueller und sozialer Bedrohung (z. B.<br />
in Folge von gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüchen und Modernisierungsprozessen),<br />
Orientierungslosigkeit, Desintegration und autoritären Überzeugungen<br />
auf der Seite der rechtsextremen Akteure und Mitläufer vermuten.<br />
2.2 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und<br />
psychologischen Publikationen zum<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> zwischen 2001 und 2013<br />
Um wiederum die Vielfalt der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Publikationen<br />
zum Thema aus diesem zweiten Zeitraum ordnen zu können, wurde<br />
zunächst das bereits vorgestellte Raster angelegt, das auch für die Einordnung der<br />
Publikationen aus dem Zeitraum 1990 bis 2000 genutzt wurde. Allerdings erwies<br />
sich dieses Raster als nicht trennscharf genug. Zahlreiche Publikationen im Zeitraum<br />
2001 bis 2013 ließen sich nicht eindeutig den verschiedenen Ordnungsclustern<br />
zuordnen. Auf die Gründe wird noch eingegangen. Tabelle 2 bietet zunächst<br />
wieder einen beispielhaften Überblick, der in den anschließenden Abschnitten erläutert<br />
wird<br />
12 Verwiesen werden muss allerdings auf die vergleichende Übersichtsarbeit von Gress,<br />
Jaschke & Schönekäs (1990).
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
47<br />
Tabelle 2 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Publikationen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> (2001 bis 2013).<br />
Überblicksarbeiten<br />
Begriffs-debatten:<br />
„<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
– noch immer<br />
ein unscharfer<br />
Begriff<br />
Dominierende<br />
Theorie- und<br />
Forschungsansätze<br />
Makro-soziale<br />
Rahmenbedingungen<br />
für rechtsextreme<br />
Tendenzen<br />
Meso-soziale<br />
Bedingungen<br />
z. B.: Boehnke,<br />
Fuß und Hagan,<br />
2002; Frindte<br />
& Neumann,<br />
2002; Klärner<br />
& Kohlstruck,<br />
2006; Möller &<br />
Schuhmacher,<br />
2007; Schneider,<br />
2001; Schroeder,<br />
2003; Stöss,<br />
2010; Quent,<br />
2012; Zick und<br />
Küpper, 2009<br />
Mikro-soziale und<br />
individuelle Bedingungen<br />
Denitionsdiskussionen<br />
z. B. Decker u. a.,<br />
2010; Decker, Kiess<br />
& Brähler, 2012;<br />
Frindte & Neumann,<br />
2002; Fuchs,<br />
2003; Glaser, 2012;<br />
Grumke, 2011, 2013;<br />
Heitmeyer, 2002;<br />
Hirscher & Jesse,<br />
2013; Klärner &<br />
Kohlstruck, 2006;<br />
Klemm, Stobl &<br />
Würtz, 2006; Quent,<br />
2013; Stöss, 2010;<br />
Zick & Küpper,<br />
2009<br />
Dominanz der<br />
Studien zur<br />
Gruppenbezogenen<br />
Menschenfeindlichkeit<br />
Heitmeyer, 2002<br />
bis 2012<br />
Beobachtet wird<br />
„nur“ eine der<br />
Dimensionen aus<br />
der ursprünglichen<br />
Rechts-extremismus-Denition<br />
–<br />
die Ideologie der<br />
Ungleich-wertigkeit<br />
Gruppen-bezogenen<br />
Menschen-feindlichkeit<br />
z. B. Heitmeyer, 2012,<br />
„Mitte-Studien“ Decker,<br />
Kiess & Brähler<br />
2012<br />
„Thüringen-Monitor“<br />
Best & Salheiser, 2012<br />
Sozialisationsein-<br />
üsse<br />
z. B. Decker, Kiess<br />
& Brähler 2012;<br />
oder im „Thüringen-Monitor“<br />
(Best & Salheiser,<br />
2012)<br />
Sozial-psychologische<br />
Ansätze<br />
in den Studien zur<br />
Gruppen-bezogenen<br />
Menschen-feindlichkeit<br />
z. B. Autoritarismus-<br />
Konzept (Zick, Hövermann<br />
& Krause,<br />
2012), Theorie der<br />
sozialen Dominanz<br />
von Sidanius und<br />
Pratto (Küpper &<br />
Zick, 2008), Glauben<br />
an die gerechte Welt<br />
(Dalbert, Zick &<br />
Krause, 2010), erweiterte<br />
Kontakttheorie<br />
nach Pettigrew<br />
(Christ & Wagner,<br />
2008; Asbrock u. a.,<br />
2012a,b).
48<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
Tabelle 2 (Fortsetzung)<br />
Überblicksarbeiten<br />
Begriffs-debatten:<br />
„<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
– noch immer<br />
ein unscharfer<br />
Begriff<br />
z. B.: Boehnke,<br />
Fuß und Hagan,<br />
2002; Frindte<br />
& Neumann,<br />
2002; Klärner<br />
& Kohlstruck,<br />
2006; Möller &<br />
Schuhmacher,<br />
2007; Schneider,<br />
2001; Schroeder,<br />
2003; Stöss,<br />
2010; Quent,<br />
2012; Zick und<br />
Küpper, 2009<br />
Bemühungen um<br />
methodischen<br />
Konsens<br />
Decker & Brähler,<br />
2006, 2008; Decker,<br />
Weißmann, Kiess<br />
& Brähler, 2010;<br />
Decker, Kiess &<br />
Brähler, 2012; Best<br />
& Salheiser, 2012;<br />
Kreis, 2007<br />
Dominierende<br />
Theorie- und<br />
Forschungsansätze<br />
„Mitte-Studien“<br />
Decker, Brähler<br />
& Geißler, 2006;<br />
Decker & Brähler,<br />
2008; Decker u. a.,<br />
2010; Decker, Kiess<br />
& Brähler, 2012<br />
Makro-soziale<br />
Rahmenbedingungen<br />
für rechtsextreme<br />
Tendenzen<br />
Zusammenhänge von<br />
medialer Bericht-erstattung<br />
und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
z. B. Brosius &<br />
Scheufele, 2001; Esser,<br />
Scheufele & Brosius,<br />
2002; Geschke, Sassenberg,<br />
Neidhardt, 2004;<br />
Weiß & Spallek, 2002<br />
Medien als Anbieter<br />
von Gelegenheitsstrukturen<br />
z. B. Klärner, 2008;<br />
Udris, 2007, 2011<br />
Meso-soziale<br />
Bedingungen<br />
Soziologische<br />
Bewegungs-forschung<br />
Grumke, 2013;<br />
Klärner, 2008;<br />
Klärner & Kohlstruck,<br />
2006;<br />
Pfeiffer, 2002;<br />
Rucht, 2002<br />
Mikro-soziale und<br />
individuelle Bedingungen<br />
Einstellungs-Verhaltens-Modelle<br />
Theory<br />
of coercive actions<br />
Frindte & Neumann,<br />
2002; Neumann,<br />
2001<br />
Täteranalysen<br />
Frindte & Neumann,<br />
2002; Wahl, 2002
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
49<br />
2.2.1 Überblicksarbeiten<br />
Überblicke über den Stand der sozialwissenschaftlichen und psychologischen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung im Zeitraum von 2001 bis 2013 nden sich u. a. in<br />
Backes (2003), Boehnke et al. (2002), Braun, Geisler und Gerster (2009), Büchel,<br />
Glück, Hoffrage, Stanat & Wirth (2009), Frindte und Neumann (2002), Goldberger<br />
(2013), Klärner und Kohlstruck (2006), Lamnek, Fuchs und Wiederer (2002), Möller<br />
und Schuhmacher (2007), Quent (2012), Schneider (2001), Schroeder (2003),<br />
Stiehm (2012), Stöss (2010), Virchow (2012), Wenzler, (2001), Zick (2004), Zick<br />
und Küpper (2009). 13 Andreas Zick (2004) z. B. ordnet die sozialwissenschaftlichen<br />
und psychologischen Erklärungsmodelle in die oben bereits genutzten, von<br />
Uri Bronfenbrenner (1979) eingeführten Unterscheidungsebenen ( Mikro-, Meso-,<br />
und Makrosysteme) ein. Auf der Mikroebene verortet Zick Modelle, die individuelle<br />
Voraussetzungen rechtsextremer Einstellungen und Handlungen untersuchen.<br />
Zu Modellen auf der Mesoebene rechnet Zick vor allem den schon erwähnten Desintegrationsansatz<br />
von Heitmeyer und Mitarbeitern. Makroebene ist für Zick jene<br />
Ebene, auf der wichtige Interventions- und Präventionsansätze zu nden sind, die<br />
aber auch auf den anderen Ebenen Wirkung erzielen können.<br />
2.2.2 „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ – noch immer ein unscharfer Begriff<br />
Auch im Zeitraum 2001 bis 2013 setzen sich die sozialwissenschaftlichen und psychologischen<br />
Diskussionen und Auseinandersetzungen um den <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriff<br />
fort (z. B. Decker, Weißmann, Kiess & Brähler, 2010; Decker, Kiess &<br />
Brähler, 2012; Frindte, Neumann, Hieber, Knote & Müller, 2001; Frindte & Neumann,<br />
2002; Fuchs, 2003; Glaser, 2012; Grumke, 2012, 2013; Heitmeyer, 2002;<br />
Hirscher & Jesse, 2013; Klärner & Kohlstruck, 2006; Klemm, Stobl & Würtz,<br />
2006; Kumiega, 2013; Neidhardt, 2002; Quent, 2013; Stöss, 2010; Zick, 2004;<br />
Zick & Küpper, 2009). Einig sind sich die meisten Autoren in der Abgrenzung<br />
13 Auch der Bericht über die Herbsttagung des Bundeskriminalamts (2012) enthält eine<br />
Reihe von interessanten Überblicksarbeiten, etwa den Beitrag von Armin Pfahl-Traughber<br />
(2012a) über den Forschungsstand und die Forschungslücken zum Phänomen des<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>. Pfahl-Traughber (Pfahl-Traughber, 2012a, S. 43) stellt u. a. fest,<br />
„…dass die Forschung bezogen auf die gewaltorientierten Bereiche eher unterentwickelt<br />
und hinsichtlich der legalen Bereiche eher gut entwickelt ist. Eine Ausnahme<br />
stellen hier die Untersuchungen zu fremdenfeindlicher Gewalt dar, welche in den<br />
1990er Jahren entstanden, insofern aber auch schon wieder veraltet sind“.
50<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
des sozial- bzw. politikwissenschaftlichen <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriffs von verfassungsrechtlichen<br />
Denitionen. 14<br />
Eine Ausnahme in dieser Abgrenzung bilden die Vertreter der „vergleichenden<br />
Extremismusforschung“ (Hirscher & Jesse, 2013). Die theoretischen Grundlagen<br />
einer solchen Extremismusbetrachtung wurden bereits 1989 von Uwe Backes<br />
(1989) gelegt (vgl. auch Backes & Jesse, 1993). Die Prämissen, Konsequenzen und<br />
methodischen Instrumentarien der darauf aufbauenden „vergleichenden Extremismusforschung“<br />
sind in den Wissenschaftlergemeinschaften nicht unumstritten, da<br />
sie eine Gleichsetzung von Linksextremismus und <strong>Rechtsextremismus</strong> nahelegen<br />
und so von der besonderen Problematik und Gefährlichkeit des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
abzulenken scheinen (vgl. z. B. Butterwegge, 2010; Decker et al. 2006; Falter,<br />
2013; Forum für kritische <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung, 2011; Neugebauer, 2000;<br />
Salzborn, 2011).<br />
Ruud Koopmans (2001) kritisiert die öffentlichen Diskussionen über den<br />
vermeintlich einheitlichen „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und plädiert dafür, zwischen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> und Rechtsradikalismus zu differenzieren. Aus seiner Sicht<br />
handelt es sich beim <strong>Rechtsextremismus</strong> um die Verknüpfung von „klassischen“,<br />
„genuin rechtsextremistischen Zielen wie Verherrlichung des Naziregimes und<br />
die Leugnung seiner Verbrechen, Antisemitismus, die Ablehnung der deutschen<br />
Nachkriegsgrenzen, Demokratiefeindschaft sowie militante Angriffe gegen linke<br />
Gruppierungen“ (Koopmans, 2001, S. 472). Quasi als Oberbegriff fungiert aus der<br />
Sicht Koopmans der „Rechtsradikalismus“, der sich vor allem auf fremdenfeindliche<br />
Einstellungen und Aktionen beziehe. Aktionen mit genuin rechtsextremistischen<br />
Zielsetzungen würden nur einen Bruchteil der rechtsradikalen Aktivitäten<br />
ausmachen. Diese Aktivitäten stünden aber viel seltener im Fokus der (medialen)<br />
Öffentlichkeit.<br />
Für Andreas Zick (2004, S. 265) ist die o. g. von Heitmeyer und Mitarbeitern<br />
(Heitmeyer et al., 1992) entwickelte Bestimmung des <strong>Rechtsextremismus</strong> die<br />
„bekannteste und psychologisch interessanteste De nition“. Klemm et al. (2006)<br />
ergänzen die zwei im Heitmeyerschen Ansatz bestimmenden Dimensionen des<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> (Ideologie der Ungleichwertigkeit und Gewaltakzeptanz) um<br />
14 Der Begriff <strong>Rechtsextremismus</strong> aus der verfassungsrechtlichen Perspektive ist geprägt<br />
durch die Staatsrechtslehre, das Grundgesetz sowie einschlägige Gerichtsurteile, etwa<br />
die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei<br />
(SRP) oder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in den 1950er-Jahren.<br />
In dieser Tradition basiert die Vorstellung von „Extremismus“ auf dem politischen<br />
Konzept der „wehrhaften Demokratie“, das die Bedrohung der freiheitlichen demokratischen<br />
Grundordnung über Verfassungsfeindlichkeit definiert (vgl. ausführlich<br />
Decker u. a., 2010, S. 10ff.).
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
51<br />
eine dritte, die sie „Idealistisch-autoritäre Staatsauffassung“ nennen (Klemm et<br />
al., 2006, S. 118). Zu dieser dritten Dimension gehören aus Sicht der Autoren die<br />
Zustimmung zu Zentralismus und dem Führerprinzip, eine völkische Auffassung<br />
von Nation und eine positive Einstellung zum „Dritten Reich“.<br />
Marek Fuchs (2003) sieht dagegen eine Konzeption von <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />
die neben der Einstellungsdimension (zur Ideologie der Ungleichwertigkeit) auch<br />
die Gewaltafnität einschließt, für nicht geeignet an, um das <strong>Rechtsextremismus</strong>potential<br />
Jugendlicher zu untersuchen. Decker, Brähler und Geißler (2006), Decker<br />
und Brähler (2008) und Decker et al. (2010, 2012) halten den <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriff<br />
zwar auch für problematisch, arbeiten aber dennoch mit ihm und<br />
unterscheiden zwischen rechtsextremen Einstellungen und tatsächlich gezeigtem<br />
Verhalten (Decker et al., 2010, S. 17). In ihren Studien erfassen sie aber nur rechtsextreme<br />
Einstellungen.<br />
Ähnlich verfahren auch Best und Salheiser im „Thüringen-Monitor“ (2012; vgl.<br />
auch Best, Dwars, Salheiser & Salomo, 2013), indem sie <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />
Einstellungsmuster denieren, das „durch die Überzeugung einer unterschiedlichen<br />
Wertigkeit von Menschen in Abhängigkeit von askriptiven Merkmalen, wie<br />
Nationalität, Hautfarbe oder ethnischer Herkunft, sowie einem auf diesen Ungleichwertigkeitsvorstellungen<br />
aufbauenden Gesellschaftsbild“ (Best & Salheiser,<br />
2012, S.79) gekennzeichnet ist. Die empirischen Befunde von Best und Salheiser<br />
weisen auch auf einen schwachen Zusammenhang zwischen politischer Selbsteinstufung<br />
auf einer Links-Rechts-Skala und der empirisch erhobenen <strong>Rechtsextremismus</strong>afnität<br />
in der Thüringer Bevölkerung hin. Die Gruppe der rechtsextremen<br />
Einstellungsträger/-innen setzte sich 2012 zu ähnlichen Anteilen aus<br />
sich selbst politisch rechts, mittig und links einordnenden Thüringern zusammen<br />
(vgl. auch den Beitrag von Best in diesem Band). Dies belege die theoretische und<br />
empirische Unzulänglichkeit des <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriffes und habe Folgen<br />
für die Präventionsarbeit (vgl. auch Quent, 2013, S. 8). Diese Befunde scheinen<br />
also darauf hinzudeuten, dass zwischen den wissenschaftlichen Begriffen zum<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> und den verschiedenen Operationalisierungsversuchen einerseits<br />
und der politischen Praxis andererseits, in der <strong>Rechtsextremismus</strong> auftritt<br />
und sich entfalten kann, gravierende Differenzen bestehen bzw. bestehen können.<br />
Darauf machen auch Klärner und Kohlstruck (2006, S. 14) aufmerksam, wenn sie<br />
vorschlagen, <strong>Rechtsextremismus</strong> auf zwei Ebenen zu beobachten, nämlich als diskursive<br />
Konstruktion und als soziale bzw. politische Praxis.<br />
Wenn nun aber der Begriff „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ nach wie vor „umstritten und<br />
unklar“ (z. B. Stöss, 2010; Strobl, Lobermeier & Heitmeyer, 2012; u. v. a.) und unscharf<br />
ist, so ist zu fragen, ob ein unscharfer Begriff den Strukturkern liefern kann,<br />
um das dazugehörige Forschungsfeld bestimmen zu können. Sicher nicht; es kann
52<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
eher davon ausgegangen werden, dass Begriffe, wie <strong>Rechtsextremismus</strong>, Rechtsradikalismus<br />
etc., nicht nur im Kontext einer, wie auch immer elaborierten, Theorie,<br />
zu bestimmen sind, sondern auch die sich verändernden gesellschaftlich-politischen<br />
Kontexte reektieren, auf die sie sich beziehen sollen und in denen sie gebraucht<br />
werden. Insofern sind diese und ähnliche Begriffe und ihre Bedeutungen<br />
auch historischen und situativen Veränderungen unterworfen.<br />
Bemühungen um methodischen Konsens: Ungeachtet der auch im Zeitraum<br />
2001 bis 2013 ungelösten De nitionsprobleme wurde von einigen Forschern mit<br />
überwiegend politikwissenschaftlicher Ausrichtung (angeregt von Oskar Niedermayer<br />
und Richard Stöss) 2001 und 2004 eine „Konsensdenition“ vorgeschlagen,<br />
auf deren Basis eine Skala zur Messung von rechtsextremen Einstellungen entwickelt<br />
wurde, die in mehreren Studien (Best & Salheiser, 2012; Best et al., 2013;<br />
Decker & Brähler, 2006, 2008; Decker et al. 2012; Decker, Weißmann, Kiess &<br />
Brähler, 2010) eingesetzt wurde. Die Konsensdenition lautet:<br />
„Der <strong>Rechtsextremismus</strong> ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen<br />
Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen<br />
Bereich in der Afnität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen<br />
und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus.<br />
Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche<br />
und sozialdarwinistische Einstellungen“ (Kreis, 2007, S. 13).<br />
Rechtsextreme Einstellung solle in sechs Dimensionen mit je fünf Items, also insgesamt<br />
dreißig Items gemessen werden. Die Dimensionen wurden de niert als<br />
„Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur“, „Chauvinismus“, „Ausländerfeindlichkeit“,<br />
„Antisemitismus“, „Sozialdarwinismus“ und „Verharmlosung des<br />
Nationalsozialismus“. Aus den von Joachim Kreis (2007) mitgeteilten Berichten<br />
über die Tagungen, auf denen die Konsensde nition erarbeitet wurde, lässt sich<br />
nicht entnehmen, auf welchen theoretischen Prämissen oder Konzeptionen diese<br />
Denition aufbaut. Zum einen lehnt sie sich an der o. g. <strong>Rechtsextremismus</strong>-De -<br />
nition von Heitmeyer und Mitarbeitern an; zum zweiten greift sie aber nur eine der<br />
in dieser Denition hervorgehobenen zwei Dimensionen auf (und vernachlässigt<br />
den Gewaltaspekt); zum dritten ist die „Konsensde nition“ eine Denition durch<br />
Aufzählung, ohne dass ein Kriterium angegeben wird, ob die Aufzählung vollzählig,<br />
hinreichend oder nur beispielhaft erfolgt.<br />
Einen anderen, keinesfalls uninteressanten Zugang wählt Thomas Grumke<br />
(2011). Mit dem Ziel, den <strong>Rechtsextremismus</strong> in den USA zu analysieren, greift<br />
er auf die zivilisationstheoretische Untersuchung fundamentalistischer Bewegungen<br />
in der Moderne von Shmuel Eisenstadt (1998) zurück. Eisenstadts Ausgangs-
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
53<br />
punkt ist die Annahme, dass fundamentalistische Bewegungen durchaus modern<br />
sein können, obwohl sie antimoderne und antiaufklärerische Ideen verkünden. In<br />
dieser Paradoxie sieht Grumke (2011) nun eben auch Parallelen zwischen Fundamentalismus<br />
und (US-amerikanischem) <strong>Rechtsextremismus</strong>. Als Projekt und Produkt<br />
der Moderne betreibe – so Grumke (2011, S. 153) – der <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
unter Rückgriff auf traditionelle Elemente der (amerikanischen) politischen Kultur<br />
eine extreme Komplexitätsreduktion und suspendiere so jegliche P icht zur Begründung.<br />
An die Stelle des bloßen Bewahrenwollens trete die Platzierung neuer,<br />
eigener, umgedeuteter politischer Mythen (wie „Rasse“ oder „Nation“). Ideologisch<br />
sei der (amerikanische) <strong>Rechtsextremismus</strong> – wie auch der Fundamentalismus<br />
15 – grundsätzlich antimodern, schöpfe aber in organisatorischer Hinsicht die<br />
Mittel der Moderne voll aus. Und noch einmal auf Eisenstadt (1998, S. 84) zurückgreifend<br />
bezeichnet Grumke (Grumke, 2011) den (amerikanischen) <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
als militante Ideologie, die grundlegend in eine hochmoderne Struktur<br />
eingebunden ist und so quasi die Kehrseite der Moderne darstellt.<br />
Sehr bewusst haben wir den amerikanischen Bezug der Grumkeschen Analyse<br />
in Klammern gesetzt, sehen wir doch durchaus Parallelen zum deutschen bzw.<br />
europäischen <strong>Rechtsextremismus</strong>. Den <strong>Rechtsextremismus</strong> insofern als fundamentalistische<br />
Strömung zu konzeptualisieren und auf diese Weise empirisch zugänglich<br />
zu machen, könnte eine innovative sozialwissenschaftliche Herausforderung<br />
sein (vgl. den Beitrag von Frindte und Geschke in diesem Band). 16<br />
15 Der Ausdruck „Fundamentalismus“ kam im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts<br />
in Gebrauch und bezieht sich seitdem vor allem auf eine strenge und ausschließliche<br />
Auslegung der (zunächst christlichen) Wurzeln einer Religion. Zwischen 1910 und<br />
1915 erschien eine Reihe von Schriften unter dem Titel „The Fundamentals“, in denen<br />
die Rückbesinnung auf die Grundlagen der christlichen Religion gefordert wurde.<br />
1919 fanden dazu Konferenzen der World’s Christian Fundamentals Association statt.<br />
Allerdings hat sich die Verwendung des Begriffs Fundamentalismus in den letzten<br />
Jahrzehnten sowohl im Alltag als auch im wissenschaftlichen Kontext stark erweitert.<br />
In der Umgangssprache wird der Begriff nicht selten unscharf zur Bezeichnung von<br />
konservativen und u. U. gewalttätigen Gruppierungen und Bewegungen benutzt. Im<br />
wissenschaftlichen Kontext hat sich überdies in den letzten Jahren auch eine Begriffsverwendung<br />
etabliert, die sich nicht nur auf den „religiösen Fundamentalismus“ beschränkt<br />
(vgl. auch Meyer, 2011).<br />
16 Uwe Backes macht darauf aufmerksam, dass die Idee, den <strong>Rechtsextremismus</strong> als fundamentalistische<br />
Ideologie zu begreifen, so neu allerdings auch wieder nicht sei. Backes<br />
(2006) verweist z. B. auf die Arbeiten von Thomas Meyer (1989) oder Christian<br />
Jäggi und David J. Krieger (1991), in denen u. a. auch der <strong>Rechtsextremismus</strong> als Form<br />
eines säkularen Fundamentalismus beschrieben wird.
54<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
2.2.3 Dominierende Theorie- und Forschungsansätze<br />
Dominanz der Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer,<br />
2002 bis 2012): Auch im Zeitraum 2001 bis 2013 dominierten wieder Arbeiten<br />
von Wilhelm Heitmeyer und Kollegen das Forschungsfeld. Das groß angelegte<br />
Forschungsprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF), das von<br />
Wilhelm Heitmeyer geleitet wurde, hatte das Ziel, den „klimatischen“ Zustand<br />
der Bundesrepublik durch jährliche Befragungen zu eruieren. Nicht zuletzt vor<br />
dem Hintergrund der in den 1990er Jahren und im Übergang zum neuen Jahrtausend<br />
beobachtbaren menschenfeindlichen Stimmungen und z. T. zerstörerischen<br />
Gewalttendenzen stellt Heitmeyer im ersten Bericht zur Langzeitstudie (die von<br />
2002 bis 2012 durchgeführt wurde) u. a. fest, dass es von höchstem Interesse sei,<br />
„welches Ausmaß an Ideologien von Ungleichwertigkeit … existiert und wie es<br />
sich im Zeitverlauf entwickelt“ (Heitmeyer, 2002, S. 19; Hervorh. im Original).<br />
Das heißt, mit dem Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sollte von<br />
Anfang an – vergleichbar mit der o. g. „Konsensde nition“ – „nur“ eine der Dimensionen<br />
empirisch beobachtet werden, die in der ursprünglichen <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition<br />
genannt sind – eben die Facetten (oder Elemente) der Ideologie<br />
der Ungleichwertigkeit (vgl. Heitmeyer, 2008, S. 36ff.; auch Klemm et al., 2006) 17 .<br />
Die Absicht dieser Fokussierung beschreibt Heitmeyer im letzten Bericht zum<br />
Projekt: „…die ‚beruhigende‘ Unterscheidung zwischen den brutalen Rechtsextremisten<br />
einerseits sowie der angeblich humanen Bevölkerung andererseits aufzulösen<br />
und somit den ober ächlichen Konsens im Lande bewusst zu irritieren und<br />
zu stören“ (Heitmeyer, 2012, S. 322).<br />
In der ersten repräsentativen Erhebung wurden sechs Elemente der gruppenbezogenen<br />
Menschenfeindlichkeit operationalisiert und analysiert: Rassismus,<br />
Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, Etabliertenvorrechte und<br />
Sexismus (Heitmeyer, 2002, S. 20). Zehn Jahre später umfasste das Syndrom der<br />
Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zwölf Facetten bzw. Elemente: Sexismus,<br />
Homophobie, Etabliertenvorrechte, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Islamfeindlichkeit,<br />
Antisemitismus, Ablehnung von Behinderten, Abwertung von<br />
Obdachlosen, Abwertung von Sinti/Roma, Abwertung von Asylbewerbern und<br />
Abwertung von Langzeitarbeitslosen (Heitmeyer, 2012, S. 17). Mit der Untersuchung<br />
dieser Facetten und ihren wechselseitigen Zusammenhängen etablierte sich<br />
17 Susanne Johansson (2011, S. 278) kritisiert allerdings in einer sehr umfangreichen<br />
Rezension (sie bezieht sich auf die Bände 1 bis 8 zum Projekt; Heitmeyer, 2002-2010),<br />
dass das Verhältnis zwischen den Syndromen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit<br />
und des <strong>Rechtsextremismus</strong> unbestimmt bleibe.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
55<br />
das Projekt zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit innerhalb der sozialwissenschaftlichen<br />
und psychologischen Erforschung von Stereotypen, Vorurteilen<br />
und Diskriminierungen (vgl. auch Zick, Hövermann & Krause, 2012, S. 64).<br />
Mit der Konzentration auf nur eine der Dimensionen des ursprünglichen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>konzepts wird allerdings – anders als mit der o. g. „Konsensdenition“<br />
– innerhalb des Projekts Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit<br />
keine neue Auffassung von <strong>Rechtsextremismus</strong> vertreten. „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
in seiner ursprünglichen De nition durch Heitmeyer und Mitarbeiter – also als<br />
Verknüpfung von Ideologie(n) der Ungleichwertigkeit und Gewaltafnität – spielt<br />
im Projekt der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit durchaus noch eine gewichtige<br />
Rolle (vgl. auch Grau, 2010; Zick, Küpper & Legge, 2009). Küpper und<br />
Zick (2008) gehen z. B. davon aus, dass „Gewalt als Mittel der Durchsetzung und<br />
Demonstration von Machtansprüchen, Kontrolle und Dominanz … eine extreme<br />
Form der Herstellung von Ungleichwertigkeit“ (Küpper & Zick (2008), S. 116) sein<br />
kann. Die empirischen Befunde, die die beiden Autoren präsentieren, scheinen das<br />
zu belegen. Soziale Dominanzorientierung und mangelnde Anerkennung erweisen<br />
sich als starke Prädiktoren für Gewaltakzeptanz und Gewaltbereitschaft. Neben<br />
solchen und ähnlichen empirischen Befunden aus dem Projekt Gruppenbezogene<br />
Menschenfeindlichkeit wird in den entsprechenden Publikationen auch immer<br />
nach Möglichkeiten gesucht, die Ergebnisse mit Fallbeispielen zu illustrieren,<br />
die auf rechtsextreme Entwicklungen in Deutschland verweisen (z. B. Heitmeyer,<br />
2003, S. 187ff.; Heitmeyer, 2010, S. 178ff.; Heitmeyer, 2012; S. 245ff.).<br />
Gefährdungen des friedlichen Zusammenlebens zwischen Angehörigen unterschiedlicher<br />
Religionen, Ökonomisierung des Sozialen, Abwertung von Homosexuellen<br />
und Obdachlosen, Demokratieentleerung, soziale Desintegrationsprozesse<br />
sind die Stichworte, mit denen Heitmeyer (2012) die empirischen Befunde benennt,<br />
die zeigen, wie stark Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit die Grundlagen<br />
der deutschen Gesellschaft zu bedrohen scheint.<br />
„Mitte-Studien“: Auch die repräsentativen Studien, die Elmar Brähler, Oliver<br />
Decker und Mitarbeiter im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in den<br />
Jahren 2006, 2008, 2010 und 2012 zum rechtsextremen Potential in der „Mitte<br />
der Gesellschaft“ durchführten, sollen auf grundsätzliche Gefährdungen der deutschen<br />
Gesellschaft aufmerksam machen (Decker et al., 2006; Decker & Brähler,<br />
2008; Decker et al., 2010; Decker et al., 2012). Methodische Grundlage dieser Studien<br />
sind die o. g. „Konsensdenition“ und die darauf aufbauenden Operationalisierungen.<br />
Das heißt, rechtsextreme Tendenzen werden in diesen Studien mittels<br />
der sechs, bereits erwähnten, Dimensionen beschrieben: „Befürwortung einer<br />
rechtsautoritären Diktatur“, „Chauvinismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Antisemitismus“,<br />
„Sozialdarwinismus“ und „Verharmlosung des Nationalsozialismus“.
56<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
Auch die zur Erfassung dieser Dimensionen eingesetzten Skalen gehen auf die<br />
Diskussionen zurück, in denen über die „Konsensde nition“ verhandelt wurde.<br />
Im Jahre 2012 konstatieren Decker et al. (2012) u. a., dass knapp 16 Prozent der<br />
Ostdeutschen ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ (S. 114) haben und dass<br />
dies der höchste in den „Mitte-Studien“ bisher gemessene Wert sei. Vor allem<br />
junge Ostdeutsche elen durch zunehmend hohe Zustimmungswerte auf. Verantwortlich<br />
machen die Autoren die nach wie vor vorhandenen „Strukturprobleme in<br />
Ostdeutschland“ (Decker et al., 2012).<br />
2.2.4 Rahmenbedingungen für rechtsextreme Tendenzen<br />
Das in Anlehnung an Bronfenbrenner (1979) genutzte Schema zur Beschreibung<br />
der Rahmenbedingungen für rechtsextreme Tendenzen scheint zwar geeignet zu<br />
sein, um eben diese Rahmenbedingungen zu ordnen; für die Einordung wissenschaftlicher<br />
Publikationen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> im Zeitraum von 2001 bis<br />
2013 erwies es sich jedoch als zu starr. Dies vor allem deshalb, weil sich in diesem<br />
Zeitraum zahlreiche Studien nden lassen, in denen sowohl makro-, meso- als<br />
auch mikro-soziale Bedingungen untersucht wurden. Trotzdem soll dieses Schema<br />
zunächst beibehalten werden.<br />
A<br />
Makro-soziale Bedingungen<br />
Makro-soziale Bedingungen spielen vor allem in den Studien zur Gruppenbezogenen<br />
Menschenfeindlichkeit (z. B. Heitmeyer, 2012), den Mitte-Studien (Decker<br />
et al. 2012) oder im Thüringen-Monitor (Best & Salheiser, 2012) eine zentrale<br />
Rolle. Untersucht wurden in diesen, aber auch in anderen Studien, z. B. die nach<br />
wie vor vorhandenen Ost-West-Unterschiede in den rechtsextremen Tendenzen<br />
(z. B. Decker et al. 2012; Krüger, Fritzsche, Pfaff & Sandring, 2003; Landua, Harych<br />
& Schutter, 2002; Oepke, 2005; Schroeder, 2003), regionale Besonderheiten<br />
(z. B. Gabriel, Grastdorf, Lakeit, Wandt & Weyand, 2004; Geyer, 2002; Held et<br />
al., 2008), der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit bzw. Prekarisierung und<br />
rechtsextremen Einstellungen (Decker et al. 2012; Sommer, 2010), Unterschiede<br />
zwischen Männern und Frauen (z. B. Birsl, 2012; Fromm & Kernbach, 2002; Köttig,<br />
2004) oder zwischen Stadt und Land (Best & Salheiser, 2012, S. 92ff.; Held et<br />
al., 2008; Neumann, 2001).<br />
Auch Zusammenhänge von medialer Berichterstattung und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
sind unter diesem Aspekt wieder erwähnenswert (vgl. z. B. Brosius, 2002;<br />
Dollase, 2002; Erb, 2002; König, 2008; Schellenberg, 2005).<br />
Friedhelm Neidhardt fragt – sicher etwas polemisch:
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
57<br />
„Auf welchen Wegen und mit welchem Erfolg erreicht der in Organisationen und<br />
Parteien verfasste Rechtsradikalismus, dessen Strukturen und Programme jeder<br />
Verfassungsschutzbericht ausführlich beschreibt, eine Basis gewaltbereiter junger<br />
Leute? Welche Medien spielen dabei eine Rolle?“ (Neidhardt, 2002, S. 784).<br />
Zwei Jahre später formuliert er die in den o. g. Fragen steckende These expliziter:<br />
„Auch bei der Mobilisierung rechtsextremistischer Aktionen könnten Medien durchaus<br />
gegen ihren Willen zum Beispiel zu einer ‚discursive opportunity structure‘ (Koopmans<br />
1996; 2001) zugunsten derer beitragen, die sie scharf kritisieren, nämlich<br />
Informationen, ‚Frames‘ und Positionen bekannt zu machen, die sich zum Beispiel<br />
zur Rechtfertigung von Gewalt und zur Stigmatisierung von Fremden verarbeiten<br />
lassen“ (Neidhardt, 2004, S. 337).<br />
Brosius und Scheufele (2001) untersuchen, unter welchen Bedingungen die Berichterstattung<br />
der Medien einer Ausbreitung fremdenfeindlicher Straftaten Vorschub<br />
leistet. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass es unter bestimmten Bedingungen<br />
zu massiven Anstiftungseffekten durch die Berichterstattung kommen<br />
kann. Schon die Berichterstattung über Gewalt durch Ausländer könne zu ausländerfeindlichen<br />
Straftaten führen (vgl. auch Esser, Scheufele & Brosius, 2002).<br />
Häug wird in der Medienberichterstattung das Handeln der Migranten selbst für<br />
das „Ausländerproblem“ verantwortlich gemacht und negativ bewertet (Pfetsch<br />
& Weiß, 2000). Das kann dazu führen, dass in bestimmten Gruppen die Gewaltbereitschaft<br />
gegenüber Ausländern/ Migranten wächst (Scheufele, 2002). So wird<br />
die Berichterstattung von verschiedenen Rezipientengruppen unterschiedlich aufgenommen<br />
und löst Reaktionen von ausländerfeindlicher Wut bis zu Angst vor<br />
rechtsextremer Gewalt aus (Oemichen, Horn & Mosler, 2005).<br />
Unter diesem Aspekt ist auch der o. g. Hinweis von Neidhardt auf die „discursive<br />
opportunity structure“ im Sinne von Koopmans zu verstehen: Verbreitungsmedien<br />
(im Luhmannschen Sinne) eröffnen Möglichkeitsräume (Frindte, 1998, 1999;<br />
Geschke, Sassenberg, Ruhrmann & Sommer, 2010) oder stellen Frames bereit,<br />
wie Wirklichkeit interpretiert werden kann. Diesbezüglich wurden verschiedenste<br />
Aspekte der Berichterstattung in Inhalts- und Rezeptionsanalysen untersucht, wie<br />
z. B. ereignisorientierte Thematisierung (z. B. Weiß & Spallek, 2002), Skandalisierung,<br />
Emotionalisierung und Stereotypisierung mit deren Wirkpotentialen und<br />
Wirkungen (vgl. z. B. Matthes & Marquardt, 2013; Oemichen et al., 2005). Die<br />
Rezipientenanalysen der „ARD/ZDF Studie“ (vgl. Oemichen et al., 2005) zeigen,<br />
dass eine moderate Emotionalisierung zum einen durchaus bedeutsam sein kann,<br />
da sie eine Identikation mit den Opfern ermöglicht und dazu anregt, sich inten-
58<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
siver mit dem Thema zu beschäftigen. Zum anderen können solche Berichterstattungsmuster<br />
aber auch die Rezipienten emotional überwältigen und stark emotionale,<br />
fremdenfeindliche Reaktionen auslösen (vgl. auch Schellenberg, 2005).<br />
Pfeiffer, Jansen, Stegmann und Tepper (2002) untersuchten die <strong>Rechtsextremismus</strong>-Berichterstattung<br />
in deutschen Tageszeitungen und kritisierten zum einen die<br />
stereotype Darstellung der Rechtsextremen, die verwirrte Einzeltäter oder außerhalb<br />
der Gesellschaft stehende Extremisten zeigt, statt das gesamtgesellschaftliche<br />
Problem zu fokussieren. Zum anderen stellten sie fest, dass der <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
im Osten den Lesern „in unangemessenem Maße als größeres Problem vermittelt<br />
wird, jener im Westen hingegen vernachlässigt wird“ (Pfeiffer et al., 2002, S. 277;<br />
vgl. auch Oemichen et al., 2005 für TV-Berichterstattung). Über die deutsche Berichterstattung<br />
hinaus, stellt Udris (2007) in den Schweizer Leitmedien von 1960<br />
bis 2007 fest, dass auch diese von Skandalisierung und Event-Inszenierungen geprägt<br />
ist und somit „punktualistisch respektive ereignisorientiert und höchst volatil“<br />
(Udris, 2007, S. 3).<br />
„Discursive opportunity structures“ oder „diskursive Gelegenheitsstrukturen“<br />
bezeichnen die politischen Strukturen bzw. die Diskurse über solche Strukturen,<br />
durch die sich Möglichkeiten ergeben, soziale Bewegungen zu mobilisieren (vgl.<br />
auch Klärner, 2008; Udris, 2011). Das Konzept der Gelegenheitsstrukturen verweist<br />
zunächst auf einen unscharfen Begriff (vgl. auch Klärner, 2008, S. 52), der<br />
aus der soziologischen Bewegungsforschung stammt (siehe auch weiter unten).<br />
Diese Perspektive steht nicht unbedingt konträr zur <strong>Rechtsextremismus</strong>auffassung<br />
von Heitmeyer und Kollegen, sie offeriert aber u. a. einen Ansatz, um den Einuss<br />
der Verbreitungsmedien in der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung neu zu bestimmen<br />
(vgl. auch Braun & Koopmans, 2010; Weiß & Spallek, 2002 18 ): Verbreitungsmedien<br />
können u. U. Möglichkeitsräume (oder discursive opportunity structures) eröffnen,<br />
an die sich Rechtsextreme anzuschließen vermögen und durch die sie sich<br />
in ihren Ideologien und Handlungsbereitschaften bestätigt sehen. Dabei sind für<br />
den Zeitraum 2001 bis 2013 vor allem die wissenschaftlichen und journalistischen<br />
Analysen über die Bedeutung des Internets im Kontext von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und Rechtspopulismus hervorzuheben (vgl. z. B. Busch, 2005; Braun & Hörsch,<br />
2004; Frindte, Jacob & Neumann, 2002; Fromm & Kernbach, 2001; Holtz & Wagner,<br />
2008; Parker, 2002; Pfeiffer, 2004, 2009; Reissen-Kosch, 2013; Wojcieszak,<br />
2011). In einem Review liefert Daniels (2013) einen Überblick über Studien der<br />
letzten 15 Jahre, die sich mit Internet und Rassismus beschäftigen.<br />
18 Die Arbeit von Weiß und Spallek (2002) dürfte für künftige inhaltsanalytische Untersuchungen<br />
der Berichterstattung über <strong>Rechtsextremismus</strong> besonders paradigmatisch<br />
sein.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
59<br />
Unbedingt erwähnenswert ist auch der aktuelle Sammelband von Michael Haller<br />
(2013) über den „Rechtsterrorismus in den Medien“. Norwegische und deutsche<br />
Medienfachleute (Journalisten und Wissenschaftler) diskutieren in diesem Band, wie<br />
Journalisten mit den Mordtaten von Anders Behring Breivik in Norwegen und denen<br />
des Nationalsozialistischen Untergrunds in Deutschland umgegangen sind. Aus kommunikations-<br />
und medienrechtlicher Perspektive betrachtet Kujath (2013) die Medienöffentlichkeit<br />
im „NSU-Prozess“ (siehe auch ausführlich Kapitel 3 in diesem Band).<br />
B<br />
Meso-soziale Bedingungen<br />
Auch meso-soziale Bedingungen (wie Sozialisationsein üsse oder rechtsextreme<br />
Milieus und Szenen) werden als Prädiktoren für rechtsextreme bzw. fremdenfeindliche<br />
Einstellungen in den Mitte-Studien (Decker et al. 2012) oder im Thüringen-<br />
Monitor (Best & Salheiser, 2012) untersucht.<br />
Vor allem aber in dem sehr umfassenden Forschungsbericht über rechtsextreme<br />
Orientierungen und rechtsextreme Szenen von Möller und Schuhmacher (2007)<br />
spielen diese meso-sozialen Bedingungen eine wichtige Rolle. Die zentralen Ergebnisse<br />
dieses in seiner Anlage einzigartigen Forschungsprojekts zeigen u. a.,<br />
dass rechtsextreme Orientierungen und Symboliken zunehmend in unterschiedliche<br />
Jugendkulturen einwandern, rechtsextreme Haltungen immer stärker auch<br />
öffentlich akzeptiert werden, der Anteil der Gewaltbereiten im rechtsextremen<br />
Spektrum sich in den 2000er Jahren vervielfacht hat und Gefühle eigener Desintegration<br />
und Missachtung, das Erleben von Konkurrenz mit Migranten und das<br />
Aufwachsen in einem menschenfeindlich geprägten Umfeld zu den Bedingungen<br />
gehören, unter denen rechtsextreme Tendenzen wahrscheinlich werden (vgl. auch<br />
Wippermann, Zarcos-Lamolda & Krafeld, 2004).<br />
Auch auf die soziologische Bewegungsforschung ist an dieser Stelle noch einmal<br />
zu verweisen: Nachdem diese Perspektive bereits im Zeitraum von 1990 bis 2000<br />
von mehreren Autoren in die Diskussion eingeführt wurde (s. o.), gewinnt sie im<br />
Zeitraum von 2001 bis 2013 vor allem in den Politik- und Sozialwissenschaften stark<br />
an Einuss (vgl. z. B. Grumke, 2013; Klärner, 2008; Klärner & Kohlstruck, 2006;<br />
Pfeiffer, 2002; Pfahl-Traughber, 2003; Rucht, 2002). Innerhalb dieser Forschungs-<br />
Community wird der <strong>Rechtsextremismus</strong> als soziale Bewegung betrachtet (was er<br />
trivialer Weise auch ist), um die Vielfalt relativ autonomer rechtsextremer Strömungen<br />
beobachten zu können. In diesem Sinne schreibt z. B. Thomas Grumke:<br />
„In der Tat sind die eher partikularen Ansätze der Parteien- und Wahlforschung oder<br />
der Jugend- und Gewaltforschung kaum in der Lage, das komplexe, heterogene und<br />
mittlerweile sich internationalisierende Phänomen (des <strong>Rechtsextremismus</strong>, die Verfasser)<br />
voll zu erfassen“ (Grumke, 2013, S. 29).
60<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
Und indem er sich auf Rucht (2002) bezieht, sieht Grumke (Grumke, 2013) in der<br />
Bewegungsforschung ein Analysepotential, das Chancen für stärker integrative<br />
Sichtweisen und Interpretationen des <strong>Rechtsextremismus</strong> zu liefern vermag. Aus<br />
der Sicht der Bewegungsforschung ist der <strong>Rechtsextremismus</strong> nicht vorrangig als<br />
Ideologie mit Gewaltaf nität zu betrachten, sondern als Ensemble von Gruppen<br />
und Organisationen, die sich über Symbole, Idole und Slogans de nieren, Protest<br />
mobilisieren, praktizieren und provozieren, um auf diese Weise einen grundsätzlichen<br />
gesellschaftlichen Wandel zu initiieren (vgl. Klärner, 2008, S. 39ff.). Aus<br />
sozialpsychologischer Perspektive nicht unbedeutend ist die Annahme, dass sich<br />
soziale Bewegungen nicht durch verbindliche und kodi zierte Programme, sondern<br />
durch eine kollektive Identität auszeichnen, mit der sie sich nach innen und<br />
außen abzugrenzen versuchen (vgl. auch Grumke, 2013, S. 30; Pfeiffer, 2013). Insofern<br />
bietet die soziologische Bewegungsforschung durchaus interessante interdisziplinäre<br />
Anschlussmöglichkeiten; besonders neu sind die vorgelegten wissenschaftlichen<br />
Ansätze – aus sozialpsychologischer Sicht – allerdings nicht.<br />
C<br />
Mikro-soziale und individuelle Bedingungen<br />
Sozialpsychologische Ansätze in den Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit:<br />
Die im Projekt vorrangig präferierten sozialwissenschaftlichen Erklärungen<br />
und Annahmen über die Ursachen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit<br />
stammen – sieht man von den soziodemogra schen Prädiktoren, wie Geschlecht,<br />
Alter, Bildung, Einkommen einmal ab – vor allem aus der etablierten sozialpsychologischen<br />
Vorurteilsforschung.<br />
Zu diesen Erklärungen gehören das Autoritarismus-Konzept (Altemeyer, 1988;<br />
hier z. B. Heitmeyer & Heyder, 2002; Zick et al., 2012), die Theorie der sozialen<br />
Dominanz von Sidanius und Pratto (1999; hier z. B. Küpper & Zick, 2008), die<br />
Konzeption vom Glauben an die gerechte Welt (Lerner, 1980; hier z. B. Dalbert,<br />
Zick & Krause, 2010) und die erweiterte Kontakttheorie nach Pettigrew (1998a;<br />
hier z. B. Christ & Wagner, 2008; Asbrock, Christ, Duckitt & Sibley, 2012a).<br />
Ulrich Wagner (2013) hebt vereinfachend zwei psychologische Erklärungsmuster<br />
für <strong>Rechtsextremismus</strong> hervor: ein persönlichkeitspsychologisches und ein sozialpsychologisches.<br />
Aus persönlichkeitspsychologischer Perspektive seien vor allem<br />
Autoritarismusneigung und Dominanzorientierung als Prädiktoren für rechtsextreme<br />
Tendenzen interessant (siehe oben). Von sozialpsychologischem Interesse seien<br />
dagegen die sozialen Bedingungen, in denen rechtsextreme Tendenzen entstehen<br />
bzw. sich entfalten. Zu diesen Bedingungen gehören Prozesse in und zwischen Gruppen<br />
(Tajfel, 1978) oder gruppenbezogene Emotionen und deren Verhaltensfolgen.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
61<br />
Zwar dürfte die Einschätzung von Bornewasser (1994), dass der „Fremde“ kein<br />
Forschungsthema in der Psychologie sei, kaum noch auf den gegenwärtigen Forschungsstand<br />
der Sozialpsychologie zutreffen, betrachtet man nur allein die expansive<br />
Entwicklung der Vorurteilsforschung. Eine genuin psychologische <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />
gibt es im deutschsprachigen Raum allerdings bisher nicht.<br />
Überdies: Während autoritäre Überzeugungen in diesem Kontext bereits sehr gut<br />
untersucht und in ihrem Ein uss auf rechtsextreme Tendenzen weitgehend bestätigt<br />
sind (siehe z. B. Best & Salheiser, 2012), nden sich im deutschsprachigen<br />
Raum, außer der o. g. von Küpper und Zick (2008), kaum einussreiche Studien, in<br />
denen die Variable Soziale Dominanzorientierung als Erklärung für rechtsextreme<br />
Tendenzen (im Sinne der ursprünglichen Denition von Heitmeyer und Kollegen;<br />
also als Kopplung von Ideologien der Ungleichwertigkeit und Gewaltafnität)<br />
geprüft und bestätigt wurde.<br />
Zu den wenigen sozialpsychologischen <strong>Rechtsextremismus</strong>-Studien gehören<br />
u. a. die Arbeiten von Klein und Simon (2006), Neumann (2001), Frindte und Neumann<br />
(2002), Menschik-Bendele und Ottomeyer (1998) und Neumann und Frindte<br />
(2002). Während sich die Studie von Klein und Simon (2006) zur Funktion der<br />
sozialen Identität in die neueren Ansätze der Bewegungsforschung (siehe unten)<br />
einordnet, versucht Neumann (2001) die von Heitmeyer und Mitarbeitern vorgelegte<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition sozialpsychologisch zu spezi zieren, indem<br />
er zwei international renommierte Theorieansätze (die Einstellungs-Verhaltens-<br />
Modelle von Ajzen und Fishbein (1980) und die Theory of coercive actions von<br />
Tedeschi und Felson (1995)) miteinander verknüpft.<br />
Auch Frindte und Neumann (2002) greifen auf die <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition<br />
von Heitmeyer zurück, spezizieren diese Denition auf der Basis eigener, vorausgehender<br />
Befunde (Frindte, 1999) und verknüpfen diese Spezikation mit dem<br />
General Affective Agression Model von Anderson, Deuser und DeNeve (1995).<br />
Trotz dieser vereinzelten Studien kann man sich nicht des Eindrucks erwehren,<br />
dass die in der <strong>Rechtsextremismus</strong>-De nition von Heitmeyer hervorgehobenen<br />
zwei Dimensionen in der Psychologie (vor allem in der Sozialpsychologie)<br />
zwei unterschiedliche Forschungsfelder und –traditionen markieren; zum einen<br />
das Feld der Vorurteilsforschung und zum anderen das Feld der Aggressions- und<br />
Gewaltforschung.<br />
Täteranalysen: Frindte und Neumann (2002) haben in einem interdisziplinären<br />
Projekt und in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut München (vgl.<br />
Wahl, 2002) fremdenfeindliche Gewalttäter (durchgehend männlich und zwischen<br />
1970 und 1983 geboren) in 21 bundesdeutschen Haftanstalten interviewt. In dem<br />
Projekt sollten die situativen und biogra schen Bedingungen für fremdenfeindliches<br />
Gewalthandeln junger Menschen untersucht werden, um Vorschläge für
62<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
potentielle Prävention und Intervention ableiten zu können. Insgesamt wurden 101<br />
Täter mittels leitfadengestütztem Interview und Fragebogen befragt. Im Ergebnis<br />
kommen Frindte und Neumann (2002) u. a. zu dem Schluss, dass es sich bei den<br />
Gewalttätern um multipel kriminelle und in hohem Maße aggressionsgewöhnte<br />
und -bereite junge Männer handelt. Eine gezielt politische Funktion tritt bei diesen<br />
Tätern eher hinter eine jugendkulturelle maskuline Stärkepräsentation zurück.<br />
Das gilt für ost- und westdeutsche Akteure gleichermaßen; die Täter- und Tatbelastung<br />
ist allerdings bei den Gewalttätern aus den neuen Bundesländern – relativ<br />
zur Bevölkerungszahl – höher. Ostdeutsche unterscheiden sich von westdeutschen<br />
Tätern auch dadurch, dass sie die Taten häu ger sowohl aus einer positiven<br />
Grundstimmung heraus begehen als auch während der Tat positive Emotionen wie<br />
Freude eine größere Rolle spielen als bei westdeutschen Tätern. Darüber hinaus<br />
waren die Taten ostdeutscher Jugendlicher häuger mit einer erhöhten vor der Tat<br />
bestehenden Aggressionsbereitschaft verbunden.<br />
Helmut Willems, der schon 1993 gemeinsam mit Eckert, Würtz und Steinmetz<br />
(Willems et al., 1993, s. o.) eine ausführliche Täteranalyse durchgeführt hat, veröffentlichte<br />
2003 eine auf Nordrhein-Westfalen bezogene Analyse zu Täter- und<br />
Opferprolen (Willems & Steigleder, 2003), in der u. a. eine vereinfachte Gruppierung<br />
von rechten Gewalttätern präsentiert wurde: der „Mitläufer“, der deviante<br />
„Schlägertyp“, der „Ethnozentrist“ und der „rechtsradikale Täter“. Rechtsextreme<br />
Ideologien spielen, dieser Analyse zur Folge, vor allem bei den „rechtsradikalen<br />
Tätern“ eine gewaltlegitimierende Rolle (vgl. auch Gamper & Willems, 2006;<br />
Krüger, 2008).<br />
„Nationalsozialistischer Untergrund“: Im November 2011 wurde die rechtsterroristische<br />
Gruppierung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) aufgedeckt.<br />
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe werden zehn Morde zugerechnet, die sie in den<br />
fast 14 Jahren im Untergrund begangen haben sollen. Dabei wurden sechs türkische<br />
Staatsangehörige, zwei türkischstämmige Deutsche, ein Grieche und eine<br />
deutsche Polizistin getötet. Zuvor waren die drei in der rechtsextremen Jenaer Jugendszene<br />
und im rechtsextremen „Thüringer Heimatschutz“ aktiv, nahmen an<br />
rechtsextremen Demonstrationen teil und bauten Bomben. Im Januar 1998 war<br />
es Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gelungen, in den Untergrund abzutauchen.<br />
Gefahndet wurde nach ihnen noch bis Anfang der 2000er Jahre. Die nach dem<br />
November 2011 bekannt gewordenen Fahndungspannen, das Vernichten von Akten<br />
bei Polizei und Verfassungsschutz, die möglichen rechtsextremen Unterstützer<br />
des Terror-Trios und dessen Kontakte zum Verfassungsschutz beschäftigen noch<br />
immer (also zum Zeitpunkt, an dem dieses Review geschrieben wurde) diverse<br />
Untersuchungsausschüsse auf Länder- und Bundesebene.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
63<br />
Die besondere Tragik dieser Pannen liegt darin, dass die Fahnder offenbar jahrelang<br />
nicht auf die Idee kamen, die zehn Morde könnten einen rechtsextremen<br />
Hintergrund haben und auf das Konto des gesuchten Nazi-Trios gehen. Lange Zeit<br />
ging die Polizei von der Annahme aus, es handele sich um Verbrechen der organisierten<br />
Kriminalität oder gar um Ehrenmorde. Die Sonderkommissionen der Polizei<br />
hießen dann auch Soko Halbmond oder Soko Bosporus. Über Jahre wurden<br />
auch Angehörige der Mordopfer als mögliche Täter oder Mitwisser verdächtigt.<br />
Und in den Medien, auch in jenen, die sich als Qualitätsmedien verstehen, wie die<br />
Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die Neue Züricher Zeitung, schrieb man von<br />
„Döner-Morden“ und von „Döner-Mördern“ (Spiegel Online ,4.7.2012).<br />
An der Brutalität der Morde, die vom Nationalsozialistischen Untergrund verübt<br />
wurden, kommt seit seiner Aufdeckung auch die <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />
nicht vorbei (z. B. Backes, 2013; Baumgärtner & Böttcher, 2012; Fuchs & Goetz,<br />
2012; Gensing, 2012, Pfahl-Traughber, 2012b; Röpke & Speit, 2013; Schmincke &<br />
Siri, 2013; Staud & Radke, 2012; Sundermeyer, 2012; Wetzel, 2013).<br />
Der <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland entstand nicht über Nacht und bildete<br />
sich auch nicht erst nach 1989 aus. Tatsache ist aber auch, dass nach der Wende<br />
in der DDR die rechtsextremistischen Gewalt- und Straftaten in ganz Deutschland<br />
sprunghaft angestiegen waren ( siehe auch den Beitrag von Quent in diesem<br />
Band). So kommt Gensing (2012) zu der Schlussfolgerung, dass die Pogrome in<br />
Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda in den Jahren 1991 und 1992 und die dabei<br />
deutlich gewordene Legitimierung von Gewalt gegen Migranten durch Staat<br />
und Bevölkerung zu den Sozialisationserfahrungen der neuen Neonazis gehören.<br />
Auch Stephan Lessenich (2013) fragt zunächst nach dem „Braunen Osten?“. Sicher,<br />
die Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (z. B. Heitmeyer,<br />
2012) oder die „Mitte-Studien“ (Decker et al., 2012) zeigen die nach wie vor vorhandenen<br />
Ost-West-Unterschiede in den rechtsextremen Tendenzen. Aber worauf<br />
verweisen diese Unterschiede? Auf „die ‚böhsen Onkelz‘ von der SED, die in den<br />
Köpfen und Seelen der Ostdeutschen noch heute ihr Unwesen treiben“? (Lessenich,<br />
2013, S. 141). Lessenich sieht das analytischer: Mit der politisch-medialen<br />
Debatte über die NSU-Morde sei der <strong>Rechtsextremismus</strong> erneut zum Instrument<br />
der deutsch-deutschen Gesellschaftspolitik geworden. „Wie dem auch sei: Aus<br />
soziologischer Warte allemal Stoff und Grund genug, der alltagspraktischen und<br />
mikropolitischen Aufarbeitung der Vereinigungsfolgen genauer nachzugehen“<br />
(Lessenich, 2013, S. 142).
64<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
2.2.5 Zwischenfazit<br />
Im Zeitraum 1990 bis 2000 dominierten relativ geschlossene, umfassende und<br />
exklusive Forschungsansätze das Forschungsfeld. Ausgehend von diesen (bzw.<br />
besonders einem) Forschungsansatz wurde versucht, die verschiedenen Facetten<br />
von <strong>Rechtsextremismus</strong> zu erklären (und empirisch zu begründen). Vor allem<br />
die Sozialisations- und Desintegrationstheorie von Heitmeyer und Mitarbeitern<br />
(Heitmeyer, 1989; Heitmeyer et al., 1992; Heitmeyer & Müller, 1995) und die im<br />
Rahmen dieser Theorie entwickelte <strong>Rechtsextremismus</strong>-De nition bestimmten<br />
in diesem Zeitraum die Erforschung rechtsextremer Tendenzen. Konkurrierende<br />
Ansätze (z. B. das Modell des <strong>Rechtsextremismus</strong>-Syndroms von Melzer, 1992;<br />
bzw. Melzer & Schubarth, 1995) oder kritische Einwände (z. B. Eckert & Willems,<br />
1996; Leggewie, 1998) haben vor allem die dezidiert makrosoziologische Fokussierung<br />
des Heitmeyerschen Ansatzes als zwar notwendige, aber nicht hinreichende<br />
Erklärungsperspektive hervorgehoben.<br />
Im Zeitraum von 2001 bis 2013 nden sich in den Sozialwissenschaften und<br />
der Psychologie zwar auch dominante Theorieansätze zur Erklärung des <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />
Augenscheinlich etablieren sich aber zunehmend Forschungsweisen,<br />
in denen ausgehend vom Phänomen des <strong>Rechtsextremismus</strong> theoretische Konzeptionen<br />
(und deren empirische Begründungen) entwickelt wurden, mit denen ihre<br />
Konstrukteure verschiedene und z. T. auch diverse Partial-Theorien (bzw. Theorien<br />
mittlerer Reichweite, Merton, 1957) zu systematisieren und zu integrieren versuchen.<br />
Prototypisch nden derartige Integrationen im Projekt Gruppenbezogene<br />
Menschenfeindlichkeit statt. Neben makrosoziologisch wichtigen Konzepten und<br />
Variablen wurden im Verlauf des Langzeitprojekts mikrosoziologische und sozialpsychologische<br />
Theorien (z. B. das Autoritarismus-Konzept, die Theorie der<br />
sozialen Dominanz, s. o.) genutzt, um Struktur und Bedingungen des Syndroms<br />
der Gruppenbezogen Menschenfeindlichkeit zu erklären (und empirisch zu begründen).<br />
Auch die schon mehrfach erwähnte soziologische Bewegungsforschung (z. B.<br />
Klärner, 2008) greift in der Erforschung des <strong>Rechtsextremismus</strong> auf diverse soziologische,<br />
kommunikationswissenschaftliche und sozialpsychologische Partial-<br />
Theorien zurück (z. B. die Dominanztheorie von Rommelspacher, 1995, 2006; der<br />
Framingansatz, Entman, 1993; die Theorie der sozialen Identität, Tajfel & Turner,<br />
1979).<br />
In Anlehnung an McGuire (1986) könnten die Forschungsweisen im Zeitraum<br />
1990 bis 2000 auch als divergente Forschungsstile bezeichnet werden; die Forschungsweisen<br />
im Zeitraum von 2001 bis 2013 wären dagegen eher als konver-
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
65<br />
gente Forschungsstile zu nennen. 19 Die mit konvergenten Forschungsstilen einhergehenden<br />
Bemühungen, diverse Partial-Theorien zu integrieren, dürften auch<br />
ein weiterer Grund sein, warum sich das ursprünglich für die Beobachtung des<br />
Zeitraums von 1990 bis 2000 angelegte Raster, mit dem die aufgefundenen wissenschaftlichen<br />
Publikationen geordnet werden sollten, für den Zeitraum von 2001<br />
bis 2012 als zu starr erwiesen hat.<br />
Im Ergebnis eines konvergenten Forschungsstils, in dem z. B. das Autoritarismus-Konzept,<br />
Diskriminierungsansätze und makrosoziologische Konzeptionen<br />
verknüpft, operationalisiert und als mögliche Ursachen für rechtsextreme Tendenzen<br />
geprüft werden, lassen sich dann Aussagen treffen, wie die folgenden aus dem<br />
„Thüringen-Monitor 2012“:<br />
„Über diese Analyse können als wichtigste Ursachen für rechtsextreme Einstellungen<br />
autoritäre Orientierungen, ein niedriger Bildungsabschluss, die empfundene<br />
Diskriminierung der Ostdeutschen, der verfestigte Eindruck, keinen Ein uss auf<br />
die Regierung zu haben, und, in geringerem Maß, die politische Eigenkompetenzzuschreibung<br />
benannt werden. Gemeinsam können diese Einussgrößen 44 Prozent<br />
der beobachteten rechtsextremen Einstellungen unter der Thüringer Bevölkerung erklären“<br />
(Best & Salheiser, 2012, S. 92; vgl. auch Decker et al., 2012).<br />
Im Zeitraum 2001 bis 2013 hat gegenüber dem vorangehenden Jahrzehnt auch<br />
eine weitere Verschiebung in den Forschungsperspektiven stattgefunden: Wenn<br />
zwischen 1990 bis 2000 die rechtsextremen Tendenzen vor allem als Folge einer<br />
wahrgenommenen individuellen und sozialen Bedrohung interpretiert und analysiert<br />
wurden, so scheint sich im Zeitraum 2001 bis 2013 die Forschung vor allem<br />
auf die Bedrohungspotentiale zu richten, die vom <strong>Rechtsextremismus</strong> ausgehen.<br />
Zumindest sind das die zentralen Botschaften, die sich aus den Ergebnissen der<br />
großen repräsentativen Studien ableiten lassen (Best & Salheiser, 2012; Decker et<br />
al., 2012; Heitmeyer, 2012). Und ein weiteres Merkmal scheint aus unserer Sicht<br />
die sozialwissenschaftlichen Forschungsperspektiven im besagten Zeitraum zu<br />
charakterisieren: Wie im Zeitraum 1990 bis 2000 spielt auch im nachfolgenden<br />
19 William J. McGuire (1986) beschreibt in diesem Überblicksartikel die Entwicklung<br />
der sozialpsychologischen Einstellungsforschung und unterscheidet dabei zwei Forschungsstile,<br />
einen „convergent-style“ und einen „divergent-style“: „The … convergent<br />
stylist typically started off with a phenomenon to be explained …and cast a wide<br />
theoretical net to ensnare as many relevant independent variables as possible, bringing<br />
a wide variety of explanatory notions convergently to bear on the phenomenon to be<br />
explained“ (McGuire, 1986, S. 99). “A divergent stylist starts off with a theory … and<br />
applies it divergently across a series of studies to a variety of … phenomena” (McGuire,<br />
1986, S. 100).
66<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
Jahrzehnt die Identitätsproblematik eine zentrale Rolle; etwa wenn auf das Identi-<br />
kationspotential der rechtsextremen Gruppierungen, Milieus oder Bewegungen<br />
verwiesen wird (vgl. auch Klein, 2003).<br />
3 Internationale Anregungen und Publikationen<br />
in englischsprachigen Datenbanken<br />
(PsycINFO und Web of Knowledge)<br />
3.1 Internationale Vergleiche im deutschsprachigen Raum<br />
Eine erste Erweiterung der o. g. Suchstrategien nach wissenschaftlichen Publikationen<br />
zum Forschungsfeld „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ geht wiederum auf eine kritische<br />
Einschätzung von Friedhelm Neidhardt (2002) zurück. Neidhardt moniert in<br />
seinem bereits erwähnten umfangreichen Review u. a. die mangelnde Internationalisierung<br />
der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung.<br />
Die Frage ist, ob sich das im Zeitraum 2001 bis 2013 verändert, verbessert<br />
hat. Ja, es hat sich etwas zum Positiven im deutschsprachigen Raum verändert:<br />
Erschienen sind z. B. eine sehr ausführliche Buchpublikation, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />
(FES) herausgegeben wurde (Langenbacher & Schellenberg,<br />
2011), in der Wissenschaftler aus Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich,<br />
Großbritannien, Italien, den Niederlanden, aus Norwegen, Polen, Schweden, der<br />
Schweiz, aus Spanien und Ungarn die Strukturen und die Entwicklung des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und Rechtspopulismus in Europa analysieren. Vergleiche zwischen<br />
den rechtsextremistischen Entwicklungen in Europa nden sich auch bei Backes<br />
(2013), Greven und Grumke (2006), Melzer und Serfain (2013), Münch und Glaser<br />
(2011) und Stöss (2010; ebenfalls von der FES herausgegeben). Und gleichfalls von<br />
der FES herausgegeben wurde auch die Studie von Grumke und Klärner (2006),<br />
in der ein Vergleich zwischen den rechtsextremen Entwicklungen in Deutschland<br />
und Großbritannien versucht wird. Auch auf die umfangreiche Studie zum <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
in den USA von Thomas Grumke (2001) ist zu verweisen.<br />
Unbedingt erwähnenswert ist auch die europäische Vergleichsstudie „Die Abwertung<br />
der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz,<br />
Vorurteilen und Diskriminierung“ von Zick, Küpper und Hövermann (2011; und:<br />
wiederum von der FES herausgegeben). Hier handelt es sich um Befunde einer<br />
Meinungsumfrage, bei der jeweils ca. 1.000 Bürger in Deutschland, Großbritannien,<br />
Frankreich, den Niederlanden, Italien, Portugal, Polen und Ungarn zur<br />
Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit befragt wurden. Ähnlich wie im o. g.<br />
Langzeitprojekt „Deutsche Zustände“ (Heitmeyer 2002 bis 2012) stand in dieser
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
67<br />
Umfrage neben Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus, Homophobie auch<br />
das Ausmaß der Islamfeindlichkeit im Analysefokus. Das heißt, es geht nicht explizit<br />
um rechtsextreme Tendenzen, eher um verschiedene Facetten der „Ideologie<br />
der Ungleichwertigkeit“.<br />
3.2 Publikationen in Web of Science und PsycINFO<br />
Internationale Arbeiten, die sich dezidiert dem „<strong>Rechtsextremismus</strong>“, respektive<br />
„right-wing extremism“ widmen, sind rar. Zumindest ist die Suche danach nicht<br />
einfach. Der Grund dafür liegt auf der Hand und hat vor allem mit der schon mehrfach<br />
hervorgehobenen begrif ichen Diversität zu tun (vgl. auch Grumke, 2001,<br />
S. 18). Im angloamerikanischen Sprachraum wird besagtes Phänomen z. B. als<br />
radical right (Bell, 1963) benannt oder als extreme right (Ebata, 1997; Lipset &<br />
Raab, 1978), als racist right (Ridgeway, 1990), als far right (Coppola, 1996), oder<br />
als survivalist right (Lamy, 1996).<br />
In der Datenbank Web of Science sind für den Zeitraum 1990 bis 2013 immerhin<br />
171 wissenschaftliche Publikationen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> vermerkt<br />
(Suchbefehl: „right-wing extremism“) und ca. 360 zum Stichwort „racist right“.<br />
Dabei handelt es sich um politikwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und<br />
psychologische Arbeiten 20 , die u. a. a) Überblicksarbeiten darstellen (Lundberg,<br />
2011), b) sich u. a. mit den Persönlichkeitsprolen rechtsextremer Aktivisten beschäftigen<br />
und dabei auch auf die Funktion autoritärer Überzeugungen verweisen<br />
(Van Hiel, 2012), c) Deprivationserfahrungen, Anomie und Wertorientierungen als<br />
Prädiktoren für rechtsextreme Orientierungen thematisieren (z. B. Heyder & Gassner,<br />
2012), d) rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen und Parteien in<br />
Europa und Übersee behandeln (Arter, 2010; Guterl, 2008; Veugelers, 2000) und e)<br />
auf die Rolle von Online-Medien und Sozialen Netzwerken für rechtsextreme Bewegungen<br />
hinweisen (Caiani & Wagemann, 2009; Crilley, 2001; Holtz & Wagner,<br />
2009; Wojcieszak, 2011).<br />
20 Diese psychologischen Publikationen werden fast alle auch in der Datenbank PsycIN-<br />
FO aufgeführt.
68<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
In der englischsprachigen, psychologischen Datenbank PsycINFO nden sich<br />
für den Zeitraum 1990 bis 2013 unter dem Suchbegriff „right-wing extremism“<br />
nur 40 Publikationen, von denen wiederum 18 Arbeiten sich mit rechtsextremen<br />
Tendenzen in Deutschland beschäftigen (z. B. Frindte et al. 1996; Hagan et al.<br />
1999; Oesterreich 2005b). Erwähnenswert ist aber die Studie von Michael und<br />
Minkenberg (2007), in der rechtsextreme Tendenzen in den USA mit solchen in<br />
Deutschland verglichen werden.<br />
Die Recherche in PsycINFO wurde deshalb erweitert: Statt des Suchbefehls<br />
„right-wing extremism“ wurde in einem zweiten Schritt der Suchbegriff „Hate<br />
Crime“ gesucht. Die Suche mittels des Suchbefehls „Hate Crime“ hängt mit einer<br />
Orientierung der deutschen <strong>Rechtsextremismus</strong>-Forschung seit 2000 im Hinblick<br />
auf internationale Forschungen zusammen (vgl. auch Coester 2008; Jennes und<br />
Grattet 2002; Seehafer 2003).<br />
Auffallend ist zunächst, dass die Anzahl der Publikationen, die unter dem<br />
Schlagwort „Hate crime“ nachweisbar sind, nach 2001 stark ansteigt. Dieser Anstieg<br />
von psychologischen Arbeiten zum Stichwort „Hate Crime“ scheint mit einer<br />
Erweiterung dieses Forschungsfeldes verbunden zu sein. Nach 2001 werden unter<br />
dem Stichwort „Hate Crime“ – neben Überblicksarbeiten (z. B. Bleich 2007; Ellis<br />
und Hall 2010) – auch Publikationen aufgeführt, in denen fremdenfeindliche Gewalt<br />
(per de nitionem also <strong>Rechtsextremismus</strong>) gegenüber Arabern bzw. Muslimen<br />
untersucht (z. B. Disha et al. 2011) oder Täterpro le (McDevitt et al. 2002)<br />
erarbeitet werden. Diese Studien sind für die <strong>Rechtsextremismus</strong>-Forschung insofern<br />
interessant, weil sie zum einen die im deutschsprachigen Raum – zumindest<br />
für den Zeitraum von 2001 bis 2013 – vernachlässigte Gewaltdimension in den<br />
Blick nehmen und zum anderen auf die emotionale Beteiligung rechtsextremer<br />
Gewaltafnitäten aufmerksam machen (vgl. auch Backes, 2013; Schneider, 2001).<br />
4 Schlussfolgerungen<br />
Im Verlauf des Zeitraums von 2001 bis 2013 hat sich in den deutschen Sozialwissenschaften<br />
und der Psychologie durchaus ein differenziertes Forschungsfeld<br />
zum <strong>Rechtsextremismus</strong> entwickelt, a) das sich durch ein wissenschaftlich artikuliertes<br />
Problemverständnis auszeichnet (auch wenn hinsichtlich einer De nition<br />
dieses Problems, also des <strong>Rechtsextremismus</strong>, kein Konsens zu erkennen ist), b)<br />
sich auf empirisch bewährte theoretische Erklärungsansätze (zur Problemlösung)<br />
zu stützen vermag, c) mit wissenschaftlich bewährten und geeigneten Methoden<br />
bearbeitet wird und d) von etablierten und konkurrierenden Wissenschaftlergemeinschaften<br />
bestimmt wird.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
69<br />
Das so ausgezeichnete (bzw. wahrgenommene) Forschungsfeld zum <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
lässt sich in Anlehnung an Theo Herrmann (1979) durchaus als Domain-Programm<br />
bezeichnen 21 ; d. h. sozialwissenschaftliche und psychologische<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung fokussiert zunächst auf einen Problembereich, der<br />
als relevant und beobachtbar angesehen wird und für den geeignete theoretische<br />
Erklärungskonzeptionen gesucht werden.<br />
Als geeignet für eine derartige Suche bieten sich – wie bereits erwähnt – zumindest<br />
zwei Wege an: ein divergenter und/oder ein konvergenter Forschungsstil.<br />
Ein divergenter Forschungsstil stützt sich auf eine weitgehend empirisch bestätigte<br />
theoretische Konzeption. Eine solche Theorie-Konzeption ist der Interpretationsrahmen,<br />
aus dem sich die methodischen Entscheidungen zur Erforschung des jeweiligen<br />
„Untersuchungsgegenstandes“ ableiten lassen. Mit anderen Worten: Die<br />
Theorie-Konzeption liefert das Bezugssystem, um zu prüfen, ob die Ergebnisse<br />
der methodischen Entscheidungen inhaltlich valide sind. Darin liegt der Vorteil<br />
eines divergenten Forschungsstils.<br />
Aber auch die Nachteile ergeben sich daraus: Es lässt sich eben nur das empirisch<br />
erforschen, was im Rahmen der Theorie-Konzeption beobachtbar ist. Das,<br />
was nicht im Rahmen der dominierenden Theorie-Konzeption bestimmt ist (z. B.<br />
die Gewalt-Dimension als Teil des <strong>Rechtsextremismus</strong>-Konzepts), wird nicht beobachtet<br />
bzw. in Denitionskämpfen als nicht beobachtbar behauptet. Das heißt,<br />
dann, wenn divergente Forschungsstile ein Forschungsfeld dominieren, konkurrieren<br />
Wissenschaftlergemeinschaften um die „richtigen“ Sichtweisen auf den<br />
„Untersuchungsgegenstand“. Derartige De nitionskämpfe prägten u.E. auch die<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung im Zeitraum von 1990 bis 2000.<br />
Ein konvergenter Forschungsstil hat dagegen den Vorteil, offen für vielfältige<br />
Theorie-Konzeptionen zu sein, die sich zur Erklärung des „Untersuchungsgegenstandes“<br />
anbieten. Die Probleme dabei liegen allerdings auch in dieser Offenheit<br />
bzw. im notwendigen Referenzrahmen, innerhalb dessen eine systematische Aus-<br />
21 Domain-Programme lassen sich dadurch charakterisieren, dass bestimmte Problemfelder<br />
mit einem relativ stabilen (indisponiblen) Kern von Annahmen existieren, mit<br />
denen quasi Regeln vorgegeben werden, wie etwas verstanden werden soll. Derartige<br />
Regeln (oder Konstruktionen) sind weder wahr noch falsch. Als Beispiel: Wenn sich<br />
Sozialwissenschaftler dem Problemfeld oder dem Forschungsgebiet „<strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und Fremdenfeindlichkeit“ zuwenden, dann bedeutet das, dass sie – implizit oder<br />
explizit – einen Komplex von Annahmen akzeptieren und verwenden, den man mit<br />
dem Etikett „<strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit“ beschreiben kann (vgl.<br />
auch Herrmann, 1979, S. 201). Dazu gehört u. a., dass es so etwas wie <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und Fremdenfeindlichkeit gibt, dass <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit<br />
interindividuell variieren können, dass wir zu wenig über diese Variationen<br />
wissen, aber mehr darüber wissen sollten etc.
70<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
wahl der zu integrierenden Partial-Theorien möglich wird: In der o. g. „Konsensdenition“<br />
des <strong>Rechtsextremismus</strong>, an der sich u. a. die „Mitte-Studien“ (z. B.<br />
Decker et al., 2012) und die Erhebungen des „Thüringen-Monitor“ (Best & Salheiser,<br />
2012; Best et al., 2013) orientierten, wurden rechtsextreme Einstellungen<br />
durch sechs Dimensionen beschrieben („Befürwortung einer rechtsautoritären<br />
Diktatur“, „Chauvinismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Antisemitismus“, „Sozialdarwinismus“<br />
und „Verharmlosung des Nationalsozialismus“). Hinter jeder dieser<br />
Dimensionen stehen ganz unterschiedliche Theorie-Konzeptionen. Ein Kriterium<br />
bzw. ein übergeordneter Referenzrahmen für diese sechs (und nicht z. B. acht oder<br />
sechsundsechzig) Dimensionen lässt sich aus den Publikationen nicht entnehmen.<br />
Wie also weiter?<br />
1. Trotz der zahlreichen deutschsprachigen Überblicksarbeiten zur <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung<br />
und der im Zeitraum von 2001 bis 2013 erfolgten theoretischen<br />
Integrationsbemühungen gibt es bisher keinen ernsthaften Versuch, die<br />
zahlreichen empirischen Befunde aus nicht minder zahlreichen Einzelstudien<br />
miteinander zu vergleichen. Im deutschsprachigen Bereich wurden zwischen<br />
1990 und 2013 mehr als 5.200 Arbeiten zum <strong>Rechtsextremismus</strong> publiziert.<br />
Davon sind schätzungsweise 30 Prozent empirische Studien. Aufgrund der<br />
Unbestimmtheit des <strong>Rechtsextremismus</strong>-Begriffs werden – aus unserer Sicht –<br />
die abhängigen und unabhängigen Variablen in diesen Studien sehr divers bestimmt<br />
und operationalisiert. Notwendig wäre deshalb eine fundierte und professionelle,<br />
empirisch gestützte Metastudie.<br />
2. Wenn sich die deutsche <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung im Zeitraum 2001 bis<br />
2013 vorrangig als Domain-Programm mit konvergentem Forschungsstil zu<br />
etablieren suchte, ein Referenzrahmen bzw. ein Kriterium für die Auswahl der<br />
zu integrierenden Theorie-Ansätze aber offenbar nicht eindeutig zu erkennen<br />
ist, dann ist zu fragen, ob und wie sich sozialwissenschaftliche bzw. psychologische<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>-Studien künftig etablieren können. Ein Weg könnte<br />
darin bestehen, die Dimension der Gewalt nicht aus dem Auge zu verlieren und<br />
die Befunde der vor allem angloamerikanischen „Hate Crime“-Forschung zu<br />
berücksichtigen. Dies hätte auch den Vorteil, emotionale Komponenten rechtsextremer<br />
Tendenzen in der Forschung stärker zu berücksichtigen. Damit ließen<br />
sich rechtsextreme Tendenzen tatsächlich auf der Basis der sozialpsychologischen<br />
Einstellungsforschung und dem klassischen „Dreikomponenten-Modell“<br />
von Rosenberg und Mitarbeitern (1960) folgend hinsichtlich ihrer kognitiven,<br />
affektiven und konativen Komponenten erforschen. Das heißt, mit dieser Konsequenz<br />
wird für die Rückbesinnung auf die ursprünglich von Heitmeyer und<br />
Mitarbeitern (1992) vorgeschlagene <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition plädiert. In
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
71<br />
dieser Denition (s. o.) wird <strong>Rechtsextremismus</strong> als Komplex aus einer Ideologie<br />
der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der Gewaltaf nität (bis hin<br />
zu gewalttätigem Handeln) verstanden. Beide Dimensionen werden durch Subdimensionen<br />
mit verschiedenen Facetten untergliedert und operationalisiert.<br />
Für weitere Forschungen ließen sich für die Operationalisierung der Ideologie<br />
der Ungleichwertigkeit die im Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit<br />
untersuchten Einstellungselemente bzw. -facetten nutzen. Zur Erforschung<br />
der Gewaltdimension wären die Ergebnisse der o. g. „Hate-Crime“-Forschung<br />
einzubeziehen. Und die mittlerweile umfangreiche Forschung zu „Intergroup<br />
Emotions“ (z. B. Mackie, Smith & Ray, 2008) böte genügend Ansätze, um die<br />
emotionale Komponente genauer zu bestimmen.<br />
3. Wie weiter oben schon gewürdigt, ist der Zugang, den Thomas Grumke (2011)<br />
wählt, um sich begrifich dem <strong>Rechtsextremismus</strong> über den Vergleich mit dem<br />
Fundamentalismus zu nähern, gar nicht so abwegig. Fundamentalismus und<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> sind antimodern und modern zugleich. Antimodern sind<br />
die Inhalte, modern ihre Organisationsformen. Heinrich Schäfer (2008) macht<br />
einen interessanten Vorschlag, um auch von einem Fundamentalismus im „säkularen<br />
Gewande“ sprechen zu können. Er schlägt einen „formalen Fundamentalismusbegriff“<br />
vor, um „sowohl religiöse als auch säkulare Bewegungen auf<br />
Fundamentalismus hin überprüfen“ (Schäfer, 2008, S. 24) zu können. Gemäß<br />
dieser Denition ist „eine soziale beziehungsweise religiöse Bewegung dann<br />
fundamentalistisch, wenn sie: 1. ihre spezische religiöse, ethnische oder ideologische<br />
Orientierung absolut setzt – gleich ob es sich um die Bibel, den Koran,<br />
den Mahdi, den Heiligen Geist, das serbische Volk, das Ariertum, den Markt<br />
oder sonst etwas handelt und 2. expansiv um die Kontrolle eines ihr übergeordneten<br />
gesellschaftlichen Machtzentrums kämpft“ (Schäfer, 2008). Antimoderne<br />
Inhalte (im religiösen Fundamentalismus ist das z. B. die absolute Geltung<br />
religiöser Gebote und Verbote; im <strong>Rechtsextremismus</strong> z. B. die Verabsolutierung<br />
von „Rasse“ oder „Nation“) werden – und auch darauf hat Grumke (2011)<br />
verwiesen – durch den Rückgriff auf religiöse und politische Mythen legitimiert,<br />
mittels moderner Organisations- und Kommunikationsformen transportiert<br />
und durch Gewalt oder Gewaltandrohung durchgesetzt.<br />
4. Wird <strong>Rechtsextremismus</strong> als fundamentalistische Ideologie beschrieben, so<br />
bieten auch die zahlreichen (sozial-) psychologischen Studien, in denen nach<br />
Prädiktoren für fundamentalistische Einstellungen gefahndet wird, profunde<br />
Hinweise für entsprechende <strong>Rechtsextremismus</strong>-Studien (vgl. z. B. die Metaanalyse<br />
von McCleary, Quillivan, Foster & Williams, 2011).<br />
5. Um den Ausgangspunkt und einen theoretischen Rahmen zu nden, mit denen<br />
eine (und nicht ausschließliche) Fokussierung auf neue Fragestellungen in der
72<br />
Wolfgang Frindte et al.<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung möglich ist, lohnt sich ein Blick auf die weiter<br />
oben formulierte Vermutung über die zwei Forschungsperspektiven in den<br />
Zeiträumen 1990 bis 2000 bzw. von 2001 bis 2013: In beiden Dekaden (1990<br />
bis 2000 und 2001 bis 2013) wurden rechtsextreme Tendenzen nicht nur unter<br />
dem Bedrohungsaspekt untersucht und erklärt (wahrgenommene Bedrohung<br />
und Desintegration z. B. durch gesellschaftliche und ökonomische Umbrüche<br />
und Modernisierungsprozesse als mögliche Bedingungen für rechtsextreme<br />
Tendenzen, bzw. Bedrohungspotentiale, die vom <strong>Rechtsextremismus</strong> ausgehen),<br />
sondern auch die Identitätsproblematik spielte eine zentrale Rolle; etwa<br />
wenn auf das Identi kationspotential der rechtsextremen Gruppierungen, Milieus<br />
oder Bewegungen verwiesen wird. Ausgehend vom Konzept der sozialen<br />
bzw. kollektiven Identität könnte ein möglicher Referenzrahmen markiert werden,<br />
innerhalb dessen der missing link zu nden ist, durch den makro-, mesound<br />
mikrosoziale Bedingungen vermittelt auf rechtsextreme Ideologien und die<br />
damit verbundenen Gewaltpotentiale Einuss nehmen.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …<br />
73<br />
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Kapitel 2<br />
Unschärfen, Befunde und Perspektiven<br />
„Die Mehrheit der Menschen, die rechtsextremen Aussagen zustimmt,<br />
wählt übrigens klassische Parteien und nicht die NPD. Ausländerfeindlichkeit ist<br />
die Einstiegsdroge zum <strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
(Elmar Brähler, Chismon 9/2005, S. 7).
Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />
Über die Gefahr, die Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
zu verschleiern<br />
Matthias Quent<br />
Ist der sich nach der deutschen Vereinigung konjunkturell vor allem durch brutale<br />
Gewalttaten in das öffentliche Bewusstsein drängende <strong>Rechtsextremismus</strong> eine<br />
Spätfolge der Sozialisation und der politischen Kultur in der ehemaligen DDR?<br />
Rostock-Lichtenhagen, Wahlerfolge der NPD, NSU und „PEGDIA“: So zuverlässig,<br />
wie der innovationsfähige <strong>Rechtsextremismus</strong> (zum Innovationsbegriff: Kollmorgen<br />
& Quent, 2014) Wege ndet, sich als Bewegung am Leben zu erhalten, seine<br />
Feinde einzuschüchtern und zu provozieren, so zuverlässig wird auch versucht,<br />
seine Ursachen im Vergangenen zu verorten. Am Beispiel der Debatte um den<br />
„Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) werden in diesem Beitrag öffentliche<br />
Argumentationsweisen der diskursiven Darstellung des <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />
eine Folgeerscheinung der DDR diskutiert und diesen Diskussionssträngen einige<br />
Befunde der empirischen Forschung gegenübergestellt.<br />
In der autobiograschen Erzählung „Eisenkinder“ thematisiert Sabine Rennefanz<br />
(2013) das Narrativ des „braunen Ostens“:<br />
„Verwahrlosung, höhere Gewaltbereitschaft und fremdenfeindliche Einstellungen<br />
waren im Kern schon vor 1989 in der DDR stärker ausgeprägt als in der Bundesrepublik‘,<br />
schreibt Klaus Schroeder im Tagesspiegel. Auch er führt das Neonazi-<br />
Potenzial auf die Vollerwerbstätigkeit der Mütter und die Einbindung in ‚staatliche<br />
Institutionen‘ zurück. Staatliche Institutionen, das klingt, als wären Kinderkrippen<br />
Gefängnisse gewesen. Ausbildungslager für kleine Neonazis. Das Tora-Bora des Ostens.“<br />
(Rennefanz, 2013, S. 6)<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
100 Matthias Quent<br />
„Die DDR sei schuld, die autoritäre Erziehung, sagten die Kollegen, außerdem wisse<br />
man ja, dass im Osten der <strong>Rechtsextremismus</strong> Mainstream sei, eine Aufarbeitung der<br />
Nazi-Zeit habe nie stattgefunden. Mich machte das wütend.“ (Ebd., S. 7)<br />
„Aus dem Osten kamen nur Nazis, Stasi-Leute und Arbeitslose.“ (Ebd.)<br />
„Dönermorde, so wurden die Verbrechen verniedlichend genannt. Türken untereinander<br />
meucheln sich, so klang das. Jetzt war es ein Problem der Ostdeutschen.<br />
Wieder hatte es nichts mit den Westdeutschen zu tun. In den folgenden Tagen achtete<br />
ich darauf, und mir el ein Muster auf. Es gab immer wieder den gleichen Re ex:<br />
Taucht ein Problem in Ostdeutschland auf, wird es gleich zum ‚typisch ostdeutschen‘<br />
Thema. Gibt es in Westdeutschland ein Problem, ist es gesamtdeutsch.“ (Ebd.)<br />
Anhand dieser (und weiterer) Beispiele drückt die in der ehemaligen DDR geborene<br />
Autorin ihr Unbehagen mit der Etikettierung der neuen Bundesländer als<br />
Hort des <strong>Rechtsextremismus</strong> aus – ohne die brutale Virulenz zu verharmlosen, mit<br />
der der <strong>Rechtsextremismus</strong> dort sichtbar wurde. Nicht in der DDR-Sozialisation,<br />
sondern in der Entsicherung, Orientierungs- und Kontrolllosigkeit der Wendejahre<br />
sieht die Autorin die ausschlaggebenden Gründe für Wut und abweichendes Verhalten<br />
der „verlorenen Generation“ (DER SPIEGEL, 46/1991) der Wendejugend.<br />
Rennefanz, ein Jahr nach dem NSU-Terroristen Uwe Mundlos geboren, wendet<br />
sich nach der Vereinigung einer christlichen Sekte zu; zufällig, wie sie rückblickend<br />
sagt – also eine Frage der Gelegenheit:<br />
„Nicht nur die anderen, die sich den Schädel rasierten und die Deutschlandkarte<br />
in den Grenzen von 1939 aufhängten, waren empfänglich für einfache Wahrheiten.<br />
Auch ich sehnte mich nach Übersichtlichkeit, nach Einfachheit, nach einer Heimat.<br />
Ich hätte wahrscheinlich auch Islamistin, Scientologin oder vielleicht, unter besonderen<br />
Umständen, Neonazi werden können. Es war nur eine Frage, wer mich zuerst<br />
ansprach.“ (Rennefanz, 2013, S. 121)<br />
Es spricht in der Tat einiges dafür, dass für Individuen systematische Zufälle ausschlaggebend<br />
dafür sein können, sich einer rechten Clique anzuschließen. Denn<br />
welche Gelegenheitsstrukturen und Sozialisationsinstanzen sich dem Einzelnen<br />
anbieten, ist für ihn zunächst kaum zu beeinussen: In welchem Ort oder Stadtteil<br />
mit Kontakt zu welchen Cliquen wächst man auf, welcher wohnortnahe Jugendtreffpunkt<br />
wird genutzt, wer ist einussreich in der Peergroup? Dennoch sind diese<br />
Gelegenheits- und Sozialisationsstrukturen politisch erzeugt, schließlich sind die<br />
Wohn- und Versorgungsqualität sowie Infrastruktur und Ausrichtung der Jugendarbeit<br />
das Resultat sozioökonomischer Entwicklungen und politischer Entscheidungen.<br />
Bereits Birgit Rommelspacher (2006) identi ziert Zufälligkeit als einen
Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />
101<br />
Faktor für das Verständnis von Einstiegsprozessen in rechtsextreme Gruppierungen<br />
und resümiert:<br />
„Wie ‚zufällig‘ auch immer die Einzelnen in die Szene hineingerutscht sein mögen,<br />
je mehr sie sich involvieren lassen und sich selbst engagieren, desto mehr stellt sich<br />
die Frage, warum sie in dieser Szene bleiben und was das Spezi sche am <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
ist, das ihn für die Jugendlichen so attraktiv macht“ (Rommelspacher,<br />
2006, S. 570).<br />
Eng damit verknüpft sind die Fragen, wie Akteure der rechtsextremen Szene sich<br />
radikalisieren oder deradikalisieren; welche Faktoren eine Eskalation politischer<br />
Gewaltbereitschaft begünstigen und was dazu führt, dass aus dem gleichen Aktivistenstamm<br />
NPD-Politiker, Rechtsterroristen, politisch Inaktive oder Aussteiger<br />
hervorgehen. Die Bedeutung der Prägung von Einstellungen und Werten durch<br />
familiäre Ein üsse und sozialpsychologische Variablen (vor allem Autoritarismus)<br />
darf dabei nicht vernachlässigt werden. Denn: „Dem Individuum obliegt ein<br />
politischer Entscheidungs- und Handlungsspielraum darüber, wie Erfahrungen,<br />
Wahrnehmungen, die eigene Sozialisation und spezi sche Situationen verarbeitet<br />
werden“ (Quent, 2012a, S. 72).<br />
Mit der Aufdeckung des – medial häug wahlweise als Jenaer oder Zwickauer<br />
Terrorzelle bezeichneten – NSU hat die Debatte um das „braune Erbe“ der DDR<br />
wieder an Fahrt gewonnen. Die Thüringer Allgemeine (Debes, 2013) titelte zum<br />
Beispiel: „War die Revolution 1989 für die NSU-Morde mitverantwortlich?“ und<br />
die Süddeutsche Zeitung meinte zu wissen: „Die Spurensuche führt zu Tugenden,<br />
die schon die erste deutsche Diktatur zusammenhielten: Überhöhung der Gemeinschaft,<br />
Einordnung in autoritäre Denkmuster […]“ (von Bullion, 2011).<br />
Diese Beispiele stehen symptomatisch für zahlreiche und notwendige Versuche,<br />
die komplexen Ursprünge des NSU in seinem zeitlichen Entstehungskontext zu<br />
betrachten. In der Debatte um das Trio hat sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit<br />
jedoch vor allem in ihren Vorurteilen vom „braunen Osten“ bestätigt gesehen,<br />
meint der Soziologe Stephan Lessenich (2013) und beobachtet, dass sich das<br />
Deutungsangebot, nach dem die „neuen Nazis die mentale Saat des untergegangenen<br />
Arbeiter- und Bauernstaats aufgehen lassen“ (Lessenich, 2013, S.141), wieder<br />
wachsender Beliebtheit erfreur. Gesellschaftspolitisch ist dieser Diskurs hochproblematisch,<br />
weil die Betonung des Sonderfalls Ost die Abgrenzung gegenüber dem<br />
vermeintlichen Normalfall West impliziert, in dem keine spezi schen begünstigenden<br />
Faktoren des <strong>Rechtsextremismus</strong> zu nden seien – zumindest keine, die<br />
der Erwähnung wert wären, und die folglich auch nicht genannt, diskutiert oder<br />
gar aufgearbeitet werden müssten. Dann dürfte allerdings beispielsweise die west-
102 Matthias Quent<br />
deutsche Stadt Dortmund heute keine „Hochburg der autonomen Nationalisten“<br />
(Luzar & Sundermeyer, 2010) sein. Mit besonderem Nachdruck wiederlegt auch<br />
die Existenz von Rechtsterrorismus in der BRD vor 1989 das Bild.<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> in der alten BRD<br />
In beiden Teilen des getrennten Deutschlands existierten bereits zwischen 1945<br />
und 1990 rechtsextreme Orientierungen, Organisationen, Gewalt und rechtsextremer<br />
Terror. Für die alte Bundesrepublik liegen dazu ausführliche Darstellungen<br />
vor (zum Beispiel Greiffenhagen, 1981; Heitmeyer, 1988; Hirsch, 1989;<br />
zusammenfassend: Botsch, 2012; Stöss, 2010). Allein zwischen 1979 und 1988<br />
töteten Rechtsterroristen in der BRD 27 Menschen (Rosen, 1990, S. 49), davon<br />
13 beim Münchner Oktoberfestattentat im September 1980. Im Kontext der Genese<br />
einer neonazistischen Szene in den 1970er Jahren entwickelten sich rechtsterroristische<br />
Strukturen, zum Beispiel die „Nationalsozialistische Kampfgruppe<br />
Großdeutschland“, die zeitweise über 400 Personen umfassende paramilitärische<br />
Kampfgruppe „Wehrsportgruppe Hoffmann“, die „Hepp-Kexel-Gruppe“ oder die<br />
„Deutschen Aktionsgruppen“ um Manfred Roeder (Pfahl-Traughber, 2001, S. 85).<br />
In den 1960er Jahren zog die NPD als neu gegründete Sammelpartei alter und<br />
neuer Nazis in mehrere Landesparlamente ein – vor dem gesellschaftspolitischen<br />
Hintergrund der ersten Wirtschaftskrise der Bundesrepublik und Tendenzen einer<br />
politischen Polarisierung der Gesellschaft durch die Große Koalition. 1969 war<br />
die NPD mit 4,3 Prozent der Stimmen einem Einzug in den Deutschen Bundestag<br />
so nah wie nie wieder. Die Wahlen leiteten eine Trendwende ein, in deren Folge<br />
die NPD bis Mitte der 1990er Jahre in der parlamentarischen Bedeutungslosigkeit<br />
versank.<br />
Die SINUS-Studie (1981) über rechtsextremistische Einstellungen bei den<br />
Deutschen unter dem Titel „5 Millionen Deutsche: Wir sollten wieder einen Führer<br />
haben …“ lieferte erstmalig empirisches Material über das rechtsextreme Einstellungspotenzial<br />
in der damaligen Bundesrepublik. Der Befund, nach dem mehr<br />
als 13 Prozent der westdeutschen Bevölkerung über ein rechtsextremes Weltbild<br />
verfügte, erregte große öffentliche und wissenschaftliche Beachtung. Ab Mitte der<br />
1980er Jahre gewannen DIE REPUBLIKANER mit offen ausländerfeindlicher<br />
Programmatik an Bedeutung; 1989 konnten sie erst- und einmalig in das Europäische<br />
Parlament einziehen.
Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />
103<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> in der DDR<br />
Aufgrund der Zensur in der DDR ist die Quellenlage hierzu weitaus bescheidener.<br />
Ab 1989 erschienen die ersten ausführlichen Darstellungen zum <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
in der DDR. Ergebnisse einer Studie des Zentralinstituts für Jugendforschung<br />
Leipzig von 1988 konnten erst nach dem Fall der Mauer publiziert werden. Sie<br />
erlauben einen Einblick in die Mentalitäten junger DDR-Bürger und deren Einstellungen<br />
gegenüber Faschismus, Nationalismus und Migration. Durch eine Wiederholung<br />
der Befragung im Jahr 1990 lassen sich Veränderungen in der Wendezeit<br />
identizieren. 1988 stimmten 12 Prozent der befragten Schüler und 15 Prozent der<br />
Lehrlinge der Aussage zu: „Der Faschismus hatte auch seine guten Seiten“. 1990<br />
waren die Werte nur leicht erhöht (Schüler: 14 Prozent, Lehrlinge unverändert).<br />
Deutlicher war die Zunahme chauvinistischer Einstellungen von 12 auf 23 Prozent<br />
unter den Schülern und von 15 auf 20 Prozent unter den Lehrlingen, welche die<br />
Einschätzung teilten, dass „[d]ie Deutschen schon immer die Größten in der Geschichte<br />
[waren]“ (Heinemann, Schubarth & Brück, 1992, S. 20ff.). 1988 stimmten<br />
44 Prozent der Schüler, 67 Prozent der Lehrlinge und 20 Prozent der Abiturienten<br />
der Aussage „Deutschland den Deutschen!“ zu. Zwischen 12 (Abiturienten) und 46<br />
(Lehrlinge) Prozent forderten „Ausländer raus!“ (Heinemann et al., 1992, S. 87).<br />
Ein menschenfeindliches Fundament war bereits in der DDR vorhanden. Bekannt<br />
sind Schlägereien, nazistische und antisemitische Aktionen sowie Schmierereien<br />
und Friedhofsschändungen (Quent, 2012b). Darüber hinaus gab es terroristische<br />
Anschläge mit zumindest vermutetem „faschistischem“ Hintergrund, vor<br />
allem gegen die sowjetische Besatzungsarmee. Die umfassende Aufarbeitung der<br />
rechtsextremen Gewalt und der möglichen Verquickung der Staatssicherheit in<br />
rechtsextreme Terrorgruppen der BRD (zum Beispiel des Rechtsterroristen und<br />
Stasiagenten Odfried Hepp) steht noch aus.<br />
In den 1970er Jahren traten die neuen subkulturell geprägten Rechtsextremen<br />
in der DDR sichtbar in Erscheinung. Dafür ernteten sie bei ihren „Kameraden“<br />
in der BRD Staunen und Anerkennung. Mitte der 1980 Jahre wurde in der neonazistischen<br />
Publikation „Klartext“ – dem Organ der 1992 verbotenen Partei „Nationalistische<br />
Front“ – über offene Verharmlosung des Nationalsozialismus durch<br />
Fangruppen ostdeutscher Fußballvereine berichtet:
104 Matthias Quent<br />
„Berlin (Ost): Nach dem Pokalspiel Union Berlin – Chemie Leipzig zogen Fangruppen<br />
durch die geteilte Stadt. In Sprechchören forderten sie die Freiheit für<br />
Deutschland. Unter Absingen der Nationalhymne und anderer nationalistischer Lieder<br />
bewiesen sie, dass nicht alle Jugendliche der Zone auf das ‚Gefasel‘ der dort<br />
Herrschenden hereinfallen. (Genau wie hier in der ‚BRD‘) Erstaunlich für unsere<br />
teilnehmenden Kameraden war die sehr gute Kenntnis von alten nationalsozialistischen<br />
Kampiedern, – und die außerordentliche Zurückhaltung der Ostpolizei!“<br />
(Fromm, 1993, S. 72)<br />
Wie in der BRD entwickelten sich in der DDR nicht konforme Jugendkulturen.<br />
Die Punks und Skinheads differenzierten sich mit der Zeit aus – zum Beispiel<br />
in die antirassistischen „Red-Skins“, vorgeblich unpolitische „Oi-Skins“, rechte<br />
Skinheads und die am stärksten politisierten „Faschos“. Letztere distanzierten<br />
sich zum Teil vom Skinlook und legten stattdessen auf ein diszipliniertes Äußeres<br />
Wert und stellten das Politische in ihren Werten vor das Subkulturelle. Die rechten<br />
Skinheads in der DDR waren überaus antisemitisch und ausländerfeindlich eingestellt.<br />
Dies wird unter anderem in ihren Gesängen deutlich. Beliebt war in Bezug<br />
auf das NS-Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar zum Beispiel der Slogan:<br />
„Hast du Hunger, ist dir kalt, dann geh zurück nach Buchenwald. Dort werden wir<br />
uns ein Süppchen kochen, aus Judeneisch und Russenknochen. Ofen sieben, Klappe<br />
acht – ach, wie hat das Spaß gemacht!“ (Heinemann et al., 1992, S. 43)<br />
Ofziell gab es so etwas in der DDR nicht. Noch im August 1989 behauptete die<br />
staatliche DDR-Nachrichtenagentur ADN, Vorstellungen über neonazistische Tendenzen<br />
in der DDR seien „purer Unsinn“ (Siegler & Bittermann, 1991, S. 37).<br />
Diese kategorische Abwehr geht auf den ideologischen Legitimationsmythos<br />
der DDR und ihr orthodox-kommunistisches Faschismusverständnis in Kategorien<br />
der 1930er Jahre zurück, welches freilich erweitert und als Monopolgruppentheorie<br />
ausdifferenziert wurde. Dahinter stand die Vorstellung, der Faschismus sei „die<br />
offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten<br />
imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (Dimitrov, 1935). Mit Bodenreform<br />
und Enteignungen, so die SED-Logik, seien die Wurzeln des Faschismus in<br />
der DDR beseitigt worden – im Gegensatz zur BRD, wo der Kapitalismus jederzeit<br />
wieder unmaskiert seinen faschistischen Charakter hätte offenbaren können.<br />
Mit der realen Gestalt des Nationalsozialismus als Massenbewegung hatte diese<br />
Sicht wenig gemein. Auch die nicht seltenen rechtsextremen, rassistischen und<br />
antisemitischen Vorfälle in der DDR führten nicht zu einer Revision dieser Perspektive.<br />
Nach dem Überfall von rechtsextremen Skinheads auf ein inof zielles<br />
Punkkonzert in der Ostberliner Zionskirche im Oktober 1987 unter den Augen der
Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />
105<br />
Volkspolizei, die nicht eingriff, wurde erstmals in der DDR-Presse über das Thema<br />
berichtet; mehrere der Angreifer wurden in der DDR verurteilt. Der Auszug<br />
einer Anklageschrift bringt das Paradox der Verurteilung von etwas, das es nicht<br />
geben darf, auf den Punkt:<br />
„Wie die Anklageschrift weiter hervorhebt, wurden während der Ausschreitungen<br />
von den Rowdys immer wieder Parolen aus der Nazizeit ausgestoßen, was in der<br />
DDR, wo der Faschismus mit all seinen Wurzeln ausgerottet ist, unter Strafe steht.“<br />
(Schumann, 1990, S. 47)<br />
Im Umgang mit neonazistischen Jugendgruppen, die in den 1970er Jahren in West<br />
wie Ost entstanden, wirkte sich die Antifaschismusdoktrin der DDR direkt aus:<br />
Politische Tatmotive blieben unaufgeklärt, rechtsextreme Straftäter wurden als<br />
„Rowdys“ abgeurteilt. Gegen solche wurden in den ausgehenden 1980er Jahren<br />
zum Teil emp ndliche Freiheitsstraften verhängt. Durch den hohen Sanktionsdruck<br />
waren die einzukalkulierenden Kosten für Rechtsextreme in der DDR hoch.<br />
Konventionelle Wege, um politisch abweichende Meinungen öffentlich zu artikulieren,<br />
beispielsweise in Form von Kundgebungen oder Publikationen, standen den<br />
Rechtsextremen in der DDR so gut wie nicht zur Verfügung. Für diese Jugendlichen,<br />
erörtern Bergmann und Erb (1994, S. 94), „stellten Gewaltaktionen bereits<br />
zu DDR-Zeiten ein zentrales Handlungsschema dar. [… ] Eine hohe Gewaltakzeptanz<br />
und -bereitschaft war also bereits in der DDR erworben worden.“ Durch diese<br />
Militanz, so Schumann (1990, S. 36), unterschied sich der Ost-<strong>Rechtsextremismus</strong><br />
von anderen „Gegenkulturen in dieser Altersgruppe“.<br />
Inwieweit die Inhaftierung von Rechtsextremen deren Resozialisierung diente,<br />
ist fragwürdig, wie die folgenden Fälle veranschaulichen:<br />
„Jene, die mit dem Gesetz kollidierten, erhielten in der Szene die Aura eines Märtyrers.<br />
Bezeichnend sich die Beobachtungen, die Oliver im Jugendstrafvollzug Ichtershausen<br />
machte. Er war 1988 zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden, weil er mit<br />
vier Freunden den jüdischen Friedhof in der Schönhäuser Allee in Berlin verwüstet<br />
hatte. Nach seiner Entlassung antwortete er im Mai 1990 auf die Frage, ob er nicht<br />
befürchte, von Skins oder Neonazis als rechter Heroe vereinnahmt zu werden: ‚Das<br />
wurden wir schon im Gefängnis. Da saßen Leute, die haben sich alle Presseausschnitte<br />
über uns an die Wand gepinnt. Da waren wir die dicken Vorbilder, die es den<br />
Juden mal gezeigt haben.‘“ (Ebd.)<br />
In einem 1990 erschienenen Leserbrief an die „Junge Welt“ gaben zwei inhaftierte<br />
Ost-Nazis, die sich als Repräsentanten dort einsitzender „Glatzen“ präsentierten,<br />
Einblicke in ihr Selbstverständnis als verfolgte Idealisten:
106 Matthias Quent<br />
„Wir sind zwei Knaster, die im Jugendhaus Halle einsitzen. Beide, knapp 19 Jahre<br />
alt, haben wir zwar keine Neger und Punks geklatscht, aber Schwule. Da wir beide<br />
Deutsche sind, können wir homosexuelle Personen nicht tolerieren. Immer mehr<br />
Ausländer überschwemmen Deutschland, vergewaltigen deutsche Frauen, doch das<br />
wird in den Medien totgeschwiegen. Über uns Skins wird gehetzt, wir werden gehasst<br />
und gejagt. Trotz allem wird eine Glatze nie aufgeben, sich für ihre Ideale und<br />
Ziele einzusetzen. Naumann und Braun im Namen aller einsitzenden Glatzen des<br />
Jugendhauses Halle.“ (Ebd.)<br />
Ein beteiligter Skin des Überfalls auf die Zionskirche in Berlin, für den er zu<br />
einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, schilderte ebenfalls, sein Gefängnisaufenthalt<br />
habe bestärkend auf seine politischen Überzeugungen und seine<br />
emotionale Ablehnung gewirkt:<br />
„Seit dem Knast habe ich einen dermaßen Haß auf dit ganze System hier, dermaßen<br />
Haß auf alles was rot ist oder links ist. Das hat sich so reingefressen, also das ist im<br />
Prinzip extrem“ (Heinemann et al., 1992, S. 53).<br />
Spätestens mit dem Gefängnisaufenthalt, resümieren die Autoren des Buches „Der<br />
Antifaschistische Staat entlässt seine Kinder“, begriff der Skin, „daß in der DDR<br />
Skinhead zu sein, mehr ist als nur Mode und Protest“ (ebd.). Nach der Haftentlassung<br />
setzte der Gewalttäter seine politische Karriere in der NPD fort (ebd.).<br />
Derartige Beispiele ließen sich fortsetzen – die Dunkelziffer der Rechtsextremen<br />
in Ost- und Westdeutschland, welche Gefängnisse auf einer höheren Radikalisierungsebene<br />
verlassen als betreten haben, dürfte erheblich sein. Gefängnisaufenthalte<br />
wurden gezielt dazu genutzt, um Netzwerke zu knüpfen und um<br />
straffälligen Szeneangehörigen das Gefühl zu vermitteln, sie seien gesellschaftlich<br />
ausweglos isoliert, während einzig die rechtsextreme Szene Verständnis, Kameradschaft<br />
und Unterstützung aufbringen würde. Das war auch die wichtigste<br />
Aufgabe der 1979 in der alten Bundesrepublik gegründeten „Hilfsorganisation für<br />
nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ (HNG), die im September<br />
2011 verboten wurde. Seitdem wird die Unterstützungsarbeit unter dem Namen<br />
„Gefangenenhilfe“ mit ofziellem Sitz in Schweden weitergeführt – auch für Beschuldigte<br />
im NSU-Prozess.<br />
Im Rahmen des Häftlingsfreikaufs wurde auch eine unbekannte Zahl inhaftierter<br />
DDR-Nazis von der BRD freigekauft: darunter 1974 der aus Pößneck stammende<br />
Rechtsextremist Uwe Behrendt. Im Westen suchte er Kontakt zu rechtsextremistischen<br />
Organisationen und zur paramilitärischen „Wehrsportgruppe<br />
Hofmann“. Im Dezember 1980 erschoss Behrendt in Erlangen den Rabbiner Shlomo<br />
Lewin und dessen Frau Frieda Poeschke. Ein Jahr später beging der mithil-
Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />
107<br />
fe der palästinensischen Fatah in den Libanon ge ohene Behrendt Suizid. Einige<br />
der freigekauften DDR-Häftlinge fungierten als Vermittler zwischen Ost-Nazis<br />
und der BRD-Szene (Bergmann & Erb, 1994, S. 84). Gründungsmitglieder des<br />
„Thüringer Heimatschutz“ unterhielten beispielsweise Kontakte zum führenden<br />
West-Neonazi Arnulf Priem, der in der DDR wegen neofaschistischer Betätigung<br />
verhaftet und 1968 von der BRD freigekauft wurde.<br />
In der DDR waren die Skingruppen spätestens ab 1988 untereinander städteübergreifend<br />
vernetzt, wie aus einem Bericht der Kriminalpolizei von 1990 hervorgeht<br />
(Schumann, 1990, S. 142ff.). Die Kripo attestierte der Szene zudem „republikweite<br />
konspirative Vernetzungen“ und ein „starkes Bestreben […], Waffen zu<br />
erlangen, sich wehrsportlich zu trainieren, um erforderlichenfalls nicht einsichtige<br />
‚Andersdenkende‘ zu disziplinieren sowie mit diesen Mitteln in einem Nationalsozialistischen<br />
Deutschland zu agieren“ (ebd.). Nach den polizeilichen Erkenntnissen<br />
rekrutieren sich die „Personen der neofaschistisch orientierten Szene […]<br />
aus allen Klassen und Schichten der Bevölkerung der DDR“. Bildungsweg und<br />
Qualikation, Familie der Eltern und allgemeine Lebensumstände entsprachen<br />
dem Querschnitt dessen, was in der Gesellschaft anzutreffen war (ebd.) – auch<br />
Professorenkinder: zum Beispiel der Jenaer Uwe Mundlos, der bereits ab 1988,<br />
knapp 15-jährig, mit kurz geschorenen Haaren, Bomberjacke und Springerstiefeln<br />
in die Schule kam und im Werkunterricht Hakenkreuze ritzte. Die DDR kritisierte<br />
er in der Schule öffentlich und stellte ihr die „guten Seiten“ des „Dritten Reichs“<br />
entgegen.<br />
Der vorhandene <strong>Rechtsextremismus</strong> in der DDR zeigte sich bis zu deren Ende.<br />
Als die Bevölkerung ihrer Wut und ihrem Frust über das SED-Regime bei den<br />
Montagsdemonstrationen vielerorts Luft machten und das Ende der DDR einläuteten,<br />
witterten auch rechtsextreme Gruppen Morgenluft. 1989 traten zum Beispiel<br />
bei den Leipziger Demonstrationen massiv und offen rechtsextreme Gruppen auf<br />
und verteilten unter anderem Materialien von NPD, DVU, REPUBLIKANERN<br />
und der 1995 verbotenen FAP (Heinemann et al., 1992, S. 49; Schumann, 1990,<br />
S. 93).<br />
„Viele Möglichkeiten“<br />
Unmittelbar nach der Wende agierten größere subkulturelle rechte Skingruppen<br />
überall im Osten. Allein in Thüringen fanden zahlreiche rechtsextreme Konzerte<br />
mit bis zu 700 Teilnehmern statt. Rechte Skinbands, die aus der BRD zu den<br />
Auftritten in die neuen Länder kamen, schätzen die Auftrittsmöglichkeiten sowie<br />
fehlende öffentliche wie behördliche Sanktionen. Der Journalist Rainer Fromm
108 Matthias Quent<br />
interviewte in dieser Phase die neonazistische Skinband „Kraftschlag“, die 1992<br />
das Album „Live in Weimar“ veröffentlichte, auf dessen Cover ein Reichsadler mit<br />
Hakenkreuz abgebildet ist. Auf der indizierten Platte des im thüringischen Weimar<br />
aufgezeichneten Konzertes singen Band und Publikum unter anderem Zeilen<br />
wie „Gegen Rassenvermischung“, „Sieg Heil!“, „Deutschland den Deutschen –<br />
Ausländer raus!“, „Deutschland erwache“, „Scheiß auf die 6-Millionenlüge – Juden<br />
raus!“, „Radikal für Deutschland ist das Gebot der Zeit, sammelt euch auf<br />
der Straße, seid zum Rassenkrieg bereit“ und „Deutsche Frau halt dein Blute rein<br />
vor dem Ausländerschwein“ (Kraftschlag, 1992). Im Interview mit Rainer Fromm<br />
äußerte sich die Band „begeistert“ über einen Auftritt in Thüringen:<br />
„Wir würden jederzeit wieder dort spielen.“ Der Unterschied zwischen neuen<br />
und den alten Bundesländern sei,<br />
„[d]a [im Osten, MQ] kann man seine Musik viel freier der Öffentlichkeit präsentieren,<br />
die fragen da nicht so dumm. [...] In den neuen Bundesländern gibt es viele Möglichkeiten<br />
für Konzerte. Dort kriegt man fast jeden Saal. Hier blocken die meisten<br />
ab, das ist drüben anders. Da kriegen wir Hallen bis zu 2000 Personen. Das ist auch<br />
billiger“ (Fromm, 1993, S. 106).<br />
Neben Rechtsrockbands warben verschiedene rechtsextreme Parteien um die<br />
Gunst der jungen Neonazis im Osten, so auch die NPD. Deren damaliger Bundesvorsitzender<br />
Günther Decker bereiste den Freistaat Thüringen im Februar 1992<br />
erstmals anlässlich von Demonstrationen in Gera. Um lokale Parteistrukturen aufzubauen,<br />
übernahmen westdeutsche Kreisverbände der NPD „Patenschaften“ für<br />
die NPD-Zusammenschlüsse im Osten. Verbände aus Hessen und Bayern sicherten<br />
zum Beispiel den nanziellen, logistischen und ideologischen Aufbau der Partei<br />
in Thüringen. Verbal stand die NPD der Skinszene kaum an Radikalität nach.<br />
Die „Infozeitung“ des Thüringer Landesverbandes titelte 1992: „Asylbetrüger und<br />
Invasoren vergiften unser Trinkwasser“ (Fromm, 1993, S. 60).<br />
In den Folgejahren pro tierten die Rechtsextremen von „Legitimationsgewinnen“<br />
(Willems, zitiert in: Funke, 2012, S. 14) im Zuge der bundesweiten Gewalteskalation<br />
gegen Asylsuchende in den Jahren 1991 bis 1993. Mit der medial und<br />
politisch aufgeheizten Stimmung in der sogenannten Asyldebatte wurde den rechten<br />
Gewaltgruppen ein neues Angriffsziel präsentiert, welches<br />
„im Gegensatz zu bisherigen Opfern (Polen, Vietnamesen, Russen) noch weniger<br />
integriert und noch weiter außerhalb der ‚span of sympathy‘ […] lag und in den man<br />
die ‚Ursachen‘ für die wahrgenommenen sozialen Missstände direkt und erfolgreich<br />
angreifen konnte“ (Bergmann & Erb, 1994b, S. 89).
Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />
109<br />
Parolen wie „Ausländer raus“ und „Deutsche zuerst“ boten Lösungsmöglichkeiten,<br />
die in Handlungen übersetzt werden konnten und für die Gewaltakteure doppelt<br />
legitimiert erschienen: einerseits durch die Zustimmung in Teilen der Bevölkerung,<br />
als deren ausführendes Organ sie sich fühlten und andererseits durch die<br />
Radikalisierung ihrer Zuwanderungsfurcht zu einer generellen Überfremdungsangst<br />
(Bergmann & Erb, 1994b). Diese Bedingungen ermöglichten zu Beginn der<br />
1990er die Konsolidierung des rechtsextremen Potenzials in den neuen Ländern<br />
sowie in den folgenden Jahren den quantitativen Anstieg und die Radikalisierung<br />
der Bewegung.<br />
Rechtsextreme Parteien waren bei Wahlen bis in die Mitte der 1990er Jahre in<br />
den westlichen Bundesländern erfolgreicher als in den östlichen. Erst mit der Bundestagswahl<br />
1998 verschob sich der Schwerpunkt gen Osten. Dieser Verlagerung<br />
folgten die rechtsextremen Parteistrukturen (beispielsweise Parteizentrale und<br />
Verlag der NPD) und Organisationsschwerpunkte (Quent, 2012c). Nach der deutschen<br />
Vereinigung herrschte in einigen Teilen Deutschlands eine rassistische und<br />
ausländerfeindliche „Pogromstimmung“, wie die Investigativjournalistin Andrea<br />
Röpke vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages erläuterte (Deutscher<br />
Bundestag, 2013). Während 1990 380 Gesetzesverletzungen mit rechtsextremistischem<br />
Bezug (davon 128 Gewaltdelikte) erfasst wurden, lag die Zahl 1991<br />
um das Fünffache höher. Vor allem rechtsextremistische Brand- und Sprengstoffanschläge<br />
nahmen zu. 1991 und 1992 kam es zu massiven rassistischen Ausschreitungen:<br />
Im sächsischen Hoyerswerda wurden im September 1991 vor Asylbewerberwohnheimen<br />
Molotowcocktails geworfen und Polizeibeamte mit Stahlkugeln<br />
beschossen. Die Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, wo<br />
über 4.000 Gewalttäter und Unterstützer die Flüchtlingsunterkunft attackierten,<br />
dauerten mehrere Tage an. Schlussendlich mussten die Asylsuchenden aus den<br />
Unterkünften evakuiert werden. Somit hatte der rassistische Mob sein Ziel, ‚die<br />
Ausländer zu vertreiben‘, erreicht. Im ganzen Bundesgebiet folgten Nachahmungstaten<br />
mit mehreren Todesopfern. Am 23. November 1992 wurden im schleswigholsteinischen<br />
Mölln Brandanschläge auf zwei bewohnte Mehrfamilienhäuser<br />
verübt, in deren Folge drei Menschen starben, mehrere Personen erlitten zum Teil<br />
schwere Verletzungen. 1993 wurde in Solingen ein von türkischen Migranten bewohntes<br />
Mehrfamilienhaus angezündet – zwei Frauen und drei Kinder kamen ums<br />
Leben.<br />
Nach der deutschen Vereinigung wurden rechtsextreme Orientierungen in Ost<br />
und West systematisch erhoben und verglichen: Die erste bundesweite Messung<br />
rechtsextremer Einstellungen im vereinigten Deutschland stellte im Frühjahr 1994<br />
in Westdeutschland ein mehr als doppelt so großes rechtsextremistisches Einstellungspotenzial<br />
fest als im Osten. Erst bei einer Folgeuntersuchung 1998 wurden
110 Matthias Quent<br />
mehr rechtsextremistische Einstellungen im Osten gemessen (Stöss, 2000, S. 30).<br />
Die repräsentativen Erhebungen der Leipziger Forschungsgruppe um Elmar Brähler<br />
und Oliver Decker weisen in den Jahren 2002, 2004 und 2006 höhere Prozentwerte<br />
von Befragten mit „geschlossenem rechtsextremen Weltbild“ in den<br />
westlichen Bundesländern gegenüber den östlichen aus (Decker, Kiess & Brähler,<br />
2012, S. 54). Zuletzt wussten die Autoren zu berichten, dass die „Häu gkeit von<br />
Menschen mit geschlossenem rechtsextremen Weltbild […] sich 2014 nicht signikant<br />
zwischen Ost- und Westdeutschland [unterscheidet]“ (Decker, Kiess &<br />
Brähler, 2014, S. 57). Empirisch gesicherte Unterschiede lassen sich wiederholt vor<br />
allem hinsichtlich der deutlich höheren Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland<br />
beobachten (ebd., S. 61).<br />
Der Exkurs zeigt, dass der <strong>Rechtsextremismus</strong> auch nach 1990 weder im Wahlverhalten<br />
noch auf der Ebene der Einstellungen eine originär ostdeutsche Erscheinung<br />
ist. Dennoch bestehen ostdeutsche Besonderheiten.<br />
Differenzierung ist vonnöten<br />
Die eingangs zitierten Aussagen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> als Folgeerscheinung<br />
der DDR-Sozialisation sind symptomatisch für viele häug zu kurz greifende Zuordnungen<br />
und Interpretationen. Sie repräsentieren den Versuch, Ursachen von<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> und rassistischer Gewalt unter dem Vorsatz der Aufarbeitung<br />
zu historisieren bzw. die Verantwortung dafür einem überlebten Gesellschaftssystem<br />
zuzuschreiben. Welchen Erklärungswert hat die These vom kausalen Zusammenhang<br />
von DDR-Diktatur und Naziterror für die Genese des NSU, des modernen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> und für die Beschaffenheit des gegenwärtigen Diskurses<br />
tatsächlich?<br />
Differenzierung ist vonnöten. Wendeerfahrungen und -folgen, wie „politische<br />
Umwälzung“ und „Schulreform“, die unter anderen von der Mutter des NSU-Terroristen<br />
Böhnhardt als Ursachen für die Radikalisierung ihres Sprösslings verantwortlich<br />
gemacht werden (zitiert in: Debes, 2013), liegen nicht in der Beschaffenheit<br />
des diktatorischen Systems der DDR begründet. Vielmehr sind sie Ausdruck<br />
gesellschaftlicher Transformationsprozesse und der damit einhergehenden Verunsicherungen.<br />
Deren Auswirkungen auf die Gesellschaftsmitglieder hängen nicht<br />
primär mit der vorherigen Verfasstheit einer (Teil-)Gesellschaft zusammen, sondern<br />
mit den sozioökonomischen Rahmenbedingungen, der Steuerung, Moderation<br />
und Anerkennung des Wandels und des neuen Systems. Empirisch messbar<br />
verschob sich die übergroße <strong>Rechtsextremismus</strong>belastung in den Mentalitäten der<br />
Bevölkerung erst dann in die neuen Länder, als klar wurde, dass die von Hel-
Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />
111<br />
mut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ ausblieben. Wie Individuen<br />
Transformation wahrnehmen und bewerten, hängt dabei auch mit sozialisierten<br />
Deutungs- und Verarbeitungsweisen zusammen.<br />
Wird, wie mit dem Verweis auf die „DDR-Diktatur“ angedeutet, ein Kausalverhältnis<br />
behauptet zwischen persönlichen Erfahrungen („Töpfchen-These 1 “), politischen<br />
Einüssen („verordneter Antifaschismus“, vgl. unter anderem Heitmann,<br />
1997, S. 93) und den Ausprägungen politischer Einstellungen und Verhaltensweisen,<br />
werden systembedingte Sozialisationsein üsse für die Bevölkerung der ehemaligen<br />
DDR bis 1989/1990 betont. Diese, so die Annahme, ließen sich auf die<br />
Prägung des Alltags durch die diktatorische Gesellschaftsordnung zurückführen<br />
und führten in der Nachwendegesellschaft dazu, dass Ostdeutsche häu ger Af-<br />
nitäten zum <strong>Rechtsextremismus</strong> zeigten als Westdeutsche. Dem sozialisationstheoretischen<br />
Ansatz folgend habe die DDR-Sozialisation mentale Deformation<br />
zur Folge, welche sich in antidemokratischen Einstellungen, Fremdenfeindlichkeit,<br />
Autoritarismus und fehlender Eigeninitiative äußere. Bürger in den neuen Bundesländern<br />
seien demnach aufgrund ihrer Sozialisation in der DDR deutlich autoritärer<br />
geprägt als im Westen Deutschlands (als Überblick: Bulmahn, 2000).<br />
Empirisch ist diese Annahme bereits mehrfach widerlegt. So ist die Tendenz zu<br />
autoritären Orientierungen in den alten und neuen Bundesländern ähnlich (Sommer,<br />
2010). Regionale Unterschiede in der Verbreitung rechtsextremer Einstellung<br />
resultieren nicht aus der Herkunft aus einem ost- oder westdeutschen Bundesland,<br />
sondern sind unter anderem auf die aktuelle sozioökonomische Lage im nahen<br />
Wohn- und Lebensumfeld zurückzuführen. Unter der Wohnbevölkerung wirtschaftlich<br />
abdriftender Regionen sind – unabhängig von den Ost-West-Variablen –<br />
rechtsextreme Einstellungen stärker ausgeprägt als in stabilen und prosperierenden<br />
Gegenden. Unterschiede in den politischen Mentalitäten können sich demzufolge<br />
erst dann au ösen, wenn sich die Lebensbedingungen in West- und Ostdeutschland<br />
angleichen (Quent, 2012a).<br />
Wenn es nicht um mögliche Ursachen persönlicher Einstellungs- und Verhaltensdispositionen<br />
in der Vergangenheit (also vor 1989) geht, sondern wie im von<br />
1 Schochow (2013) fasst die Diskussion um die überspitzt als „Töpfchen-These“ bezeichnete<br />
Debatte zusamen. Zugrunde liegt eine These von Christian Pfeiffer: „Ostdeutsche,<br />
so der Kriminologe Christian Pfeiffer in einem viel beachteten Spiegel-Artikel<br />
zehn Jahre nach der friedlichen Revolution, wurden langfristig von einer DDR-spezifischen<br />
Erziehungslogik geprägt. Man sei nämlich in DDR-Krippen und -Kindergärten<br />
‚nur wenig auf die Bedürfnisse der Kinder eingegangen und habe zu wenig Raum für<br />
deren Entfaltung gelassen.‘ Diese Kälte führe später zu Fremdenfeindlichkeit“ (ebd.,<br />
S. 175). Kindergartenkinder in der DDR mussten nach Pfeiffer immer gemeinsam aufs<br />
Töpfchen gehen, woraus ihre autoritäre Prägung erwachsen sei.
112 Matthias Quent<br />
Brigitte Böhnhardt aufgeworfenen Beispiel um Folgen sozialer Wandlungsprozesse,<br />
die sich bei ihrem Auftreten unmittelbar auf die biogra sche Lage der Individuen<br />
auswirken, ist von situativen Effekten die Rede: Reaktionen, die in der gesellschaftlichen<br />
Lage begründet liegen – und nicht in der Sozialisation der Personen.<br />
‚Gelernte‘ (oder eben auch nicht gelernte) Deutungsweisen und Mechanismen zur<br />
Verarbeitung von krisenhaften Situationen können beim Eintreten einer solchen<br />
‚Krise‘ aktiviert oder neu adaptiert werden. ‚Verlierer‘ kapitalistischer Modernisierung<br />
weisen – nach individueller und milieuspezi scher Lage – unterschiedliche<br />
Verarbeitungsmuster der eigenen Desintegration auf. Dazu kann die Unterstützung<br />
autoritärer, abwertender und rechtsextremer Axiome der Politik zählen – im<br />
Osten und im Westen. Darauf hinzuweisen ist vor allem deswegen relevant, weil<br />
die Transformation der bundesdeutschen Gesellschaft keineswegs abgeschlossen,<br />
sondern eher ein Dauerprozess ist.<br />
Problematische Entlastung<br />
Der Verweis auf die „braunen Ursprünge“ des <strong>Rechtsextremismus</strong> im DDR-System<br />
fungiert diskursiv entlastend gegenüber den aktuellen Ungleichheitsmechanismen,<br />
welche heute die Entstehung des <strong>Rechtsextremismus</strong> begünstigen. Die Bedeutung<br />
spezischer, in der DDR vermittelter politischer Mentalitäten prägte die Sozialisation<br />
der Jugendgeneration, zu der Mitglieder und Unterstützer der NSU-Gewaltgruppe<br />
gehörten. Für die Generation der heute unter 25-Jährigen hat sie dagegen<br />
allenfalls Bedeutung durch die Vermittlung und Weitergabe von Erfahrungen und<br />
Werten der Eltern- und Großelterngeneration. Dies bedeutet allerdings nicht, dass<br />
jene gesellschaftlichen Momente, die <strong>Rechtsextremismus</strong> als individuelle Bewältigungsstrategie<br />
begünstigen, ebenfalls verschwunden sind:<br />
„Wahrgenommene Desintegration, Deprivation und Anerkennungsprobleme bilden<br />
den Nährboden für eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, in deren Folge Angehörige<br />
schwacher Gruppen abgewertet und/oder in diskriminierender Weise behandelt<br />
werden“ (Mansel & Spaiser, 2010, S. 74).<br />
Diese objektiv erfahrenen oder subjektiv erlebten Gefährdungen des eigenen sozialen<br />
Status haben in den vergangenen 20 Jahren nicht an Bedeutung verloren:<br />
Die Differenz der höheren Arbeitslosenquote im Osten nimmt im Zeitverlauf<br />
gegenüber dem Westen kaum ab, vielmehr sind Parallelentwicklungen zu beobachten.<br />
Es zeichnet sich ein erhöhtes Risiko dafür ab, dass sich auch Menschen in<br />
den westlichen Bundesländern nicht mehr als geachtete und wertvolle Mitglieder
Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />
113<br />
der Gesellschaft erfahren oder wahrnehmen. Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland<br />
und innerhalb der Landesteile hat sich die soziale Ungleichheit zwischen<br />
1993 und 2004 deutlich verschärft (Heitmeyer, 2009, S. 26). Neuere Ansätze<br />
plädieren daher für eine mikroregionale Differenzierung, beispielsweise zwischen<br />
abgehängten und prosperierenden Regionen, welche in Ost- und Westdeutschland<br />
anzutreffen sind. Deren sozioökonomische Lage wirkt sich auf die Virulenz<br />
rechtsextremer Einstellungen, Wahlergebnisse rechtsextremer Parteien sowie Geländegewinne<br />
informeller rechtsextremer Gruppen aus (Grau & Heitmeyer, 2013;<br />
Legge, Reinecke & Klein, 2009; Marth, Grau & Legge, 2010; Quent, 2012a).<br />
Weder die Wende- noch die DDR-Sozialisationserfahrungen können als maßgeblich<br />
für die Eskalation der Gewalt des NSU im Untergrund ab 2000 angesehen<br />
werden. Die Mitglieder und Unterstützer der Gewaltgruppe teilen ihre Transformations-<br />
und Desintegrationserfahrungen mit zehntausenden Jugendlichen, von<br />
denen sich zwar zahlreiche der rechtsextremen Szene angeschlossen haben, aber<br />
niemand eine vergleichbare Mordserie zu verantworten hat. Tausende Rechtsextreme<br />
gibt es noch heute – in Ost und West. Eine Neuau age rechtsextremen<br />
Terrors kann nicht ausgeschlossen werden. Umso essenzieller ist es deshalb, die<br />
wirklichen Faktoren für die Eskalation und Rechtsradikalisierung bis zum Kulminationspunkt<br />
Terrorismus zu erforschen und zu problematisieren.<br />
Fazit<br />
Es wurde beschrieben, dass <strong>Rechtsextremismus</strong> weder ein originär ost- noch<br />
ein einzig westdeutsches Phänomen darstellt. Monokausale Erklärungsansätze<br />
sind populär, aber ungenügend. Es lassen sich Besonderheiten im ostdeutschen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> identi zieren, die ihre Ursache im DDR-System haben und<br />
die rechtsextreme Bewegung nach der Vereinigung bundesweit verändert haben:<br />
Herausstechen dabei vor allem die hohe Gewaltafnität der meist jugend- und subkulturell<br />
geprägten Rechtsextremen. Unbenommen der notwendigen Differenzierungen<br />
wurde gezeigt, dass der Fall der Mauer ein Möglichkeitsfenster öffnete, in<br />
dem die Bedingungen für ein Erstarken des <strong>Rechtsextremismus</strong> außerordentlich<br />
günstig waren. Gleichwohl müssen sowohl die jeweils handelnden Akteure als<br />
auch die vorherrschenden politischen Gelegenheitsstrukturen betrachtet werden,<br />
um das Auftreten unterschiedlicher Erscheinungsformen politischer Aktionsformen,<br />
beispielsweise von Gewalt, zu erklären. Mit der Asyldebatte zu Beginn der<br />
1990er Jahre verbesserten sich die Gelegenheitsstrukturen für die Rechtsextremen<br />
bundesweit. Insbesondere die Sanktions- und Restriktionsarmut und -unfähigkeit,<br />
die aus der Schwäche der staatlichen Strukturen in der Übergangszeit in den neuen
114 Matthias Quent<br />
Bundeslän dern und der Unterstützung durch etablierte Strukturen aus den alten<br />
Ländern resultierte, ermöglichte der rechtsextremen Szene eine nahezu ungehinderte<br />
Ausbreitung.<br />
Über 20 Jahre nach der Vereinigung existieren in ost- und westdeutschen<br />
Regionen etablierte rechtsextreme Strukturen, deren konkrete Gestalt variiert.<br />
Permanente Anpassungserfordernisse an die Individuen durch gesellschaftliche<br />
Modernisierungsprozesse und vor allem die in Folge der ansteigenden weltweiten<br />
Fluchtmigrationsbewegungen neu entfachte Asyldebatte bieten der rechtsextremen<br />
Szene vielfältige Anknüpfungspunkte. Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft<br />
sind gut beraten, wenn sie die neuerliche Zunahme gewalttätiger und agitatorischer<br />
Aktivitäten gegen ‚Fremde‘ als permanente Herausforderung für die Demokratie<br />
ernst nehmen, anstatt den <strong>Rechtsextremismus</strong> als sozialen ‚Restmüll‘ der DDR zu<br />
historisieren.
Sonderfall Ost – Normalfall West?<br />
115<br />
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T rends und Ursachen<br />
des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland 1<br />
Heinrich Best<br />
Seit den ersten Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung wird der <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
als ein besonderes Problem Ostdeutschlands wahrgenommen. Obwohl<br />
Westdeutschland keineswegs Immunität gegenüber rechtsextremen Tendenzen<br />
für sich beanspruchen kann, gibt es doch einige empirische Evidenz für die<br />
Annahme, der <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland sei sowohl seiner Quantität<br />
als auch seiner Qualität nach ein spezi sches Phänomen (vgl. Best, Salheiser &<br />
Salomo, 2014). Dies betrifft die wiederholten Wahlerfolge rechtsextremer Parteien<br />
und ihren Einzug in ostdeutsche Landtage, die im Vergleich zur gesamtdeutschen<br />
Statistik in Ostdeutschland signi kant häuger dokumentierten Gewaltstraftaten<br />
mit ausländerfeindlichen bzw. rassistischen Tatmotiven sowie die bei ostdeutschen<br />
Befragten erhöhten Zustimmungswerte zu ausländerfeindlichen, nationalistischen<br />
und diktaturaf nen Positionen, die dem rechtsextremen Einstellungssyndrom<br />
zugerechnet werden (vgl. von Berg, 1994; Borstel, 2012; Pfahl-Traughber, 2009;<br />
Wagner, 2000). Jüngst haben islamfeindliche und europaskeptische soziale Bewegungen<br />
und Parteien wie Pegida und AfD in Ostdeutschland ihre bisher größten<br />
Mobilisierungs- und Wahlerfolge erzielt.<br />
In den frühen neunziger Jahren galten ausgeprägte rechtsextreme Tendenzen<br />
in Ostdeutschland jedoch als Paradox, denn in der DDR hatte die SED versucht,<br />
1 Eine frühere Fassung dieses Beitrages wurde im Juli 2014 unter dem Titel „Trends and<br />
Causes of Right Wing Extremism in East Germany“ auf dem Annual Scientific Meeting<br />
of the International Society of Political Psychology (ISPP) in Rom präsentiert. Die<br />
Übersetzung ins Deutsche besorgte Axel Salheiser.<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
120 Heinrich Best<br />
ihren Herrschaftsanspruch mit dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu<br />
legitimieren, in welcher der „Faschismus auf deutschem Boden“ im festen Bündnis<br />
mit der Sowjetunion für immer besiegt worden sei. Dies blieb der Gründungsmythos<br />
der DDR und ihre Staatsräson bis zum Ende der SED-Herrschaft (vgl.<br />
Ahbe, 2007; Danyel, 1999). Allerdings war im Westen bereits vor 1990 bekannt<br />
gewesen oder zumindest vermutet worden, dass die Herrschaftspraxis der SED<br />
der ofziellen Antifaschismus-Ideologie in wichtigen Bereichen wie z. B. der Rekrutierung<br />
des eigenen Führungspersonals widersprach (vgl. Best, 2010; Best &<br />
Salheiser, 2006; Salheiser, 2010). Als sich nach der Wende die Aktenschränke und<br />
Archive Ostdeutschlands für die historische und soziologische Forschung öffneten,<br />
bestätigten sich jene Vermutungen. So waren beispielsweise gut ein Sechstel<br />
der SED-Parteisekretäre in Thüringen in den fünfziger Jahren ehemalige Mitglieder<br />
der NSDAP gewesen, ein weiteres Drittel ehemalige Mitglieder „faschistischer<br />
Organisationen“ (vgl. Best, 2003; Meenzen, 2010). Entgegen der Propaganda der<br />
SED überschattete die NS-Vergangenheit nicht nur die Bundesrepublik, sondern<br />
auch die DDR-Gesellschaft und das SED-Regime selbst. Als Anfang 1990 die<br />
ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR vorbereitet wurden, sahen sich die<br />
dafür zuständigen Behörden gezwungen, „faschistische Organisationen“ von der<br />
Wahlteilnahme auszuschließen. Sie befürchteten offenbar ein erhebliches Gefährdungspotential<br />
durch einen autochthonen <strong>Rechtsextremismus</strong> der DDR unter den<br />
Bedingungen der neu gewonnenen demokratischen Freiheitsrechte und der Ein-<br />
ussnahme westdeutscher rechtsextremer Organisationen und Medien.<br />
Die ober ächliche Entnazizierungspraxis in der DDR der späten vierziger<br />
und frühen fünfziger Jahre (vgl. Kappelt, 1997) ist jedoch keine hinreichende<br />
Erklärung dafür, dass seit den neunziger Jahren rechtsextreme Parteien in Ostdeutschland<br />
Wahlerfolge erzielt haben und dass fremdenfeindliche, rassistische<br />
und antidemokratische Einstellungen überdurchschnittlich häu g auftreten. Die<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung hat stattdessen eine Vielzahl weiterer Erklärungsansätze<br />
hervorgebracht, bei denen sich grundsätzlich zwei Kausalfaktoren unterscheiden<br />
lassen:<br />
• die Wahrnehmung kollektiver Diskriminierung und relativer Deprivation der<br />
Ostdeutschen in Folge der Wiedervereinigung,<br />
• der Fortbestand antidemokratischer, antipluralistischer und antikapitalistischer<br />
Einstellungen und Normen, die sich vor allem auf eine Sozialisation im autoritären<br />
Sozialismus sowjetischer Prägung zurückführen lassen.<br />
Wenn davon auszugehen ist, dass sowohl die Gründe für die relative Deprivation<br />
als auch sozialistische Sozialisationsmuster weiterwirken bzw. reproduziert wer-
Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland<br />
121<br />
den, dann können diese beiden Kausalfaktoren zur Erklärung der langfristigen<br />
Entwicklung des ostdeutschen <strong>Rechtsextremismus</strong> nach der Wiedervereinigung<br />
herangezogen werden.<br />
Nachfolgend möchte ich untersuchen, inwieweit die gerade skizzierten Ansätze<br />
geeignet sind, das Auftreten rechtsextremer Einstellungen in der ostdeutschen<br />
Bevölkerung zu erklären. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei der Frage zu widmen,<br />
inwieweit rechtsextreme Einstellungen mit der Bewertung der DDR und der<br />
sozialistischen Ordnung verknüpft sind, weil die DDR ihrem Anspruch nach und<br />
in der Vorstellung vieler Ostdeutscher bis heute als antifaschistisches und „linkes“<br />
Gesellschaftsprojekt gilt. Als empirische Basis meiner Untersuchung dienen die<br />
Daten des THÜRINGEN-MONITORs, einer jährlich stattndenden Repräsentativbefragung<br />
der wahlberechtigten Bevölkerung des Freistaates Thüringen mit jeweils ca.<br />
1.000 Befragten (vgl. Best, 2012; Best et al., 2013). Die Datenreihe des T HÜRIN-<br />
GEN-MONITORs dokumentiert die Anteile rechtsextrem eingestellter Thüringer und<br />
Thüringerinnen von 2001 bis 2014 fast lückenlos, nur im Jahr 2009 fand keine Erhebung<br />
statt. Initiiert wurde die Befragung in Folge des Brandanschlages auf die<br />
Synagoge in der Landeshauptstadt Erfurt im Jahr 2000. Von Seiten der Politik und<br />
der Öffentlichkeit im Freistaat hat seitdem großes Interesse bestanden, die Entwicklung<br />
rechtsextremer Einstellungen im weiteren Kontext der politischen Kultur<br />
Thüringens wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Dies wurde auch besonders<br />
deutlich nach dem Bekanntwerden der Verbrechen des „Nationalsozialistischen<br />
Untergrundes“ (NSU), dessen (mutmaßliche) Mitglieder alle aus der thüringischen<br />
Universitätsstadt Jena stammen. Wobei es aus wissenschaftlicher Perspektive nicht<br />
unproblematisch ist, die ausländerfeindlich und rassistisch motivierten Gewaltexzesse<br />
des NSU mit den Einstellungen in der allgemeinen Bevölkerung in Bezug zu<br />
setzen. Seit 2012 wird der T HÜRINGEN-MONITOR unter meiner Leitung am Institut<br />
für Soziologie der Friedrich Schiller-Universität Jena erstellt und ausgewertet.<br />
Den Kern der indikatorengestützten Messung rechtsextremer Einstellungen<br />
bieten im T HÜRINGEN-MONITOR zehn Zustimmungsitems, die zu einer <strong>Rechtsextremismus</strong>skala<br />
verrechnet werden. Der Grundstein für dieses Messkonzept wurde<br />
2001 gelegt, als eine Gruppe deutscher Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen<br />
eine „Konsensde nition“ des <strong>Rechtsextremismus</strong> erarbeitete. Die<br />
„Konsensdenition“ besitzt mittlerweile quasi-of ziellen Charakter, da sie von<br />
der wissenschaftlichen Forschung ausgehend auch Eingang in die politischen Programme<br />
zur Bekämpfung des <strong>Rechtsextremismus</strong> auf Länder- und Bundesebene<br />
gefunden hat. Demnach ist <strong>Rechtsextremismus</strong> ein Einstellungssyndrom, das<br />
Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus, die Af nität zur (nationalen) Diktatur, die<br />
Verharmlosung des Nationalsozialismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus<br />
umfasst. Jeder dieser sechs Dimensionen – oder besser: Facetten – des Rechtsex-
122 Heinrich Best<br />
tremismus wurden Items aus einem umfangreichen und größtenteils bis dato bereits<br />
forschungserprobten Fragenkatalog zugeordnet. Die Mehrheit der deutschen<br />
Befragungsstudien zu rechtsextremen Einstellungen seit 2001 folgen der Konsensdenition<br />
insofern, dass Items aus dem vereinbarten Fragenkatalog Verwendung<br />
fanden, die Auswahl der einzelnen Indikatoren und deren jeweilige Anzahl variierte<br />
indessen beträchtlich. Im THÜRINGEN-MONITOR werden seit 2001 die gleichen<br />
zehn Indikatoren zur Messung rechtsextremer Einstellungen genutzt (vgl. Tabelle<br />
1). Während in anderen Studien teilweise auch fünfstu ge Antwortskalen eingesetzt<br />
werden, wurde für den T HÜRINGEN-MONITOR eine vierstu ge Antwortskala 2<br />
ohne Mittelkategorie gewählt. Die aus den zehn Items gebildete Summenskala<br />
rangiert folglich zwischen 10 und 40 Punkten. Ab einem Punktwert von 26 wurden<br />
Befragte als rechtsextrem eingestuft, ab einem Punktwert von 30 dem „harten<br />
Kern“ der Personen mit verfestigten rechtsextremen Einstellungen zugerechnet.<br />
2 Antwortkategorien: „stimme voll und ganz zu“ (4 Punkte), „stimme überwiegend zu“<br />
(3), „lehne überwiegend ab“ (2), „lehne völlig ab“ (1).
Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland<br />
123<br />
Tabelle 1 Die Messung rechtsextremer Einstellungen im Thüringen-Monitor nach der<br />
“Konsensdenition” des <strong>Rechtsextremismus</strong> (Thüringen-Monitore 2001–2014;<br />
Zustimmungswerte 2013)<br />
Fremdenfeindlichkeit<br />
„Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen<br />
Maße überfremdet.“<br />
„Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen.“<br />
„Ausländer sollten grundsätzlich ihre Ehepartner unter den eigenen<br />
Landsleuten auswählen.“<br />
Sozialdarwinismus<br />
„Es gibt wertvolles und unwertes Leben.“ 32<br />
„Wie in der Natur sollte sich auch in der Gesellschaft immer der 31<br />
Stärkere durchsetzen.“<br />
Nationalismus und Chauvinismus<br />
„Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches 45<br />
Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.“<br />
„Andere Völker mögen Wichtiges vollbracht haben, an deutsche 41<br />
Leistungen reicht das aber nicht heran.“<br />
Verharmlosung des Nationalsozialismus<br />
„Der Nationalsozialismus hat auch seine guten Seiten.“ 21<br />
Antisemitismus<br />
„Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an 15<br />
sich und passen nicht so recht zu uns.“<br />
Rechte Diktatur<br />
„Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine 12<br />
Diktatur die bessere Staatsform.“<br />
Zustimmung<br />
(in %)<br />
42<br />
44<br />
21<br />
Allerdings haben unsere eigenen Untersuchungen zur Validität und Reliabilität<br />
einige Schwächen des Messinstrumentes offengelegt: So musste insbesondere die<br />
Annahme zurückgewiesen werden, die zehn Items bildeten eine eindimensionale<br />
Skala. Eine Hauptkomponentenanalyse wies zwei Faktoren aus, die ihrerseits wiederum<br />
auf die Existenz zweier Varianten des <strong>Rechtsextremismus</strong> hindeuteten: den<br />
„Neo-Nationalsozialismus“ sowie den „Ethnozentrismus“. Als forschungspraktische<br />
Konsequenz dieser Erkenntnis wurde ein neuer gewichteter Mittelwertindex<br />
berechnet, der die alte, auf der Eindimensionalitätsannahme beruhende Summenskala<br />
ablöst (vgl. Best & Salomo, 2014). Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse<br />
aus den älteren T HÜRINGEN-MONITORen und anderen Studien zu gewährleisten,<br />
soll an dieser Stelle zunächst die alte Summenskala interpretiert werden, die den
124 Heinrich Best<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> als ein einheitliches Muster von Einstellungen und Ideologemen<br />
modelliert und abbildet.<br />
Die Befragungen des T HÜRINGEN-MONITORs zeigen, dass bestimmte Facetten<br />
des <strong>Rechtsextremismus</strong> (nach der „Konsensde nition“) hohe Zustimmungswerte<br />
unter der Thüringer Bevölkerung erzielen. 2013 stimmten vier von zehn Befragten<br />
fremdenfeindlichen und nationalistischen Aussagen zu, drei von zehn Befragten<br />
stimmten sozialdarwinistischen Positionen zu, jeweils ein Fünftel unterstützte<br />
Aussagen, in denen der Nationalsozialismus verharmlost und ethnisch homogene<br />
Ehen gefordert werden. Jeweils mehr als ein Zehntel der Befragten zeigte Af nität<br />
zu einer nationalen Diktatur und vertrat antisemitische Vorurteile. Nach Addition<br />
der einzelnen Zustimmungswerte zur <strong>Rechtsextremismus</strong>skala wurden ca.<br />
zwölf Prozent der Befragten als rechtsextrem klassi ziert; ein Wert, der bereits<br />
2012 gemessen wurde. Ungefähr fünf Prozent der Befragten wurden entsprechend<br />
ihrem Zustimmungsverhalten 2013 dem „harten Kern“ zugerechnet. Obwohl diese<br />
Anteile gegenüber den Spitzenwerten in der ersten Dekade des Jahrhunderts auf<br />
die Hälfte gesunken sind, werden sie dennoch mit Besorgnis betrachtet: Rechtsextreme<br />
Einstellungen in der Bevölkerung mögen den Nährboden für Wahlerfolge<br />
rechtsextremer Parteien bereiten oder ein gesellschaftliches Klima erzeugen, in<br />
dem sich fremdenfeindliche und rassistische Gewalt Bahn bricht. Damit ist die<br />
Suche nach dem Wesen und den Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> nicht nur von<br />
akademischer oder theoretischer Bedeutung, vielmehr sollte die Forschung auch<br />
wichtige Erkenntnisse liefern, die in die zivilgesellschaftliche Praxis (wie Landesprogramme<br />
und Aktionspläne gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>), Demokratiepädagogik<br />
sowie in den politischen Diskurs einießen können.<br />
Eine umfassende und detaillierte Kausalanalyse zu rechtsextremen Einstellungen<br />
ist möglich, weil der THÜRINGEN-MONITOR eine breite Auswahl soziodemographischer<br />
und sozialpsychologischer Variablen bietet, die als mögliche Ursachen<br />
infrage kommen, und weil diese Variablen jedes Jahr erhoben wurden. Somit kann<br />
auch eine valide, sinnvolle Datenakkumulation und -aggregation statt nden. Auf<br />
der Basis eines Gesamtdatensatzes mit ca. 6000 Befragten aus den T HÜRINGEN-<br />
MONITORen 2001–2013 wurde eine Pfadanalyse berechnet, die die <strong>Rechtsextremismus</strong>skala<br />
als abhängige Variable und eine Vielzahl von Indikatoren als unabhängige<br />
Variablen einschließt (vgl. Tabelle 2). An dieser Stelle werden die Beta-Effekte<br />
(B) solcher Erklärungs- bzw. Prädiktorvariablen dargestellt und interpretiert, die<br />
direkt oder indirekt, also über andere Variablen vermittelt, auf die abhängige Variable<br />
wirken und dabei auf dem höchsten Signikanzniveau (p 0.001) eine substanzielle<br />
Effektstärke (B = 0.075) aufweisen.
Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland<br />
125<br />
Tabelle 2 Überblick angenommener Erklärungsfaktoren und ihr empirischer Ein uss<br />
auf rechtsextreme Einstellungen (Datenbasis: Thüringen-Monitore 2001–2013,<br />
n=5.981; zur Modellspezikation der Pfadanalyse vgl. Best et al., 2014, S. 157 f.).<br />
Erklärungsfaktor Operationalisierung Beta-Effekte<br />
direkt/indirekt<br />
Soziodemogra e eschlecht – weiblich) ( G<br />
– Lebensalter (älter)<br />
– formales Bildungsniveau (niedriger)<br />
Ökonomische Deprivation<br />
Individuell<br />
Kollektiv<br />
Ostdeutsche Deprivation<br />
Individuell<br />
Kollektiv<br />
Politische Entfremdung<br />
– Arbeitslosigkeit oder<br />
– unsicher wahrgenommener Arbeitsplatz<br />
– subjektiv schlechte nanzielle Situation<br />
– Eindruck, nicht den gerechten Anteil zu<br />
erhalten<br />
– Angst vor Statusverlust (ab 2007 erhoben)<br />
– schlechte Bewertung der Thüringer<br />
Wirtschaft<br />
– negativer Vergleich Thüringens mit den<br />
alten<br />
– und den neuen Bundesländern<br />
– Bewertung der deutschen Einheit als<br />
nachteilig<br />
– Wahrnehmung der Diskriminierung Ostdeutscher<br />
durch Westdeutsche<br />
– geringe Eigenwirksamkeitsüberzeugung<br />
– geringes Vertrauen in politische Institutionen<br />
– Unzufriedenheit mit demokratischer<br />
Praxis<br />
-<br />
-<br />
0,189 / 0,200<br />
-<br />
-<br />
0 / 0,147<br />
0 / 0,093<br />
Ostdeutsche Vergangenheit – positive DDR-Bewertung 0,152<br />
(politische) Werte – Autoritarismus 0,461<br />
Erklärte Varianz rechtsextremer Einstellungen<br />
davon durch effektstärkstes Merkmal Autoritarismus<br />
0,139 / 0,107<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
0,151 / 0,154<br />
-<br />
-<br />
-<br />
46 %<br />
16 %<br />
Zunächst zeigt die Analyse, dass die (objektive) soziale Situation der Befragten<br />
wenig oder keinen Einuss auf das Antwortverhalten hat; einzig höhere formale<br />
Bildung senkt tendenziell den <strong>Rechtsextremismus</strong>-Skalenwert. Überraschenderweise<br />
hat Arbeitslosigkeit keinen signikanten Effekt. Faktoren der subjektiven<br />
Wahrnehmung sozialer Benachteiligung indessen erhöhen deutlich die Neigung<br />
zu rechtsextremen Einstellungen: Dazu zählen die Angst, Verlierer der gesell-
126 Heinrich Best<br />
schaftlichen Entwicklung zu werden; die Auffassung, im Vergleich zu anderen<br />
weniger als den gerechten Anteil zu erhalten und die Meinung, dass Ostdeutsche<br />
von Westdeutschen diskriminiert würden (vgl. Best et al., 2014, S. 154). Alle<br />
diese Faktoren verweisen direkt oder indirekt auf den sozio-historischen Kontext<br />
Ostdeutschlands, auf die Position der Befragten in diesem Kontext und auf<br />
ihre biographischen Erfahrungen in der postsozialistischen Gesellschaftstransformation.<br />
Von besonderer Bedeutung ist, dass rechtsextreme Einstellungen und eine<br />
positive Bewertung der DDR positiv assoziiert sind (vgl. Best et al., 2014, S. 159).<br />
Demnach sind Thüringer Rechtsextreme häu ger als andere Befragte der Meinung,<br />
dass die DDR mehr gute als schlechte Seiten hatte, ungeachtet des Widerspruchs<br />
zwischen dem legitimatorischen Antifaschismus der DDR einerseits und<br />
der Verharmlosung des Nationalsozialismus als einer der zentralen De nitionsbestandteile<br />
des <strong>Rechtsextremismus</strong> andererseits. Bezüglich der Bewertung der<br />
beiden unterschiedlichen historischen Diktaturen bildet sich in den Daten eine<br />
starke positive Assoziation ab; offenbar sind in den Köpfen nicht weniger Befragter<br />
NS-Verharmlosung und DDR-Nostalgie nicht nur kompatibel, sondern miteinander<br />
verknüpft. Eine Erklärung für diesen paradox anmutenden Befund liefert<br />
möglicherweise eine weitere signi kante unabhängige Variable im Pfadmodell:<br />
Autoritarismus, hier operationalisiert als (kumulative) Zustimmung zu den Aussagen<br />
„Wer seine Kinder zu anständigen Bürgern erziehen will, muss von ihnen vor<br />
allem Gehorsam und Disziplin verlangen.“ sowie „In diesen Zeiten brauchen wir<br />
unbedingt eine starke Hand.“ Auf dieser Grundlage sind 46 Prozent der Befragten<br />
als autoritär einzustufen. Der Faktor Autoritarismus hat mit Abstand den stärksten<br />
Einuss aller unabhängigen Variablen im Modell. Beide deutschen Diktaturen basierten<br />
(neben all ihren Unterschieden) auf autoritären Prinzipien und setzten diese<br />
durch, womit eine Verbindung zwischen ihrer jeweiligen Verharmlosung bzw.<br />
Idealisierung bei Teilen der Befragten plausibel erscheint.<br />
Eine weitere paradoxale Assoziation zwischen den Bewertungen der beiden<br />
deutschen Diktaturen manifestiert sich in der Af nität der entsprechenden Befragten<br />
zur „sozialistischen Ordnung“ (vgl. Best et al., 2014, S. 160). 44 Prozent<br />
der als rechtsextrem eingestuften Thüringer und Thüringerinnen befürworten eine<br />
Rückkehr zum Sozialismus, unter nicht-rechtsextremen Befragten sind es lediglich<br />
14 Prozent. Der Anteil der DDR-Nostalgiker unter denen, die die „Rückkehr<br />
zur sozialistischen Ordnung“ befürworten, beträgt 81 Prozent (gegenüber 42 Prozent<br />
der Befragten insgesamt). Der Anteil derer, die den Nationalsozialismus verharmlosen,<br />
unter denen, die die „Rückkehr zur sozialistischen Ordnung“ befürworten,<br />
beträgt 64 Prozent (gegenüber 11 Prozent der Befragten insgesamt; alle<br />
Prozentangaben für 2013). Offenbar verschmelzen hier politische Positionen und
Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland<br />
127<br />
Ideologeme miteinander, die im Diskurs traditionell als „typisch links“ oder „typisch<br />
rechts(-extrem)“ gelten.<br />
Diese Inkonsistenz macht es auch plausibel, dass sich nur eine kleine Minderheit<br />
der Befragten als rechtsextrem bezeichnet, wenn man sie zu einer Selbstpositionierung<br />
im politischen Spektrum auffordert. Die große Mehrheit derer, die aufgrund<br />
ihres Antwortverhaltens als rechtsextrem einzustufen sind, nämlich zwischen drei<br />
Viertel und vier Fünftel der rechtsextremen Befragten, verortet sich selbst in der<br />
politischen Mitte oder links der Mitte. In einigen Befragungswellen des T HÜRIN-<br />
GEN-MONITORs verorteten sich sogar mehr Rechtsextreme selbst im linken Flügel<br />
des politischen Spektrums (einschließlich sehr weit links) als im rechten Flügel<br />
(einschließlich sehr weit rechts). Es kann angezweifelt werden, dass solche widersprüchlichen<br />
Selbstattributionen aus vorsätzlichen Falschpositionierungen resultieren.<br />
Denn Personen, die sich selbst als rechts oder rechtsextrem einordnen und<br />
die in der Befragung – tabubesetzte – rassistische oder neonazistische Positionen<br />
offen vertreten, werden kaum wegen sozialer Erwünschtheit davor zurückscheuen,<br />
sich selbst auch als rechts oder rechtsextrem zu bezeichnen. Vielmehr kann davon<br />
ausgegangen werden, dass die Mehrheit der rechtsextrem Eingestellten sich selbst<br />
als authentische Anhänger der politischen Mitte oder der politischen Linken auffasst,<br />
weil in der Vorstellungswelt dieser Befragten heterophobe und autoritäre<br />
Ideologeme mit egalitären Positionen verknüpft sind und sie das Gefühl haben,<br />
einem Mainstream anzugehören.<br />
Diese Annahme bestätigt sich auch in einer Faktorenanalyse der zehn Indikatoren<br />
der <strong>Rechtsextremismus</strong>skala. Wie bereits erwähnt wurde, konnten dabei<br />
zwei Faktoren identi ziert werden: „Neo-Nationalsozialismus“ und „Ethnozentrismus“.<br />
Der Faktor „Neo-Nationalsozialismus“ umfasst die Indikatoren des Sozialdarwinismus,<br />
des (deutschnationalen) Chauvinismus, der Verharmlosung des<br />
Nationalsozialismus, des Rassismus und teilweise auch des Antisemitismus. Der<br />
Faktor „Ethnozentrismus“ umfasst hingegen Items, die sich auf die vermeintliche<br />
Überfremdung Deutschlands durch massenhafte Zuwanderung, auf den vermeintlichen<br />
Missbrauch des Wohlfahrtsstaates durch Ausländer und auf die energische<br />
Durchsetzung deutscher Interessen beziehen. Wenn die Items der DDR-Nostalgie<br />
sowie der „Rückkehr zur sozialistischen Ordnung“ in die Faktorenanalyse einbezogen<br />
werden, laden diese Variablen auf dem Faktor „Neo-Nationalsozialismus“.<br />
DDR-Nostalgie und Sozialismusafnität können demnach als Indikatoren für neonationalsozialistische<br />
Einstellungen gelten.<br />
In der Zusammenfassung dieser Befunde ist zunächst festzuhalten, dass der<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> und insbesondere dessen neo-nationalsozialistische Ausprägung<br />
eine signikante „linke“ Komponente besitzen, wenn man die DDR und ihre<br />
„sozialistische Ordnung“ als ein linkes Projekt betrachtet. Hinzu kommt die Tat-
128 Heinrich Best<br />
sache, dass rechtsextrem eingestellte Befragte sich selbst mehrheitlich nicht als<br />
rechtsextrem im politischen Spektrum verorten. Dies impliziert jedoch, dass der<br />
öffentliche Diskurs gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> – darunter staatliche Landesprogramme<br />
und Aktionspläne – einen großen Teil ihrer eigentlichen Zielgruppe verfehlen:<br />
Die Mehrheit der Rechtsextremen nimmt sich selbst und ihre Einstellungen<br />
nicht als rechtsextrem wahr. Manche von ihnen sehen sich sogar als „Antifaschisten“;<br />
ungefähr ein Drittel erklärte in der Befragung 2013, dass sie sich vorstellen<br />
könnten, an Demonstrationen gegen Neonazis teilzunehmen, fünf Prozent gaben<br />
sogar an, dies bereits getan zu haben.<br />
Eine weitere Frage war, ob es sich beim hier untersuchten <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
im innerdeutschen Vergleich um ein spezi sch ostdeutsches Phänomen handelt.<br />
Eine solche Feststellung ist insofern gerechtfertigt, dass nur in Ostdeutschland das<br />
gesellschaftliche und politische Regime des „Realsozialismus“ existierte, bis heute<br />
in der kollektiven Erinnerung präsent ist und durch Sozialisationsmuster, (kollektiv-)biographische<br />
Erfahrungen und normative Orientierungen fortwirkt (vgl.<br />
Best et al., 2014, S. 163f.) Im Kollektivgedächtnis erscheint die sozialistische Ordnung<br />
als egalitär, homogen und autoritär – eine Assoziation, die sich auch für die<br />
Repräsentation des Nationalsozialismus nden lässt. In diesem Sinne sind DDR-<br />
Nostalgie und NS-Verharmlosung offensichtlich bei einigen (Ost-)Deutschen plausibel<br />
miteinander assoziiert. Die Amalgamierung ultranationalistischer und rassistischer<br />
Positionen mit Sympathien für die soziale Ordnung des „Realsozialismus“<br />
verbindet den ostdeutschen <strong>Rechtsextremismus</strong> stärker mit der politischen Kultur<br />
in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas als mit der des Westens. In den Ländern<br />
Mittel- und Osteuropas ist die Verschmelzung linker und rechter Positionen<br />
populär und bereitet einen Nährboden für rechtsextreme und „nationalkommunistische“<br />
Parteien und Bewegungen. Besonders in Russland treten faschistische<br />
Kräfte auf, die sich als antifaschistisch maskieren (vgl. Kelimes, 2012). Sieben<br />
Jahrzehnte nach dem Sieg über den Nationalsozialismus und zwei Jahrzehnte nach<br />
dem Untergang des Kommunismus scheinen neue bedrohliche Gespenster in Mittel-<br />
und Osteuropa umzugehen; beim genaueren Hinsehen erweisen sie sich jedoch<br />
als Amalgame des Bekannten.
Trends und Ursachen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Ostdeutschland<br />
129<br />
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<strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und pauschalisierende Ablehnungen<br />
Alte Probleme mit neuen Herausforderungen<br />
Kurt Möller<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> ist in Deutschland – und nicht nur hier – ein gesellschaftliches<br />
Problem, das mit unterschiedlichen Konjunkturen seit Jahrzehnten andauert<br />
und bislang anscheinend nicht hinreichend in den Griff zu bekommen ist. Manch<br />
eine(r) mag den Diskurs darüber kaum noch verfolgen, weil er/sie seine Beiträge<br />
allzu häug als Neuauage von bereits Bekanntem einstuft und die durch sie angeregte<br />
Bearbeitung der <strong>Rechtsextremismus</strong>-Problematik als wenig zielführend<br />
wahrnimmt.<br />
Ähnlich verhält es sich mit den öffentlichen und (inter)disziplinären Debatten<br />
um die Verbreitung von weiteren, auch außerhalb des rechtsextremen Spektrums<br />
schwelenden oder zu Tage tretenden Phänomenen wie feindselige Vorurteile<br />
gegenüber (relativ) machtlosen Gruppierungen und ihren Angehörigen, auf sie zielende<br />
Diskriminierung[sbereitschaft]en und damit verbundene Gewaltförmigkeiten.<br />
Auch diesbezüglich handelt es sich scheinbar um altbekannte Probleme, deren<br />
hartnäckige Fortexistenz bzw. deren punktuelles und temporäres Auf ackern ein<br />
demokratisches und friedvolles Zusammenleben zwar unterminieren, aber gerade<br />
angesichts ihrer Verstetigungen im Alltag nicht selten fatalistisches Achselzucken<br />
hervorrufen.<br />
Wissenschaftlich betrachtet werfen diese Einschätzungen eine Reihe von Fragen<br />
auf. Ohne sie selbst in Zweifel zu ziehen, ist in einem ersten Zugriff zumindest<br />
zu klären, ob es sich eigentlich tatsächlich um ‚alte’ Probleme handelt oder ob<br />
sich die augenscheinlich ‚alten’ Probleme nicht vielfach in erneuerter Gestalt darstellen.<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
132 Kurt Möller<br />
Um zur Klärung dieser Frage beizutragen, versucht der vorliegende Beitrag in<br />
einem ersten Schritt, die in Rede stehenden Phänomene begrif ich adäquat zu<br />
fassen. Er informiert danach im zweiten Schritt über die wichtigsten Aspekte ihres<br />
empirischen Ausmaßes sowie über ihre Entwicklung innerhalb der letzten Jahrzehnte<br />
und markiert im Zuge dessen alte und neue Herausforderungen, die sie in<br />
sich bergen.<br />
1 „<strong>Rechtsextremismus</strong>“, „Rechtsradikalismus“,<br />
„Rassismus“, „Neonazismus“<br />
„Menschenfeindlichkeit“, „Vorurteile“ oder was?<br />
Die Vorstellungen von Gegenständen und das Sprechen über sie bestimmen bekanntlich<br />
deren Wahrnehmung, Deutung, Bewertung und Behandlung mit. Die<br />
Phänomene, um die es hier geht, angemessen begrifich zu fassen, ist mithin eine<br />
wesentliche Voraussetzung ebenso für die tragfähige Auseinandersetzung über sie<br />
wie für den Umgang mit ihnen.<br />
Indem wir den Problemkomplex ‚<strong>Rechtsextremismus</strong>’ schon am Anfang dieses<br />
Beitrags begrifich eingeführt haben, gilt es nun zu bestimmen, was darunter zu<br />
verstehen ist und wieso dieser Terminus gegenüber anderweitig ins Spiel gebrachten<br />
Alternativbegriffen Vorteile besitzt.<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> meint in der hier vorgeschlagenen Verwendung einen Komplex<br />
von Phänomenen, der inhaltlich durch sechs Komponenten bestimmt wird:<br />
• Nationalismus bzw. nationalen Chauvinismus,<br />
• Antisemitismus,<br />
• Fremden- bzw. Ausländerfeindlichkeit,<br />
• Sozialdarwinismus bzw. Rassismus,<br />
• die Befürwortung autoritärer politischer Strukturen und<br />
• die Verharmlosung des Nationalsozialismus. 1<br />
1 Wenn in dieser Aufzählung die Formulierung „bzw.“ auftaucht, so weist sie darauf<br />
hin, dass auch bei den Anhänger/innen der Konsensdefinition teilweise bei Teilaspekten<br />
nicht immer dieselben Begrifflichkeiten benutzt werden. Festzuhalten ist<br />
diesbezüglich insbesondere: „Rassismus“ wird hier im Gegensatz zum weiter unten<br />
ausgeführten Verständnis „rassismuskritischer“ Wissenschaftler/innen als Teilaspekt<br />
von <strong>Rechtsextremismus</strong> verstanden und meint die abwertende Unterscheidung von<br />
Menschen oder Menschengruppen entlang biologischer oder angeblich biologischer<br />
(biologistischer) Differenzen. Manche Vertreter/innen der Konsensdefinition bevorzugen<br />
auf dieser Dimension den Begriff des „Sozialdarwinismus“, weil er über die
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
133<br />
Diese an die sog. „Konsens-Formel“ (vgl. Stöss, 2010, S. 57f.; Decker, Brähler &<br />
Geißler, 2006, S. 20f.; Decker u. a., 2010, S. 18; Decker, Kiess & Brähler, 2014)<br />
angelehnte Denition hat den Vorteil, sich einer weit ächigen Übereinstimmung<br />
innerhalb der <strong>Rechtsextremismus</strong>forschung sicher sein zu können – dies selbst<br />
dann, wenn man seine Problematiken einräumt. Zu diesen gehören: a) die Positionierung<br />
der mit ihm beschriebenen Phänomene auf einem deutlich markierten<br />
Pol der an sich immer weniger aussagefähigen Rechts-Links-Topographie politischer<br />
Positionen, b) eine damit unterstellte Bagatellisierung und erleichterte Ausblendung<br />
der Existenz mancher seiner Kernelemente auch z. B. in der ‚Mitte’ des<br />
politischen Spektrums, c) die dem Begriff als Kompositum inhärente Nutzung des<br />
„Extremismus“-Begriffs, der ohne den Zusatz „Rechts…“ auch zur Bezeichnung<br />
gänzlich anders gelagerter politischer Phänomene wie vor allem Islamismus und<br />
markante linke politische Positionen Anwendung ndet und in Gefahr gesehen<br />
werden kann, durch diese Begriffskomponente die Suggestion einer Gleichsetzbarkeit<br />
mit derartigen Phänomenen zu befördern und die Normalisierungen rechtsextremer<br />
Haltungen zu kaschieren, d) die sicherheitsbehördliche Verwendung dieses<br />
Terminus in einer Weise, die eher staatsgefährdende Bestrebungen sowie stärker<br />
Verfassungs- als Personenschutz in den Mittelpunkt rückt und in dieser Einseitigkeit<br />
mit seinem oben benannten wissenschaftlichen Gebrauch nicht deckungsgleich<br />
ist, e) eine gewisse Substanzlosigkeit der Bezeichnung selbst, die eher eine Verortung<br />
politischer Positionierung (eben am äußersten ‚rechten’ Rand des politischen<br />
Spektrums) als eine inhaltliche Qualität zum Ausdruck bringt (vgl. u. a. zu diesen<br />
Kritikpunkten als Überblick die Beiträge in Forum, 2011). Wenn „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
sich dennoch als Leitbegriff der thematisch einschlägigen Forschung halten<br />
kann, dann im Wesentlichen deshalb, weil der Terminus sich als theoretisch hinrei-<br />
Bezugnahme auf Rassendifferenz hinausragt und auch die Ablehnung, Diskriminierung<br />
oder gar Vernichtung von ‚unwertem Leben’ generell beinhaltet. Der Terminus<br />
„Chauvinismus“ wird in der Konsensdefinition gegenüber „Nationalismus“ präferiert,<br />
meint aber wie die gängige Verwendung dieses Begriffs eine übersteigerte Bezugnahme<br />
auf die ‚eigene’ Nation, die über Patriotismus und nationale Gesinnungen, die<br />
nicht demokratiewidrig sind, hinausgeht. Als exklusiver Nationalismus propagiert und<br />
betreibt er die Überhöhung der ‚eigenen’ Nation bei Abwertung (im Extremfall bis<br />
hin zu Auslöschung) anderer Nationen und ihrer Angehörigen. Selbst als inklusiver<br />
Nationalismus, der sich eine Integrationsfunktion für verschiedene Teilgruppierungen<br />
einer Gesellschaft attestiert, erhebt er ein „Loyalitäts- und Deutungsmonopol“, das<br />
allein die Nation zum allen anderen Integrationsbezügen (Sprache, Region etc.) übergeordneten<br />
identitätsstiftenden Referenzpunkt stilisiert (vgl. Wehler, 1987, S. 508).<br />
„Ausländerfeindlichkeit“ erscheint als ein überholter Begriff, weil das, was mit ihm<br />
bezeichnet werden soll, häufig auch „fremd“ erscheinende (post)migrantische Personen(gruppierungen)<br />
mit deutscher Staatsangehörigkeit trifft.
134 Kurt Möller<br />
chend abgeklärt und empirisch gut operationalisiert darstellt und zugleich auch im<br />
öffentlichen Raum als Problematisierungsformel verstanden wird. Wer ihn vertritt,<br />
argumentiert jedoch zumeist mit Recht, dass der normative <strong>Rechtsextremismus</strong>begriff<br />
mindestens soweit ergänzt werden muss, dass auch die Gegnerschaft zum<br />
Republik-, Bundesstaats- und Sozialstaatsprinzip erfasst werden kann (vgl. z. B.<br />
Jaschke, 1991), rekurriert aber daneben in erster Linie auf Heitmeyers, erstmals<br />
1987 formuliertes Verständnis des „soziologischen <strong>Rechtsextremismus</strong>“. Danach<br />
liegt <strong>Rechtsextremismus</strong> dann vor, wenn seine zwei Kernelemente, nämlich zum<br />
ersten Ungleichheitsideologien (bzw. -vorstellungen ‚unterhalb’ ideologisch ausgearbeiteter<br />
Konzepte und Ungleichbehandlung[sforderung]en; vgl. Möller, 2000)<br />
und zum zweiten Gewaltakzeptanz, zusammenießen. Erst in Verbindung mit Gewaltakzeptanz<br />
liegt nach dem hier vertretenen Verständnis im konkreten Fall bei<br />
Ungleichheitsvorstellungen <strong>Rechtsextremismus</strong> – gleichsam ‚im Vollbild’ – vor.<br />
Unter ‚Gewaltakzeptanz’ ist dabei eine Orientierung zu verstehen, die die aktive<br />
Seite von Gewaltbetroffenheit – im analytischen Gegensatz dazu steht ‚Gewalterleiden’<br />
als Opfer – bezeichnet. Im Einzelnen handelt es sich dabei um eine der<br />
folgenden Gewaltformen:<br />
• eigene Gewalttätigkeit,<br />
• Bereitschaft zu eigener Gewalttätigkeit,<br />
• Drohung mit Gewalt,<br />
• Propagierung, Stimulation, Billigung oder Duldung fremdausgeübter Gewalt in<br />
konkreten Situationen,<br />
• generelle, d. h. auch: nicht nur die eigene Person betreffende Befürwortung von<br />
Gewalt als Verhaltens- bzw. Handlungsoption.<br />
Gewalt wird dabei nicht nur als die intentionale physische Schädigung von Personen<br />
oder Sachen verstanden. Eingeschlossen ist auch eine psychische Schädigung<br />
von Menschen. Gewalt wird zudem nicht nur als personal ausagiert und verantwortet<br />
gesehen, sondern ihre Akzeptanz wird auch in ihren strukturellen bzw.<br />
institutionellen (z. B. obrigkeitsstaatlich-repressiven) Aspekten einbezogen.<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> wird auch aufgrund dieser de nitorischen Bestimmungen<br />
nicht (nur) als eine Einstellung begriffen. Ebenso wenig wird er – umgekehrt –<br />
auf eine politische Verhaltensweise reduziert. <strong>Rechtsextremismus</strong> wird vielmehr<br />
als eine Haltung verstanden, innerhalb derer Orientierungsaspekte (Einstellungsmomente,<br />
Ressentiments, Mentalitäten 2 etc.) und Aktivitätsaspekte (Verhaltens-<br />
2 Mit Theodor Geiger (1932, S. 77ff.) sind darunter zu verstehen „die nicht systematisierten<br />
oder wenig systematisierten Gefühle, Gedanken und Stimmungen…, die die
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
135<br />
weisen, Handlungen) analytisch unterscheidbar sind und zusammen ießen (vgl.<br />
Möller, 2000; Möller & Schuhmacher, 2007).<br />
Werden die Begriffe „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Rechtsradikalismus“ im öffentlichen<br />
Diskurs heute noch oft als Synonyme verwendet, so ist darauf zu verweisen,<br />
dass der „Radikalismus“-Begriff einen etymologischen und begriffsgeschichtlichen<br />
Ballast mitschleppt, der ihn ungeeignet erscheinen lässt, das zu<br />
bezeichnen, was er bezeichnen soll: Zum einen spricht die etymologische Herleitung<br />
des Begriffs vom lateinischen „radix“ = die Wurzel gegen eine Bezeichnung<br />
rechtsextremer Haltungen und Bestrebungen als radikal, kann doch die ihnen zugrundeliegende<br />
politische Ideologie gerade dahingehend kritisiert werden, dass<br />
sie den Dingen nicht analytisch ‚an die Wurzel’ geht. Er wurde zum anderen im<br />
19. Jahrhundert in erster Linie von strukturkonservativer Seite zunächst – etwa<br />
im Vormärz – gegen Demokratiebewegungen überhaupt, später dann gegen die<br />
‚gemeingefährlichen Bestrebungen der Socialdemokratie’ und ‚Communisten-<br />
Verschwörungen’ eingesetzt und erst beim Aufkommen des Nationalsozialismus<br />
auch auf politische Gegner von rechtsaußen angewendet. Wo der „Rechtsradikalismus“-Begriff<br />
dennoch in wissenschaftlichen Kontexten und/oder in Praxen der<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>-Entgegnung auftaucht, wird er entweder als Kennzeichnung<br />
für ein besonders aggressives und gewaltförmiges Auftreten der extremen Rechten<br />
benutzt 3 oder er wird – wie bei Stöss (vgl. 2010, S. 14) – als Übergangsbereich<br />
zwischen demokratischer Mitte und <strong>Rechtsextremismus</strong> verstanden, wobei diesem<br />
dann, anders als dem „<strong>Rechtsextremismus</strong>“, noch Verfassungskonformität zugeschrieben<br />
wird. Sein Gebrauch in der Forschung ist also hochgradig inkonsistent.<br />
gegebene Gesellschaft, Klasse, Gruppe, Profession usw. aufweist“.<br />
3 In diesem Sinne wird „Radikalisierung“ als Prozessbegriff auch in der neueren Debatte<br />
um Tier(rechts)schutzaktivismus, vor allem aber um Islamismus (vgl. auch die<br />
„Initiative Sicherheitspartnerschaft“ des BMI) und Terrorismus generell verwendet,<br />
wobei der Begriff auch hier wenig Kontur gewinnt, wenn er z. B. wie bei McCauley<br />
und Moskalenko (2011) als „eine erhöhte Bereitschaft, sich an politischen Konflikten<br />
zu beteiligen“ (S. 219) definiert und auf verschiedene Formen und Richtungen politischen<br />
Engagements bezogen wird (vgl. im Überblick auch das Heft von „Der Bürger<br />
im Staat“ 4/2011). Der Terminus „De-)Radikalisierung“ erhält auch im neuen Bundesprogramm<br />
„Demokratie leben! Aktiv gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“<br />
einen prominenten Stellenwert. Fast will es scheinen, als würde er<br />
‚hinterrücks’ den undifferenzierten „Extremismus“-Begriff in neuem Gewande erneut<br />
einführen (wollen).
136 Kurt Möller<br />
Als Begriffsalternative bringen sich des Weiteren aktuell und teils schon seit<br />
längerem vor allem der „Rassismus“-Begriff und die Bezeichnung „Neonazismus“<br />
ins Gespräch. 4<br />
Forscherinnen und Forscher, die den „Rassismus“-Begriff bevorzugen, argumentieren,<br />
dass er eher in der Lage ist, die Gesamtheit jener Phänomene und Dimensionen<br />
zu erfassen, die ihres Erachtens das damit bezeichnete Problemfeld<br />
real aufweist (vgl. dazu z. B. Kapalka & Räthzel, 1994; Rommelspacher, 1995; Mecheril<br />
u. a., 2010). Mit dem „<strong>Rechtsextremismus</strong>“-Begriff werde die weit über extremistische<br />
Kreise hinausreichende, „unsere ganze Lebensweise“ prägende „Dominanzkultur“<br />
der Verwendung von „Kategorien der Über- und Unterordnung“<br />
(Rommelspacher, 1995, S. 22) ausgeblendet. Vielfach angeregt durch Arbeiten<br />
von marxistisch orientierten Denkern wie Balibar (1990), Hall (1994) und Miles<br />
(1991) und mit Verweis auf seine Verwendung im französischsprachigen sowie<br />
angelsächsischen Raum wird deshalb als übergeordneter Begriff für den Terminus<br />
des („strukturellen“; Rommelspacher, 1995 und/oder auch „kulturellen“; Balibar,<br />
1990) „Rassismus“ (franz.: „racisme“; engl.: „racism“) plädiert. „Rassismus(kritische)“-Forschung<br />
hat aus dieser Sicht gesellschaftliche Praxen zum Untersuchungsgegenstand<br />
zu machen, die erkennbare Differenzen zwischen Menschen<br />
über Abstammungsmerkmale und kulturell-territoriale Zugehörigkeiten konstruieren,<br />
den so entstehenden Konstruktionen einheitliche und stabile mentalitäre<br />
Eigenschaften zuschreiben, in dieser Weise über Prozesse des „othering“ (Said,<br />
1995) eine(n) „Andere(n)“ produzieren und ihm/ihr als negativ betrachtete Eigenschaften<br />
bzw. Nicht-Zugehörigkeit zuordnen. Rassismuskritische Praxis gilt demgemäß<br />
als gesellschaftliche, politische und „pädagogische Querschnittsaufgabe“<br />
(Mecheril u. a., 2010, S. 168), nicht allein als Herausforderung für den Umgang mit<br />
politisch Randständigen.<br />
Entgegengehalten wird dem „Rassismus“-Begriff in dieser Fassung und Formatierung<br />
nicht nur Moralismus, Essentialismus und Reduktionismus (vgl. dazu<br />
selbstkritisch Mecheril u. a., 2010, S. 170ff.), sondern vor allem auch eine uferlose,<br />
zumindest aber kaum noch zu operationalisierende Ausweitung der mit dem Begriff<br />
belegten Erscheinungen und ihrer Hintergründe.<br />
Erheblich kleinformatiger nimmt sich der „Neonazismus“-Begriff aus. Mit<br />
ihm werden neben Verharmlosungs- und Verherrlichungstendenzen des Natio-<br />
4 Der Vorschlag, statt von „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ von der „extremen Rechten“ zu<br />
sprechen, weicht weder terminologisch noch inhaltlich stark vom klassischen<br />
„<strong>Rechtsextremismus</strong>“-Begriff ab, auch wenn er inhaltlich argumentiert, indem er die<br />
Rechte als krassen Widerpart der Durchsetzung der Ideale von Freiheit und Gleichheit<br />
betrachtet (vgl. Hüttmann, 2011).
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
137<br />
nalsozialismus Ideologien der Ungleichwertigkeit, das Ziel der Errichtung einer<br />
‚deutschen Volksgemeinschaft’ und diesem Ziel dienende Organisationen umfasst<br />
(vgl. z. B. Kausch & Wiedemann, 2011). In diesem Zuschnitt wird mit ihm freilich<br />
eine Differenzierung fallengelassen, die der (wissenschaftlich benutzte wie auch<br />
behördlich-ofzielle, etwa vom Verfassungsschutz gebrauchte) „<strong>Rechtsextremismus</strong>“-Begriff<br />
beinhaltet, wenn er neonazistische Bestrebungen dieser inhaltlichen<br />
Ausrichtung als Sonderform rechtsextremen Denkens und Verhaltens auffasst.<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung nimmt, auch wenn sie sich der Konsens-Formel<br />
verpichtet sieht, aus gegebenem Anlass (aktuelle Stichworte: Flüchtlingszuwanderung,<br />
Pegida) zunehmend auch weitere Aspekte der Ablehnung von Minderheiten<br />
bzw. relativ machtloser Gruppierungen in den Blick wie etwa Islamfeindschaft,<br />
Asylbewerberabwertung und Antiziganismus (vgl. z. B. Decker, Kiess & Brähler,<br />
2014). Noch weiter stellt die Forschung zur sog. „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“<br />
(GMF) ihren Fokus ein, wenn sie gegenwärtig 12 Facetten dieses<br />
„Syndroms“ untersucht und als deren verbindenden „Kern“ die „Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit“ ausmacht (vgl. v. a. Heitmeyer, 2002-2012; Zick, Küpper &<br />
Hövermann, 2011; Mansel & Spaiser, 2013; Zick & Klein, 2014):<br />
• Rassismus (im Sinne der o. g. engen Rassismus-Denition),<br />
• Fremdenfeindlichkeit,<br />
• Antisemitismus,<br />
• Antiziganismus,<br />
• Islamfeindlichkeit,<br />
• Sexismus,<br />
• Reklamation von Etabliertenvorrechten,<br />
• Abwertung von Menschen mit homosexueller Orientierung,<br />
• Abwertung von wohnungslosen Menschen,<br />
• Abwertung von behinderten Menschen,<br />
• Abwertung von Langzeitarbeitslosen,<br />
• Abwertung von Asylsuchenden.<br />
Diese als relativ stabil verstandenen und zugleich negativ wertenden „feindseligen“<br />
„Einstellungen“ werden innerhalb der GMF-Forschung auch als stark affektiv<br />
verankerte „Vorurteile“ verstanden, die die fälschliche Übertragung von wahrgenommenen<br />
bzw. unterstellten Gruppeneigenschaften auf Individuen und eine<br />
damit verbundene generelle Tendenz zur Abwertung eint (vgl. z. B. Klein, 2014;<br />
Zick, Küpper & Heitmeyer, 2011).
138 Kurt Möller<br />
Das begrifiche GMF-Konzept wirft allerdings eine Reihe von Fragen auf. Zu<br />
den wichtigsten gehören die folgenden drei (zur detaillierteren Kritik vgl. Möller<br />
u. a., 2015):<br />
• Existieren die „Gruppen“, die als Adressaten der „Feindseligkeiten“ gelten, tatsächlich<br />
als soziale Einheiten mit essentieller Substanz oder werden sie nicht<br />
vielmehr erst durch Prozesse der Konstruktion zu solchen erklärt? Müssten also<br />
nicht einmal zunächst die Prozesse der Gruppierung, also der Herstellung von<br />
Vorstellungen über bestimmte soziale Gebilde analysiert werden? Gibt es denn<br />
die Homosexuellen oder die Muslime als jeweilige Gruppen überhaupt? Oder<br />
sind sie nicht vielmehr Resultate von gruppierenden Konstruktionsleistungen,<br />
in die bereits vorhandene, nicht zuletzt schon von Ablehnungen geprägte Vorstellungen<br />
eingehen?<br />
• Sind es immer unmittelbar Menschen, die abgelehnt werden? Sind es nicht<br />
auch abstraktere Zusammenhänge, etwa Religionen wie der Islam oder Weltanschauungen<br />
insgesamt, oder auch Lebenspraxen, etwa von Wohnungslosen, die<br />
Gegenstand der Ablehnung werden?<br />
• Können zentral gesetzte Begriffe wie „Feindlichkeit“ und „Abwertung“ überhaupt<br />
hinreichend das Spektrum von Ablehnungen erfassen, das in negativen<br />
Generalisierungen zum Ausdruck gelangt? Was ist z. B. mit Forderungen nach<br />
Ungleichbehandlung bestimmter Gruppierungen, die sich von Ungleichwertigkeitsunterstellungen<br />
absetzen (Etwa: „Ich habe nichts gegen Flüchtlinge. Sie<br />
sind Menschen wie wir. Sie sollen nur nicht in meiner Wohngegend untergebracht<br />
werden.“)?<br />
Vor dem Hintergrund solcher Fragen entsteht die Herausforderung, zunächst einmal<br />
die unterschiedlichen Ausdrucksformen von solchen Ablehnungen differenziert<br />
zu erfassen, die auf Pauschalisierungen beruhen und eben sie auf Prozesse<br />
ihrer biograschen Konstruktion sowie deren Kontextuierung zu untersuchen. Es<br />
stellt sich mithin die zentrale Frage: Wie ist das Entstehen und die Entwicklung<br />
(ggf. auch – was hier allerdings nicht das Thema ist – die Distanzierung) von pauschalisierenden<br />
Ablehnungskonstruktionen (PAKOs) zu erklären?<br />
Doch verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über das Ausmaß und zentrale<br />
Entwicklungen von <strong>Rechtsextremismus</strong> und darüber hinausgehenden Ablehnungsfacetten<br />
selbst.
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
139<br />
2 Entwicklungen und neue Herausforderungen<br />
durch <strong>Rechtsextremismus</strong> und weitere Ablehnungshaltungen<br />
Die Ausmaße und wichtigsten Entwicklungen des <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland<br />
lassen sich unter Berücksichtigung von vier Dimensionen für die hier verfolgten<br />
Zwecke hinreichend differenziert erfassen. Es handelt sich um das Wahlverhalten<br />
(1), das rechtsextremistische Personenpotenzial (2), die Zahl der Straf- und<br />
Gewalttaten (3) sowie rechtsextreme Einstellungsaspekte (4).<br />
Hinsichtlich des Wahlverhaltens (1) weisen die Daten des statistischen Bundesamtes<br />
den Zuspruch zu rechtsextremen Parteien seit Bestehen der Bundesrepublik<br />
Deutschland wie folgt aus:<br />
Abbildung 1 Wahlergebnisse rechtsextremistischer Parteien (DRP, SRP, NPD, DVU,<br />
REP, Pro deutschland) bei Landtags-, Bundestags- und Europawahlen zwischen<br />
1949 und 2014 (kumulierte Ergebnisse über 3%), eigene Darstellung.<br />
Bemerkenswert sind im Zusammenhang dieser Daten zunächst vorrangig drei Punkte:<br />
Zum Ersten zeigt sich, dass <strong>Rechtsextremismus</strong> seit 1949 ein andauerndes Problem<br />
darstellt. Zum Zweiten hat dieses Problem erkennbar unterschiedliche Konjunkturen<br />
durchlaufen. Zum Dritten dokumentieren die Diagramm-Balken eine<br />
deutliche Verdichtung der Problematik bei gleichzeitiger Konsolidierung und mit<br />
besonders hohen Ausschlägen in den letzten 25 Jahren.
140 Kurt Möller<br />
Eine etwas genauere Wähleranalyse lässt zudem erkennen, dass es – anders<br />
als zu Zeiten der Gründung der Republik und auch noch in der zweiten Hälfte der<br />
1960er Jahre – längst nicht mehr die sog. „Ewiggestrigen“ sind, die die Problematik<br />
tragen. Stärkste Wählergruppierung der extremen Rechten sind inzwischen<br />
vielmehr junge Leute – größtenteils solche, die nicht mehr im Nationalsozialismus,<br />
aber auch nicht mehr zu Zeiten der Existenz der DDR politisch sozialisiert<br />
worden sind. Zwei Drittel von ihnen sind männlich. Die Dimension der Problematik<br />
und ihre Folgen für die Zukunft der repräsentativen Demokratie werden vor<br />
allem deutlich, wenn man erkennt: Hätten z. B. bei den letzten Landtagswahlen in<br />
Ostdeutschland nur die jungen Männer zwischen 18 und 24 Jahren wählen dürfen,<br />
hätte die NPD überall etwa den drei- bis vierfachen prozentualen Stimmerfolg<br />
einfahren können und dort vielfach deutlich den (z. T. knapp verpassten) Einzug in<br />
die Landtage geschafft.<br />
Wer rechtsextrem wählt, muss nicht unbedingt in rechtsextreme Kreise involviert<br />
sein oder rechtsextrem konturierte Kriminalität begangen haben. Obwohl<br />
aus wissenschaftlicher Sicht zu Recht erhebliche methodische Bedenken gegen die<br />
Datenerhebungsmethoden polizeilicher Stellen und gegen die Rechercheweisen<br />
des Verfassungsschutzes und damit auch ihre Resultate geltend gemacht werden<br />
können, ist in Ermangelung vergleichbarer (Langzeit-)Studien mit wissenschaftlichen<br />
Standards hier in Hinsicht auf das rechtsextreme Personenpotenzial und das<br />
Aufkommen an Straf- und Gewalttaten, die als Verdachtsfälle von extrem rechter<br />
Kriminalität berichtet werden, Folgendes festzuhalten:<br />
Das rechtsextreme Personenpotenzial (2) nimmt nach einem vorübergehenden<br />
Anstieg auf einen Höchstwert im Jahre 1993, einer folgenden leichten Abschwächung<br />
und einem Wiederanstieg bis 1998 kontinuierlich ab (vgl. Abbildung 2). Relativ<br />
besonders stark trifft der Abschwung die rechtsextremen Parteien. Zugleich<br />
kommen jedoch zunehmend neue Organisationsformen auf: szeneförmige Zusammenschlüsse<br />
von Neonazis und (subkulturell) Gewaltbereiten, etwa in Gestalt von<br />
sog. „freien Kameradschaften“ oder „autonomen Nationalisten“. Zusammen mit<br />
der in den letzten Jahren beobachtbaren Bündelung parteigebundener bzw. parteinaher<br />
Kräfte in der NPD sind sie für eine qualitative Verschiebung im rechtsextremen<br />
Personen- und Organisationsspektrum verantwortlich zu machen, die Bagatellisierungs-<br />
und Entdramatisierungseinschätzungen, die auf den quantitativen<br />
Niedergang des rechtsextremen Personen- und Organisationspotenzials verweisen,<br />
entgegensteht: die Zunahme von Gewaltbereitschaft, die sich nicht allein an vereinzelten<br />
Aktionen und Straftaten, etwa bei der Mordserie des sog. „Nationalsozialistischen<br />
Untergrunds“ zeigt. Vielmehr wird sie inzwischen bei rund 45% der<br />
extrem Rechten festgestellt. Der Löwenanteil (rund 75%-90%, je nach Szene bzw.<br />
Organisation und Funktionsniveau unterschiedlich) des rechtsextremen Personen-
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
141<br />
potenzials, mehr noch seines gewaltbereiten Teils (rund 90%), ist männlich. Etwa<br />
drei Viertel des Letzteren sind im Alter unter Mitte 20.<br />
Abbildung 2 Rechtsextremistisches Personenpotenzial und rechtsextreme Organisationsformen<br />
1985 – 2013, eigene Darstellung.<br />
Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung der Zahlen derjenigen, die diese Bereitschaften<br />
bereits in Taten umgesetzt haben oder in anderer Weise rechtsextrem<br />
straffällig wurden (3), so ist zu registrieren (vgl. Abbildung 3), dass, entgegen der<br />
in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Ansicht, extrem rechte Kriminalität habe<br />
ihren Zenit in den Jahren der Ereignisse von Mölln, Rostock-Lichtenhagen und<br />
Solingen, also 1992/93, erreicht, erst danach bis weit hinein in die 2000er Jahre<br />
weitere Gipfelpunkte erreicht wurden. Festzustellen ist für die letzten 10 Jahre<br />
eine Stabilisierung auf einem Niveau von rechtsextremen Straftaten, das zwischen<br />
15.000 und 20.000 Taten jährlich pendelt.<br />
Die Zahlen der Gewalttaten hingegen entwickeln sich so, wie zumeist angenommen<br />
wird: Sie haben ihren Höhepunkt 1993 erreicht. Im Laufe der 1990er<br />
Jahre bis heute haben sie sich allerdings auf einem Niveau stabilisiert, das um etwa<br />
das Vierfache (bei den rechtsextremen Straftaten insgesamt ist es das rund 10-fache)<br />
die Anzahl entsprechender Taten in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in der<br />
BRD übertrifft (bei einem Bevölkerungszuwachs um etwa ¼ durch die Vereinigung<br />
1990). Allein über 180 Mordopfer – und damit ein Vielfaches der Mordzahlen<br />
des linken Terrorismus der RAF und seiner Nachfolgeorganisationen – haben
142 Kurt Möller<br />
rechtsextreme Täter seitdem nach einer Zählung der Amadeu-Antonio-Stiftung zu<br />
verantworten (vgl. http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990/).<br />
Ganz aktuell<br />
ist ein erheblicher Anstieg der Übergriffe speziell auf Asylsuchende zu registrieren:<br />
150 Übergriffe in 2014 sind dreimal so viele wie 2013 und sechsmal so viele<br />
wie in 2012 (vgl. BDrs. 18/3964). Auch bei den Tätern fallen Merkmalsballungen<br />
auf, die sich zugespitzt formuliert mit den Adjektiven skizzieren lassen: jung,<br />
männlich, eher ungebildet. Geograsch betrachtet sind die östlichen Bundesländer<br />
überproportional belastet.<br />
Abbildung 3<br />
Rechtsextreme Straf- und Gewalttaten 1985 – 2013, eigene Dar stellung.<br />
Zahlen über Wahlerfolge, Personenzusammenschlüsse und Straf- und Gewalttaten<br />
rechtsextremer Couleur vermögen allerdings nicht das abzubilden, was an<br />
rechtsextrem konturiertem Alltagsverhalten praktiziert wird. Hierzu liegen Daten<br />
in Bezug auf Jugendliche vor. Nach einer großen Studie mit insgesamt über 20.000<br />
deutschen 15- bis 16-Jährigen (Baier u. a., 2009) zeigt z. B. mehr als ein Viertel der<br />
Neuntklässler nach eigenem Bekunden rechtsextremes Verhalten; während etwa<br />
nur ein Zehntel von ihnen als rechtsextreme Straftäter auffällt und ca. ein weiteres<br />
Zehntel Gewalt anwendet, ohne bereits gerichtsauffällig geworden zu sein,<br />
drücken die anderen doch immerhin ihre Sympathie für rechtsextreme Positionen<br />
durch gewaltverherrlichendes Verhalten – menschenverachtende Ausdrücke, Sym-
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
143<br />
bolverwendungen (z. B. Aufnäher) und Konsum von einschlägigen Musikstücken –<br />
aus; Jungen sind dabei um ein Vielfaches mehr belastet als gleichaltrige Mädchen.<br />
Den zeitlich umfassendsten Überblick über das Ausmaß und die Entwicklung<br />
rechtsextremer Einstellungen vermag aktuell die repräsentative Leipziger Zeitreihen-Studie<br />
zu liefern. Sie registriert für 2014 die folgenden Zustimmungen zu<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>-Facetten bei ab 14-Jährigen:<br />
Tabelle 1 Elemente rechtsextremer Einstellung in Deutschland 2014 (in %). (Quelle: Decker,<br />
Kiess & Brähler, 2014, S. 38)<br />
Gesamt<br />
Ost<br />
(N=503)<br />
West<br />
(N=1.929)<br />
Befürwortung Diktatur** 3,6 5,6 3,1<br />
Chauvinismus** 13,6 15,8 13<br />
Ausländerfeindlichkeit 18,1 22,4 17<br />
Antisemitismus 5,1 4,5 5,2<br />
Sozialdarwinismus* 2,9 4,6 2,5<br />
Verharmlosung Nationalsozialismus 2,2 1,2 2,5<br />
Signikante Unterschiede nach Pearson: *< .05; **p< .01<br />
Der Vergleich der Daten über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt hinweg<br />
zeigt insgesamt einen Rückgang der Zustimmungswerte.<br />
18,0<br />
16,0<br />
15,8<br />
14,0<br />
Anteil in %<br />
12,0<br />
10,0<br />
8,0<br />
6,0<br />
11,3<br />
10,1<br />
9,7<br />
9,8<br />
8,1 8,3<br />
9,1<br />
8,6<br />
6,6<br />
10,5<br />
7,9<br />
9,0<br />
8,2<br />
7,6<br />
7,5 7,6 7,3<br />
7,4<br />
5,6<br />
4,0<br />
5,2<br />
2,0<br />
0,0<br />
2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014<br />
Gesamt Ost West<br />
Abbildung 4 Manifest rechtsextreme Einstellung im Zeitverlauf (Quelle: Decker, Kiess<br />
& Brähler, 2014, S. 48)
144 Kurt Möller<br />
Auch wenn manifest rechtsextreme Einstellungen aktuell im Rückgang be ndlich<br />
zu sein scheinen, verbleibt zum einen ein nicht unbedeutender Sockelsatz an<br />
Menschen mit einem sog. geschlossenen rechtsextremen Weltbild, also mit Zustimmungen<br />
zu allen der sechs Elemente von <strong>Rechtsextremismus</strong>, und zum anderen<br />
der Befund, wonach sich nach wie vor extrem rechte Einstellungsbestände<br />
keineswegs nur bei den Sympathisantinnen und Sympathisanten rechtsextremer<br />
und rechtspopulistischer Parteien nden, sondern auch bei den Anhängerinnen<br />
und Anhängern der großen Volksparteien in etwa in dem Maße vertreten sind<br />
wie es die in Tabelle 1 präsentierten Durchschnittswerte ausweisen. Zudem dürfte<br />
fraglich sein, ob nicht gerade in jüngeren Generationen sich Effekte sozialer Erwünschtheit<br />
einstellen, wenn Befragungsstudien (wie z. B. auch die von Decker<br />
u. a.) mit klassischen Items operieren wie beispielsweise „Der Nationalsozialismus<br />
hatte auch seine guten Seiten“.<br />
Nimmt man weitere GMF-Phänomene zusätzlich in den Blick, so zeigen sich<br />
aktuell z. T. erhebliche Ablehnungsbestände innerhalb der west-, aber vor allem<br />
innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung (vgl. Tabelle 2).<br />
Tabelle 2 Prozentuale Zustimmungen zu Facetten Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit<br />
in Deutschland 2014 (Quelle: Zick & Klein 2014, S. 73)<br />
Gesamt<br />
(n=1.915)<br />
Ost<br />
(n=385)<br />
West<br />
(n=1.483)<br />
Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen 47,8 55,4 46,3<br />
Rassismus 8,7 11 8,1<br />
Fremdenfeindlichkeit 20 26,9 18,2<br />
Antisemitismus 8,5 11,6 7,8<br />
Abwertung behinderter Menschen 4,1 4 4<br />
Abwertung homosexueller Menschen 11,8 15,3 10,5<br />
Abwertung wohnungsloser Menschen 18,7 22,9 17,1<br />
Etabliertenvorrechte 38,1 41,6 37,6<br />
Sexismus 10,8 10,2 10,9<br />
Abwertung asylsuchender Menschen 44,3 52,8 42,2<br />
Abwertung von Sinti und Roma 26,6 35,1 24,5<br />
Islamfeindlichkeit 17,5 23,5 16<br />
Zu denken gibt hier u. a. insbesondere, dass zum einen Ablehnungshaltungen wie<br />
die in Tabelle 2 angeführten sich in erheblichem Ausmaß auch bei Personen nden,<br />
die sich selbst der politischen Mitte zurechnen und dass zum anderen jüngere<br />
Menschen (16- bis 30-Jährige) in größerem Ausmaß antihomosexuelle, fremden-
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
145<br />
feindliche, islamfeindliche, rassistische und sexistische Haltungen besitzen als die<br />
Gruppierung der 30- bis 60-Jährigen und noch stärker als die über 60-Jährigen<br />
Langzeitarbeitslose ablehnen – offenbar aufgrund gerade bei ihnen stark ausgeprägter<br />
ökonomistischer Einstellungen (vgl. Zick & Klein 2014, S. 75ff.). Hohe<br />
Belastungen junger Menschen, speziell Jugendlicher von 15 bzw. 16 Jahren, stellt<br />
auch die Studie von Baier u. a. (2009) fest: Danach sind bei über 40% von ihnen<br />
ausländerfeindliche Einstellungen zu registrieren. Bei 12,7% dieser Gruppierung<br />
ndet sich außerdem Antisemitismus. Muslimfeindlichkeit weisen 37,7% auf.<br />
Dabei sind die Jungen, vor allem unter den „sehr“ Ausländerfeindlichen und den<br />
Personen mit antisemitischen Orientierungen doppelt so stark vertreten wie die<br />
Mädchen (vgl. zum Komplex geschlechtsspezischer Anfälligkeiten für und Ausprägungen<br />
von <strong>Rechtsextremismus</strong> zusammenfassend und im Überblick die Sammelbände<br />
von Birsl, 2011 und Claus u. a., 2010).<br />
Alles in allem bleibt festzuhalten: <strong>Rechtsextremismus</strong> ist ein strukturelles und<br />
kein konjunkturelles Problem. Das, was ihm auf entscheidende Weise Kontinuität<br />
sichert, ist dabei weniger sein organisiertes Auftreten als seine Fortexistenz im<br />
Bereich der Orientierungen – auch innerhalb der nachwachsenden Generation(en).<br />
Die Orientierungen wiederum, also Einstellungen, Meinungen, Mentalitäten, politische<br />
Gestimmtheiten, einschlägig aufgeladene symbolische Repräsentationen<br />
etc. scheinen sich in bestimmten Segmenten zu popularisieren und zu normalisieren.<br />
Gesellschaftlich kursierende Deutungsmuster mit Facetten pauschalisierender<br />
Ablehnungen wie Islamfeindlichkeit, (Hetero-)Sexismus u. a. stellen dabei<br />
offensichtliche zusätzliche Begünstigungsfaktoren – und auch für sich genommen<br />
dringlich zu bearbeitende Herausforderungen – dar. Insofern wird ein Abbau von<br />
un- und antidemokratischen Tendenzen dieser Couleur solange erfolglos bleiben,<br />
wie die Attraktivität dieser Orientierungen für die sie tragenden Subjekte nicht<br />
entschlüsselt und durch funktionale Äquivalente ersetzt werden kann (vgl. dazu<br />
Möller in diesem Band).
146 Kurt Möller<br />
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Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />
und <strong>Rechtsextremismus</strong> aus der Sicht<br />
der Theorie eines identitätsstiftenden<br />
politischen Fundamentalismus<br />
Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
1 Ausgangspunkte und ein neuer Problemraum<br />
Betrachtet man die verschiedenen Ansätze, <strong>Rechtsextremismus</strong> begrif ich zu<br />
fassen, so lassen sich zumindest drei „Suchstrategien“ (Klix, 1971, S. 644ff.) im<br />
Sinne einer komplexen Problemlösung unterscheiden: A) Dominant sind im Zeitraum<br />
2001 bis 2013 vor allem Strategien, mit denen der Problem- oder Suchraum<br />
eingeschränkt wurde. Zu diesen Strategien gehören jene Ansätze, in denen auf<br />
der Grundlage der „Konsensdenition“ ausgewählte Dimensionen rechtsextremer<br />
Einstellungen untersucht werden (z. B. Decker, Kiess & Brähler, 2012). Das heißt,<br />
auf die Einbeziehung der Gewaltdimension zur Bestimmung und empirischen<br />
Untersuchung rechtsextremer Phänomene wurde dabei verzichtet. Auch die Ansätze,<br />
in denen auf den Rassismus-Begriff insistiert wurde (z. B. Butterwegge, 2000),<br />
haben letztlich den Problemraum eingeschränkt. Rassismus ist sicher ein wichtiges<br />
Merkmal von <strong>Rechtsextremismus</strong>, aber nicht das hinreichende. Das gilt auch<br />
für die Überlegungen, die Hate-Crime-Forschung in die <strong>Rechtsextremismus</strong>-Forschung<br />
zu integrieren. Hass und Wut spielen in rechtsextremen Ausschreitungen<br />
häug, aber nicht immer eine tragende Rolle. B) Mit einer Erweiterung des Problemraums<br />
arbeiten schließlich jene Wissenschaftler, die sich der „vergleichenden<br />
Extremismusforschung“ verschrieben haben (z. B. Backes & Jesse, 1993) – mit den<br />
entsprechenden und kritisierten Folgen. C) Eine völlige Neude nierung des Problemraums<br />
versucht hingegen die soziologische Bewegungsforschung (Klärner &<br />
Kohlstruck, 2006).<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
150 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Diese dritte Suchstrategie hat aber auch ihre Tücken: Die Grenzen eines möglichen<br />
Problemraums, um dem <strong>Rechtsextremismus</strong> empirisch auf die Spur zu<br />
kommen, sind diffus und nur schwer zu erkennen. Klärner und Kohlstruck (2006)<br />
machen auf diese Tücke aufmerksam, wenn sie schreiben:<br />
„Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich diese politischen wie kulturellen<br />
Aktivitäten (des politischen <strong>Rechtsextremismus</strong>; W.F., D.G.) bringen lassen, ist der<br />
Wille und Wunsch nach einer spezi schen Antimoderne in der Moderne“ (Klärner<br />
& Kohlstruck, 2006, S. 32).<br />
In einem interessanten Beitrag beschreibt Richard Münch (1994) die antimodernen<br />
Bewegungen als jene Gruppierungen, die sich wehren „gegen die Au ösung<br />
traditioneller Lebenswelten und Glaubensbestände durch die umfassende Ökonomisierung,<br />
Politisierung und Rationalisierung (Säkularisierung) des modernen<br />
Lebens“ (S. 30). Als Beispiele nennt Münch u. a. kleinbürgerliche Schichten<br />
(z. B. Bewegungen des Handwerks, die sich gegen die Industrie wehren), Arbeiterschichten<br />
(die sich für Arbeitsplatzgarantien einsetzen), industrielle Schichten<br />
(die sich gegen die wachsende ausländische Konkurrenz richten), Bildungsschichten<br />
(die gegen die Verdrängung der Hochkultur durch die Massenkultur kämpfen)<br />
usw.<br />
Sicher mögen diese und andere Schichten nicht gegen den Ein uss rechtsextremer<br />
Tendenzen gefeit sein. Die „Mitte-Studien“ belegen das (z. B. Decker et<br />
al., 2012). Ob Teile dieser Schichten aufgrund der von Münch (1994) genannten<br />
Motive per se als rechtsextrem zu bezeichnen sind, dürfte aber bezweifelt werden.<br />
Kurz und gut: Die Differenz von Moderne und Antimoderne scheint zunächst<br />
nicht sonderlich hilfreich zu sein, um den Problemraum zu markieren, innerhalb<br />
dessen der <strong>Rechtsextremismus</strong> verortet werden kann. Allerdings sprechen Klärner<br />
und Kohlstruck (2006, S. 32) vom „Wunsch nach einer spezi schen Antimoderne<br />
in der Moderne“ (Hervorhebung, W.F., D.G.), der den kleinsten gemeinsamen<br />
Nenner bezeichnet, durch den sich die verschiedenen rechtsextremen Bewegungen<br />
auszeichnen. Diese Spezi k müsste also genauer bestimmt werden, um vielleicht<br />
doch noch einen hilfreichen Problemraum zur Bestimmung des <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
aufspannen zu können.<br />
Anregungen zu einer solchen Spezi zierung fanden wir bei Thomas Grumke<br />
(2001. Grumke analysiert den <strong>Rechtsextremismus</strong> in den USA und stützt sich<br />
dabei auch auf die zivilisationstheoretische Untersuchung fundamentalistischer<br />
Bewegungen in der Moderne von Shmuel Eisenstadt (1998). Die Ideologie (Eisenstadt<br />
spricht von „antimoderne(r) Einstellung“; 1998, S. 84) der fundamentalistischen<br />
Bewegungen ist „… nicht einfach nur eine Reaktion traditioneller Gruppen
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
151<br />
auf die Verführung durch neue Lebensstile, sondern eine militante Ideologie, die<br />
grundlegend in eine hochmoderne Struktur eingebunden ist“.<br />
Auch hier spielt also der Widerspruch zwischen Moderne und Antimoderne<br />
eine Rolle. „Die Grundideologie des Fundamentalismus“, so Eisenstadt (1998,<br />
S.77), „ist antimodern, stellt eine Negation der Grundsätze der Moderne als Kultur<br />
dar, jedoch nicht notwendigerweise ihrer technologischen und organisatorischen<br />
Aspekte“. Eisenstadt illustriert diese Dialektik zwar überwiegend an Beispielen<br />
des religiösen Fundamentalismus (im Islam, dem Judentum), verweist aber auch<br />
auf Parallelen zwischen diesen Fundamentalismen und kommunistischen bzw. totalitären<br />
Regimes (z. B. Eisenstadt, 1998, S. 82f.). Die damit quasi angedeutete<br />
Brücke zu politisch-fundamentalistischen Strömungen und Bewegungen könnte –<br />
im Sinne der o. g. Neude nierung des Problemraums – durchaus hilfreich sein,<br />
einen neuen und differenzierten Blick auf den <strong>Rechtsextremismus</strong> zu werfen. Mit<br />
der im Folgenden vorgestellten Theorie und den sich anschließenden drei empirischen<br />
Sekundärstudien soll ein solcher Blick versucht werden.<br />
2 Postulate einer Theorie eines identitätsstiftenden<br />
politischen bzw. religiösen Fundamentalismus (TIF)<br />
2.1 Absichten<br />
Vorgestellt wird im Folgenden eine sozialpsychologische Theorie, mit der eine<br />
neue und u. U. erweiterte empirische Perspektive auf rechtsextreme Tendenzen<br />
verbunden ist. Mit dieser Theorie wird allerdings nicht der Anspruch erhoben,<br />
generelle und über die sozialwissenschaftlichen Grenzen hinausgehende Erklärungen<br />
des <strong>Rechtsextremismus</strong> nden zu wollen. Interdisziplinäre Anknüpfungspunkte<br />
und Anschlüsse sind indes erwünscht und angestrebt. Abbildung 1 illustriert<br />
die Grundstruktur der Theorie, die im Folgenden erklärt wird.
152 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Potentielle<br />
Prädiktoren<br />
Potentielle<br />
Mediatoren<br />
Potentielle Kriterien<br />
Makro-soziale<br />
Makro-soziale<br />
Bedingungen für<br />
B edingungen für<br />
recht sextreme<br />
rechtsextreme<br />
Tendenzen<br />
Tendenzen<br />
Gewaltbereitschaft,-<br />
akzeptanz- und<br />
handeln<br />
Meso- soziale<br />
Bedingungen für<br />
recht sextreme<br />
Tendenzen<br />
Soziale bzw.<br />
Kollektive Identität<br />
als Identifikation mit<br />
relevanten<br />
Bezugsgruppen<br />
Fundamentalistische<br />
Ideologien der<br />
Ungleichwertigkeit<br />
Mikro-soziale<br />
Bedingungen für<br />
recht sextreme<br />
Tendenzen<br />
Negative<br />
Intergruppen-<br />
Emotionen<br />
Abbildung 1 Grundstruktur der Theorie eines identitätsstiftenden politischen bzw. religiösen<br />
Fundamentalismus (TIF).<br />
2.2 Das Explanandum: <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
Die potentiellen Kriterien des Problemraums, also die zu erklärenden Variablen,<br />
bilden rechtsextreme Tendenzen. Damit sind fundamentalistische Ideologien (der<br />
Ungleichwertigkeit) in Verbindung mit Gewaltpotentialen und negativen Gruppenemotionen<br />
gemeint.<br />
Ad 1.<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine Ideologie<br />
Ideologien werden nach wie vor produziert und konstruiert. Ihre Lebendigkeit<br />
verdanken sie der aktuellen Relevanz des Globalen und dem vielstimmigen<br />
Reden über die Globalisierung. Ideologien im nachideologischen Zeitalter<br />
weisen zumindest folgende Merkmale auf: Sie sind gruppenspezische soziale<br />
Bezugssysteme, um Vergangenes zu analysieren, Diagnosen über Gegenwärtiges<br />
zu formulieren und Prognosen über Zukünftiges zu entwerfen. Ideologien<br />
stellen somit Konstruktionen bereit, um die Unvorhersagbarkeit von Welt zu<br />
reduzieren.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
153<br />
Ideologien eignen sich offenbar als „Feste Punkte“, als übergreifende Bezugssysteme<br />
zur Orientierung in einer komplexen Welt (vgl. auch Jost, 2006). Auch<br />
der <strong>Rechtsextremismus</strong> scheint in diesem Sinne geeignet zu sein, als übergreifendes<br />
und gruppenspezisches Bezugssystem zur Orientierung in einer komplexen<br />
Welt zu fungieren.<br />
Ad 2.<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine fundamentalistische Ideologie<br />
Ideologien wirken in den jeweiligen Gruppierungen und Gemeinschaften als<br />
Facetten des kulturellen Systems. Diverse Gruppierungen und Gemeinschaften<br />
gehen hausieren mit ihren Ideologien, die dem gemeinschaftsinternen Konsens<br />
und/oder den Vorstellungen ihrer Wortführer entsprechend als normative Leitlinien<br />
von Welt- und Lebensbegründungen zu gelten haben. In diesem Sinne<br />
versuchen Gruppierungen und Gemeinschaften u. U., konkurrierende Ideologien<br />
zu unterdrücken und/oder aus dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu<br />
vertreiben, um an deren Stelle ihre eigenen Welt- und Lebensbegründungen zu<br />
etablieren.<br />
Aus dieser Perspektive macht es durchaus Sinn vom „falschen Bewusstsein“<br />
(Marx & Engels, MEW, Band 39, S. 97) 1 zu sprechen, das durch Ideologie konstruiert<br />
wird. Falsches Bewusstsein spiegelt eine Ideologie dann wider, wenn<br />
eine soziale Gemeinschaft a) die eigenen Leitideen oder Ideologien für allgemein<br />
gültig auch für andere, oder alle anderen sozialen Gemeinschaften erklärt,<br />
b) die Leitideen oder Ideologien anderer Gemeinschaften abwertet und c)<br />
unter Umständen zu bekämpfen versucht. Dann wird Ideologie zum politischen<br />
Fundamentalismus.<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine fundamentalistische Ideologie im mehrfachen Sinne:<br />
a) <strong>Rechtsextremismus</strong> richtet sich gegen die „Fundamente“, „die den Kern<br />
der Moderne ausmachen und in den universellen Grundrechten ihren Ausdruck<br />
nden“ (Meyer, 2011, S. 28). b) <strong>Rechtsextremismus</strong> tritt mit dem Anspruch auf,<br />
die eigene Ideologie für allgemein gültig zu erklären. c) Diejenigen Gemeinschaften,<br />
die sich nicht der rechtsextremen Ideologie unterordnen und die nicht<br />
1 Fälschlicher Weise wird häufig angenommen, die Aussage von der Ideologie als „falsches<br />
Bewusstsein“ sei von Marx und Engels bereits in der „Deutschen Ideologie“<br />
(MEW, Bd. 3) getroffen worden. Tatsächlich taucht die Aussage vom „falschen Bewusstsein“<br />
aber erst in einem Brief auf, den Engels am 14. Juli 1893 an Franz Mehring<br />
geschrieben hat.
154 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
den rechtsextremen Norm- und Wertvorstellungen entsprechen, werden abgewertet,<br />
diskriminiert und u. U. mit Gewalt bekämpft.<br />
Ad 3.<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine militante Ideologie<br />
Die militante fundamentalistische Ideologie des <strong>Rechtsextremismus</strong> dient – ebenso<br />
wie andere Fundamentalismen – als grundlegendes Bezugssystem, mit dem<br />
sich die Anhänger identizieren (im Sinne der sozialen Identität; Tajfel & Turner,<br />
1986) und als soziale Bewegung (Rucht, 2002) bzw. soziale Milieus organisieren.<br />
Über den Zusammenhang zwischen rechtsextremer fundamentalistischer Ideologie<br />
(operationalisiert im Sinne der Ideologie der Ungleichwertigkeit, nach<br />
Heitmeyer und Kollegen, Heitmeyer et al., 1992) und der Gewaltdimension gibt<br />
es in der Literatur nach wie vor unterschiedliche Auffassungen und empirische<br />
Befunde (z. B. Fischer, 2006; Fuchs, 2003 ; Giddens, 1997). Möglicherweise –<br />
so ist auf der Basis bisheriger Studien zu vermuten – wirken rechtsextreme fundamentalistische<br />
Ideologien im Sinne der Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />
einerseits als Legitimationsinstanzen für Gewalttendenzen; andererseits entfalten<br />
sie ihre Wirkung vor allem dann, wenn sie funktional für die Identikation<br />
mit relevanten Bezugsgruppen sind.<br />
Ad 4.<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine fundamentalistische und militante Ideologie und<br />
legitimierendes Bezugssystem für Gruppenemotionen<br />
Dass rechtsextreme Aktionen, Tendenzen und Ideologien auf der Seite der Akteure<br />
mit starken Emotionen verknüpft sein können, lässt sich nicht bezweifeln<br />
(Frindte & Neumann, 2002; Möller & Schuhmacher, 2007; Willems, Eckert,<br />
Würtz & Steinmetz, 1993; u. v. a.). Auch die „Hate-Crime“-Forschung macht<br />
auf die Verknüpfung von rechtsextremen Gewaltafnitäten und emotionale Beteiligung<br />
aufmerksam (vgl. z. B. Disha, Cavendish & King, 2011).<br />
Frindte und Neumann (2002) fanden in ihren Interviews mit fremdenfeindlichen<br />
Gewalttätern Hinweise, dass die Gewalttaten der Interviewten von starken<br />
Emotionen begleitet werden. Quantitativ überwiegen in den Schilderungen der<br />
Interviewten eher negative Emotionen (57 %), während ein Viertel der Befragten<br />
eher positive Emotionen berichteten. Auch in der Benennung von Einzelemotionen<br />
steht Hass an erster Stelle. In der Rangreihe folgen nach Spaß und<br />
Glück Wut, Ärger und Angst. Auffällig ist auch ein signi kanter Unterschied<br />
zwischen ost- und westdeutschen Tätern. In neun von zehn westdeutschen Ta-
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
155<br />
ten lassen sich Aussagen negativer Emotionen nden, aber nur in weniger als<br />
der Hälfte der ostdeutschen Fälle. Knapp 30 % der ostdeutschen Täter äußern<br />
dagegen einen mit der Tat verbundenen positiven Affekt, während dies nur jeder<br />
zehnte Westdeutsche beschreibt.<br />
Wenn Emotionen Begleiterscheinungen rechtsextremer Aktionen und rechtsextremer<br />
Ideologien sind und solche Aktionen und Ideologien in der Regel<br />
durch Gruppen oder Gemeinschaften ausgeübt bzw. vertreten werden, so ist<br />
zu vermuten, dass die beteiligten Akteure sich mit diesen Gruppenaktionen<br />
und -ideologien identi zieren. Smith (1993) hat darauf aufmerksam gemacht,<br />
dass unter solchen oder ähnlichen Umständen die Akteure weitgehend ähnliche<br />
Emotionen („social emotions“ oder Intergruppengefühle) teilen. Intergruppengefühle<br />
sind Emotionen, die in Intergruppenkontexten ausgelöst, von den Mitgliedern<br />
einer Ingroup geteilt und gegenüber den Mitgliedern einer Fremdgruppe<br />
geäußert werden. Dazu gehören nach Smith (1993, S. 306) sowohl mildere<br />
Gefühle, wie Furcht und Ekel, als auch starke negative Gefühle, wie Verachtung,<br />
Neid, Wut oder Hass.<br />
Zwischenfazit:<br />
In der Konsequenz von Ad 1 bis Ad 4 wird <strong>Rechtsextremismus</strong> als Triple-Phänomen<br />
(Dreikomponenten-Ansatz) konzipiert: als fundamentalistische Ideologie (der<br />
Ungleichwertigkeit), durch die Gewaltpotentiale (Gewaltakzeptanz, -bereitschaft<br />
und -handeln) und negative Gruppenemotionen legitimiert werden können.<br />
2.3 Makro-Meso-Mikro-Prädiktoren<br />
Wird <strong>Rechtsextremismus</strong> als fundamentalistische Ideologie mit Gewaltpotential<br />
und verknüpften negativen Intergruppenemotionen begriffen, so bieten die in den<br />
letzten 25 Jahren durchgeführten empirischen Studien zum <strong>Rechtsextremismus</strong> und<br />
zum Fundamentalismus 2 sowie die Hate-Crime-Forschung profunde Hinweise auf<br />
mögliche Prädiktoren rechtsextremer Tendenzen. Dabei handelt es sich nicht nur<br />
um individuelle Ursachen bzw. Prädiktoren, sondern, wie Miles Hewstone (2004)<br />
in einem Vortrag im Wissenschaftszentrum für Sozialforschung feststellte:<br />
2 McCleary und Kollegen (2011) analysierten 28 Studien, in denen psychologische Variablen<br />
und deren Zusammenhänge mit fundamentalistischen Einstellungen untersucht<br />
wurden. Besonders starke signifikante Zusammenhänge zeigten sich dabei mit<br />
Autoritarismus, Ethnozentrismus, Militarismus und generellen Vorurteilen gegenüber<br />
Homosexuellen. Die Parallelen zum <strong>Rechtsextremismus</strong> sind also auffallend.
156 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
„Die Hauptursachen von Vorurteilen und Diskriminierung gegenüber Zuwanderern<br />
scheinen wirtschaftliche Probleme bei einem gleichzeitigen Anstieg der Zuwandererzahlen<br />
sowie Verhaltensweisen von Angehörigen politischer Eliten, die Minderheiten<br />
zu Sündenböcken machen, zu sein. Um diesen Zusammenhang noch näher zu<br />
erforschen, bedarf es einer Analyse, in die Erkenntnisse aus den Wirtschafts- und<br />
Politikwissenschaften, der Soziologie und der Sozialpsychologie einießen müssen“<br />
(Hewstone, 2004, S. 8).<br />
Eine solch interdisziplinäre Analyse, wie sie von Hewstone gefordert wird, kann<br />
und soll an dieser Stelle nicht geleistet werden. Die sozialpsychologische Perspektive,<br />
die mit der angestrebten Theorie eines identitätsstiftenden politischen bzw.<br />
religiösen Fundamentalismus (TIF) eingenommen wird, schließt den Ein uss<br />
wirtschaftlicher, politischer und allgemeiner Faktoren auf rechtsextreme Tendenzen<br />
zwar nicht aus, betrachtet deren Wirkung aber (entsprechend dem methodologischen<br />
Individualismus der Sozialpsychologie) als Folge individueller und/oder<br />
gruppenspezischer Wahrnehmungen, Bewertungen und Attributionen.<br />
Für die Analyse dieser Prädiktoren wurde das an Pettigrews (1996) angelehnte<br />
Mehrebenen-Konzept bereits eingeführt (siehe den Beitrag von Frindte et al. in<br />
diesem Band), welches wir nun beispielhaft – und ohne Anspruch auf Vollständigkeit<br />
– mit theoretischen Konzepten und empirischen Befunden unterlegen:<br />
Ad 1. Auf Prädiktoren, die auf einer Makroebene angesiedelt sind, verweisen<br />
die Befunde, in denen ökonomische und politische Kontextbedingungen als relevante<br />
Einussfaktoren identiziert wurden (z. B. Vereinzelungs-, Ohnmachts- und<br />
Handlungsunsicherheitserfahrungen in Folge individueller bzw. gruppenspezi -<br />
scher Desintegrationserscheinungen, z. B. Heitmeyer et al., 1992; Decker et al.,<br />
2012) oder „Medien“ in ihrer Funktion als „Interpretationsrahmen“ oder „diskursive<br />
Gelegenheitsstrukturen“ eine gewichtige Rolle spielen (z. B. Klärner, 2008;<br />
Frindte & Haußecker, 2010).<br />
Ad 2. Auf einer Mesoebene lassen sich jene sozialpsychologischen und soziologischen<br />
Prädiktoren verorten, die sich auf diverse Sozialisationseinüsse beziehen<br />
(z. B. Heer, Boehnke & Butz, 1999), das Agieren rechtsextremer Gruppierungen,<br />
Milieus, Organisationen und Bewegungen und deren Konikte mit „gegnerischen“<br />
Milieus etc. beschreiben (z. B. Möller & Schuhmacher, 2007), sich im Rahmen der<br />
Bewegungsforschung als relevant zeigen (vgl. Grumke, 2013), bzw. im Allgemeinen<br />
auch als Bedingungen für Intergruppen-Kon ikte identiziert wurden (u. a.<br />
die Integrated Threat Theory, Stephan & Stephan, 2000).<br />
Ad 3. Auf der Mikroebene nden sich u. a. die psychologischen Prädiktoren,<br />
die auf den Einuss von Selbstkonzept-Variablen (z. B. He er & Boehnke, 1995),<br />
auf die Rolle zentraler Wertorientierungen (z. B. Götz, 1997), auf „generalisierte
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
157<br />
Einstellungen“ 3 (wie Autoritarismus und Soziale Dominanzorientierung, vgl. z. B.<br />
Duckitt & Sibley, 2010; Seipel, Rippl & Schmidt, 1995), auf die Verortung im<br />
politischen Spektrum (Best et al., 2013) oder auf andere individuelle Prädiktoren<br />
rechtsextremer Tendenzen verweisen.<br />
2.4 Vermittlungsinstanzen oder Mediatoren<br />
Ob und inwieweit die Prädiktoren fundamentalistische Ideologien (der Ungleichwertigkeit)<br />
beeinussen, hängt ganz entschieden davon ab, ob sich Personen mit<br />
fundamentalistischen Gruppen, Gemeinschaften oder Bewegungen identi zieren<br />
und mit diesen sozialen Gruppen, Gemeinschaften oder Bewegungen relevante<br />
soziale Vorstellungen teilen.<br />
Die damit angesprochenen sozialen Konstruktionen deniert Klandermans folgendermaßen<br />
(2014):<br />
„Social identity concerns the socially constructed cognitions of an individual about<br />
his membership in one or more groups. Collective identity concerns cognitions<br />
shared by members of a single group about the group of which they are a member”<br />
(Klandermans, 2014, S. 3; Hervorh. Im Original).<br />
Das heißt, wir haben es theoretisch zumindest mit zwei „Entitäten“, Beschaffenheiten<br />
oder Konstruktionen zu tun, deren Differenzierung in der klassischen<br />
Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1986) so explizit noch nicht vorgenommen<br />
wurde, aber in neueren Arbeiten (vor allem im Kontext politischer Aktionen<br />
und sozialer Bewegungen) eine wichtige Rolle spielt (z. B. Aroopala, 2012;<br />
Klandermans, Sabucedo, Rodriguez & Weerd, 2002): a) die Identi kation einer<br />
Person mit relevanten sozialen Bezugsgruppen und b) die interindividuell mehr<br />
oder weniger übereinstimmenden sozialen Konstruktionen der Mitglieder dieser<br />
Bezugsgruppen. Die empirische Differenzierung beider Konstruktionen dürfte allerdings<br />
– nicht zuletzt wegen den sehr unterschiedlichen Operationalisierungen –<br />
nicht leicht sein (vgl. Ashmore, Deaux & McLaughlin-Volpe, 2004; Jackson &<br />
Smith, 1999). Von diesen methodischen Schwierigkeiten und begrif ichen Unterschieden<br />
sehen wir zunächst ab:<br />
3 Autoritäre Überzeugungen und Soziale Dominanzorientierung werden in der sozialpsychologischen<br />
Literatur in Anlehnung an Allport (1935) auch als generalisierte Einstellungen<br />
(Six , 1996) oder als ideological beliefs bezeichnet (Jost, 2006).
158 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Ad 1. Unter sozialer Identität einer Person verstehen wir – im Sinne der Theorie<br />
der sozialen Identität (SIT, Tajfel & Turner, 1986) – die Summe der Identi kationen<br />
mit bestimmten sozialen Kategorien (Gruppen, Gemeinschaften, Milieus<br />
oder sozialen Bewegungen) und die mit diesen Kategorien assoziierten Werte und<br />
Eigenschaften. Die soziale Identität einer Person konstituiert mit der personalen<br />
Identität (die Summe der persönlichen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften)<br />
das Selbstkonzept einer Person. Identi kation mit sozialen Kategorien bedeutet<br />
hier die subjektive Bedeutsamkeit diese Kategorien für die soziale Identität.<br />
Ad 2. Entsprechend der SIT ist davon auszugehen, dass Menschen bestrebt sind,<br />
eine positive soziale Identität zu erlangen. In Abhängigkeit vom sozialen Kontext<br />
(und den Erfahrungen im Umgang mit den Kontextbedingungen) kann sich eine<br />
Person mit unterschiedlichen sozialen Kategorien identi zieren und auf unterschiedlichen<br />
Abstraktionsniveaus selbst kategorisieren. Im Ergebnis der Identi -<br />
zierungs- und Kategorisierungsprozesse wird eine positive Abgrenzung der Eigengruppen<br />
(der relevanten Bezugsgruppen) zu relevanten Fremdgruppen angestrebt.<br />
Die soziale Identität ist einerseits Ergebnis der Interaktion mit den sozialen Kontextbedingungen<br />
und fungiert andererseits als individuelles Bezugssystem, um<br />
die soziale Umwelt (und die damit verbundenen Kontextbedingungen) danach zu<br />
beurteilen und zu bewerten, inwieweit sie selbstwertdienlich oder selbstwertbeeinträchtigend<br />
sind.<br />
Ad 3. Die soziale Identität, die als Folge derartiger Identi zierungs- und Kategorisierungsprozesse<br />
konstruiert wird, fungiert als Vermittler bzw. Mediator<br />
zwischen den wahrgenommenen (selbstwertdienlichen bzw. selbstwertbeeinträchtigenden)<br />
Kontextbedingungen und den Bewertungs- und Handlungsstrategien im<br />
Umgang mit diesen Kontextbedingungen (z. B. dann, wenn die Kontextbedingungen<br />
die soziale Identität und somit auch das Selbstkonzept einer Person zu beeinträchtigen<br />
bedrohen; vgl. auch Amiot, Terry & McKimmie, 2012).<br />
Ad 4. <strong>Rechtsextremismus</strong> als fundamentalistische Ideologie (der Ungleichwertigkeit),<br />
durch die Gewaltpotentiale (Gewaltakzeptanz, -bereitschaft und –handeln)<br />
und negative Gruppenemotionen legitimiert werden können, betrachten wir in diesem<br />
Sinne als eine funktionale Ideologie. Funktional ist diese Ideologie deshalb,<br />
weil sie (sozial geteilte) Bewertungs- und Handlungsstrategien im Umgang mit<br />
den selbstwertdienlichen bzw. selbstwertbeeinträchtigenden Kontextbedingungen<br />
nahelegt (die Prädiktoren auf makro-, meso- und mikrosozialer Ebene). Die soziale<br />
Identität fungiert als Vermittler bzw. Mediator zwischen den wahrgenommenen<br />
Kontextbedingungen und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit,<br />
den Gewaltpotentialen und den Gruppenemotionen. Das heißt, welchen Ein-<br />
uss die (in zahlreichen Studien nachgewiesenen) Prädiktoren auf die fundamentalistische<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit, die Gewaltpotentiale und negativen
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
159<br />
Gruppenemotionen haben, hängt nicht ausschließlich, aber im hohen Maße von<br />
der Identikation mit relevanten Bezugsgruppen (und damit von Aspekten der sozialen<br />
Identität) ab.<br />
Abbildung 2 illustriert diese Annahmen – ergänzt um mögliche Variablen,<br />
durch die die Prädiktoren und das Explanandum operationalisiert werden können<br />
(ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Die starken schwarzen Linien sollen die<br />
angenommenen Mediatorprozesse verdeutlichen und die schwachen Linien zwischen<br />
den Prädiktoren und dem Explanandum die durchaus ebenfalls zu vermutenden<br />
direkten Relationen.<br />
Potentielle Prädiktoren<br />
Potentielle<br />
Mediatoren<br />
Potentielle Kriterien<br />
Wahrnehmung & Bewertungen<br />
ökonomischer Kontexte<br />
Wahrnehmung & Bewertung<br />
politischer K ontexte<br />
Makro-soziale<br />
Bedingungen;<br />
gesellschaftlic he<br />
Strukturen<br />
und Prozesse<br />
Gewaltpotentiale<br />
Akzeptanz<br />
Bereitschaft<br />
Wahrnehmung & Bewertung<br />
medialer Kontexte<br />
Handeln<br />
Rassismus<br />
Wahrnehmung und Bewertung<br />
von Intergruppen-Wettbewerb<br />
Wahrnehmung und Bewertung<br />
von Intergruppen-Konflikte<br />
Wahrnehmung und Bewertung<br />
von Intergruppen-Bedrohungen<br />
Fremdenfeindlichkeit<br />
Antisemit ismus<br />
Isl amfeindlichkeit<br />
Abwertung von<br />
Asy lbewerbern<br />
Meso- sozial e<br />
Bedingungen:<br />
Gruppen- und<br />
Intergruppen-<br />
Beziehungen<br />
Soziale Identität als<br />
Identifikation mit<br />
relevanten<br />
Bezugsgruppen<br />
F undamentalistische<br />
Ideologien der<br />
Ungleichwertigkeit<br />
Auoritarismus<br />
Etabliertenvorrechte<br />
Soziale Dominanzorientierung<br />
Wertorientierungen<br />
Religiosität<br />
Mikro-soziale<br />
Bedingungen:<br />
Individuelle<br />
Dispositionen und<br />
Orientierungen<br />
Intergruppen-<br />
Emotionen<br />
Hass<br />
Wut<br />
Verachtung<br />
Politische Or ie ntierung<br />
Abbildung 2<br />
Theorie eines identitätsstiftenden politischen bzw. religiösen Fundamentalismus<br />
(TIF) mit Operationalisierungsmöglichkeiten.<br />
Die Kernhypothese der TIF ist relativ simpel: Die soziale Identität als Identikation<br />
mit relevanten Bezugsgruppen fungiert als Mediator zwischen den<br />
Kontextbedingungen und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit,<br />
den Gewaltpotentialen und den Gruppenemotionen.
160 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Dass die soziale Identität als Prädiktor z. B. für kollektive Aktionen zu wirken<br />
scheint, lässt sich empirisch ziemlich gut belegen (vgl. z. B. Cakal, Hewstone,<br />
Schwär & Heath, 2011). Auch dass makro-soziale Belastungen (z. B. gruppenbezogene<br />
relative Deprivation in Folge gravierender gesellschaftlicher Veränderungen)<br />
das individuelle Erleben in Abhängigkeit von der sozialen Identität beein ussen,<br />
ist empirisch nachweisbar (z. B. Grant, 2008). Problematisch dürfte unsere Kernhypothese<br />
aber dann sein, wenn – wie wir es tun – angenommen wird, auch der<br />
Einuss mikro-sozialer Bedingungen (wie autoritäre oder sozial-dominante Überzeugungen)<br />
auf das Ausmaß rechtsextremer Tendenzen (fundamentalistische Ideologie<br />
der Ungleichwertigkeit, Gewaltpotentiale und Gruppenemotionen) werde<br />
über die Identi kation mit relevanten Bezugsgruppen mediiert. Die empirischen<br />
Befunde scheinen eher dafür zu sprechen, dass die Identi kation mit relevanten<br />
Bezugsgruppen (z. B. die Identikation mit der eigenen Nation als nationale Identität)<br />
individuelle Variablen, wie autoritäre Überzeugungen oder soziale Dominanzorientierung,<br />
beeinusst (z. B. Liu, Huang & McFedries, 2008) bzw. die nationale<br />
Identität nicht als Mediator-, sondern als Moderatorvariable 4 wirkt.<br />
Die Kernhypothese ist somit noch teilweise empirisch unbestimmt. Deshalb<br />
werden im folgenden Abschnitt die Datensätze eigener Studien genutzt, um empirische<br />
Belege zu präsentieren, mit denen die TIF fundiert werden kann.<br />
3 Empirische Belege<br />
Bei den folgenden Auswertungen handelt es sich um Sekundäranalysen von Studien,<br />
die im Zeitraum von 1998 bis 2011 durchgeführt wurden. Insofern stehen<br />
die diesen Studien ursprünglich zugrundeliegenden theoretischen Annahmen, die<br />
darauf aufbauenden Operationalisierungen und die methodischen Realisierungen<br />
nicht im direkten Zusammenhang mit der Konzeptualisierung der TIF und der o. g.<br />
Kernhypothese. Dennoch enthalten die Datensätze dieser Studien Variablen, deren<br />
Operationalisierung genutzt werden kann, um diese Kernhypothese zu prüfen.<br />
4 Eine Mediatorvariable vermittelt den statistischen Zusammenhang zwischen zwei<br />
anderen Variablen, und repräsentiert dabei den ablaufenden Prozess. Zum Beispiel:<br />
Man nimmt an, dass Menschen mit zunehmendem Alter autoritärer werden, weil sie<br />
nach und nach mehr Verantwortung übernehmen müssen. Eine weitere Annahme lautet,<br />
dass höherer Autoritarismus mit höherer Ausländer-Ablehnung einhergeht. Somit<br />
müsste höheres Alter (Prädiktor X) zu höherer Ausländer-Ablehnung führen (Kriterium<br />
Y), vermittelt über den ansteigenden Autoritarismus (Mediator Z) (vgl. Riepl,<br />
29.06.2012). Eine Moderatorvariable beeinflusst die Art des Zusammenhangs zwischen<br />
einer unabhängigen und einer abhängigen Variablen.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
161<br />
In den Studien wird die soziale Identität, die in der Kernhypothese der TIF<br />
als Mediator zwischen den Kontextbedingungen und der fundamentalistischen<br />
Ideologie (der Ungleichwertigkeit) konzeptualisiert ist, in drei unterschiedlich abstrakten<br />
Operationalisierungen genutzt: a) als Identi kation mit rechten Cliquen<br />
als unmittelbare Bezugsgruppe, b) als Identi kation mit rechten Subkulturen und<br />
Milieus als übergeordnete soziale Kategorie und c) als Identikation mit der eigenen<br />
Nation.<br />
In dieser Reihenfolge werden die Studien auch vorgestellt.<br />
3.1 Fremdenfeindliche Gewalttäter<br />
(Frindte & Neumann, 2002)<br />
Um empirische Belege und Illustrationen der Kernhypothese der TIF zu nden,<br />
haben wir in einem ersten Schritt Interviews mit fremdenfeindlichen Straftätern,<br />
die wir in den Jahren 1999/2001 bundesweit durchgeführt haben, einer Sekundäranalyse<br />
unterzogen. Interviewt wurden 105 fremdenfeindliche männliche Straftäter.<br />
Diese Interviews wurden als qualitative, leitfadenorientierte und als standardisierte<br />
Befragungen durchgeführt (gemeinsam mit H. Willems und K. Wahl vom<br />
Deutschen Jugendinstitut e.V., München; vgl. auch Frindte & Neumann, 2002).<br />
3.1.1 Eine Auswahl aus den ursprüngliche Befunden<br />
Die individuellen Sozialisationen der Straftäter bis zur eigentlichen fremdenfeindlichen<br />
Gewalttat verlaufen in der Regel mehrphasig: In der familiären Sozialisation<br />
(meist typische broken-home-Konstellationen, Heimerfahrungen) wird Gewalt als<br />
Hauptmittel zur Regulation alltäglicher Situationen erlebt und angeeignet. Eindeutige<br />
ideologische Einstellungs- und Wertaneignungen passieren in diesem Kontext<br />
kaum. Die schulische Sozialisation zeichnet sich durch zunehmendes Leistungsversagen,<br />
Schulabbruch und delinquentes Verhalten aus (86 % der Interviewten<br />
elen bereits bis zur mittleren Schulzeit durch Gewaltanwendung auf; multiple<br />
Delinquenz bei ca. 95 % der Interviewten vor der Strafmündigkeit). Eine Gruppensozialisation<br />
in jugendlichen Cliquen beginnt relativ frühzeitig und nimmt<br />
eine zentrale Rolle ein. Durch die Integration in jugendliche Cliquen beginnt eine<br />
zunehmende, ideologisch rechtsextreme Sozialisation. Die Identi kation mit der<br />
Clique wird zum entscheidenden Bezugssystem für die individuelle Übernahme<br />
fundamentalistischer Ideologien der Ungleichwertigkeit und die darauf basierende<br />
Gewaltbereitschaft. Für die Sekundäranalyse greifen wir zunächst auf die quantitativen<br />
Daten der standardisierten Befragung zurück.
162 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
3.1.2 Methodische Vorbemerkungen<br />
Die Interviews wurden in der Mehrzahl in den Justizvollzugsanstalten durchgeführt<br />
und dauerten zwischen 3,5 und 8 Stunden. Für die nachfolgende Sekundäranalyse<br />
relevant sind drei Variablen, die im standardisierten Fragebogen im Originaldatensatz<br />
bereits als Operationalisierungen vorliegen, und zwar:<br />
• Die Links-Rechts-Orientierung als politische Selbstkategorisierung auf einer<br />
9-stugen Skala (von 1 = linksradikal bis 9 = rechtsradikal).<br />
• Fundamentalistische Ideologie der Ungleichwertigkeit (mit den Subskalen<br />
„Manifester Antisemitismus“ 5 (Cronbach‘s Alpha 6 = .87), „Ausländerfeindlichkeit“<br />
7 (Cronbach‘s Alpha = .83), „Führer-Gefolgschaft-Ideologien“ 8 (Cronbach‘s<br />
Alpha = .61), „Nationalistische Orientierungen“ 9 (Cronbach‘s Alpha =<br />
.72). Mit den insgesamt 24 Items aus diesen vier Subskalen wurde zunächst eine<br />
exploratorische Faktoranalyse mit Hauptkomponentenanalyse und Varimax-<br />
Rotation gerechnet. Die Faktoranalyse extrahierte entsprechend dem Kaiser-<br />
Guttman-Kriterium >1 einen Faktor, der 76,33 % Varianz aufklärt (Guttman,<br />
1954), so dass eine eindimensionale Gesamtskala gebildet wurde (Cronbach’s<br />
Alpha = .89).<br />
• Identi kation mit rechter Clique: Es handelt sich ebenfalls um eine eindimensionale<br />
Skala, die nach Faktoranalyse (63,27 % Varianzaufklärung) aus den<br />
Variablen „Die Clique bietet mir emotionale Unterstützung“, „Die Clique bietet<br />
mir praktische Unterstützung“ und „Ich bin gut in der Clique integriert“ gebildet<br />
wurde (Cronbach’s Alpha = .71).<br />
Für die folgenden Berechnungen wurden die so operationalisierten Variablen erfolgreich<br />
auf Normalverteilung geprüft und anschließend z-transformiert.<br />
5 Itembeispiel: „Es wäre besser für Deutschland, keine Juden im Land zu haben“.<br />
6 Cronbach’s Alpha ist ein statistisches Maß für die Reliabilität (d. h. die Zuverlässigkeit)<br />
einer Skala aus verschiedenen Items, das Werte zwischen 0 und 1 annehmen kann.<br />
Es gibt an, inwiefern die verwendeten Items das gleiche dahinterliegende Konstrukt<br />
messen, wobei hohe Werte (nahe 1) eine zuverlässige Messung signalisieren.<br />
7 Itembeispiel: „In Deutschland sollten nur Deutsche leben“.<br />
8 Itembeispiel: „Die Unterordnung unter eine Gemeinschaft ist wichtiger als die Entfaltung<br />
der Individualität“.<br />
9 Itembeispiel: „Ein guter Deutscher muss bereit sein, alles für sein Vaterland zu geben“.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
163<br />
3.1.3 Mediatoranalysen<br />
Der Datensatz, der in der Interviewstudie mit fremdenfeindlichen Gewalttätern<br />
erstellt wurde, ist insofern relevant, weil es sich um eine sehr exklusive Stichprobe<br />
erwachsener fremdenfeindlicher Straftäter handelt. Die zwar begrenzte Anzahl<br />
relevanter Variablen und deren Beziehungen zueinander sind im Hinblick auf die<br />
Kernhypothese der TIF aus folgendem Grunde von Bedeutung: Sie erlauben die<br />
Möglichkeit, mit der Variable Identi kation mit der rechten Clique eine Mediatorvariable<br />
einzuführen, mit der der Ein uss der Gruppen-Identi kation als Teil<br />
der sozialen Identität auf die Beziehung zwischen Links-Rechts-Orientierung und<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit geprüft werden kann.<br />
Vor dem Hintergrund dieser Frage haben wir folgende Ausgangsthese formuliert:<br />
Die Links-Rechts-Orientierung beeinusst/fördert Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />
vor allem, wenn es identitätsfördernd ist, wenn also dadurch die Identi-<br />
kation (mit rechten Cliquen) gestützt wird. Die Identikation mit rechten Cliquen<br />
wird somit zum Vermittler, Mediator für die Beziehung zwischen Links-Rechts-<br />
Orientierungen und Ideologien der Ungleichwertigkeit. Gerechnet wurde mit dem<br />
Statistikprogramm SPSS und dem Skript „PROCESS“ von Andrew Hayes (2013;<br />
www.afhayes.com).<br />
Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle und der anschließen Abbildung<br />
wiedergegeben. Der Sobel-Z-Test ergab einen signi kanten indirekten Effekt der<br />
Links-Rechts-Orientierung über Identi kation mit Clique auf die Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit, Z = 1.94, p < .05.
164 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Identifikation mit<br />
Clique<br />
(Index; z-Wert)<br />
.50***<br />
.17*<br />
L inks-Rechts-<br />
Orientierung<br />
(z-Wert)<br />
.60***<br />
(.59***)<br />
Fundamentalistische<br />
Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit<br />
(z-Wert)<br />
Abbildung 3 Mediation der Beziehung zwischen Links-Rechts-Orientierung und fundamentalistischer<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit über die Identi kation<br />
mit rechter Clique (Anmerkung: Links-Rechts-Orientierung von 1 =<br />
„linksradikal“ bis 9 = „rechtsradikal“).<br />
Tabelle 1<br />
Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse<br />
Prädiktorvariable Z p BootLLCI BootULCI<br />
Links-Rechts-Orientierung 1.9402 .05 .0161 .2031<br />
Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = Signi kanzniveau, BootLLCI =<br />
untere Grenze des Kon denzintervalls (lower level con dence interval);<br />
BootULCI = obere Grenze des Kondenzintervalls (upper level condence<br />
interval)<br />
3.1.4 Fazit<br />
Die direkte Wirkung des Prädiktors (hier die Links-Rechts-Orientierung) bleibt<br />
auch in der Mediatoranalyse erhalten. Die Analyse macht aber auch auf den signikanten<br />
indirekten Wirkungspfad über den Mediator aufmerksam. Die<br />
Links-Rechts-Orientierung beeinusst in der Stichprobe der fremdenfeindlichen<br />
Gewalttäter die Ideologie der Ungleichwertigkeit vor allem dann, wenn es identitätsfördernd<br />
ist, wenn also dadurch die Identi kation (mit rechten Cliquen) gestützt<br />
wird. Die Identi kation mit rechten Cliquen fungiert somit als Vermittler<br />
für die Beziehung zwischen Links-Rechts-Orientierungen und Ideologien der Ungleichwertigkeit.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
165<br />
Auch in den qualitativen Interviews, die wir mit den fremdenfeindlichen Gewalttätern<br />
geführt haben, stießen wir immer wieder auf die herausragende Rolle<br />
der Identikation mit der eigenen rechten Clique: So geben fast 80 % der Befragten<br />
im Interview an, dass sie durch ihre Clique ideologisch beein usst wurden.<br />
Dass diese Ideologisierung eine solche Wirksamkeit hat, könnte vor allem damit<br />
zusammenhängen, dass die befragten Täter etwas erfahren, was sie bislang nur<br />
eingeschränkt erlebt hatten: soziale Unterstützung und dies vor allem im emotionalen<br />
Bereich. Zwei Drittel geben an, durch ihre Clique emotionale Unterstützung<br />
zu erhalten, womit überwiegend ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Akzeptanz und<br />
Anerkennung verbunden ist. Somit schätzen auch 88 % der Täter ein, dass die<br />
Clique eine große Bedeutung für ihr Leben habe (zum Vergleich: Mutter knapp<br />
50 %, Väter: 30 %).<br />
Auch die Taten waren überwiegend Gruppentaten. Die Mittäter entstammten<br />
zumeist der eigenen Clique und nahmen aktiv an der Gewalttat teil. Für eine hohe<br />
gruppeninterne Normierung spricht die hohe Identi kation mit der Gruppe während<br />
des Tatverlaufs. Tatbegünstigend wirkte weiterhin, dass sich die Täter von<br />
den Opfern zumeist als anonyme Cliquenmitglieder wahrgenommen fühlten.<br />
Die Interviewergebnisse unterstreichen somit die Bedeutung, die die Clique,<br />
aber auch übergeordnete soziale Kategorien (Skinhead, Rechter, Nazi etc.) für das<br />
Verhalten der Täter besitzen. Diese Identi kation mit der Clique und den übergeordneten<br />
sozialen Kategorien scheint sich zumindest auf zwei Prozesse auszuwirken:<br />
Einerseits fundiert sie die Übernahme gruppeninterner Normen und<br />
andererseits fördert sie einen Zustand von Anonymität (Depersonalisation), der es<br />
dem Gruppenmitglied leichter ermöglicht, ohne Rücksicht auf eventuelle personale<br />
Einwände der Gruppenmeinung und -handlung zu folgen (vgl. dazu Reicher,<br />
Spears & Postmes, 1995).<br />
3.2 Ausgangslagen und Entwicklungen rechtsextremer<br />
Einstellungen bei jungen Menschen (Neumann, 2001)<br />
3.2.1 Methodische Vorbemerkungen<br />
Es handelt sich um eine Regionalstudie, die 1998/1999 im Auftrag des Thüringer<br />
Ministeriums für Soziales und Gesundheit und in Zusammenarbeit mit dem Institut<br />
für Sozialpädagogik und Sozialarbeit Frankfurt/Main durchgeführt wurde. Im<br />
Rahmen dieser Studie wurden mittels standardisierter Befragung fremdenfeindliche<br />
und rechtsextreme Einstellungen von Jugendlichen untersucht. Insgesamt<br />
gingen in die Analyse 1.033 verwertbare Fragebögen ein. Das Alter der Befragten
166 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
lag zwischen 12 und 23 Jahren mit einer Häufung bei 15 und 16 Jahren (M = 15.55;<br />
SD = 1.77). Von den 1.033 Befragten waren 533 (52,0 %) weiblich und 492 (48,0 %)<br />
männlich (bei 8 fehlenden Angaben). 460 (44,5 %) Befragte gingen in eine Regelschule,<br />
401 (38,8 %) in ein Gymnasium und 172 (16,7 %) in eine Berufsschule.<br />
Der in der Befragung eingesetzte standardisierte Fragebogen war zuvor bereits<br />
in einer deutschlandweiten Studie (Frindte, 1999) getestet und erfolgreich eingesetzt<br />
worden. Dieser Fragebogen enthielt u. a. folgende Skalen:<br />
• „Fundamentalistische Ideologie der Ungleichwertigkeit “ mit den Subskalen<br />
„Manifester Antisemitismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Führer-Gefolgschaft-<br />
Ideologien“, „Nationalistische Orientierungen“ (die Items der Subskalen sind<br />
identisch mit jenen, die auch in der o. g. Studie mit den fremdenfeindlichen Gewalttätern<br />
eingesetzt wurden). Für die Reliabilität der Gesamtskala ergab sich<br />
in der Regionalstudie ein Cronbach’s Alpha = .86.<br />
• „Gewaltbereitschaft“ (Cronbach’s Alpha = .70). 10<br />
• „Allgemeine Gewaltbewertung“ (Cronbach’s Alpha = .89), bestehend aus einem<br />
fünfstugen semantischem Differential. 11<br />
• „Gewalthandeln“ (Cronbach’s Alpha = .61). 12<br />
• „Mangelnde emotionale Handlungskontrolle (in gewalthaltigen Situationen)“<br />
mit zwei Items (r = .61), die aus der Copingskala von Carver, Scheier und Weintraub<br />
(1989) entnommen wurden. 13<br />
• „Autoritäre Überzeugungen“ – angelehnt an Funke (2005), Cronbach’s Alpha<br />
= .72. 14<br />
• „Ablehnung der Demokratie“ (zwei Items; r = .67). 15<br />
• „Zufriedenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung“ (Single-Item).<br />
• „Zufriedenheit mit sich selbst“ (als Aspekt des Selbstbildes, Single-Item).<br />
10 Beispielitem: „Wenn es notwendig wäre, würde ich Gewalt anwenden“.<br />
11 Beispiel: „Die Anwendung von Gewalt ist meiner Meinung nach… gut oder schlecht“.<br />
12 Beispiel: „Haben Sie in den letzten 12 Monaten ... jemanden geschlagen oder verprügelt?“.<br />
13 Beispiel: „Ich gehöre zu denen, die sich vor Wut häufig nicht beherrschen können.“<br />
14 Beispielitems: „Gehorsam und Achtung vor der Autorität sind die wichtigsten Tugenden,<br />
die Kinder lernen sollten“; „Die wahren Schlüssel zum guten Leben sind Gehorsam,<br />
Disziplin und Prinzipienfestigkeit“; „Was unser Land wirklich braucht, ist<br />
eine starke, entschlossene Autorität, die uns sagt, was wir zu machen haben und wo es<br />
langgehen muss“; „Was wir in unserem Land wirklich brauchen, ist eine anständige<br />
Portion Recht und Ordnung anstatt mehr Bürgerrechte“.<br />
15 Beispiel: „Die Idee der Demokratie ist gut.“ (umgekehrt codiert)
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
167<br />
• „Einschätzung der nanziellen Situation der eigenen Familie“ (Single-Item; 1<br />
= „viel schlechter als der Durchschnitt“; 5 = „viel besser als der Durchschnitt“).<br />
• „Links-Rechts-Orientierung“ (Single-Item: „Würden Sie sich eher als links<br />
oder rechts bezeichnen?“, 1 = „links“, 5 = „rechts“).<br />
• Außerdem wurden diverse soziodemogra sche Merkmale (z. B. Alter, angestrebter<br />
Schulabschluss, Arbeitslosigkeit der Eltern) erhoben.<br />
Für die Sekundäranalyse wurden aus den vorliegenden Items der Originalstudie<br />
zwei weitere Skalen erstellt:<br />
• Eine Skala zur Erfassung der „ Identi kation mit rechten Subkulturen und Milieus“<br />
wurde gebildet, indem zunächst danach gefragt wurde, inwieweit sich die<br />
befragten Personen mit „rechten Subkulturen“ (Faschos, Neonazis, Skinheads,<br />
Hooligans, Nazi-Skins) identizieren und zum anderen anzugeben war, inwieweit<br />
die Mitgliedschaft in solchen Subkulturen wichtig für die eigene Identität<br />
ist („Mitgliedschaft spiegelt gut wieder, wer ich bin“). Aus diesen Angaben<br />
wurde ein Index als Operationalisierung für die Skala „Identikation mit rechten<br />
Subkulturen und Milieus“ gebildet.<br />
• Eine einfaktorielle Skala „ Gewalttendenzen gegenüber Ausländern“ wurde<br />
mit den folgenden Items erstellt: „Durch Gewalt kann man zeigen, dass<br />
deutsche Jugendliche besser kämpfen können als Ausländer“, „Durch Gewalt<br />
kann man Gerechtigkeit herstellen dafür, dass viele Deutsche arbeitslos sind,<br />
während Ausländer nicht arbeitslos sind“, „Haben Sie in den letzten zwölf<br />
Monaten Ausländer vorsätzlich geschlagen oder verprügelt?“ (Cronbach’s Alpha<br />
= .66).<br />
3.2.2 Eine Auswahl aus den ursprünglichen Befunden<br />
Rechtsextremistische Orientierungen setzen sich nach Heitmeyer et al. (1992) aus<br />
einer Ideologie der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der Gewaltaf nität<br />
(bis hin zu gewalttätigem Handeln) zusammen. Beide Dimensionen wurden in<br />
einschlägigen Publikationen durch Subdimensionen mit verschiedenen Facetten<br />
untergliedert und operationalisiert. Nach anfänglicher Euphorie und umfangreicher<br />
Rezeption gerieten in den 1990er Jahren sowohl die Heitmeyersche <strong>Rechtsextremismus</strong>-Denition<br />
als auch der von ihm und Kollegen vorgelegte Erklärungsansatz<br />
in die Kritik (vgl. den Abschnitt von Frindte et al. in diesem Buch).<br />
Die von Neumann (2001) ermittelten Befunde verweisen darauf, dass die ursprüngliche<br />
Annahme von zwei Dimensionen, durch die sich rechtsextreme Tendenzen<br />
auszeichnen, durchaus empirisch gehaltvoll und begründbar ist. Im Er-
168 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
gebnis einer kon rmatorischen Faktoranalyse 16 zeigte sich ein Zweifaktormodell<br />
mit korrelierten Faktoren als das Modell, das den empirischen Daten am besten<br />
angepasst ist (Abbildung; siehe Neumann, 2001, S. 127).<br />
Ausländerfeindlichkeit<br />
Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit<br />
.87<br />
.64<br />
.78<br />
.87<br />
Führer-Gefolgschafts-<br />
Ideologie<br />
Nationalistische<br />
Orientierungen<br />
Antisemitismus<br />
.50<br />
Gewaltbewertung<br />
Gewaltdimension<br />
.73<br />
.81<br />
G ewaltbereitschaft<br />
.66<br />
G ewalthandeln<br />
Abbildung 4 Statistisches Modell „<strong>Rechtsextremismus</strong> – korrelierte Zweifaktorstruktur“<br />
( 2 = 73,386; df=13; p=.000; NFI=.995; RMSEA=.067; CFI=.996).<br />
Es handelt sich – wie weiter oben erwähnt – um eine normale Stichprobe von<br />
Schuljugendlichen, so dass auch wir der Neumannschen Interpretation folgen wollen<br />
und seine Befunde als empirischen Beleg für die zweidimensionale Rechtsext-<br />
16 Für diese konfirmatorische Faktoranalyse wurde eine Second-Order-Analyse auf der<br />
Basis von Strukturgleichungsmodellen mit dem Programm LISREL 8.30 durchgeführt.<br />
Es wurden drei Modelle spezifiziert, deren Passfähigkeit mit den empirischen<br />
Daten getestet wurde: eine Einfaktorlösung, eine Zweifaktorlösung mit unabhängigen<br />
Faktoren und eine Zweifaktorlösung mit korrelierten Faktoren.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
169<br />
remismus-Denition von Heitmeyer und Kollegen ansehen. In dieser Regionalstudie<br />
nden sich leider keine Variablen, die sich nutzen ließen, um auch die von uns<br />
angenommene dritte Facette rechtsextremer Tendenzen zu operationalisieren – die<br />
negativen Intergruppen-Emotionen (s. o.).<br />
Dass die Akzeptanz und die Orientierung an fundamentalistischen Ideologien<br />
der Ungleichwertigkeit und den damit verbundenen Gewaltpotentialen auch mit<br />
starkem emotionalen Involvement einhergehen, lässt sich aber nicht bestreiten. Zumindest<br />
nden sich im besagten Datensatz dafür gewisse Hinweise. Auf der Basis<br />
der Copingskala von Carver et al. (1989) wurde nämlich eine Variable speziziert,<br />
mit der die „mangelnde emotionale Handlungskontrolle“ im Fragebogen abgefragt<br />
werden sollte. Wie die folgende Tabelle zeigt, korreliert diese Variable signi -<br />
kant positiv sowohl mit der Gesamtskala zur Erfassung der fundamentalistischen<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit, mit den entsprechenden Subskalen „Manifester<br />
Antisemitismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Nationalistische Orientierungen“<br />
und „Führer-Gefolgschaft-Ideologien“ als auch mit den Gewaltfacetten (Gewaltbewertung,<br />
-bereitschaft und -handeln).
170 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Tabelle 2 Korrelationen zwischen Ideologie der Ungleichwertigkeit, den dazugehörigen Facetten und emotionaler Handlungskontrolle<br />
Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit<br />
Ausländerfeindlichkeit<br />
Antisemitismus<br />
Nationalismus<br />
Führer-<br />
Gefolgschaft<br />
Gewaltbereit-schaft<br />
Gewaltbewertung<br />
Gewalthandeln<br />
Mangelnde<br />
emotionale<br />
Handlungskontrolle<br />
.20**<br />
.15** .89**<br />
.17** .89** .76**<br />
.17** .85** .69** .65**<br />
.20** .705** .48** .53** .50**<br />
.22** .36** .30** .33** .32** .23**<br />
Führer-<br />
Gefolgschaft<br />
.25** .56** .47** .50** .49** .40** .61**<br />
Ideologie<br />
der<br />
Ungleichwertigkeit<br />
Ausländerfeindlichkeit<br />
Antisemitismus<br />
Nationalismus<br />
Gewaltbereitschaft<br />
Gewaltbewertung<br />
.24** .30** .23** .26** .27** .23** .56** .48**<br />
Anmerkung: Die Korrelationen sind auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signikant.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
171<br />
Aus diesen Befunden zu schließen, dass die Zustimmungen zur Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />
und zu ihren Facetten sowie zu den Gewaltdimensionen offenbar<br />
mit geringerer emotionaler Handlungskontrolle einhergehen und somit emotional<br />
negativ aufgeladen sind, ist sicher nicht unangebracht. Und vielleicht ist dieser<br />
Befund auch ein zaghafter Hinweis auf die Verknüpfung der Ideologie- und der<br />
Gewaltdimension mit den von uns vermuteten negativen Emotionen.<br />
3.2.3 Mediatoranalyse – eine Prüfung der Kernhypothese der TIF<br />
Um die Kernhypothese der TIF noch einmal in Erinnerung zu rufen: Die soziale<br />
Identität als Identi kation mit relevanten Bezugsgruppen fungiert als Mediator<br />
zwischen den Kontextbedingungen und der fundamentalistischen Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit, den Gewaltpotentialen und den Gruppenemotionen.<br />
Um diese Hypothese am Datensatz der Regionalstudie aus den Jahren<br />
1998/1999 zu prüfen, wurden zunächst die Variablen, die mit den o. g. Skalen bzw.<br />
Items operationalisiert wurden, z-transformiert und auf Normalverteilung geprüft.<br />
Anschließend wurden Mediatoranalysen gerechnet, auf die noch einzugehen sein<br />
wird. Als unabhängige bzw. Prädiktorvariablen wurden dafür zunächst folgende<br />
ausgewählt: Links-Rechts-Orientierung, autoritäre Überzeugungen, Ablehnung<br />
der Demokratie, Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung, Zufriedenheit<br />
mit sich selbst, nanzielle Situation der eigenen Familie, Alter, angestrebter<br />
Schulabschluss (Regelschule, Gymnasium, Berufsschule) und Arbeitslosigkeit<br />
der Eltern. Die folgende Tabelle zeigt die Korrelationen zwischen den ausgewählten<br />
Prädiktoren und der Kriteriumsvariable Ideologie der Ungleichwertigkeit.
172 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Tabelle 3 Korrelationen zwischen Ideologie der Ungleichwertigkeit und potentiellen Prädiktoren<br />
Alter Angestrebter<br />
Schulabschluss<br />
Links-Rechts-<br />
Orientierung<br />
(je höher desto<br />
rechter)<br />
.59**<br />
Ideologie<br />
der<br />
Ungleichwertigkeit<br />
Links-<br />
Rechts-<br />
Orientierung<br />
(je<br />
höher desto<br />
rechter)<br />
Autoritarismus .69** .37 **<br />
Ablehnung der .14** .08 * .10 **<br />
Demokratie<br />
Unzufriedenheit<br />
mit der gesellschaftlichen<br />
Entwicklung<br />
Zufriedenheit<br />
mit sich selbst<br />
Finanzielle<br />
Situation der<br />
Familie<br />
-.06 -.02 -.10 ** .03<br />
.11** .13 ** .11 ** -.03 -.09 *<br />
.06 .04 .04 .00 -,06 ,09 *<br />
Autoritarismus<br />
Ablehnung<br />
der<br />
Demokratie<br />
Unzufriedenheit<br />
mit der<br />
gesellschaftlichen<br />
Entwicklung<br />
Zufriedenheit<br />
mit<br />
sich selbst<br />
Finanzielle<br />
Situation<br />
der<br />
Familie<br />
Identikation<br />
mit<br />
rechten<br />
Subkulturen
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
173<br />
Tabelle 3 (Fortsetzung)<br />
Identikation<br />
mit rechten Subkulturen<br />
Ideologie<br />
der<br />
Ungleichwertigkeit<br />
Links-<br />
Rechts-<br />
Orientierung<br />
(je<br />
höher desto<br />
rechter)<br />
Autoritarismus<br />
Ablehnung<br />
der<br />
Demokratie<br />
Unzufriedenheit<br />
mit der<br />
gesellschaftlichen<br />
Entwicklung<br />
Zufriedenheit<br />
mit<br />
sich selbst<br />
.52** ,47 ** .30 ** .16 ** .09 * .15 ** .04<br />
Finanzielle<br />
Situation<br />
der<br />
Familie<br />
Alter -.17** .02 -.14** -.02 .09* .03 -.03 .00<br />
Identikation<br />
mit<br />
rechten<br />
Subkulturen<br />
Alter Angestrebter<br />
Schulabschluss<br />
Angestrebter -.37** -.17** -.24** .11** .08* -.10* -.02 -.25** .18**<br />
Schulabschluss<br />
Arbeitslosigkeit der Eltern<br />
.05 .00 .10** .02 -.02 -.01 -.24** .00 .05 .05<br />
Anmerkungen: ** Die Korrelationen sind auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signikant; * Die Korrelationen sind auf dem Niveau von<br />
0,05 (2-seitig) signikant.
174 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Zur Vorprüfung wurde eine schrittweise Regressionsanalyse gerechnet, um die<br />
Vorhersagekraft der ausgewählten Prädiktoren abschätzen zu können. Dabei erwiesen<br />
sich – siehe Tabelle 4 – nur ein Teil der ausgewählten Prädiktoren als signi-<br />
kante Vorhersager für die fundamentalistische Ideologie der Ungleichwertigkeit.<br />
Tabelle 4<br />
Ergebnisse der Regressionsanalyse<br />
R 2 = .68<br />
Standardisierte Signikanzniveau<br />
Koefzienten Beta<br />
Autoritäre Überzeugungen .522 .000<br />
Links-Rechts-Orientierung .364 .000<br />
(je höher desto rechter)<br />
Angestrebter Schulabschluss -.167 .000<br />
Lebensalter der Befragten -.070 .001<br />
Ablehnung der Demokratie .058 .006<br />
Anmerkungen: Abhängige Variable: Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />
Die Zustimmung zu fundamentalistischen Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />
nimmt in der untersuchten Schülerstichprobe mit der Stärke autoritärer Überzeugungen,<br />
der Demokratieablehnung und mit zunehmender Rechts-Orientierung zu<br />
und mit der Höhe des angestrebten Schulabschlusses und dem Lebensalter ab.<br />
Diese fünf Variablen wurden anschließend als Prädiktoren in die schon erwähnten<br />
Mediatoranalysen eingeführt. Die oben genannte Variable „Identikation<br />
mit rechten Subkulturen und Milieus“ fungierte dabei als Mediatorvariable; die<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit (Gesamtskala) bildete die abhängige bzw. Kriteriumsvariable.<br />
Gerechnet wurde wiederum mit dem Statistikprogramm SPSS<br />
und dem Skript „PROCESS“ von Andrew Hayes (2013; www.afhayes.com). 17 Die<br />
folgende Abbildung und die anschließende Tabelle geben die Ergebnisse zusammenfassend<br />
wieder.<br />
17 In der Berechnung folgten wir dem Hinweis von Hayes „If your IV has k categories,<br />
construct k-1 dummy variables and then run INDIRECT or PROCESS k-1 times.<br />
With each run, make one dummy variable the IV and the other one(s) the covariate(s)”<br />
(http://www.afhayes.com/macrofaq.html; 22.9.2014).
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
175<br />
Links-Rechts-<br />
Orientierung<br />
(z-Wert)<br />
Autoritäre<br />
Überzeugungen<br />
(z-Wert)<br />
Identifikation mit<br />
rechten<br />
Subkulturen<br />
(Index; z-Wert)<br />
.35*** .20**<br />
.12*<br />
.09*<br />
.33*** (.40***)<br />
.45*** (.50***)<br />
.08* (.10*)<br />
Fundamentalistische<br />
Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit<br />
(z-Wert)<br />
Ablehnung der<br />
Demokratie<br />
(z-Wert)<br />
-.20**<br />
-.21** (-.26**)<br />
A ngestrebter<br />
Schultyp<br />
(z-Wert)<br />
-.06 n.s.<br />
-.03 n.s. (-.05 n.s.)<br />
Alter<br />
(z-Wert)<br />
Abbildung 5 Mediation der Beziehungen zwischen fünf potentiellen Prädiktoren und<br />
fundamentalistischer Ideologie der Ungleichwertigkeit über die Identikation<br />
mit rechten Subkulturen.<br />
Tabelle 5<br />
Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse<br />
Prädiktorvariable Z p BootLLCI BootULCI<br />
Links-Rechts-Orientierung 5.8754 .0000 .2832 .3815<br />
Autoritäre Überzeugungen 2.9184 .0035 .4070 .5052<br />
Ablehnung der Demokratie -2.4193 .0155 -.0325 -.0048<br />
Angestrebter Schultyp -3.4171 .0006 -.2899 -.1441<br />
Alter 1.8907 .0687 -.0703 .0043<br />
Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = Signi kanzniveau, BootLLCI =<br />
untere Grenze des Kon denzintervalls (lower level con dence interval);<br />
BootULCI = obere Grenze des Kondenzintervalls (upper level condence<br />
interval)<br />
Die Ergebnisse scheinen durchaus geeignet zu sein, die o. g. Kernhypothese der<br />
TIF zu stützen. Der vermutete vermittelnde Einuss der Mediatorvariable „Identi-<br />
kation mit rechten Subkulturen“ ist als indirekter Effekt nachweisbar. Die direkten<br />
Pfade zwischen den Prädiktoren (bis auf die Altersvariable) und der funda-
176 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
mentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit werden schwächer, bleiben aber<br />
noch signikant.<br />
Wie lassen sich diese indirekten Effekte erklären und einordnen?<br />
• Die politische Selbsteinordnung im Links-Rechts-Spektrum ist in zahlreichen<br />
Studien zum <strong>Rechtsextremismus</strong> als wichtige Erklärungsvariable genutzt und<br />
bestätigt worden (z. B. Bauer-Kaase, 2001; Decker, Brähler & Geißler, 2006;<br />
Weiss, Mibs & Brauer, 2002). Diese Selbsteinordnung wird aber offenbar in<br />
ihrem Einuss auf die Zustimmung zu Ideologien der Ungleichwertigkeit teilweise<br />
durch die Identikation mit rechten Subkulturen oder Milieus vermittelt.<br />
Zumindest legen das unsere Befunde nahe.<br />
• Auch die autoritären Überzeugungen sind in zahlreichen Studien als robuste<br />
Prädiktoren für rechtsextreme und fremdenfeindliche Tendenzen nachgewiesen<br />
worden (s. o. und z. B. Frindte & Zachariae, 2005; Seipel et al., 1995;<br />
Van Hiel & Mervielde, 2005; u. v. a.). Dass die autoritären Überzeugungen,<br />
wie unsere Befunde zeigen, ebenfalls mit der Identi kation mit rechten Subkulturen<br />
zusammenhängen und von diesen teilweise in ihrer Wirkung auf die<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit mediiert werden, scheint auf ähnliche Prozesse<br />
zu verweisen, wie sie etwa von Feldman (2003), Oesterreich (1996) oder<br />
Stellmacher (2004) beschrieben und empirisch nachgewiesen wurden. Autoritäre<br />
Überzeugungen werden in diesen Arbeiten nicht ausschließlich als stabile<br />
Persönlichkeitsvariablen, sondern als situations- bzw. gruppenspezi sche<br />
Reaktionen konzipiert. Stellmachers (2004) Modell eines Autoritarismus als<br />
Gruppenphänomen scheint dabei unseren Annahmen am nächsten zu kommen.<br />
Die Grundannahme dieses Modells ist, dass dann, wenn sich Personen stark<br />
mit relevanten Bezugsgruppen identi zieren und diese Identi kation für den<br />
Einzelnen bedrohlich sein kann (z. B. durch damit verbundene Abwertungen,<br />
Stigmatisierungen etc.), vor allem Personen mit autoritären Prädispositionen<br />
autoritäre Reaktionen zeigen. Stellmacher geht also von bedrohlichen Situationen<br />
und von einer Interaktion zwischen autoritären Reaktionen und der Identi-<br />
kation mit sozialen Bezugsgruppen aus. Auch wir meinen, dass die autoritären<br />
Überzeugungen in ihrem Einuss auf die Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />
dann bedeutsam und funktional sind, wenn dadurch wichtige Aspekte der sozialen<br />
Identität (hier: die Identi kation mit rechten Subkulturen und Milieus)<br />
gefördert, unterstützt bzw. geschützt werden können.<br />
• Die Ablehnung der demokratischen Grundordnung und der Demokratie insgesamt<br />
ist Teil (und u. U. auch Bedingung oder Folge) rechtsextremer und fremdenfeindlicher<br />
Bestrebungen (vgl. z. B. Best, et al., 2013; Klein & Heitmeyer,<br />
2012). Im Datensatz der vorliegenden Regionalstudie erweist sich die Demo-
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
177<br />
kratieablehnung zum einen als Prädiktor für die Zustimmung zu Ideologien<br />
der Ungleichwertigkeit; zum anderen scheint die Demokratieablehnung über<br />
die Identikation mit rechten Subkulturen die Akzeptanz von Ideologien der<br />
Ungleichwertigkeit zu befördern.<br />
• Der angestrebte Schulabschluss spiegelt eine wichtige Bedingung in den Erklärungen<br />
von Fremdenfeindlichkeit, <strong>Rechtsextremismus</strong> und Ideologien der<br />
Ungleichwertigkeit wider. Die zahlreichen empirischen Befunde weisen darauf<br />
hin, dass Personen mit Hauptschulabschluss offenbar eher Ideologien der<br />
Ungleichwertigkeit zustimmen als Personen mit gymnasialem Schulabschluss<br />
(vgl. z. B. Heer & Boehnke, 1995; Sturzbecher, 1997). Die Ergebnisse der Mediatoranalyse<br />
zeigen aber auch, dass der Ein uss des (angestrebten) Schulabschlusses<br />
auf derartige Ideologien kein ausschließlicher ist, sondern durch die<br />
Identikation mit rechten Subkulturen vermittelt wird.<br />
• Das Alter der Befragten hat indes keinen Effekt.<br />
Bevor wir zu einem Zwischenfazit kommen, wollen wir aber noch eine zusätzliche<br />
Frage stellen und nach empirischen Antworten suchen. Die naheliegende Frage<br />
lautet: Lässt sich der indirekte Pfad von der Identi kation mit rechten Subkulturen<br />
über die Ideologie der Ungleichwertigkeit weiter verfolgen bis zur Gewaltbereitschaft?<br />
Um diese Frage zu beantworten, wurde eine zweite Mediatoranalyse gerechnet.<br />
In diese Analyse gingen die Identi kation mit rechten Subkulturen (Index) nun<br />
als Prädiktor (UV) und die Ideologie der Ungleichwertigkeit als Mediator ein,<br />
um die Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern vorauszusagen (AV; Kriterium).<br />
Die Analyse erfolgte wieder mit z-standardisierten Werten mit dem Statistikprogramm<br />
SPSS und dem Skript „PROCESS“ von Andrew Hayes (2013; www.afhayes.com).<br />
Die Ergebnisse der statistischen Prüfungen sind in folgender Abbildung<br />
und der anschließenden Tabelle dargestellt.
178 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Identifikation mit<br />
rechten Subkulturen<br />
(Index; z-Wert)<br />
.28***<br />
(.60***)<br />
Gewaltbereitschaft<br />
gegen Ausländer<br />
(z-Wert)<br />
.53***<br />
Fundamentalistische<br />
Ideologie<br />
(der<br />
Ungleichwertigkeit,<br />
z-Wert)<br />
.59***<br />
Abbildung 6 Mediation der Beziehung zwischen Identikation mit rechten Subkulturen<br />
und Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern über die fundamentalistische<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />
Tabelle 6<br />
Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse<br />
Mediatorvariable Z p BootLLCI BootULCI<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit 12.67 .0000 .2696 .3535<br />
Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = Signikanzniveau, BootLLCI<br />
= untere Grenze des Kon denzintervalls (lower level con dence<br />
interval); BootULCI = obere Grenze des Kon denzintervalls<br />
(upper level condence interval)<br />
Die Ideologie der Ungleichwertigkeit fungiert als Mediator zwischen der Identi -<br />
kation mit rechten Subkulturen und der Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern.<br />
3.2.4 Fazit<br />
Die nachfolgende Abbildung fasst die berichteten (signikanten) Befunde der Sekundäranalyse<br />
aus dem Datensatz der Regionalstudie von 1998/1999 noch einmal<br />
zusammen. Die als Prädiktoren für die Zustimmung zu Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />
ausgewählten Variablen illustrieren ansatzweise die im eigentlichen<br />
Modell der TIF konzipierten potentiellen Prädiktoren für fundamentalistische<br />
Ideologien der Ungleichwertigkeit (vgl. Abbildung 2). Die Operationalisierung der<br />
sozialen Identität als Identikation mit relevanten Bezugsgruppen (im Sinne eines
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
179<br />
potentiellen Mediators) mag man kritisieren; deutlich wird aber die postulierte<br />
Vermittlungs- und Mediatorfunktion dieser operationalisierten Variable. Die soziale<br />
Identität als Identi kation mit rechten Subkulturen bzw. Milieus fungiert<br />
zwar nicht als ausschließlicher Mediator zwischen den ausgewählten Prädiktoren<br />
und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit, sondern vor allem<br />
als partieller Mediator. Das heißt, neben dem vermittelnden Prozess über die Identikation<br />
mit rechten Subkulturen nden möglicherweise noch andere mediierende<br />
Prozesse statt, die hier nicht betrachtet wurden.<br />
Identifikation mit<br />
recht en Subkulturen<br />
(Index; z-Wert)<br />
Identifikation mit<br />
rechten Subkulturen<br />
(Index; z-Wert)<br />
.28*** (.60***)<br />
Gewaltbereitschaft<br />
gegen Ausländer<br />
(z-Wert)<br />
.35*** .20**<br />
Links-Rechts-<br />
Orientierung<br />
(z-Wert)<br />
Autoritäre<br />
Überzeugungen<br />
(z-Wert)<br />
.12*<br />
.45*** (.50***)<br />
.33*** (.40***)<br />
Fundamentalistische<br />
Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit<br />
(z-Wert)<br />
.53***<br />
Fundamentalistische<br />
Ideologie<br />
(der<br />
Ungleichwertigkeit,<br />
z-Wert)<br />
.59***<br />
.09*<br />
.08* (.10*)<br />
Ablehnung der<br />
Demokratie<br />
(z-Wert)<br />
-.20**<br />
-.21** (-.26**)<br />
Angestrebter<br />
Sch ultyp<br />
(z-Wert)<br />
Abbildung 7<br />
Zusammenfassung der Mediatoranalysen<br />
Wir nehmen aber an, dass diese partiellen Mediationen Hinweise darauf sind, dass<br />
die geprüften Prädiktoren zunächst einmal in einem funktionalen oder instrumentellen<br />
Verhältnis zu den operationalisierten Aspekten der sozialen Identität stehen<br />
und über dieses Verhältnis die Zustimmung zu Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />
befördern. Die Identikation mit rechten Subkulturen fungiert darüber hinaus<br />
über die Ideologie der Ungleichwertigkeit verstärkend auf die Gewaltbereitschaft<br />
gegenüber Ausländern.
180 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
3.3 Identifikation mit Deutschland –<br />
Sekundäranalyse einer Teilstichprobe aus dem Projekt<br />
„Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“<br />
3.3.1 Hintergrund<br />
Der Titel dieses Abschnitts ist etwas irreführend. Es geht im Folgenden nicht um<br />
junge Muslime, sondern um junge Deutsche und deren Vorurteile und Ideologien<br />
der Ungleichwertigkeit im Umgang mit Muslimen. Die Grundlage der folgenden<br />
und letzten Sekundäranalyse bildet ein Projekt, in dem junge Muslime in Deutschland<br />
in einer Panelstudie zu zwei Zeitpunkten interviewt und befragt wurden (vgl.<br />
Frindte, 2013). Die Ergebnisse wurden mit den Befunden einer parallel durchgeführten<br />
Panelstudie mit deutschen Nichtmuslimen im Alter zwischen 14 und<br />
32 Jahren (erste Welle mit N = 200; zweite Welle mit N = 98) verglichen. Auf<br />
den Datensatz dieser deutschen, nichtmuslimischen Teilstichprobe bezieht sich die<br />
folgende Sekundäranalyse.<br />
3.3.2 Methodische und empirische Vorbemerkungen<br />
In der Panelstudie wurden auch Vorurteile von Nicht-Muslimen gegenüber Muslimen,<br />
Juden und Ausländern analysiert. Dies geschah mit einer einfaktoriellen<br />
Skala, die aus folgenden Subskalen bestand: „Vorurteile gegenüber Juden und Israel“<br />
18 , „Vorurteile gegen Ausländer“ 19 und „Vorurteile gegenüber Muslimen“ 20 .<br />
In einer Faktoranalyse (Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation) zeigte<br />
sich, dass diese drei Subskalen (erhoben in Welle 1) mit einer Varianzaufklärung<br />
von 69,81% auf einem Faktor laden. Deshalb wurden alle drei Subskalen zu einer<br />
Gesamtskala zusammengefasst und für die Operationalisierung der fundamentalistischen<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit genutzt (Cronbach‘s Alpha = .74). Die<br />
mit dieser Skala operationalisierte Variable „ Fundamentalistische Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit“ ist das Kriterium, also die abhängige Variable, in den nachfolgenden<br />
Mediatoranalysen. Als mögliche Prädiktoren für die Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />
wurden die in folgender Tabelle aufgeführten Variablen mit den<br />
angegebenen Items bzw. Skalen operationalisiert.<br />
18 Beispielitem: „Es wäre besser, wenn die Juden den Nahen Osten verlassen würden“.<br />
19 Beispielitem: „Es leben zu viele Ausländer in Deutschland.“<br />
20 Beispielitem: „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
181<br />
Tabelle 7<br />
Reliabilität der Variablen<br />
Variable<br />
Mediennutzung<br />
– Einzelitems<br />
Items<br />
fünfstuge Likertskala<br />
„In welchem Ausmaß nutzen Sie die folgenden<br />
deutschen Fernsehsender, um sich über aktuelle<br />
Ereignisse zu informieren (z. B. Nachrichten<br />
oder Magazine)?“ Mit vier Unteritems: ARD,<br />
ZDF, RTL, Sat.1; Antwortmöglichkeiten: 1 =<br />
„gar nicht“, …, 5 = „sehr häug“)<br />
Präferenzen für deutsches öffentliches Fernsehen<br />
(ARD, ZDF)<br />
Retest-Stabilität a<br />
zwischen<br />
Welle 1 &<br />
Welle 2 bzw.<br />
Cronbachs alpha<br />
ARD: .71**<br />
ZDF: .75**<br />
RTL: .72**<br />
Sat.1: .59**<br />
.76**<br />
Präferenzen für privates Fernsehen (RTL, Sat.1) .71**<br />
Autoritäre Überzeugungen<br />
–<br />
Skala mit sechs<br />
Items (gekürzte<br />
RWA 3 D-Skala;<br />
Funke, 2002) b<br />
„Die Abkehr von der Tradition wird sich eines<br />
Tages als fataler Fehler herausstellen.“<br />
„Gehorsam und Achtung vor der Autorität sind<br />
die wichtigsten Tugenden, die Kinder lernen<br />
sollten.“<br />
„Was wir in unserem Lande anstelle von mehr<br />
„Bürgerrechten“ wirklich brauchen, ist eine anständige<br />
Portion Recht und Ordnung.“<br />
„Tugendhaftigkeit und Gesetzestreue bringen<br />
uns auf lange Sicht weiter, als das ständige<br />
Infragestellen der Grundfesten unserer Gesellschaft.“<br />
„Die wahren Schlüssel zum „guten Leben“ sind<br />
Gehorsam, Disziplin und Tugend.“<br />
„Was unser Land wirklich braucht, ist ein<br />
starker, entschlossener Führer, der das Übel zerschlagen<br />
und uns wieder auf den rechten Weg<br />
bringen wird.“<br />
Cronbachs Alpha:<br />
.79<br />
a Damit sind die Korrelationen zwischen den jeweils identischen Items oder Skalen von<br />
Welle 1 und 2 gemeint (*: p < .05; **: p < .01).<br />
b Aus forschungspraktischen (zeitlichen) Gründen konnten die Items zur Erfassung autoritärer<br />
Überzeugungen den Befragten nur in der zweiten Erhebungswelle vorgelegt<br />
werden. Allerdings gehen wir davon aus, dass die damit gemessenen autoritären Überzeugungen<br />
als generalisierte Einstellungen nicht nur persönlichkeitsnahe, sondern<br />
auch relativ zeitstabile Dispositionen darstellen (vgl. auch Duckitt, 2001; Frindte, 2013;<br />
Frindte & Haußecker, 2010; Six, 1996).
182 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Mit Hilfe von Cross-Lagged-Regression Analysen (Cook & Campell, 1979) wurde<br />
zunächst nach Wirkungszusammenhängen (Kausalitäten) zwischen diesen Prädiktoren<br />
und der Ideologie der Ungleichwertigkeit gefahndet. Die Befunde zeigten, je<br />
ausgeprägter die „Autoritären Überzeugungen“ sind und je häuger RTL und Sat.1<br />
zur politischen Information genutzt werden, umso negativer sind die Einstellungen<br />
gegenüber Muslimen.<br />
Prädiktoren für Ideologie der Ungleichwertigkeit – Kausalanalysen (Cross- Lagged):<br />
Deutsche Nicht-Muslime (Panelstichp robe; N = 97)<br />
Prädiktoren<br />
(Welle 1)<br />
Indikatoren für mögliche<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />
(Welle 2)<br />
Autoritäre<br />
Überzeugungen<br />
Präferenzen für<br />
deutsches Privat-TV<br />
.18*<br />
.15*<br />
Vorurteile gegenüber Juden,<br />
Muslimen, Ausländer<br />
Abbildung 8 Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der einzelnen Cross-Lagged-Panel-Analysen<br />
für deutsche Nicht-Muslime. Anmerkungen: Es sind<br />
nur signi kante Pfade dargestellt. Umgekehrte Pfade wurden der Übersichtlichkeit<br />
halber nicht aufgeführt.<br />
Autoritäre Überzeugungen werden im Umgang mit unsicheren, ambivalenten Situationen<br />
gelernt (siehe auch Abschnitt 3.2.). In solchen Situationen orientieren sich<br />
Menschen an sozialen Bezugssystemen bzw. Ideologien, die – nach Oesterreich<br />
(1996) – Sicherheit bieten können. Oesterreich nennt diese Orientierung „Flucht in<br />
die Sicherheit“. Hinter dieser Orientierung steht – psychologisch betrachtet – das<br />
Grundmotiv nach Ordnung, Struktur und nach Vermeidung von Unsicherheit und<br />
in zugespitzter Weise die Intoleranz gegenüber ambivalenten Situationen. Sicherheit<br />
in diesem Sinne können die Familie, die Freundesgruppe, die Religion, eine<br />
(rechtsextreme) Partei oder eine Herrschafts- und Machtideologie bieten. Ob diese<br />
oder andere soziale Instanzen als Schutz bietende Bezugssysteme in Frage kommen,<br />
hängt allerdings auch davon ab, ob und inwieweit sich eine einzelne Person<br />
über jene Schutz gewährenden Instanzen informieren kann, die nicht zum sozialen<br />
Nahraum dieser Person gehören. Und an dieser Stelle kommt der zweite Prädiktor<br />
für Ideologien der Ungleichwertigkeit ins Spiel: die Mediennutzung, hier: die Präferenzen<br />
für die deutschen, privaten Fernsehsender, um sich politisch zu informieren.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
183<br />
Diese beiden Variablen, autoritäre Überzeugungen und Präferenzen für deutsches<br />
Privatfernsehen, wurden als Prädiktoren für die anschließenden Mediatoranalysen<br />
ausgewählt. Um Aspekte der sozialen Identität, als Mediator bzw.<br />
Vermittler, zu operationalisieren, und somit erneut die Kernhypothese der TIF zu<br />
prüfen, nutzten wir das Item „Deutscher/Deutsche sein, ist ein wichtiger Teil, von<br />
dem, was ich bin“ (erhoben nur in Welle 2). Mit diesem Item sollte die Identi kation<br />
mit den Deutschen erhoben werden. Außerdem nutzten wir das folgende Item<br />
zur Erfassung der Gewaltbereitschaft gegenüber dem Islam (erhoben nur in Welle<br />
2): „Die Bedrohung der westlichen Welt durch den Islam rechtfertigt, dass sich die<br />
westliche Welt mit Gewalt verteidigt“.<br />
3.3.3 Mediatoranalyse<br />
Gerechnet wurde wiederum mit dem Statistikprogramm SPSS und dem Skript<br />
„PROCESS“ von Andrew Hayes (2013). Die Prädiktor-, Mediator- und Kriteriumsvariablen<br />
wurden zuvor z-transformiert. Die Ergebnisse nden sich in Abbildung<br />
9 und Tabelle 8; auf die möglichen Interpretationen gehen wir weiter unten ein.<br />
Identifikation mit<br />
Deutschland<br />
(Welle 2; Index; z-<br />
Wert)<br />
Autoritäre<br />
Überzeugungen<br />
(Welle 1; z-Wert)<br />
Präferenz für<br />
deutsches<br />
Privatfernsehen<br />
.28** .17*<br />
.53*** (.59***)<br />
.14 n.s.<br />
.19* (.22*)<br />
Fundamentalistische<br />
Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit<br />
(Welle 2; z-Wert)<br />
Abbildung 9<br />
Mediation der Beziehung zwischen autoritären Überzeugungen und Präferenz<br />
für deutsches Privatfernsehen und fundamentalistischer Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit über Identikation mit Deutschland.
184 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Tabelle 8<br />
Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse<br />
Mediatoren Z p BootLLCI BootULCI<br />
Autoritäre Überzeugungen 1.5960 .0500 .0101 .1148<br />
Präferenz für deutsches<br />
Privatfernsehen<br />
1.0458 .0504 .0093 .1878<br />
Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = Signi kanzniveau, BootLLCI =<br />
untere Grenze des Kon denzintervalls (lower level con dence interval);<br />
BootULCI = obere Grenze des Kondenzintervalls (upper level condence<br />
interval)<br />
In einer weiteren Mediatoranalyse prüften wir, ob sich auch in diesem Fall der<br />
indirekte Pfad von der Identi kation mit Deutschland über die Ideologie der Ungleichwertigkeit<br />
weiter bis zur Gewaltbereitschaft verfolgen lässt?<br />
In dieser Analyse (mit z-transformierten Werten aus der 2. Erhebungswelle)<br />
fungierte die Identikation mit Deutschland als Prädiktor (UV) und die Ideologie<br />
der Ungleichwertigkeit als Mediator, um die Gewaltbereitschaft gegenüber dem<br />
Islam vorauszusagen (AV; Kriterium; siehe die Abbildung 10 und Tabelle 9).<br />
Identifikation mit<br />
Deutschland<br />
(z-Wert)<br />
.13 n.s. (.24 *)<br />
Gewaltbereitschaft<br />
gegen dem Islam<br />
(z-Wert)<br />
.19*<br />
.53**<br />
Fundamentalistische<br />
Ideologie (der<br />
Ungleichwertigkeit,<br />
z-Wert)<br />
Abbildung 10 Vollständige Mediation der Beziehung zwischen Identi kation mit<br />
Deutschland und Gewaltbereitschaft gegen den Islam über fundamentalistische<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
185<br />
Tabelle 9<br />
Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse<br />
Mediatorvariable Z p BootLLCI BootULCI<br />
Ideologie der Ungleichwertigkeit 2.1636 .0305 .0210 .2058<br />
Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = Signi kanzniveau, BootLLCI =<br />
untere Grenze des Kon denzintervalls (lower level con dence interval);<br />
BootULCI = obere Grenze des Kondenzintervalls (upper level condence<br />
interval)<br />
Interpretation:<br />
Auch in dieser dritten Sekundäranalyse nden wir empirische Hinweise, die die<br />
Kernhypothese der Theorie eines identitätsstiftenden politischen Fundamentalismus<br />
(TIF) zu stützen vermögen. Nicht nur die Identi kation mit rechten Cliquen<br />
oder mit rechten Subkulturen bzw. Milieus, auch die starke Identi kation mit<br />
Deutschland (im Sinne von „Deutschsein ist ein wichtiger Teil von mir“) spiegelt<br />
zum einen wichtige Aspekte der sozialen Identität wider und wirkt zum anderen<br />
als Mediator zwischen den potentiellen Prädiktoren (hier den autoritären Überzeugungen<br />
und spezischen Fernsehpräferenzen) und der fundamentalistischen Ideologie<br />
der Ungleichwertigkeit. Außerdem lässt sich auch in dieser Sekundäranalyse<br />
ein Pfad von der Identi kation mit Deutschland mediiert über die Ideologie der<br />
Ungleichwertigkeit zur Gewaltbereitschaft gegenüber dem Islam nachweisen.<br />
Dass die nationale Identität (als Deutsche bzw. Deutscher) Teil der sozialen<br />
Identität sein kann, ist in verschiedenen Studien ausgiebig empirisch überprüft<br />
worden (z. B. Esses, Wagner, Wolf, Preiser & Wilbur, 2006; Koschate, Hofmann<br />
& Schmitt, 2012). Der Ein uss der nationalen Identität auf Vorurteile gegenüber<br />
Muslimen (z. B. Tausch, Spears & Christ, 2009) lässt sich ebenso nachweisen wie<br />
der positive Zusammenhang zwischen starker Identikation mit der deutschen Nation<br />
(im Sinne eines Nationalismus) und fremdenfeindlichen Vorurteilen (Schnöckel,<br />
Dollase & Rutz, 1999). Auch im Thüringen-Monitor aus dem Jahre 2013<br />
(Best et al., 2013, S. 105) erwies sich der Ethnozentrismus, also die Abwertung des<br />
„Fremden“ bei gleichzeitiger Überhöhung der eigenen nationalen und ethnischen<br />
Identität, als ein wichtiger Faktor für rechtsextreme Orientierungen.<br />
Allerdings ist in diesem Kontext auch der häug betonte Unterschied zwischen<br />
nationalistischer und patriotischer Identi kation mit der eigenen Nation nicht zu<br />
vernachlässigen (vgl. z. B. Blank & Schmidt , 2003; Heyder & Schmidt , 2002). So<br />
konnten Heyder und Schmidt (2002) in einer Erhebung im Rahmen des Projekts<br />
„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ empirisch belegen, dass durch nationalistische<br />
Identi zierungen auch antisemitische, fremdenfeindliche und islamfeindliche<br />
Einstellungen verstärkt werden. Patriotische Einstellungen hingegen<br />
reduzieren in dieser Studie die Abwertung von „Fremdgruppen“. Mummendey,
186 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke<br />
Klink und Brown (2001) sehen im Patriotismus und im Nationalismus ebenfalls<br />
unterschiedliche Formen der kollektiven Selbstbewertung. Soziale Vergleiche mit<br />
anderen Nationen seien eng mit Nationalismus oder „blindem“ Patriotismus verknüpft.<br />
Temporale Vergleiche der eigenen Nation zu unterschiedlichen Zeitpunkten<br />
hingegen würden eher dem Muster eines „konstruktiven“ Patriotismus entsprechen.<br />
In Kommentaren zur Arbeit von Mummendey et al. (2001) bezweifeln z. B.<br />
Hopkins (2001) und Condor (2001) allerdings die Angemessenheit der Unterscheidung<br />
von Patriotismus und Nationalismus auf der Basis der untersuchten sozialen<br />
und temporalen Vergleichsprozesse. In Anlehnung an Billig (1995) können sowohl<br />
der Patriotismus als auch der Nationalismus als ideologisch aufgeladene soziale<br />
Konstruktionen betrachtet werden. Manchmal fördere – so Billig (1995) – eine<br />
solche Konstruktion die soziale Diskriminierung, manchmal verhindere sie derartige<br />
Ablehnungen aber auch, je nachdem wie und zu welchem Zwecke sie von<br />
politischen Eliten eingesetzt werden. Identikation mit der Nation schließe sowohl<br />
temporale wie soziale (also Intergruppen-)Vergleiche ein und es sei fraglich, ob<br />
eine Trennung zwischen beiden Vergleichsprozessen ökologisch valide sei, das<br />
heißt, außerhalb eines sozialpsychologischen Experiments überhaupt anzutreffen<br />
ist. Letztlich habe jedes Verweisen auf eine nationale Zugehörigkeit das Potential,<br />
als nationalistisch oder patriotisch interpretiert zu werden.<br />
Vielleicht, so ließe sich auf der Basis unserer Befunde vermuten, hängen Vorurteile<br />
gegenüber Fremden (also Ideologien der Ungleichwertigkeit) nicht primär<br />
von der (nationalistischen versus patriotischen) Identi kation mit der eigenen<br />
(deutschen) Nation ab, sondern von anderen Prädiktoren (z. B. autoritären Überzeugungen)<br />
und deren Mediation bzw. Vermittlung durch die nationale Identität.<br />
4 Schlussfolgerungen<br />
Im Sinne von Thomas Meyer (2011, S. 63ff.) betrachten wir den <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
als eine Form des Ethno-Fundamentalismus . <strong>Rechtsextremismus</strong> ist eine<br />
militante Ideologie, die zur Grundlage von negativen Gefühlen und Gewaltbereitschaft<br />
gegenüber all jenen werden kann, die diese Ideologie nicht befürworten<br />
bzw. ablehnen.<br />
Die Prädiktoren, also die Aussagen über die Verursachung und Entwicklung,<br />
des <strong>Rechtsextremismus</strong> sind komplex und vielfältig. Sie nden sich auf den mikro-,<br />
meso- und makro-sozialen Strukturebenen; z. B. als Beschaffenheiten autoritärer<br />
Überzeugungen oder als Ein uss der medialen Berichterstattung. Entscheidend<br />
für die Wirkung dieser und anderer Prädiktoren ist aber – nach unserer Auffassung<br />
– die funktionale Passung mit der Suche, Fundierung und Stabilisierung der
Ideologien der Ungleichwertigkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> …<br />
187<br />
sozialen Identität: Sofern die entsprechenden Prädiktoren nützlich sind, um die<br />
soziale Identität der betreffenden Akteure zu stützen, haben diese Prädiktoren vermittelt<br />
über die entsprechenden Aspekte der sozialen Identität (bzw. der sozialen<br />
Identikation mit relevanten Bezugsgruppen) auch einen fördernden Einuss auf<br />
die Akzeptanz der fundamentalistischen Ideologie.<br />
Das heißt, die in den diversen Studien nachgewiesenen Prädiktoren für <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
wirken. Ihre Wirkung wird aber nur verständlich, wenn sie im Kontext<br />
der besagten funktionalen Passung mit den Bestrebungen nach positiver sozialer<br />
Identität interpretiert werden. Mit der Kernhypothese der TIF haben wir diese<br />
funktionale Passung zu beschreiben versucht: Die soziale Identität als Identikation<br />
mit relevanten Bezugsgruppen fungiert als Mediator zwischen den Kontextbedingungen<br />
und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit und<br />
den Gewaltpotentialen. 21<br />
Die diesen Analysen zugrundeliegenden Studien wurden allerdings nicht vor<br />
dem Hintergrund der TIF konzipiert. Insofern haben unsere Illustrationen auch<br />
ihre Grenzen, die sich u. a. in den Operationalisierungen der verschiedenen Prädiktoren<br />
und Mediatoren zeigen. Hier ist zukünftige Forschung gefragt.<br />
21 Inwieweit mit der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit und den Gewaltpotentialen<br />
auch spezifische (negative) Intergruppen-Emotionen verknüpft sind,<br />
wie in der TIF angenommen, konnten wir auf der Grundlage der vorliegenden Sekundäranalysen<br />
nicht prüfen.
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Kapitel 3<br />
„Nationalsozialistischer Untergrund“<br />
„Man hat zu häug den Eindruck, als falle Rassismus und Fremdenfeindlichkeit<br />
durch Rechtsextremisten den Mitarbeitern mancher Sicherheitsorgane gar nicht<br />
weiter auf, als sei das normal und werde durch unsere Verfassung nicht ausgeschlossen.<br />
Das ist unmöglich und muss geändert werden.“<br />
(Herta Däubler-Gmelin, 2013).
Nicht vom Himmel gefallen<br />
Die Thüringer Neonaziszene und der NSU<br />
Stefan Heerdegen<br />
1 Einleitung<br />
Die Mobile Beratung in Thüringen (MOBIT) berät seit dem Jahr 2001 engagierte<br />
Einzelpersonen, Initiativen und Bündnisse, politische Mandatsträger, Vereine und<br />
Verbände, aber auch staatliche Institutionen im möglichst widerständigen Umgang<br />
mit extrem rechten Erscheinungsformen in Thüringen. Für die Beratungsnehmenden<br />
besteht der Mehrwert einer Beratung oft auch in der hohen Informiertheit der<br />
Berater/innen. In Anbetracht der Differenziertheit und Schnelllebigkeit der extrem<br />
rechten Szene hat Recherche für die Berater/innen einen hohen Stellenwert. Über<br />
die Jahre hat sich so eine Fachexpertise in der Bewertung der Thüringer extrem<br />
rechten bzw. neonazistischen Szene herausgebildet, die primär den Beratungsnehmenden<br />
zur Verfügung gestellt wird. Mit dem vorliegenden Beitrag soll deutlich<br />
werden, dass weder die Täter noch die Taten des sogenannten „Nationalsozialistischen<br />
Untergrunds“ (NSU), soweit diese bisher bekannt sind, eine „neue Qualität“<br />
darstellen. Sie sind zwar individuell eigen, jedoch auch typische, originäre<br />
Beispiele aus der Mitte der thüringischen extrem rechten Szene der 1990er Jahre.<br />
In den Tagen nach dem 04. November 2011 wurden sukzessive neun Morde<br />
an Migrant/innen, an einer Polizistin, Bombenanschläge und somit die Existenz<br />
einer über dreizehn Jahre unentdeckt agierenden Neonazigruppe, deren Eigenbezeichnung<br />
„Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) lautete, bekannt. Vielen<br />
Journalist/innen fehlte eine Idee eines adäquaten Umgangs; die Existenz neonazistischen<br />
Terrors war schlicht nicht vorstellbar. Manche fragten, ob es sich überhaupt<br />
um „Terror“ handelte, fehlten doch im Vergleich zu eingeübten Vorstellungen aus<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
196 Stefan Heerdegen<br />
Zeiten der Roten-Armee-Fraktion öffentliche Bekennerschreiben. Hier zeigt sich<br />
eine bräsige Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich nicht vorzustellen<br />
vermag, dass die Taten des NSU durchaus ihre öffentliche Wirkung innerhalb<br />
der Migrant/innen-Communities 1 hatten. Dabei handelt es sich bei den Taten des<br />
NSU im Grunde um die konsequente Umsetzung ihrer extrem rechten Ideologie<br />
(Gensing, 2012, S. 21ff). Andere wiederum wollten gern bestätigt bekommen, dass<br />
es sich bei den ans Licht gekommenen Taten des NSU um eine neue, bisher nicht<br />
gekannte Qualität extrem rechter Gewalt handelte, die weder die Öffentlichkeit,<br />
noch staatliche Behörden so hätten ahnen können. Die NSU-Morde und -Anschläge<br />
weisen tatsächlich ihre eigenen Spezika auf. Die Mobile Beratung in Thüringen<br />
bemüht sich seit jenen Tagen in vielen Interviews deutlich zu machen, dass, bei<br />
Kenntnis extrem rechter Ideologie, diese Taten tatsächlich nicht überraschen durften.<br />
Der vorliegende Beitrag setzt die Taten des NSU mit der extrem rechten Szene<br />
insbesondere in Thüringen in Beziehung. Vor dem Hintergrund von ideologischer<br />
Radikalität und praktischer Militanz behalten die Taten des NSU zwar ihre eigene<br />
erschreckende Kontur, heben sich jedoch weitaus weniger vom gesellschaftlichen<br />
Bild des aktuellen Neonazismus ab als oftmals angenommen. Sowenig mit der<br />
Aufarbeitung des NSU-Komplexes Befasste an eine autonom arbeitende, exklusive<br />
Zelle ohne Unterstützungsnetzwerk glauben (vgl. König & Haushold, 2014;<br />
Oppermann, Hartmann & Högl, 2012), sowenig kann die terroristische Struktur<br />
NSU ohne Beziehung zur neonazistischen Szene in Thüringen, im gesamten Bundesgebiet<br />
und zur internationalen Neonaziszene betrachtet werden.<br />
2 Demokratiefeindlich, radikal und militant –<br />
die Neonaziszene in Thüringen<br />
Während die Täter/innen des NSU im Geheimen mutmaßlich ihre Anschläge und<br />
Morde begingen, trat die Thüringer Neonaziszene öffentlich demokratiefeindlich<br />
und menschenverachtend in Erscheinung.<br />
Durch die 2000er Jahre hindurch fand in Thüringen jährlich eine Vielzahl von<br />
Demonstrationen und Kundgebungen statt, bei denen auf den Transparenten der<br />
unterschiedlichen beteiligten Gruppen, aber auch in den Redebeiträgen, immer<br />
wieder die grundsätzliche Gegnerschaft zum „System“ bekundet wurde (vgl. Abbildung<br />
1). Hierbei bildeten in Parteien organisierte und parteiunabhängig agie-<br />
1 Beispielsweise berichten Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße 2004,<br />
dass sie gegenüber den polizeilichen Ermittlern aussagten, dass sie die Täter/innen in<br />
Neonazi-Kreisen vermuten (Kölnische Rundschau, 2014).
Nicht vom Himmel gefallen<br />
197<br />
rende Neonazist/innen gemeinsam die extrem rechte bzw. neonazistische Szene in<br />
Thüringen. Eine genaue Trennung in parteiunabhängiges und in Parteienspektrum<br />
ist nur vereinzelt möglich. 2<br />
Abbildung 1 Neonazis bei einer Kundgebung am 16.04.2005 auf dem Erfurter Anger.<br />
Anmerkungen: Auf dem Transparent ist zu lesen: „Das System ist der Fehler !!! Hartz IV<br />
ein neuer Beweis ! Nationaler Widerstand Eisenach“. (Bildrechte: MOBIT)<br />
Dabei ist die Ablehnung des „Systems“ nicht auf das politische System Demokratie<br />
beschränkt. Nach extrem rechter Denkart ist eine Revision gesellschaftlicher,<br />
humanistischer Werte, die sich seit der Französischen Revolution etablierten,<br />
notwendig. Anschaulich wird das beispielsweise bei der Ablehnung des<br />
2 Beispiele für Personalunionen sind Ralf Wohlleben (Aktivist der Kameradschaft „Nationaler<br />
Widerstand Jena“ und stellvertretender NPD-Landesvorsitzender 2002-2008),<br />
Patrick Wieschke (seit Ende der 1990er Jahre Führungsfigur der westthüringischen<br />
Kameradschaftsszene und seit Anfang der 2000er Jahre in verschiedenen NPD-Ämtern,<br />
seit 2012 NPD-Landesvorsitzender) und Thorsten Heise (nach dem Verbot der<br />
Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) einer der bundesweit führenden Initiatoren<br />
einer Organisierung in Kameradschaften, führte selbst die Kameradschaft Northeim<br />
und die Kameradschaft Eichsfeld; auch er ist seit 2004 in diversen Funktionen<br />
für die NPD aktiv).
198 Stefan Heerdegen<br />
Gleichheitsgrundsatzes des Artikels 3 des Grundgesetzes. Über 200 Jahre nach<br />
der Französischen Revolution mit ihrem Leitspruch „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“<br />
ist beispielsweise der Grundsatz der Gleichwertigkeit der Menschen zum<br />
anerkannten Allgemeingut geworden. Es gehört heute zum Standard demokratischer<br />
Verfassungen und Gesetzgebungen, die Menschenrechte, hier die Gleichheit<br />
an Würde und Rechten, durchzusetzen. Die Neonaziszene geht hingegen von einer<br />
Ungleichwertigkeit von Menschen aus (Heitmeyer, 1993, S. 13). Dieses rassistische<br />
Wertigkeitsgefälle in der Weltsicht legitimiert Gewalttaten gegen Migrant/innen,<br />
politisch Andersdenkende, Behinderte, Homosexuelle und weitere abgelehnte Bevölkerungsgruppen.<br />
3 Übergriffe gegen sie erscheinen als weniger schwerwiegend<br />
als gegen Angehörige der eigenen Gruppe. Gewalt gilt der neonazistischen Szene<br />
generell als legitimes Mittel des politischen Kampfes (Röpke, 2004, S.40ff). Auch<br />
hier zeigt sich die Ablehnung gesellschaftlicher, demokratischer Konventionen, in<br />
diesem Fall des gewaltlosen Umgangs untereinander.<br />
In Schriften, Aufdrucken auf Textilien, Reden oder in Songtexten nden sich<br />
unzählige Belege für eine Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung von Zielen;<br />
Militanz und rechter Terrorismus werden sogar glori ziert. Dies beginnt bei der<br />
Verherrlichung des Vernichtungskriegs von Wehrmacht und Waffen-SS und reichte<br />
zum Zeitpunkt der Selbstenttarnung des NSU bis zu öffentlichen Sympathiebekundungen<br />
für die englische Terrorgruppe „Combat18“ oder den norwegischen<br />
Attentäter Anders Behring Breivik.<br />
2.1 Terroristische Traditionslinien<br />
In den 1990er Jahren, der Zeit, in der sich der „Thüringer Heimatschutz“ (THS)<br />
als Kameradschaftsnetzwerk bildete, und in der viele bis heute in die extrem rechte<br />
Szene Eingebundene neonazistisch sozialisiert worden waren, konnten sich auch<br />
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, ebenso wie jede/r andere Szenegänger/in an der<br />
langen und vielfältigen Tradition rechten Terrors orientieren. Es erscheint müßig,<br />
ohne eine Aussage der Überlebenden des Trios, Beate Zschäpe, die Bezugspunkte<br />
zu nden, die bei der Bildung der NSU-Terrorzelle und für deren Vorgehensweise<br />
tatsächlich eine Rolle spielten. Auf allgemeinere Aussagen kann aber der folgende<br />
Abschnitt hinweisen.<br />
3 In unzähligen RechtsRock-Songs werden Mord- und Pogromstimmungen gegenüber<br />
diversen Gruppen besungen. Drastische Beispiele sind: Landser mit „Schlagt sie tot“,<br />
Gigi und die braunen Stadtmusikanten mit „Anne Wand“ oder SKD mit „Hängt sie<br />
auf!“.
Nicht vom Himmel gefallen<br />
199<br />
Bereits seit dem Ende des Ersten Weltkrieges existiert für die extreme Rechte<br />
eine Tradition der Militanz bestehend aus Straßenschlachten, Freikorps und politischen<br />
Morden. Auch im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland<br />
gehörte Terror als Option politischen Handelns für die neonazistische Szene zum<br />
Repertoire. Zu nennen sind: die „Wehrsportgruppe Hengst“ (1968-1971), die „Aktion<br />
Widerstand“ (1970-1971), die „Volkssozialistische Bewegung Deutschlands“<br />
(1971-1982), die „Wehrsportgruppe Hoffmann“ (1973-1980) und die „Deutschen<br />
Aktionsgruppen“ (1980). Die Eigenbezeichnung „Deutsche Aktionsgruppen“<br />
weist auf den Gedanken einer dezentralen Zellenstruktur statt großer, hierarchischer<br />
Zusammenschlüsse hin. Obwohl tatsächlich nur eine Zelle bestehend aus<br />
drei Personen Anschläge, teilweise mit Todesfolge, beging, bezifferte 1982 das<br />
Bundesinnenministerium die Anzahl der Mitglieder auf 16 (Maegerle, 2014). Generell<br />
war der Gedanke einer dezentralen Zellen-Struktur, abgekoppelt von der<br />
extrem rechten Szene, hier nicht konsequent umgesetzt worden (vgl. Pfahl-Traughber,<br />
2012).<br />
Auch in der Szene kursierende Texte belegen, dass die Vorgehensweise des<br />
NSU-Trios keineswegs exklusiv ist. Die bereits 1978 veröffentlichten „Turner Diaries“<br />
von William L. Pierce (vgl. Sanders, Stützel & Tymanova, 2014) beschreiben<br />
einen antisemitisch und rassistisch motivierten Überlebenskampf der „weißen<br />
Rasse“. Wie Gideon Botsch (2012, S.109) schreibt, rezipierten deutsche Neonazis<br />
Mitte der 1990er Jahre „angelsächsische Konzepte einer ‚leaderless resistance‘,<br />
eines ‚führerlosen Widerstands‘“, dessen Gedanke durch die „Turner Diaries“ in<br />
Form von einzelnen Einheiten in einem Netzwerk in die Neonazi-Szene eingeführt<br />
war. Der US-amerikanische Rassist Louis Beam veröffentlichte 1992 einen<br />
bereits 1983 geschriebenen Artikel in seiner Zeitschrift „The Seditionist“, in dem<br />
er ein „cell system“, ein System aus einzelnen Zellen als einer hierarchischen Organisation<br />
überlegen darstellt (vgl. Beam, 1983). Konzept und Name waren also<br />
spätestens seit Beginn der 1990er Jahre veröffentlicht und hatten in der extremen<br />
Rechten Nordamerikas einen großen Einuss (Grumke, 2001, S. 90f).<br />
2.2 Blood & Honour und der Terrorismus<br />
In europäischen Kreisen des international agierenden Neonazi-Musiknetzwerks<br />
Blood & Honour (B&H) verbreitet der norwegische Neonazi Erik Blücher unter<br />
dem Pseudonym Max Hammer (Thomas, 2000) Überlegungen zu rechtem Terrorismus.<br />
In „The way forward“ propagiert er den terroristischen Kampf und Combat18<br />
als militanten Arm von Blood & Honour (apabiz, 2000; Hammer, 2000).<br />
Im „Field Manual“ aus dem Jahr 2002 nutzt Blücher auch den Begriff „leader-
200 Stefan Heerdegen<br />
less resistance“ (Hammer, 2002). Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre<br />
diskutierte die europäische Neonazi- bzw. Blood & Honour-Szene militante<br />
Strategien (Sanders et al., 2014; Röpke, 2012, S. 51; Gensing, 2012, S.89). Nicht<br />
nachgewiesen werden kann, ob und welche Texte Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt<br />
und Beate Zschäpe selbst gelesen haben. Andrea Röpke (2012, S. 52) geht jedoch<br />
von einem „intensiven Studium konspirativer Schriften (des Trios, Anmerkung<br />
des Verfassers)“ aus. In Anbetracht der weitreichenden Vernetzung und zentralen<br />
Einbindung der drei in den Thüringer Heimatschutz erscheint es schwer vorstellbar,<br />
dass sie den damaligen Strategiediskurs um Militanz, Terrorismus und entsprechende<br />
Konzepte nicht wenigstens mittelbar erlebt hatten. Dies gilt auch für<br />
andere damals schon in Thüringen aktive Neonazis, wie beispielsweise den heutigen<br />
NPD-Landeschef Patrick Wieschke, Ralf Wohlleben und André Kapke. Alle<br />
drei Neonazis prägten und prägen mit ihren legalen Aktivitäten die thüringische<br />
extrem rechte Szene.<br />
2.3 Neonazistische Gewalt und Militanz in Thüringen<br />
Übergriffe auf Migrant/innen bzw. Menschen, die visuell nicht in die Vorstellung<br />
der Neonazis vom Deutschen passen, sind in Thüringen belegt (ezra – Mobile Beratung<br />
für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, siehe auch den<br />
Text von Geschke & Quent in diesem Band). 4 Damit ist die Schwelle von verbaler<br />
Gewaltbefürwortung und -verherrlichung zur tatsächlichen Tat überschritten. Das<br />
Spektrum reicht von Bedrohungen über Körperverletzungen bis hin zum Mord.<br />
Die Wanderausstellung „Opfer rechter Gewalt in Deutschland seit 1990“ weist<br />
in ihrer fünften Fassung derzeit 169 Morde, sechs davon in Thüringen, aus. Bei<br />
einer neuen Fassung der Ausstellung dürfte ein weiterer Mord, der 2012 verübt<br />
wurde, als siebte, belegte Tat in Thüringen aufgenommen werden (ezra – Mobile<br />
Beratung fü r Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, 2013). Es<br />
lässt sich somit konstatieren, dass es auch außerhalb der NSU-Zusammenhänge<br />
tödliche Gewalt in Thüringen gibt. Ein deutlicher Unterschied der Taten des NSU<br />
im Vergleich zu den anderen Tötungsdelikten besteht jedoch in deren akribischer<br />
Planung. Hier eskalierte nicht spontan die Gewalt. Die Morde des NSU-Trios wurden<br />
monate- bzw. jahrelang vorbereitet, dann verdeckt und kaltblütig ausgeführt.<br />
4 Aufgrund des mehrfachen Trägerwechsels bei Thüringer Beratungsprojekten für Betroffene<br />
rechter Gewalt sind die Übergriffszahlen für manche Jahre nur begrenzt aussagekräftig.
Nicht vom Himmel gefallen<br />
201<br />
2.4 Sprengstoff- und Waffenfunde<br />
Durch die 2000er Jahre hindurch ist ebenfalls ein Interesse der neonazistischen<br />
Szene in Thüringen an Waffen und Sprengstoff feststellbar. Bereits im Jahr 2000<br />
verübten Mitglieder der „Kameradschaft Eisenach“ einen Sprengstoffanschlag auf<br />
ein Imbissgeschäft eines türkischen Staatsangehörigen (Thüringer Landtag, 2001).<br />
Zusammenhänge zum NSU sind bei dieser Tat zwar nicht erkennbar, jedoch lässt<br />
diese Tat den Schluss zu, dass Anschläge auf von Migrant/innen geführte Geschäfte<br />
kein exklusives Betätigungsfeld des NSU-Trios waren. Weitere Sprengstofffunde<br />
bzw. Funde von „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“<br />
gab es nach Auskunft der Landesregierung im Jahr 1997 in Stadtroda, 2003 in<br />
Ronneburg, 2008 in Wutha-Farnroda und 2011 in Berga (Thüringer Landtag,<br />
2012). Neben Sprengstoff- und Bombenfunden sind auch wiederholt Schusswaffen<br />
bei Angehörigen der extrem rechten Szene festgestellt worden. Beim damaligen<br />
NPD-Bundesvorstandsmitglied Thorsten Heise (aktuell stellvertretender NPD-<br />
Landesvorsitzender) aus Fretterode im Eichsfeld wurde bei einer Hausdurchsuchung<br />
des Bundeskriminalamtes im Jahr 2007 beispielsweise eine Pistole, eine<br />
zerlegte Maschinenpistole sowie ein Maschinengewehr gefunden. Lediglich bei<br />
dem Maschinengewehr aus der Zeit des zweiten Weltkriegs wären „kleinere Veränderungen“<br />
(Spiegel Online, 2012) nötig gewesen, um es wieder funktionsfähig<br />
zu machen. Die anderen beiden Waffen waren also funktionsfähig bzw. die Waffenteile<br />
vollständig vorhanden. Festzuhalten bleibt, dass Waffenfunde in der thüringischen<br />
Neonaziszene sich nicht auf Schlagwaffen und Messer beschränken.<br />
Die gefundenen Waffen sind nicht selten Schusswaffen, deren Besitz in Deutschland<br />
keiner Privatperson erlaubt ist, sondern die vielmehr unter das Kriegswaffenkontrollgesetz<br />
fallen.<br />
3 Thüringer Neonaziszene damals und heute<br />
3.1 Der lange Schatten des „Thüringer Heimatschutzes“<br />
Mitte der 1990er Jahre bildete sich die Organisationsstruktur „Anti-Antifa-Ostthüringen“<br />
heraus, die sich mit zunehmender Ausbreitung „Thüringer Heimatschutz“<br />
(THS) nannte (Deutscher Bundestag, 2013). Nach Aussagen des Zeugen im Parlamentarischen<br />
Untersuchungsausschuss Tino Brandt (ehemalige Führungsgur des<br />
THS) gehörte André Kapke als damaliger Kopf der Jenaer Kameradschaft ebenfalls<br />
zum Führungszirkel des THS. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wiederum<br />
werden als Kapkes Stellvertreter, Zschäpe als Mitglied charakterisiert (Deutscher
202 Stefan Heerdegen<br />
Bundestag, 2013). In Abstufungen gehören sie alle zum Kern des zwischenzeitlich<br />
auf ca. 120 Neonazist/innen angewachsenen Kameradschaftsnetzwerks THS.<br />
Brandt sagte gegenüber dem Bundeskriminalamt (BKA) 2012 aus, dass der THS<br />
eine Vernetzungsstruktur für fast ganz Thüringen darstellte (ausgenommen Mühlhausen<br />
und Nordhausen) 5 . Der „Thüringer Heimatschutz“ hat bis heute seine Auflösung<br />
nicht erklärt, seine Kader traten Anfang der 2000er Jahre zunehmend als<br />
NPD-Funktionäre auf. Daher kann davon ausgegangen werden, dass diejenigen<br />
Neonazis, die in dieser Zeit bereits politisch aktiv waren, mit der Organisation, den<br />
Protagonisten, aber auch den damaligen politischen, wie ideologischen Positionen<br />
in Berührung gekommen sind. Ein ussreiche Führungspersonen, heute zumeist<br />
mit NPD-Zugehörigkeit, entstammen in Thüringen der freien Kameradschaftsszene<br />
und somit zumindest mittelbar dem Thüringer Heimatschutz. Das NSU-Mörder-Trio<br />
und die öffentlich und legal agierenden Personen der thüringischen extrem<br />
rechten Szene haben dieselbe neonazistische Sozialisation der 1990er Jahre,<br />
gehörten denselben Strukturen an.<br />
Die extrem rechte Szene drückt bis heute gelegentlich ihre Verbundenheit zum<br />
„Thüringer Heimatschutz“ aus. So wurde das bekannte Banner des THS beispielsweise<br />
2006 anlässlich einer Rudolf-Heß-Gedenkdemonstration mitgeführt. Im<br />
Jahr 2012, beim 10. sogenannten „Rock für Deutschland“ (RfD), einem seit 2003<br />
in Gera statt ndenden RechtsRock-Open-Air wurde sogar ein neu hergestelltes<br />
Transparent als Bühnenhintergrund verwendet. Auch beim 12. sogenannten „Thüringentag<br />
der nationalen Jugend“ (TdnJ) im Jahr 2013 in Kahla wurde es gezeigt<br />
(Abbildung 2).<br />
5 Brandt berichtet gegenüber dem BKA von den Mittwochsstammtischen im Gasthaus<br />
„Zum Goldenen Löwen“ in Rudolstadt-Schwarza, zu dem nach und nach bis zu 100<br />
Neonazist/innen zusammen kamen.
Nicht vom Himmel gefallen<br />
203<br />
Abbildung 2 Auf dem 12. sogenannten „Thüringentag der nationalen Jugend“ in Kahla<br />
im Jahr 2013 drückt die extrem rechte Szene ihre Verbundenheit mit dem<br />
Thüringer Heimatschutz aus. (Bildrechte: MOBIT)<br />
Die Beispiele aus Gera und Kahla lassen den Schluss zu, dass nach dem öffentlichen<br />
Bekanntwerden des NSU durch das Zeigen dieses in Szenekreisen bekannten<br />
Transparents eine versteckte Verbundenheit zu den NSU-Mitgliedern, die zuvor<br />
auch THS-Mitglieder waren, zum Ausdruck kommt. Für diesen Schluss spricht<br />
auch, dass in Kahla, das zum ehemaligen THS-Kerngebiet gehört, auch mehrere<br />
Konzertbesucher mit „Freiheit-für-Wolle“-T-Shirts anwesend waren. Der wegen<br />
„Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung“ verurteilte Martin Wiese<br />
(Pöhner, 2010) und ein weiterer Redner trugen dieses T-Shirt ebenfalls (siehe<br />
Abbildung 3).
204 Stefan Heerdegen<br />
Abbildung 3 Zur öffentlichen Bekundung der Solidarität mit Ralf „Wolle“ Wohlleben<br />
trugen sowohl Redner als auch Helfer beim Kahlaer „Thüringentag der<br />
nationalen Jugend“ T-Shirts mit der Aufschrift „Freiheit für Wolle“. (Bildrechte:<br />
MOBIT)<br />
Mit „Wolle“ ist Ralf Wohlleben gemeint, der Weggefährte von Zschäpe, Mundlos<br />
und Böhnhardt, der neben André Kapke die zweite Führungs gur in der Kame-
Nicht vom Himmel gefallen<br />
205<br />
radschaft Jena war und nun einer der Mitangeklagten im Münchner NSU-Prozess<br />
ist. Zwischen 2002 und 2010 war Ralf Wohlleben NPD-Mitglied, zeitweise sogar<br />
stellvertretender NPD-Vorsitzender in Thüringen (Gamma Redaktion Leipzig,<br />
2012, S. 85). Wohlleben war 2002 beim ersten „Thüringentag der nationalen Jugend“<br />
Versammlungsleiter und blieb dem TdnJ auch in den Folgejahren als Redner<br />
oder Mitorganisator verbunden. Wohlleben gehörte gemeinsam mit André Kapke<br />
und Patrick Wieschke ebenfalls zum Organisationskreis des ersten sogenannten<br />
„Fests der Völker“ 2005 in Jena (Röpke, 2005; Gensing, 2011). Dieses Rechts-<br />
Rock-Event hatte gegenüber dem bereits erwähnten TdnJ und dem Geraer RfD<br />
bei der Bandauswahl und den Rednern einen deutlichen Bezug zum verbotenen<br />
Blood & Honour-Netzwerk (Röpke, 2005). In der Person Ralf Wohlleben kumuliert<br />
der Facettenreichtum der Thüringer extrem rechten Szene. Er personi ziert<br />
ihre Charakteristika, wie die unscharfen Grenzen zwischen NPD und Kameradschaftsszene,<br />
die Sozialisierung im „Thüringer Heimatschutz“, die mittlerweile<br />
deutschlandweit ausgeprägtesten Fähigkeiten zur Organisation von neonazistischen<br />
Massenveranstaltungen und eben auch Ambitionen zu bzw. Verwicklungen<br />
in militante und rechtsterroristischen Aktionen.<br />
3.2 Die Bedeutung von Blood & Honour in Thüringen<br />
Auf eine vollständige Darstellung des Blood & Honour-Netzwerkes, seine Aktivitäten,<br />
Protagonisten etc. wird hier verzichtet. Da dieses Neonazi-Netzwerk jedoch<br />
einerseits beim Abtauchen des Jenaer Nazi-Trios eine entscheidende Rolle spielte<br />
und andererseits auch ein zentraler Bestandteil der Geschichte der Thüringer extrem<br />
rechten Szene darstellt, sollen dennoch einige Informationen einießen.<br />
Thüringen hatte seit dem Jahr 1997 bis zum Verbot des Blood & Honour-Netzwerkes<br />
im Jahr 2000 ebenso wie Sachsen eine aktive eigene Sektion. Der Sektionsleiter<br />
Thüringens Marcel Degner aus Gera fungierte auch als Kassenwart<br />
der Blood & Honour-Division Deutschland (Haskala Jugend- und Wahlkreisbüro<br />
Katharina König (MdL), 2010; Schäfer, Wache & Meiborg, 2012, S. 35f). Auch<br />
die Jugendorganisation der Blood & Honour-Division Deutschland „White Youth“<br />
wurde in Gera gegründet (Haskala, 2010). Bereits Mitte der 1990er Jahre bewegte<br />
sich Uwe Mundlos in der Sächsischen Neonaziszene und knüpfte Blood & Honour-Kontakte<br />
(Wellsow, 2012, S. 32f). Uwe Mundlos stellte die sächsischen Blood<br />
& Honour-Aktivisten André Kapke und Ralf Wohlleben vor (Schäfer et al., 2012,<br />
S. 35).<br />
Abgesehen davon, dass mit Marcel Degner eine für die bundesdeutsche Struktur<br />
Blood & Honour zentrale Figur aus Thüringen stammte, spielte das internatio-
206 Stefan Heerdegen<br />
nal agierende (Skinhead)-Musik-Netzwerk innerhalb der Thüringer Neonaziszene<br />
eine bedeutende Rolle. Da schon der britische Gründer von Blood & Honour, Ian<br />
Stuart Donaldson in Musik das ideale Mittel sah, um Jugendlichen den Nationalsozialismus<br />
näherzubringen (Langebach & Raabe, 2013, S. 8), verwundert es<br />
nicht, dass auch die thüringische Sektion Konzerte veranstaltete und die Szene mit<br />
Tonträgern versorgte (ebd., S. 8). Auch nach dem Verbot von Blood & Honour in<br />
Deutschland am 12. September 2000 waren seine Strukturen in Thüringen weiter<br />
aktiv. Beispielsweise steuerten thüringische RechtsRock-Bands über die Hälfte der<br />
Beiträge auf dem im Jahr 2003 erschienenen Blood & Honour-Sampler „Trotz<br />
Verbot nicht tot“ bei. Auch kam es am 25. November 2003 und am 07. März 2006<br />
zu Hausdurchsuchungen wegen des illegalen Fortführens von Blood & Honour<br />
in verschiedenen Orten in ganz Thüringen. Die Strategie, über das Medium Musik<br />
für Interessent/innen attraktiv zu sein und Zulauf für die thüringische extrem<br />
rechte Szene zu organisieren, wird in Thüringen weiterhin unter Verzicht auf allzu<br />
deutliche Hinweise auf Blood & Honour betrieben. Die Mobile Beratung in Thüringen<br />
verzeichnet seit 2007 jährlich zwischen 18 und 28 RechtsRock-Konzerte<br />
(MOBIT e.V., 2014). Darunter fallen auch Veranstaltungen im öffentlichen Raum<br />
wie die bereits oben benannten Großveranstaltungen. Sympathiebekundungen für<br />
das verbotene Netzwerk können sich Besucher des Geraer „Rock für Deutschland“<br />
zuweilen nicht verkneifen. Sie erscheinen mit T-Shirts auf denen oberächlich betrachtet<br />
das typische Blood & Honour-Logo gedruckt ist. Erst beim genauen Lesen<br />
merkt man, dass dort „Bart & Homer“ zu lesen ist. Auch ein vom Veranstalter,<br />
dem NPD-Kreisverband Gera, eingesetzter Ordner trug im Jahr 2012 dieses T-<br />
Shirt (siehe Abbildung 4).
Nicht vom Himmel gefallen<br />
207<br />
Abbildung 4 Zwölf Jahre nach dessen Verbot bekundet ein Ordner beim neonazistischen<br />
sogenannten „Rock für Deutschland“ in Gera seine Sympathie für<br />
das international agierende Musik-Netzwerk „Blood & Honour – Division<br />
Deutschland“. (Bildrechte: MOBIT)<br />
4 Fazit<br />
Zusammengefasst lässt sich belegen, dass:<br />
• die Täter/innen des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds gemeinsam<br />
mit wichtigen Szene-Funktionären in der thüringischen, neonazistischen<br />
Kameradschaftsszene der 1990er Jahre, im Thüringer Heimatschutz,<br />
sozialisiert und radikalisiert worden sind,<br />
• Waffen, Sprengstoffe, Wehrsport, Übergriffe und Mordanschläge fester Bestandteil<br />
des extrem rechten Aktionsrepertoires sind,<br />
• extrem rechte Ideologie in ihrer Konsequenz eine militante, terroristische und<br />
eliminatorische Komponente aufweist,<br />
• Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt direkte Verbindungen zu Blood & Honour-<br />
Strukturen hatten,<br />
• in Strategiepapieren bzw. -diskussionen von Blood & Honour die Handlungsweise<br />
des NSU als „Führerloser Widerstand“ vorskizziert war.
208 Stefan Heerdegen<br />
Das terroristische Vorgehen des NSU kann bei eingehender Betrachtung der<br />
thüringischen extrem rechten Szene nicht überraschen. In der Bereitschaft zum<br />
brutalem Agieren statt zu Argumentieren liegt der Unterschied zwischen der<br />
NSU-Zelle, bestehend aus Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos, und der übrigen neonazistischen<br />
Szene. Der Beitrag hat nachgewiesen, dass dafür notwendige inhaltliche<br />
und strukturelle Voraussetzungen nicht nur zur Zeit des Untertauchens des<br />
Jenaer NSU-Trios vorhanden waren, sondern seither auch unabhängig von Beziehungen<br />
zum Nationalsozialistischen Untergrund in Thüringen weiterhin gegeben<br />
sind. Es existiert ein mörderisches Potential, bestehend aus der Ablehnung von<br />
universeller Menschenwürde und Demokratie, ideologisierten, (potentiellen) Täter/innen,<br />
die physische Gewalt ausüben, dem Verschaffen und vorrätig halten von<br />
Tatwaffen, einem funktionsfähigen Netzwerk und einer nicht erst seit dem NSU<br />
erprobten Strategie.
Nicht vom Himmel gefallen<br />
209<br />
Literatur<br />
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Das neonazistische Netzwerk Blood & Honour ruft öffentlich zum bewaffneten Kampf<br />
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Thüringer Landtag. (2012). Kleine Anfrage der Abgeordneten Renner (DIE LINKE) zu<br />
Sprengstofffunden bei Rechtsextremen in Thüringen. Drucksache 5/4246.<br />
Thüringer Landtag. (2001). Kleine Anfrage des Abgeordneten Dittes (PDS) zu <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und Sprengstofffunden bzw. -anschlägen in Thüringen. Drucksache 3/1383.
Nicht vom Himmel gefallen<br />
211<br />
Wellsow, P. (2012). Unter den Augen des Staates. Der Nationalsozialistische Untergrund.<br />
In Ramelow (Hrsg.) Made in Thüringen? Nazi-Terror und Verfassungsschutz-Skandal.<br />
Hamburg: VSA-Verlag.
Uwe Böhnhardt<br />
Rekonstruktion einer kriminellen Karriere<br />
Heike Würstl<br />
1 Einleitung<br />
Ziel der Abhandlung ist es, den Subjektwerdungsprozess von Uwe Böhnhardt,<br />
einem der Kernmitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), näher<br />
zu beleuchten. Wie der Aufsatztitel erkennen lässt, sind seine rechtsextremistischen<br />
Gewalttaten in eine kriminelle Karriere eingebettet, die sich nicht ausschließlich<br />
auf den Phänomenbereich der politisch motivierten Straftaten beschränkt. Böhnhardt<br />
steigt mit Straftaten, die einen geringen Grad an Sittlichkeitsverletzung implizieren<br />
(Diebstähle, Einbrüche), in die Kriminalität ein. Der Schweregrad an<br />
sittlicher Verwer ichkeit steigert sich zunehmend und gipfelt schließlich in der<br />
Ermordung von mindestens zehn Menschen.<br />
Der Werdegang Böhnhardts fügt sich in die Ergebnisse lebenslauforientierter<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>forschung ein, die eine hohe Af nität zwischen den Lebensläufen<br />
von Rechtsextremisten und Kriminellen, die mit unpolitischen Straftaten<br />
auffallen, herausgefunden haben (vgl. z. B. Kraus & Mathes, 2010, S. 91) und die in<br />
den Daten bestätigt fanden, dass fremdenfeindliche Gewalt zuerst Gewalt und erst<br />
dann Fremdenfeindlichkeit ist (vgl. ebd., S. 92). Willems konstatiert beispielsweise<br />
für das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit: „Die durchgehende öffentliche Thematisierung<br />
der fremdenfeindlichen Jugend-Gewalt als eine rechtsextremistische,<br />
neonazistische oder faschistische Gewalt wird (...) durch die empirischen Daten<br />
keineswegs gedeckt.“ (Willems, 1993, S. 99). Krüger kommt in ihrer biograschen<br />
Untersuchung zu dem Ergebnis, dass „vermeintlich rechte Gewalttaten entweder<br />
gar nicht oder nur teilweise durch rechte Einstellungen motiviert werden“ (Krüger,<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
214 Heike Würstl<br />
2008, S. 16). Vielmehr seien es genutzte Gelegenheiten, um persönliche, soziale<br />
und emotionale Bedürfnisse zu befriedigen.<br />
An Hand der objektiven Lebensdaten von Uwe Böhnhardt werde ich aufzeigen,<br />
welche biogra schen Entscheidungen ihm innerhalb seines sozialen und historischen<br />
Kontexts objektiv, d. h. unabhängig von deren subjektiv-intentionaler Repräsentanz,<br />
zur Verfügung standen, welche er tatsächlich realisierte bzw. nicht realisierte<br />
und welche objektive Motivation hinter seinen Entscheidungen gestanden<br />
haben könnte. 1<br />
Theoretisches Fundament meiner Darlegung bildet das Individuierungskonzept<br />
der strukturalen Soziologie (vgl. Wagner, 2004a, 2004b; Oevermann, 1979, 2009).<br />
Danach werden an das Subjekt zunächst von außen im Rahmen der sozialisatorischen<br />
Interaktion Strukturen herangetragen, die es ihm zunehmend ermöglichen,<br />
sich selbst zu konstituieren und Strukturen selbstständig zu deuten. Im Verlauf<br />
der Subjektwerdung muss es vier ontogenetisch bedingte Ablösungskrisen (Geburt,<br />
Mutter-Kind-Bindung, ödipale Krise und Adoleszenz) meistern. Der Grad,<br />
in dem dies gelingt, setzt Möglichkeiten und Grenzen für zukünftige biograsche<br />
Entscheidungen.<br />
Beginnen werde ich mit der Erörterung der familiären und historischen Kontextbedingungen.<br />
Sie sind nicht im Sinne einer Entscheidungsdetermination zu<br />
verstehen. Vielmehr stecken sie den Entscheidungsraum ab, indem sie Handlungsalternativen<br />
eröffnen oder beschränken.<br />
2 Generation, Herkunftsmilieu, Herkunftsfamilie<br />
Uwe Böhnhardt wird 1977 in Jena (DDR) geboren. Sein Vater, Jahrgang 1944,<br />
ist Ingenieur. Seine Mutter, 1948 geboren, erlernt den Beruf einer Unterstufenlehrerin<br />
und arbeitet im Bereich der Sonderschulpädagogik. Uwe Böhnhardt hat<br />
zwei ältere Geschwister. Jan, der älteste Bruder, wird 1969 geboren, Peter, der<br />
zweitälteste Bruder, 1971.<br />
Uwe Böhnhardt gehört einer Generation an, deren Angehörige zum Zeitpunkt<br />
ihrer Adoleszenz, die sie etwa zwischen 1992 und 1996 erleben, von den Erwachsenen<br />
sich selbst überlassen bleiben. Eltern, Lehrer und staatliche Akteure<br />
benden sich infolge der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft in einer<br />
Orientierungslosigkeit. Sie üben ihre Korrektivfunktion im Falle adoleszenzbedingter<br />
Normenüberschreitung nur eingeschränkt aus, weil sie selbst nicht wissen,<br />
1 Eine Darstellung der vollständigen Fallrekonstruktion des Subjektbildungsprozesses<br />
von Uwe Böhnhardt findet sich in Würstl (2015).
Uwe Böhnhardt<br />
215<br />
was in der neuen Gesellschaft als richtig oder falsch gilt. Die Identitätsentwürfe<br />
der heranwachsenden Generation gestalten sich infolgedessen diffus. Während<br />
die sogenannte Wendegeneration (1970-1975 geboren) ihre Kindheit und Jugend<br />
vollständig in der DDR erlebt, was größtenteils noch eine Identizierung als DDR-<br />
Bürger zur Folge hat, ist die Phase der primären Sozialisation bei der hier in Frage<br />
stehenden Generation fragmentiert. Jana Hensel, Jahrgang 1976, beschreibt sie in<br />
ihrem Roman „Zonenkinder“ als „zwittrige Ostwestkinder“, die im Verschwinden<br />
aufwuchsen, die weder Ostdeutsche noch Westdeutsche waren und deren Leben<br />
aus Abschieden und Brüchen, aber nicht aus Übergängen, bestand (Hensel, 2003,<br />
S. 74, 160). Die Generation Böhnhardts ist zu jung, um in das sozialistische System<br />
verstrickt gewesen zu sein und zu alt, um nichts mehr mit der DDR zu tun gehabt<br />
zu haben. Sie bendet sich damit in einer ähnlichen Lage wie ihre Großeltern nach<br />
dem Krieg, die den Nationalsozialismus zwar miterlebten, aber zu jung waren,<br />
um darin verwickelt gewesen zu sein (vgl. Bürgel, 2006, S. 171). Die sogenannte<br />
Flakhelfer-Generation kennzeichnet einen Habitus des äußerlichen Mitmachens<br />
bei innerer Gleichgültigkeit. Diese Indifferenz gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen<br />
kennzeichnet auch die Generation Böhnhardts. Sie erlebt die Ent- und<br />
Abwertung ostdeutscher Biogra en, die Deklassierung der Ostdeutschen zu Bürgern<br />
zweiter Klasse und den darauffolgenden Rückzug ihrer Eltern in eine romantisierte<br />
Ostalgie. Dieses einschneidende Erlebnis lässt ihnen eine pessimistische<br />
Grundstimmung zu eigen werden und erschwert ihnen die Ablösung aus der<br />
Herkunftsfamilie. Die Kinder der Einheitsverlierer rebellieren nicht gegen ihre<br />
niedergeschlagenen Eltern, sondern solidarisieren sich mit ihnen. Ihr Generationshabitus<br />
der Indifferenz bedeutet für die Eröffnung und Schließung zukünftiger<br />
Handlungsräume eine schwache pichtenethische und solidarische Bindung an die<br />
staatsbürgerliche Gemeinschaft.<br />
Die Eltern von Böhnhardt sind Bildungsaufsteiger ins sozialistische Establishment.<br />
Die Mutter gehört als Lehrerin dem (bürgerlich-) humanistischen Untermilieu<br />
an, welches durch Tugenden der protestantischen Ethik, durch gesellschaftliche<br />
Verantwortungsübernahme, Familien- und Traditionsbezogenheit und eine<br />
stark ausgeprägte sozialistische Grundhaltung gekennzeichnet ist (vgl. Hofmann<br />
2010, S. 11). Der Vater ist dem technokratischen Untermilieu angehörig. Efzienzund<br />
Erfolgsorientierung, Streben nach Perfektion und ein technokratisches Weltbild<br />
kennzeichnen dieses Submilieu (vgl. ebd.). Als Angehörige der sozialistischen<br />
Funktionselite fühlen sich die Eltern der DDR verpichtet und verhalten sich deshalb<br />
bis mindestens in die 1980er Jahre äußerlich systemloyal. Zumindest für den<br />
Vater ist aufgrund seiner noch bürgerlichen Erziehung – er verlässt die Schule<br />
noch vor der grundlegenden Schulreform 1959 – und seiner Zugehörigkeit zur<br />
Schicht der ideologisch distanzierten technischen Intelligenz von einer nach innen
216 Heike Würstl<br />
gekehrten systemskeptischen Haltung auszugehen. Nach der „Wende“ bricht das<br />
Herkunftsmilieu der Eltern weg. Damit entfällt für Uwe Böhnhardt die privilegierte<br />
Chance, im Milieu der sozialistischen Elite zu verbleiben. Das sozialistische<br />
Establishment rekrutierte sich ab Mitte/Ende der 1960er Jahre zunehmend aus<br />
sich selbst (vgl. Geißler, 2008, S. 289).<br />
Als Letztgeborenen kommt Uwe Böhnhardt in seiner Herkunftsfamilie die<br />
Position des Benjamins zu, der von hohen Erwartungen der Eltern weitgehend verschont<br />
bleibt und verwöhnt wird. Aufgrund des großen Altersabstands zu seinen<br />
Brüdern wächst er eher als ein Einzelkind auf. Die Geschwister sind für ihn weder<br />
Spielkameraden noch Konkurrenten, sondern tendenziell Identikations- und Bezugspersonen.<br />
3 Lebenslauf<br />
3.1 Kindheit<br />
Uwe Böhnhardt wird 1984 im Alter von sechs Jahren eingeschult. 1988 stirbt der<br />
mittlere Sohn von Familie Böhnhardt unter vermutlich ungeklärten Todesumständen.<br />
Böhnhardt bleibt in der siebenten Klasse sitzen und muss sie wiederholen.<br />
Ab 1992, da ist er 14 Jahre alt, fällt er zunächst mit kleinkriminellen Handlungen<br />
auf. Er beginnt die Schule zu schwänzen. Im Frühjahr 1992 kommt er für wenige<br />
Wochen ins Kinderheim, wird aufgrund fortgesetzter Devianz jedoch wieder nach<br />
Hause geschickt. Nachdem er in der achten Klasse erneut sitzen bleibt, wechselt er<br />
auf eine Lernförderschule. 1993 kommt er zum ersten Mal in Untersuchungshaft.<br />
Bis zum Alter von zehn Jahren verläuft das Leben von Böhnhardt unauffällig.<br />
Er wird altersgerecht mit sechs Jahren eingeschult, so dass von einem normalen<br />
Entwicklungsstand auszugehen ist. Die Polytechnische Oberschule (POS) stellt<br />
im zweigliedrigen DDR-Schulsystem den Normalfall dar. Die beiden wichtigsten<br />
Charakteristika dieser Schulform sind eine starke ideologische Erziehung im<br />
Sinne eines Freund-Feind-Schemas zwischen „sozialistischen Bruderstaaten“ und<br />
„kapitalistischen Klassenfeinden“. Das zweite Merkmal ist die Fokussierung auf<br />
naturwissenschaftliche Lehrinhalte, die für gut ausgebildete Arbeitskräfte im<br />
Arbeiter- und Bauernstaat sorgt. Mit dem Besuch der POS stehen Böhnhardt in<br />
der DDR alle Bildungswege offen.<br />
1988 gibt es mit dem Tod seines Bruders einen gravierenden Einschnitt in seinem<br />
Leben. Peter Böhnhardt, der mittlere der drei Geschwister, wird morgens tot<br />
vor der Haustür der elterlichen Wohnung aufgefunden. Die genauen Todesumstände<br />
gelten als nicht aufgeklärt. Todesursache ist eine Unterkühlung. Entscheidend
Uwe Böhnhardt<br />
217<br />
für die Persönlichkeitswerdung ist nicht der Tod an sich, sondern die subjektive<br />
Repräsentanz dieses Ereignisses. Da die Sinninterpretationskompetenz – d. h. die<br />
Fähigkeit, Ereignisse adäquat zu erfassen und zu deuten – von Uwe Böhnhardt<br />
im Alter von zehn, fast elf Jahren noch nicht vollständig ausgebildet ist, bedarf er<br />
der Deutungs- und Krisenlösungsunterstützung, vornehmlich seiner Eltern. Die<br />
ungeklärten Todesumstände, die eine vollständige Verarbeitung des Ereignisses<br />
innerhalb der Familie verhindern, lassen die Hypothese zu, dass der Tod nicht<br />
adäquat bewältigt wurde und dass die sozialisatorischen Interaktionsbedingungen<br />
spätestens ab diesem Zeitpunkt gestört sind.<br />
Die Eltern artikulieren den Tod heute als vermeintlichen Sturz ihres Sohnes<br />
von der Lobdeburg, einer Burgruine am Stadtrand Jenas. Auf ihr soll er mit Freunden<br />
umhergeklettert sein. Auch eine Fremdeinwirkung schließen sie nicht aus. Sie<br />
berichten gegenüber einer Zeitung, ihr Sohn sei mit vielfachen Knochenbrüchen<br />
und stark alkoholisiert aufgefunden worden. Freunde sollen ihn nach dem Sturz<br />
von der Lobdeburg nach Hause geschafft und vor ihrem Wohnhaus abgelegt haben.<br />
An der Artikulation des Ereignisses durch die Eltern erscheint zweifelhaft,<br />
wie und warum der im Sterben liegende Sohn durch seine Freunde transportiert<br />
wurde. Man muss sich nur einmal vorstellen, dass ein schwerstverletzter Jugendlicher<br />
– sagen wir mal, er wog 65-70 kg – durch seine Freunde mindestens einen<br />
halben Kilometer durch ein Wohngebiet getragen wurde, ohne dass sie irgendwer<br />
sah. Es war in der DDR auch nicht so, dass jeder 18-Jährige einen Pkw besaß, mit<br />
dem der Schwerverletzte hätte gefahren werden können. Ein Transport mit einem<br />
Moped erscheint nahezu unmöglich. Genauso unbeantwortet ist die Frage nach<br />
dem Motiv der Ortsverlagerung. Warum haben seine Freunde nicht anonym den<br />
Notarzt gerufen oder ihn in unmittelbarer Nähe zur Lobdeburg an eine gut einsehbare<br />
Stelle gelegt, wo er hätte gefunden werden können? Letztendlich ist eine<br />
empirisch fundierte abschließende Bewertung der Todesumstände nicht möglich,<br />
weil die polizeilichen Akten für die Analyse nicht zur Verfügung stehen, vermutlich<br />
existieren sie auch gar nicht mehr. Jedenfalls wäre es in der Kriminalgeschichte<br />
nicht der erste Fall, indem Angehörige versuchen, die wahren Todesumstände zu<br />
verheimlichen. Das kann aus den unterschiedlichsten Motiven geschehen: Scham,<br />
moralische Mitschuld oder nanzielle Motive – um nur einige zu nennen.<br />
Egal, ob die Eltern die wahren Todesumstände kannten oder ahnten oder ob die<br />
Todesumstände tatsächlich ungeklärt blieben, in jedem Fall wird die traumatische<br />
Verarbeitungskrise der Familie durch die Art und Weise des Todes verschärft. Der<br />
Hang des technokratischen Milieus zum Pragmatischen, durch den Vater vertreten,<br />
und die nahezu protestantische Ethik des bürgerlich-humanistischen Milieus,<br />
welches die Mutter verkörpert, offerieren den Eltern eine inadäquate Bewältigungsstrategie<br />
der Art „Augen zu und durch“. Sie werden mit starkem Engagement
218 Heike Würstl<br />
ihren beruichen und gesellschaftlichen P ichten nachkommen und der gemeinsamen<br />
emotionalen Verarbeitung des Traumas innerhalb der Familie wenig Raum<br />
geben. Die Interaktion wird vom Schweigen der Eltern über den Tod geprägt sein.<br />
Es ist zu erwarten, dass bei Uwe Böhnhardt Sozialisationsde zite infolge einer<br />
inadäquaten Bewältigung auftreten werden.<br />
Etwa zwei Jahre nach dem Tod des Bruders gibt es eine erste biograsche Auffälligkeit.<br />
Uwe Böhnhardt bleibt in der sechsten Klasse sitzen. Dieses Ereignis<br />
kann primär nicht mit einer Minderung in der Intelligenzleistung erklärt werden,<br />
sondern deutet eher auf Probleme in der Subjektwerdung hin. Böhnhardts altersgerechte<br />
Einschulung und bis dato fehlende Schwierigkeiten mit dem Erreichen<br />
des jeweiligen Klassenziels lassen keine kognitiven Dezite erkennen. Zwei Hypothesen<br />
für die Motivation des schulischen Einbruchs liegen nahe. Er könnte Folge<br />
der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft und der daraus resultierenden<br />
Verunsicherung der Eltern, die sich auf Böhnhardt ausgewirkt haben könnte, sein.<br />
Dagegen spricht die durchgängige Beschäftigung der Eltern während der „Wende“.<br />
Es sind keine biogra schen Brüche in ihren Lebensläufen erkennbar. Der Vater<br />
wird im neuen Gesellschaftssystem in seinem Berufsprestige und seinen Einkommensmöglichkeiten<br />
eher noch aufgewertet. Eine zweite Hypothese würde dem bisherigen<br />
Rekonstruktionsverlauf folgen. Das Sitzenbleiben könnte durch das prognostizierte<br />
Sozialisationsdezit, welches aus dem unbewältigten Tod des Bruders<br />
innerhalb der Familie resultiert, motiviert sein. Das schulische Scheitern markiert<br />
dann die individuelle Krise, in der sich Böhnhardt be ndet und die er wegen unzureichender<br />
Befähigung zu autonomem Handeln nicht selbständig lösen kann. Er<br />
verweigert sich der schulischen Leistungsethik und damit dem beruichen Bewährungsfeld<br />
der Mutter. Damit grenzt er sich einerseits von ihr ab, sichert sich aber<br />
zugleich ihre Zuwendung und konterkariert damit seinen Ablösungswunsch. Dieser<br />
Ablösungswunsch ist Folge der vom Tod des Bruders belasteten pathologischen<br />
familialen Interaktionsstruktur, aus der er ausbrechen will, und dem Voranschreiten<br />
seiner Ontogenese. Kurz: Böhnhardt will raus aus seiner Familie, vornehmlich<br />
aus seiner Mutterbindung, kann es aber nicht, weil ihm die Autonomiebefähigung<br />
dafür fehlt.<br />
An dieser Stelle des Lebenslaufs stellt sich die Frage, ob die familiale Interaktion<br />
nicht schon vor dem Tod des Bruders gestört war und damit neben den<br />
ungeklärten Todesumständen für ein Misslingen der Bewältigung des Traumas<br />
sorgte. Der Lebenslauf von Uwe Böhnhardt bietet dafür keine Anhaltspunkte. Es<br />
gibt jedoch einige Indizien in den familialen Kontextdaten, die dahingehend gedeutet<br />
werden können. Zum ersten besteht eine Hypothese hinsichtlich des großen<br />
Altersabstands von Böhnhardt zu seinen Geschwistern (6 Jahre) in ehelichen Problemen.<br />
Dem dritten Kind wäre dann die Funktion zugekommen, die Beziehung der
Uwe Böhnhardt<br />
219<br />
Eltern durch die gemeinsame Erfahrung der P ege eines Kindes zu verbessern.<br />
Zum zweiten würde der Tod von Peter Böhnhardt, wenn es ein Selbstmord war,<br />
dafür sprechen. Ein drittes Indiz ist der frühe Auszug des ältesten Sohnes im Alter<br />
von 18 Jahren und seine gescheiterte Ehe.<br />
Im September 1991 muss Böhnhardt aufgrund der Transformation des ostdeutschen<br />
Schulsystems die Schule wechseln. Er strebt nun den Realschulabschluss<br />
an. Dass er sich für den Realschul- und gegen den Hauptschulabschluss entscheidet,<br />
bekräftigt die These, dass das Sitzenbleiben nicht durch Intelligenzminderung<br />
motiviert war, denn sonst wäre der Besuch der Hauptschule rationaler gewesen.<br />
Durch den anvisierten Realschulabschluss ist Uwe Böhnhardt im Vergleich zum<br />
vorgezeichneten DDR-Bildungsweg weder besser noch schlechter gestellt, was ihn<br />
wahrscheinlich keine besonders positive oder negative Bindung an den neuen Staat<br />
ausprägen lässt.<br />
Ab 1992 wird Böhnhardt erneut auffällig. Er schwänzt die Schule und begeht<br />
kriminelle Handlungen, die sich in ihrem Grad an Sittlichkeitsverletzung permanent<br />
steigern. Er begeht zunächst Diebstähle, bricht Fahrzeuge auf und fährt in gestohlenen<br />
Autos umher. Er prügelt sich und erpresst einen Jugendlichen. Ab 1995<br />
fällt er mit politisch rechts motivierten Straftaten auf, die vor dem Hintergrund der<br />
deutschen Geschichte als besonders verwer ich gelten. Die Delinquenz lässt sich<br />
als Ausdruck der Zuspitzung der beschriebenen Ablösungsproblematik deuten.<br />
Insbesondere in seinen Spritztouren mit den gestohlenen Fahrzeugen fernab der<br />
Heimat – er wurde beispielsweise einmal an der Ostsee oder in Österreich festgestellt<br />
– manifestiert sich sein Wunsch, aus der Familie auszubrechen. Aufgrund<br />
seines Sozialisationsdezits verfügt Böhnhardt nicht über genügend Autonomie,<br />
um sich auf sozial adäquate Art und Weise aus seiner Herkunftsfamilie zu lösen.<br />
Sein Dilemma besteht darin, dass er Autonomie nur erwerben kann, indem er sich<br />
in der eigenständigen Krisenbewältigung einübt, woran ihn jedoch die starke Bindung,<br />
insbesondere an seine Mutter, hindert. Die zunehmende Aggressivität in<br />
seinen Handlungen kann als Folge seiner Verunsicherung und Frustration über<br />
seine Ablösungsschwierigkeiten gedeutet werden. Die überwiegend gemeinschaftliche<br />
Tatbegehung lässt darauf schließen, dass sich Böhnhardt einer delinquenten<br />
peer-group angeschlossen hat.<br />
Im April 1992 kommt er für wenige Wochen in ein Kinderheim. Dieses Lebensdatum<br />
offenbart das endgültige Scheitern der familialen Sozialisation. Böhnhardt<br />
wird von der Mutter ins Heim abgeschoben. Er wehrt sich dagegen, indem er fortgesetzt<br />
die Schule schwänzt und weiterhin Straftaten begeht. Damit zeigt er, dass<br />
er die Heimeinweisung auch subjektiv als Abschieben interpretiert. Er hätte die<br />
Chance gehabt, im Heim seine eingeschränkte Autonomie zu erweitern und seine<br />
Sozialisationsdezite aufzuholen. Er wird jedoch aufgrund der devianten Vor-
220 Heike Würstl<br />
kommnisse aus dem Heim verwiesen und kehrt in die Familie zurück. Nicht nur<br />
die Familie, sondern auch die staatliche Jugendhilfe, die nach alternativen Betreuungsangeboten<br />
hätte suchen können bzw. müssen, scheitert. Spätestens ab diesem<br />
Zeitpunkt kann von einem endgültigen Bruch mit den Eltern, vor allem mit der<br />
Mutter, ausgegangen werden.<br />
Ende des Schuljahres 1991/92 bleibt Böhnhardt erneut sitzen. Er wechselt daraufhin<br />
an eine Lernförderschule und wird ein weiteres Mal durch die Mutter abgeschoben<br />
und stigmatisiert. Die Mutter nimmt ihn nun unter die Fittiche ihres<br />
Berufsstandes (Sonderpädagogen) und bindet ihn damit noch stärker an sich. Sie<br />
macht ihren Sohn zum pädagogischen Fall, worin sich einmal mehr ihr Scheitern<br />
als Mutter, aber auch als Pädagogin zeigt. Sie bringt ihrem Sohn gegenüber zum<br />
Ausdruck, dass sie ihm nicht zutraut, sich auf einer Regelschule zu behaupten, was<br />
der Entstehung von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen abträglich ist und seine<br />
Autonomieentwicklung weiter behindert. Böhnhardt reproduziert seine Fallstruktur,<br />
indem er sich auch dieses Mal gegen das Abschieben in Form von Delinquenz<br />
zur Wehr setzt. Er bricht in seine Schule ein und wird erwischt. Daraufhin wird<br />
er von der Schule verwiesen und kommt kurz darauf zum ersten Mal in Untersuchungshaft.<br />
Auch hier scheitern die staatlichen Behörden an ihm und geben ihn auf. Der Jugendvollzug<br />
überstellt ihn in den Erwachsenenvollzug, weil er während der Untersuchungshaft<br />
erneut kriminelle Handlungen begeht (bastelt an einer Rohrbombe<br />
mit und ist an der Misshandlung eines Mithäftlings beteiligt).<br />
Zwischenfazit: Böhnhardts Chancen auf eine adäquate Bewältigung seines Ablösungsproblems<br />
und der beginnenden Adoleszenzkrise sind als äußerst ungünstig<br />
zu bewerten. Ihm stehen lediglich informelle, in seinem Fall deviante peer-group-<br />
Cliquen unterstützend zur Seite. Seine Eltern sind Teil seines Problems und fallen<br />
somit als Bewältigungsressource aus. Die staatlichen Behörden der Jugendhilfe<br />
und des Jugendvollzugs haben ihn aufgegeben, das Herkunftsmilieu des sozialistischen<br />
Establishments, das ihm Solidarität hätte gewähren können, existiert<br />
nicht mehr. Ihm bekannte formale Jugendorganisationen gibt es nach 1990 nicht<br />
mehr und die in Westdeutschland typische Vereinsstruktur hat sich in Ostdeutschland<br />
noch nicht etablieren können. Böhnhardt ist in dieser wichtigen Lebensphase<br />
hochgradig desintegriert und ist in seiner Entwicklungskrise, zu deren adäquaten<br />
Bewältigung ihm infolge seiner Sozialisationsde zite die Befähigung fehlt, auf<br />
sich allein gestellt. Infolge seiner fragmentierten Schulkarriere und seiner Stigmatisierung<br />
als Sitzenbleiber und Förderschüler wird er kaum Anschluss an normale<br />
peer-groups im Rahmen der Schule nden. Was bleibt, sind in erster Linie Wohngebietscliquen,<br />
die in Jena-Lobeda, dem Wohnort von Böhnhardt, zu Beginn der<br />
1990er Jahre vor allem rechtsorientiert sind, nachdem sie aus dem Stadtzentrum in
Uwe Böhnhardt<br />
221<br />
die Randgebiete verdrängt wurden (vgl. Thüringer Landtag, 2013, S. 181). Im Falle<br />
Böhnhardt kommen auch Knastgruppierungen in Frage. Jaschke u. a. führen aus,<br />
dass der Anteil an Rechtsextremen zwischen 1993 und 1995 in manchen Jugendhaftanstalten<br />
Ostdeutschlands 30 bis 50 % betragen hat (vgl. Jaschke, Rätsch &<br />
Winterberg, 2001, S. 101). D. h. Böhnhardt ist prädestiniert dafür, in eine rechte<br />
Jugendclique zu gelangen.<br />
Wie meistert Böhnhardt seine Adoleszenzkrise, nach deren Bewältigung die<br />
Formierung seiner Persönlichkeitsstruktur vorläu g abgeschlossen ist? Die Gesellschaft<br />
erwartet von ihm als Heranwachsenden, dass er die Sinnfrage für sich<br />
gelöst hat und sich in den drei Bereichen individuelle Leistung/Erwerbsleben, Elternschaft<br />
und Gemeinwohl/Staatsbürgerschaft bewährt. Von einer gelungenen<br />
Krisenbewältigung ist zu sprechen, wenn der Adoleszent in diesen drei Bewährungsfeldern<br />
einen Standpunkt gefunden hat, der sich von denen der Eltern absetzt<br />
und als gesellschaftlich akzeptiert gilt.<br />
3.2 Adoleszenz<br />
Im Alter von 16 Jahren (1994) geht Böhnhardt eine sozio-erotische Beziehung mit<br />
Beate Zschäpe ein. Zwischen 1993 und 1996 absolviert er ein Berufsvorbereitungsjahr<br />
(BVJ) und im Anschluss daran eine Lehrausbildung zum Hochbaufacharbeiter.<br />
Ab 1994/95 ist er Mitglied der Anti-Antifa Ostthüringen bzw. des Thüringer<br />
Heimatschutzes (THS). Er nimmt an Veranstaltungen der rechten Szene<br />
teil und begeht Propagandadelikte. Er wird verdächtigt, ab Oktober 1996 an der<br />
Herstellung von Briefbombenimitaten und Bombenattrappen beteiligt gewesen zu<br />
sein. 1997 wird er vom Wehrdienst ausgemustert.<br />
Mit 16 Jahren geht Böhnhardt seine vermutlich erste längerfristige sozio-erotische<br />
Beziehung ein, in der sich das Strukturmuster seiner Mutter-Kind-Bindung<br />
reproduziert. Seine Partnerin Beate Zschäpe ist ihm hinsichtlich ihres Alters, ihrer<br />
Reife und ihres Bildungsstandes überlegen. Sie ist wie seine Mutter stark p egerisch<br />
orientiert. Zschäpe wollte Kindergärtnerin werden, bekam aber keinen Ausbildungsplatz.<br />
Zum Zeitpunkt des Kennenlernens absolviert sie eine Lehre zur<br />
Gärtnerin. Sie entscheidet sich für einen Beruf in der Landschaftsp ege, nachdem<br />
ihr eine Ausbildung in der Kinderp ege verwehrt wurde. Es ist davon auszugehen,<br />
dass Zschäpe die Partnerschaft dominiert. Das bedeutet für Böhnhardt<br />
Einschränkungen in diesem Bewährungsfeld und eine tendenziell misslungene<br />
Partnerschaftswahl. Er sieht Beate Zschäpe möglicherweise als die Mutter, die er<br />
sich immer wünschte – die ihn akzeptiert und ihm die Geborgenheit gibt, die er bei<br />
seiner Mutter nicht nden konnte.
222 Heike Würstl<br />
Im beruichen Bewährungsfeld scheitert Böhnhardt. Es gelingt ihm nach einer<br />
Berufsausbildung zum Hochbaufacharbeiter aufgrund seines Ablösungsproblems<br />
nicht, eine längerfristige Anstellung zu nden. Er ist bis zu seinem „Abtauchen“<br />
im Jahr 1998 mit Ausnahme weniger Wochen Beschäftigungszeit arbeitslos, was<br />
auf der Folie seines Herkunftsmilieus mit Deprivationserfahrungen einhergehen<br />
muss. Mit seiner Ausmusterung vom Wehrdienst wegen psychisch bedingter<br />
Nichteignung wird er ein weiteres Mal als geistiger „Tiefieger“ stigmatisiert. Zudem<br />
wird ihm die Möglichkeit genommen, sein Faible für Sprengstoff und Waffen<br />
in eine sozial adäquate Form im Rahmen einer beruichen Beschäftigung bei der<br />
Bundeswehr zu kanalisieren.<br />
Im dritten Bewährungsfeld scheitert Böhnhardt ebenfalls. Er orientiert sich zunächst<br />
an einem negativen Sinnentwurf, indem er sich einer rechtsextremen Gruppierung<br />
(Anti-Antifa/Thüringer Heimatschutz) zuwendet und politisch motivierte<br />
Straftaten begeht. Der Sinnentwurf verfestigt sich über die Adoleszenz hinausgehend<br />
zu einem abweichenden, Sozialität zerstörenden Identitätsentwurf, der in der<br />
Gründung des NSU und der Ermordung von zehn Menschen gipfelt.<br />
4 Fazit<br />
Uwe Böhnhardt ist in allen von Anhut und Heitmeyer vorschlagen Integrationsdimensionen<br />
hochgradig desintegriert (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2007). 2 Bereits in<br />
der Schule bekommt er als Sitzenbleiber keine personale Anerkennung. Auch in<br />
seinem Beruf misslingt ihm eine seiner Herkunft adäquate soziale Positionierung.<br />
Er ndet nach seiner Berufsausbildung zum Baufacharbeiter keine längerfristige<br />
Anstellung. Auch auf institutioneller Ebene ist Böhnhardt desintegriert. Er ist als<br />
Vorbestrafter gelabelt. Die negativen Folgen von Etikettierungen sind durch die<br />
kriminalsoziologische Forschung hinreichend untersucht worden. Der Ausschluss<br />
vom Wehrdienst stellt vor dem Hintergrund der hegemonial-männlichkeitsorientierten<br />
rechtsextremen Szene objektiv, d. h. unabhängig von der subjektiv-intentionalen<br />
Bewertung des Ereignisses, ein weiteres Anerkennungsde zit dar. Auf<br />
sozio-emotionaler Ebene ist ebenfalls keine Integration erkennbar. Die emotionale<br />
2 Nach dem Desintegrationsansatz bedarf es der Einbindung der Gesellschaftsmitglieder<br />
auf drei Ebenen, um soziale Integration zu sichern. Der Einzelne muss sozialstrukturell<br />
eingebunden sein, damit er an den materiellen und kulturellen Gütern der<br />
Gesellschaft teilhaben kann. Er muss institutionell integriert sein, was ihm ein Ausgleich<br />
konfligierender Interessen ohne Verletzung seiner Integrität ermöglicht. Auf<br />
einer dritten Ebene bedarf es emotionaler Bindungen zwischen Personen, die vor einer<br />
Orientierungslosigkeit und Identitätskrise schützen (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2007).
Uwe Böhnhardt<br />
223<br />
Bindung zu den Eltern ist spätestens seit dem Abschieben ins Heim und auf die<br />
Förderschule gestört. Die pathologische Familiensituation zeigt sich darin, dass<br />
sich sämtliche Familienmitglieder auf unterschiedliche Weise der Familie entziehen.<br />
Der mittlere Bruder durch den Tod, der älteste Bruder durch einen frühen<br />
Auszug, der Vater durch häuge Wanderausüge und selbst die Mutter üchtet sich<br />
aus ihrer Mutterrolle in ihre beru iche Rolle als Lehrerin, indem sie ihren Sohn<br />
Uwe zum pädagogischen Fall macht. Das Herkunftsmilieu der sozialistischen<br />
Funktionselite existiert nicht mehr. Dass Böhnhardt aus der sozio-erotischen Beziehung<br />
zu Beate Zschäpe, die strukturell eher an eine Mutter-Kind-Beziehung als<br />
an eine gleichberechtigte Partnerschaftsbeziehung erinnert, Anerkennung erfährt,<br />
scheint zweifelhaft.<br />
Böhnhardt könnte diese Anerkennungsdezite kompensieren, wenn er über die<br />
entsprechenden individuellen und sozialen Kompetenzen verfügt. Infolge seines<br />
Sozialisationsdezits und der damit eingeschränkten Autonomie zur Lebensbewältigung<br />
kann er dies jedoch nicht. Stattdessen schiebt er die Verantwortung für<br />
sein Scheitern den Nichtdeutschstämmigen zu. Die rechtsextreme Ideologie ermöglicht<br />
ihm, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten und die Gewaltexzesse<br />
des NSU vor sich selbst zu rechtfertigen, von sich abzuspalten und nicht an einer<br />
damit verbundenen Schuldproblematik zu scheitern.
224 Heike Würstl<br />
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Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
Dirk Laabs<br />
Als Uwe Mundlos im November 2011 in einem Wohnmobil in Eisenach tot aufgefunden<br />
wurde, war der Mann dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) seit<br />
über 16 Jahren ein Begriff. Anfang 1995 hatte der junge Neonazi Thomas Richter<br />
aus Sachsen-Anhalt dem Bundesamt das erste Mal von Mundlos berichtet. Richter<br />
war kurz zuvor vom BfV als Informant geworben worden und wurde als Quelle<br />
Corelli geführt. Corelli sprach ausführlich über das Treffen mit Uwe Mundlos, der<br />
zu der Zeit gerade seinen Grundwehrdienst ableistete – so geht es aus dem „Treffbericht“<br />
hervor, der vom BfV über das Gespräch angelegt worden ist. 1 Der Soldat<br />
Uwe Mundlos habe ihm von der „Kameradschaft Jena“ erzählt, der 30 Mitglieder<br />
angehörten und die sich vor allem auf „Anti-Antifa-Arbeit“ konzentriere. Das<br />
BfV legte aufgrund der Meldung von Corelli eine Akte über Uwe Mundlos an. In<br />
den folgenden Jahren sollten Mitarbeiter des BfV regelmäßig Neues von Mundlos<br />
und seinen Freunden erfahren – von anderen Informanten, von der Polizei, durch<br />
eigene Maßnahmen. Das BfV begleitete die extremistische Karriere des jungen<br />
Thüringers über Jahre, ohne ihn und seine Komplizen zu stoppen oder stoppen zu<br />
können.<br />
Uwe Mundlos, Jahrgang 1973, geboren in Jena, hatte schon zu DDR-Zeiten mit<br />
rechtsradikalen Tendenzen sympathisiert, radikalisierte sich weiter nach dem Fall<br />
1 Zu Lebzeiten hatte Thomas Richter in Verhören durch das BKA bestritten, Quelle<br />
dieser Meldung sein. Tatsächlich gibt es kaum einen V-Mann im NSU-Komplex, der<br />
Meldung über Mundlos oder andere Mitglieder des NSU nach dem 04.11.2011 bestätigt<br />
hat.<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
226 Dirk Laabs<br />
der Mauer, besuchte diverse Neonazi-Konzerte, verprügelte andere Jugendliche.<br />
Noch vor seiner Bundeswehrzeit lernte Mundlos ältere Skinheads aus Chemnitz in<br />
Sachsen kennen. Die Skinheads waren als besonders brutal bekannt, in den Jahren<br />
1991, 1992 schienen sie machen zu können, was sie wollen, sie griffen Discotheken<br />
und Flüchtlingsheime an, diverse Anzeigen verliefen im Nichts. Doch 1993 griffen<br />
Polizei und Justiz schließlich durch, einige von Mundlos‘ Freunden wurden zu<br />
mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Uwe Mundlos schickte ihnen Briefe ins Gefängnis,<br />
während er selber weiter durchs Land reiste und andere Neonazis kennenlernte<br />
– wie eben jenen Thomas Richter alias Corelli. In seinem Leben sollte Uwe<br />
Mundlos ständig auf Spitzel verschiedener Verfassungsschutzbehörden treffen, die<br />
dann über ihn berichteten.<br />
Das BfV war nicht auf dem rechten Augen blind<br />
Als Mitarbeiter des BfV 1995 zum ersten Mal von Uwe Mundlos hörten, bearbeitete<br />
das Amt die rechtsextremistische Szene in Ost-Deutschland bereits seit einigen<br />
Jahren intensiv. Mit einer kurzen Verzögerung hatte das BfV auf die rechtsextremistischen<br />
Pogrome, die Angriffe auf Migranten und Andersdenkende reagiert,<br />
die seit 1990 zum deutschen Alltag gehörten. Die für die innere Sicherheit zuständigen<br />
Akteure verstanden, dass man der organisierten, rechten Gewalt etwas<br />
entgegensetzen musste – im Westen wie im Osten. Man entschied sich für einen<br />
klassischen nachrichtendienstlichen Ansatz: das BfV gründete eine neue Abteilung,<br />
die vor allem Informanten in der Szene rekrutieren wollte, man wollte sich so<br />
einen Überblick verschaffen – wie organisiert liefen die Angriffe auf Flüchtlingsheime<br />
ab? Es ging um Aufklärung, nicht notgedrungen um die Unterbindung der<br />
Straftaten, die aus der Szene heraus begangen wurden. Die Führung des Amtes rekrutierte<br />
für diese Aufgabe in den folgenden Jahren junge Mitarbeiter – man warb<br />
sie von Landesämtern für Verfassungsschutz ab oder stellte sie neu an, bildete<br />
sie dann in Kompaktkursen aus. Darunter waren Bewerber, die gerade die Schule<br />
beendet hatten. Sehr junge und unerfahrene Agenten sollten also eine Szene aufklären,<br />
die sich dadurch auszeichnete, dass die Mitglieder, Mitläufer und Mitgerissenen<br />
ebenfalls blutjung waren – schon 15-jährige begingen schwere Straftaten,<br />
überelen Migranten, verprügelten den „politischen Gegner“ oder warfen Brand-<br />
aschen auf Flüchtlingsheime.<br />
Die Rekruten des BfV wurden von einem jungen Chef geführt, damals gerade<br />
34 Jahre alt, der vom Amt den Tarnnamen Lothar Lingen bekam. Vor dem NSU-<br />
Untersuchungsausschuss des Bundestages beschrieb Lingen seine Motivation. Vor<br />
allem die Angriffe auf Flüchtlingsheime hätten ihn aufgeschreckt.
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
227<br />
„Ich hatte also am Thema <strong>Rechtsextremismus</strong> deshalb großes Interesse, weil ich<br />
einen Beitrag damals, Anfang der 90er-Jahre, leisten wollte zur Bekämpfung des<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>. Mag sich vielleicht ein bisschen pathetisch anhören, aber die<br />
Tatsache, dass ich hier eingesetzt war in der sehr gesellschaftsrelevanten Bekämpfung<br />
des <strong>Rechtsextremismus</strong>, war mir stets auch eine große Ehre.“ 2<br />
Das BfV wurde damals von Eckart Werthebach als Präsident geführt, der das<br />
Amt wieder stärken wollte, nachdem es vor allem von Agenten des Ministeriums<br />
für Staatssicherheit der DDR unterwandert und vorgeführt worden war. Als der<br />
Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entfü hrt wurde, hatte<br />
Werthebach in einem Krisenstab des Innenministeriums gearbeitet. Ihn frustrierte<br />
damals, dass eine kleine Zahl von Terroristen die Regierungsgeschäfte nahezu<br />
zum Erliegen bringen konnte. Sein Rezept um Terrorismus in Zukunft wirkungsvoller<br />
bekämpfen zu können: mehr und bessere menschliche Quellen zu „werben“,<br />
ankiert von wirkungsvolleren technischen Abhörmethoden. Daran hielte sich<br />
auch die Abteilung von Lingen, wie er dem NSU-Ausschuss in Berlin erklärte:<br />
„Ich habe mich damals fü r den Bereich Beschaffung beworben, weil dort – natü rlich,<br />
klar – ein Referatsleiter gesucht wurde und mich auch die Aufgabe gereizt hat, eben<br />
V-Leute anzuwerben, um von ihnen Informationen zu bekommen. Das war damals<br />
fü r mich Neuland, der ich fü nf Jahre in der Auswertung gesessen habe. Wir haben<br />
damals einen sehr großen Personalkörper gehabt. Wir hatten zwei ausgeprägt große<br />
Werbungsreferate, und die Politik unserer Amtsleitung ging dahin, zunächst mal Informationen<br />
zu beschaffen, und das in der Breite, um dann später den Auswertungsbereich<br />
zu stärken. Die Abteilung 2 ist da innerhalb eines Jahres, anderthalb Jahren<br />
um das Doppelte gewachsen.“<br />
Die „Beschaffer“ in den „Werbungsreferaten“ rekrutierten die Informanten, die<br />
von V-Mann-Führern abgeschöpft wurden; am Ende der Kette standen – und stehen<br />
bis heute – die „Auswerter“, sprich die Analysten des BfV. Sie werteten über<br />
Jahre zig Berichte von Informanten aus, lasen Skinzines und die Protokolle von<br />
Abhör- und Observationsmaßnahmen, vergaben neue Aufträge zur Informationsbeschaffung.<br />
Nicht zuletzt durch das systematische Auswerten von Polizeiinformationen<br />
sammelten die BfV-Analysten einen riesigen Informationsschatz über<br />
die rechtsextremistische Szene in Deutschland an. Da das BfV immer dann zuständig<br />
ist, wenn rechte Gruppen überregional extremistisch tätig werden oder<br />
wenn sie sich zu einer terroristischen Vereinigung entwickeln könnten, bekam das<br />
2 Alle Zitate aus dem Protokoll der Aussage „Lothar Lingens“ vor dem NSU-<br />
Untersuchungsausschuss des Bundestags, 5. Juli 2012.
228 Dirk Laabs<br />
Amt von allen Landesämtern für Verfassungsschutz ebenfalls Informationen, um<br />
die potenzielle Gefahr koordiniert bekämpfen zu können. Dazu gehörten auch Berichte<br />
der V-Personen, die von den Landesämtern geworben worden waren. Die<br />
Mitarbeiter des BfV hatten so Zugriff auf eine sehr große Zahl von Spitzeln und<br />
Informanten, die auch über die späteren Mitglieder des NSU berichteten. Warum<br />
genau dieses Wissen nicht reichte oder nicht genutzt werden konnte, um den NSU<br />
zu stoppen, ist ungeklärt. Eine gängige Erklärung, „die Behörden“ seien allesamt<br />
auf dem „rechten Auge“ blind gewesen, gilt für das BfV keinesfalls.<br />
Rechter Terror wurde antizipiert und für möglich gehalten<br />
Nach spektakulären Terroranschlägen ist es nicht ungewöhnlich, dass eine Lesart<br />
von interessierter Seite lanciert wird, die in etwa besagt, „diese Tat war unvorstellbar“,<br />
„niemand konnte das voraussehen“. Nach den Anschlägen vom 11. September<br />
2001 wurde diese Sichtweise beispielsweise kolportiert, doch bald stellte sich<br />
heraus, dass die Pläne – Flugzeuge als Waffen einzusetzen – der CIA seit Jahren<br />
bekannt waren. Auch als nach der sogenannten Selbstenttarnung des NSU öffentlich<br />
wurde, wie die rechten Terroristen gemordet hatten, hieß es von staatlicher<br />
Seite vorschnell, diese Art von Terror – gezielte Morde, ausgeführt wie Hinrichtungen<br />
– habe man sich nicht vorstellen können. Diese Sicht wurde von den Kritikern<br />
der Behörden dankbar aufgegriffen – der Sicherheitsapparat habe in Gänze<br />
versagt. Insbesondere der ermittelnden Kriminalpolizei wurde von verschiedenen<br />
Seiten vorgeworfen, bei der Mordserie an Migranten nicht an rechtsradikale Täter<br />
gedacht zu haben, Nazis diese Taten nicht zugetraut zu haben. Diese Sichtweise<br />
überlagerte auch die Bewertung der Arbeit des zuständigen Inlandsgeheimdienstes,<br />
des BfV. Die Rede war davon, das BfV habe analytisch versagt, die Bedrohung<br />
nicht erkannt. Tatsächlich ist noch lange nicht abschließend geklärt, was das BfV<br />
wann über den rechten Terror im neuen Jahrtausend wusste und an welcher Stelle<br />
tatsächlich die entscheidenden Fehler gemacht wurden, wann und ob das Wissen<br />
oder die Analyse nicht weit genug reichte.<br />
Den entscheidenden Akteuren innerhalb des BfV war bewusst, dass es in den<br />
1970er Jahren bis hin zum Oktoberfestattentat 1980 diverse Anschläge durch<br />
verschiedene rechtsradikale Gruppen gegeben hat. Noch 1981 war eine rechte<br />
Terrorgruppe aktiv. Ende der 1980er Jahren kamen einige der Akteure dieser<br />
Terrorphase frei. Das BfV konnte also nicht davon ausgehen, dass es nie wieder<br />
rechtsextremistisch motivierte Anschläge in Deutschland geben würde. An diese<br />
Erkenntnis knüpfte auch die neue Generation des BfV um Lothar Lingen an, wie<br />
er vor dem Ausschuss des Bundestages erklärte.
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
229<br />
Weil rechter Terror immer vorstellbar war,<br />
war das BfV kompromisslos bei der Wahl der Mittel<br />
Eines der Haupteinsatzgebiete für die Abteilung Lingens in den frühen 1990er<br />
Jahren waren die neuen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen –<br />
hier warben Lothar Lingen und andere zentrale Informanten, die über die Jahre für<br />
das BfV und die Szene immer wichtiger wurden. Darunter jener Thomas Richter<br />
aus Halle an der Saale, der über Uwe Mundlos berichtete (Corelli), dazu kamen<br />
Ralf „Manole“ Marscher (Tarnname Primus), der in Zwickau lebte und Michael<br />
See aus Thüringen (Tarnname Tarif) – See war zentralen Kadern der verbotenen<br />
Freiheitliche Arbeiterpartei (FAP) besonders nah. Dazu gehörten Akteure, die sich<br />
bereits als Extremisten betätigt hatten, zudem berichtete See über Kontakte mit<br />
verurteilten Rechtsterroristen. Das BfV nimmt für sich in Anspruch, so geht es<br />
jedenfalls aus den Aussagen der BfV-Mitarbeitern vor dem NSU-Ausschuss hervor,<br />
dass man die eigenen V-Männer „im Griff“ hatte; dass man sie, sobald sie<br />
etwa Straftaten begingen, „abschaltete“, also nicht mehr mit ihnen als Informanten<br />
zusammenarbeitete. Auch habe man nie verurteilte Gewalttäter als Quellen geführt.<br />
Beide Behauptungen sind bei näherer Betrachtung nicht haltbar.<br />
Das BfV wollte unbedingt mitbekommen, wann sich von der diffusen Szene<br />
eine organisierte Terrorzelle abspalten würde. Um diese Informationen aus der gewaltbereiten<br />
rechten Szene zu bekommen, nahm die Führung des BfV daher viel<br />
in Kauf. So galt der Informant Ralf Marschner als besonders gewaltbereit; Antifaschisten<br />
in Zwickau kannten und fürchteten ihn. Gegen den V-Mann Michael See<br />
wurde wegen versuchten Totschlags ermittelt, er wurde schließlich wegen schwerer<br />
Körperverletzung verurteilt, im Gefängnis radikalisierte er sich weiter. Er zog<br />
scharfe Waffen und bedrohte damit politische Gegner – trotzdem wurde er nach<br />
seiner Zeit im Gefängnis als Informant geworben.<br />
Dieses Risiko zahlte sich – scheinbar – für das BfV aus. Vor allem Michael<br />
See und Thomas Richter berichten ausführlich über die rechte Szene. Sie verrieten<br />
Namen von Mitstreitern, Pläne für Aufmärsche und militante Aktionen. Das BfV<br />
beobachtete in dieser Phase allerdings ebenfalls, dass Informanten anderer Inlandsgeheimdienste<br />
weniger zuverlässig waren. Das galt vor allem für Tino Brandt<br />
aus Thüringen, Tarnname Otto, Kopf des „Thüringer Heimatschutzes“ (THS).
230 Dirk Laabs<br />
Tino Brandt soll 1994 vom Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV)<br />
geworben worden sein. Er behauptete sogar in einem heimlich aufgenommenen<br />
Gespräch, dass er sehr viel länger und schon als Minderjähriger dem Verfassungsschutz<br />
berichtet hatte – dafür gibt es jedoch keine Belege in den Akten des LfV<br />
Thüringen. 3<br />
Brandt hatte mit Wissen des LfV Thüringen den „Thüringer Heimatschutz“ gegründet.<br />
Durch die Beschäftigung mit dem THS stieß dann auch das Bundesamt<br />
für Verfassungsschutz auf Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe, Ralf<br />
Wohlleben und Holger Gerlach – alles mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer<br />
des NSU, die gemeinsam in Jena aufgewachsen waren, inzwischen entweder tot<br />
sind oder im Münchener NSU-Prozess angeklagt wurden.<br />
Ralf Wohlleben und Beate Zschäpe können dabei als formale Gründungsmitglieder<br />
des THS gelten – sie beantragten im Februar 1995 unter dem Namen<br />
„Interessengemeinschaft Thüringer Heimatschutz“ eine Demonstration durch<br />
Jena – „zur Bewahrung Thü ringer Idendität [sic] gegen die Internationalisierung<br />
durch die EG“. Man wollte also gegen die „EG“, die Europäische Gemeinschaft,<br />
demonstrieren, die sich damals allerdings schon EU nannte. Es ist das erste Mal,<br />
dass der Name „Thüringer Heimatschutz“ auftaucht.<br />
Zschäpe und Wohlleben wurden zu einem Gespräch bei der zuständigen Behörde<br />
geladen. Dort berichteten sie, dass man auch darüber nachdenke, eine Partei zu<br />
gründen. Vor allem Beate Zschäpe konnte bei dem Treffen jedoch nicht verheimlichen,<br />
dass die Demonstration fremdenfeindliche Tendenzen haben könnte. Die<br />
Thüringer Behörden, vor allem das Innenministerium, nahmen den Vorgang ernst.<br />
Die Demonstration wurde verboten, das Landeskriminalamt eingeschaltet, Informationen<br />
zusammengetragen. Das Innenministerium erfuhr, das Tino Brandt eng<br />
mit dem Anti-Antifa-Strategen Christian Worch aus Hamburg kooperiert, dass er<br />
etwa von Worch Schriftsätze in Sachen Demonstrationsanmeldung übernommen<br />
hat. Brandt wurde schnell als Kopf hinter der „Interessengemeinschaft Thüringer<br />
Heimatschutz“ erkannt und so auch in einem Vermerk beschrieben. Kurz nachdem<br />
er V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes geworden war, hatte er also<br />
begonnen, die Szene zu organisieren und strukturieren – und beides war den entsprechenden<br />
Führungspersonen im Thüringer Innenministerium bekannt.<br />
Die Reaktion der Thüringer Behörden auf die neue Gruppe um Brandt, Zschäpe,<br />
Wohlleben und andere ist durchaus typisch für die Bekämpfung der rechten<br />
Szene – man nahm die Mitglieder, obwohl sie noch sehr jung waren, ernst, schalte-<br />
3 Das BfV, so ergab die Beweisaufnahme des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages,<br />
hat mindestens in einem Fall auch einen Minderjährigen in Thüringen als<br />
V-Mann rekrutiert.
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
231<br />
te auch Behörden des Bundes ein, darunter auch das BfV – gleichzeitig verstrickte<br />
man sich durch die Rekrutierung führender Neonazis als V-Männer indirekt als<br />
Staat mit der Szene.<br />
Die „Interessengemeinschaft“ und später der „Thüringer Heimatschutz“ wurde<br />
ein behördlicher Vorgang und blieb es für viele Jahre. Fast nichts, was die jungen<br />
Thüringer Neonazis in den nächsten Jahren machten, blieb unbemerkt. Die Behörden<br />
betrieben einen gewaltigen Aufwand, um diese Szene aufzuklären – in den<br />
Griff bekam man sie dennoch nicht. Im Gegenteil.<br />
Wettstreit um Informanten – die „Operation Rennsteig“<br />
Im Nachgang der Selbstenttarnung des NSU erinnerten Antifaschisten daran,<br />
wie allein sie bei ihrem Kampf gegen die rechte Gewalt von den Behörden gelassen<br />
worden seien. Niemand habe damals, Mitte der 1990er Jahre, die Gefahr<br />
der rechten Szene erkennen wollen. Das stimmt für zwei der bekannten Mitglieder<br />
des NSU, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, in keinem Fall. Von Beginn<br />
ihrer extremistischen Karriere an gerieten sie in das Visier verschiedener Behörden<br />
– tatsächlich ist erstaunlich, mit welchem großen Aufwand allein der junge<br />
Uwe Böhnhardt von den Behörden beobachtet und verfolgt wurde. Durch sein<br />
Engagement beim „Thüringer Heimatschutz“ wurde er für das BfV, den Thüringer<br />
Verfassungsschutz und das Thüringer LKA interessant. Allerdings verfolgten die<br />
Institutionen bei ihrem Umgang mit Böhnhardt und dem Heimatschutz mitnichten<br />
die gleichen Ziele.<br />
Die „Interessengemeinschaft Thüringer Heimatschutz“ nannte sich bald nur<br />
noch „Thüringer Heimatschutz“. Ambitionen, eine Partei zu werden, hatte man<br />
nicht mehr, Tino Brandt und die anderen verlegten sich stattdessen verstärkt auf<br />
Anti-Antifa-Aktionen. Im Laufe des Jahres 1995 radikalisieren sich der THS und<br />
seine Mitglieder rasant. Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe waren bei<br />
vielen Aktionen des THS dabei – eine wurde auch vom BfV besonders beachtet:<br />
Zum Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges wurde in Rudolstadt, dem<br />
Heimatort von Tino Brandt, eine Gedenkveranstaltung am „Platz der Opfer des<br />
Faschismus“ organisiert. Bereits am Morgen hatten Heimatschü tzer eine Bombenattrappe<br />
vor einem anderen Denkmal in dem Nachbarort Saalfeld abgestellt.<br />
An einem Feuerlöscher waren Drähte und eine Armbanduhr montiert, davor ein<br />
Schild abgestellt: „Vorsicht Sprengarbeiten“. Uwe Mundlos beschrieb die weiteren<br />
Aktionen des Tages später in einem der Briefe, den er an einen Freund im Gefängnis<br />
schrieb:
232 Dirk Laabs<br />
„So hörte man …dass … Jugendliche sich frü h am Morgen trafen, um in Rudolstadt<br />
und Saalfeld irgendwelche Spinner die dort den ‚Opfern des Faschismus‘ gedenken<br />
wollten zu stören. Leider waren sie etwas spät …, so dass sie keinen mehr trafen. Nun<br />
was sollten sie machen, schnell nach Rudolstadt und dort dieses Pack schnappen (leider<br />
auch hier zu spät). Also mussten sie sich wohl damit begnü gen, den Gedenkstein<br />
mit Eiern zu bewerfen und die Kränze zu zertreten, so wie Wurfzettel zu hinterlassen,<br />
auf denen Verbesserungsvorschläge wie: Umbenennung des ‚Platzes der Opfer<br />
des Faschismus‘ in ‚Rudolf-Heß-Gedenkplatz‘ standen.“<br />
Später ndet die Polizei Tausende von Flugblättern in der Stadt: „Deutsche lernt<br />
wieder aufrecht zu gehen. Lieber sterben als auf Knien leben.“, „Schluss mit dem<br />
Holocaust oder Deutscher willst Du ewig zahlen?“<br />
Bei dieser Aktion wurden einige Freunde von Uwe Mundlos erwischt, wie er in<br />
seinem Brief weiter schrieb:<br />
„Leider … war die Kripo und die Bullerei vor Ort, so dass nicht allen die Flucht<br />
gelang. … Dummer Weise hatte man gleich in der Nähe Beate und ihren jetzigen<br />
Freund [Böhnhardt], Kapke und Hucke verhaftet. Nun versuchen die Deppen (Sklaven<br />
des Systems) uns damit im Verbindung zu bringen und das mit einer ganz schönen<br />
Hartnäckigkeit.“<br />
Die Thüringer Polizeibehörden nahmen den Vorfall in Rudolstadt in der Tat ernst –<br />
das Landeskriminalamt wurde eingeschaltet, eine Ermittlungsgruppe („Lunte“)<br />
wurde gegründet, die später in die Sonderkommission Rex („Soko Rex“) überführt<br />
wurde. Ab Ende 1995 ermittelte das LKA mit großem Aufwand gegen den<br />
„Thüringer Heimatschutz“, deren Kopf V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes<br />
war. Doch auch das BfV und die Abteilung von Lothar Lingen waren durch die<br />
Vorfälle in Rudolstadt und das folgende Ermittlungsverfahren hellhörig geworden.<br />
Das geht aus dem Abschlussbericht des NSU-Ausschusses des Bundestages hervor,<br />
der die Geheimakten des BfV zusammenfasst und die Ermittlungen nach dem<br />
Überfall von Rudolstadt als Ausgangspunkt der „Operation Rennsteig“ und damit<br />
als Auslöser für eine neue Rekrutierungswelle beschreibt:
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
233<br />
„Am 5. Januar 1996 bat die Projekteinheit II 2 C (Unorganisierte Militante, insbesondere<br />
Skinheads) im Projektbereich II 2 (Neonazistische Aktivitäten) die Beschaffungsprojekteinheit<br />
um die Werbung einer Quelle‚ im Bereich der militanten<br />
rechtsextremistischen Szene im Raum Rudolstadt/Saalfeld (Thü ringen), die unter<br />
dem Namen ‚Anti-Antifa Ostthü ringen‘ auftritt. Begrü ndet wurde der Wunsch zum<br />
einen mit der Einleitung des Ermittlungsverfahrens im Herbst 1995 wegen Bildung<br />
einer kriminellen Vereinigung, zum anderen mit Kontakten von fü hrenden Aktivisten<br />
der Gruppierung ins Ausland. Die durch eine Quelle des LfV Thü ringen (vermutlich<br />
„2045“ – Tino Brandt) beschafften Informationen seien nicht ausreichend.“ 4<br />
Ehemalige V-Mannführer von Brandt behaupten hartnäckig, dass sie ihren Informanten<br />
unter Kontrolle gehabt hätten, und betonen, dass er eine Spitzenquelle<br />
gewesen sei. Das Bundesamt für Verfassungsschutz sah das jedoch offenbar zu<br />
Recht anders. Der Vorfall in Rudolstadt hatte gezeigt, dass Brandt offenbar von<br />
den Bombenattrappen und geplanten Übergriffen wusste, den Thüringer Verfassungsschutz<br />
jedoch nicht rechtzeitig gewarnt hat. Das BfV wollte deshalb Quellen<br />
rekrutieren, um unabhängig von Tino Brandt zu werden. Verschiedene Inlandsgeheimdienste,<br />
der MAD, das BfV und das Landesamt für Verfassungsschutz in<br />
Thüringen, wollten also den THS nicht stoppen, sondern unter anderem als Reservoir<br />
für neue Informanten benutzen. Für das BfV schienen insbesondere die<br />
Kontakte des THS ins Ausland interessant gewesen zu sein – um welche Kontakte<br />
es dabei genau ging, ist bislang nicht ausreichend beleuchtet worden. In diesem<br />
Zusammenhang sind Beziehungen von Uwe Mundlos nach Belgien interessant, die<br />
aber bislang von den Ermittlern ebenfalls nicht erhellt werden konnten.<br />
Der Wunsch des BfV, Informanten zu werben, die von Brandt unabhängig berichten<br />
konnten, löste einen verdeckten Wettstreit zwischen Polizeibehörden und<br />
Geheimdiensten aus – die einen wollten Strafanzeigen, die anderen Informanten.<br />
Der THS hätte rechtzeitig zerschlagen werden können<br />
Seit der sogenannten Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wird kontinuierlich<br />
diskutiert, wie Rechtsextremisten effektiver bekämpft werden können.<br />
Mit reformiertem Verfassungsschutz, ganz ohne Verfassungsschutz, nur mit den<br />
Staatsschutzabteilungen der Polizei? Diese Frage kann an dieser Stelle nicht abschließend<br />
geklärt werden, dennoch lässt sich über die Vorphase des NSU mit<br />
Bestimmtheit eines feststellen: man hätte die Mitglieder der Gruppe allein mit<br />
polizeilichen Mitteln aufhalten und die Strukturen zerschlagen können. Ob sich<br />
4106<br />
S.
234 Dirk Laabs<br />
Schlüsselmitglieder des THS im Gefängnis oder danach allerdings trotzdem in<br />
den Untergrund begeben hätten, ist heute nicht mehr zu beantworten. Dass man<br />
aber nichts in der Hand hatte, um etwa Uwe Böhnhardt zu stoppen, oder zu behaupten,<br />
Mundlos und Böhnhardt seien „nur kleine Lichter“ in der Szene gewesen<br />
und daher nicht aufgefallen, wie es einige Zeugen vor verschiedenen Ausschüssen<br />
behauptet haben, ist absurd. Die beiden wurden gleichsam in Jena zu den „üblichen<br />
Verdächtigen“, die fast jeder Polizist und Geheimdienstler vor Ort kannte.<br />
Auch dem Thüringer Landeskriminalamt (LKA) waren die beiden schnell ein<br />
Begriff, als es im Jahr 1996 immer aktiver gegen den „Thüringer Heimatschutz“<br />
vorging. Das LKA ermittelte gegen den THS wegen der Bildung einer kriminellen<br />
Vereinigung. Telefone wurden abgehört, Treffen der Gruppe ge lmt, Mitglieder<br />
observiert. Das BfV forschte parallel zig Mitglieder des THS aus, um sie als Informanten<br />
zu rekrutieren. Mitglieder des „Heimatschutzes“ wiederum legten mehrere<br />
Bombenattrappen in Thüringen ab. Eine Bombenattrappe wurde im Jenaer<br />
Stadion während eines Bundesligaspiels unter einer Tribüne platziert, eine andere<br />
an eine Puppe gehängt, die von einer Autobahnbrücke baumelte und an der ein<br />
„Judenstern“ befestigt war. Die rechte Szene war für einige der erfahrenen LKA-<br />
Ermittler, die sich zuvor mit der organisierten Kriminalität beschäftigt hatten,<br />
dennoch nicht schwer zu knacken – die Objekte der Fahndung, die jungen Neonazis,<br />
waren Amateure, blutige Anfänger. Bald verzeichneten die Ermittler so erste<br />
Fahndungserfolge. Ein Neonazi belastete Uwe Böhnhardt, ein Mitglied des THS<br />
bot sich zudem als Informant für die Polizei an und berichtete umfassend über den<br />
„Thüringer Heimatschutz“. Er sagte gegen Tino Brandt aus, berichtete, dass der V-<br />
Mann Heimatschützer zu einer schweren Körperverletzung angestiftet haben soll.<br />
Nach wenigen Monaten Ermittlungsarbeit konnte das LKA Thüringen so ein<br />
Dossier über den THS zusammenstellen, in dem Uwe Böhnhardt, Ralf Wohlleben<br />
und Beate Zschäpe namentlich erwähnt wurden. Bereits im September 1996<br />
wurde das Dokument an das BKA und die Bundesanwaltschaft geschickt. In dem<br />
Dossier listet die Soko auf, dass der „Heimatschutz“ in gut einem Jahr 41 Straftaten<br />
begangen hatte, 80 Straftäter wurden ermittelt. Zu den Taten zählte das LKA<br />
einen Sprengstoffanschlag auf das Flü chtlingsheim in Jena, durchschnittene Kabel<br />
von Funkantennen der Polizei in Saalfeld, die Puppentorsi und Bombenattrappen.<br />
In dem Dossier waren Seiten aus dem Buch „Der totale Widerstand“ abgelichtet,<br />
das sich Tino Brandt bestellt hatte, auf den exemplarischen Seiten wurde erläutert,<br />
wie man Eisenbahnschienen sabotiert und aus Wasserleitungen Rohrbomben baut.<br />
Tino Brandt wurde mit dem lapidaren Satz zitiert: „Die Anti-Antifa kann man ruhig<br />
verbieten, damit rechnen wir, wir nennen uns dann anders und machen weiter.“<br />
Als Ziele des „Heimatschutzes“ wurden mehrere Punkte aufgefü hrt:
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
235<br />
„Organisation des nationalen und sozialistischen Widerstandes, Zermü rbung und<br />
Aufsplitterung der Behörden durch laufende und wiederholte Versammlungsanmeldungen<br />
mit Durchfechtungen in allen Rechtsinstanzen, Anzeigen und Dienstaufsichtsbeschwerden<br />
gegen Amtsträger, In ltrierung der Behörden von Gesinnungsgenossen<br />
in Sicherheitseinrichtungen wie Bundeswehr, Polizei, öffent. Verwaltung<br />
u. a.“<br />
Diese Ziele leitet die Soko im Wesentlichen aus einer Ausgabe des Neonazi-Blattes<br />
„Sonnenbanner“ ab, das der BfV-Informant Michael See mit herausgegeben<br />
hatte. Das LKA zitiert mehrmals in der Präsentation fü r das BKA aus dem „Sonnenbanner“:<br />
„Wir haben nicht hundert diffuse politische Forderungen – Wir haben nur ein Ziel!<br />
Die absolute Macht! … Politische Macht dient nur einem Zweck: Die Schaffung<br />
eines starken freien Deutschlands, das sich in allen Bereichen von Staat und Gesellschaft<br />
an der Idee des nationalen Sozialismus orientiert. … Nationaler Sozialismus<br />
ist kein politischer Gedanke, er ist eine Weltanschauung. … Die Härte der Auseinandersetzung,<br />
die Gefahren und die abverlangten und gebrachten Opfer machen uns<br />
zu einer Elite…“<br />
Die Ausrichtung des THS, die Gewaltbereitschaft der Mitglieder, das Ziel, in<br />
Deutschland erneut einen NS-Staat zu schaffen – das alles war dem LKA, dem<br />
BKA, der Bundesanwaltschaft mit diesem Dossier im September 1996 klar. Dennoch<br />
konnte die Thüringer Szene sich weiter radikalisieren – auch weil V-Männer<br />
geschützt und von den VS-Behörden nanziert wurden.<br />
„Es besteht die Gefahr, dass Quellen sich gegenseitig zu<br />
größeren Aktionen anstacheln“<br />
Das Dossier des LKA macht zudem deutlich, dass Brandt der Kopf des THS war<br />
und dabei wiederum Weisungen von Kai Dalek erhielt, einem Rechtsextremisten<br />
aus Bayern, der für das dortige Landesamt für Verfassungsschutz arbeitete. Den<br />
Beamten der Soko des LKA war zu diesem Zeitpunkt keineswegs bewusst, dass<br />
drei der in ihrem Dossier aufgeführten Schlüsselguren – See, Brandt, Dalek – als<br />
V-Männer für verschiedene Dienste arbeiteten. Dem Bundeskriminalamt dagegen,<br />
ebenfalls Adressat des Dossiers, war dagegen schon seit längerem klar, dass die<br />
militante Neonazi-Szene in Deutschland massiv von V-Männern unterwandert<br />
war, die insbesondere für das BfV arbeiteten. Es gab deswegen eine Krisensitzung<br />
der Präsidenten von BfV und BKA – als Ergebnis entstand ein „Thesenpapier“
236 Dirk Laabs<br />
des Bundeskriminalamtes, das die Problematik nahezu allgemeingültig auf den<br />
Punkt bringt:<br />
„Es besteht die Gefahr, dass der Quellenschutz eine frü hzeitige und vollständige<br />
Information, die zur Gefahrenabwehr erforderlich ist, behindert.… Vertrauenspersonen<br />
(VP)/ Quellen des Verfassungsschutzes (VS) wirken massgeblich in fü hrenden/<br />
exponierten Positionen an der Vorbereitung von Veranstaltungen/ Versammlungen/<br />
Aktionen mit. Es besteht die Gefahr, dass Quellen sich gegenseitig zu größeren Aktionen<br />
anstacheln. Somit erscheint es fraglich, ob bestimmte Aktionen oder innovative<br />
Aktivitäten dieser Quellen ü berhaupt in der späteren Form stattgefunden hätten.<br />
Auch ist der ‚Brandstifter-Effekt‘ nicht unwesentlich, da statistisch nachweisbar insbesondere<br />
nach sog. ‚Gedenktagen‘ ein Ansteigen z. B. antisemitischer Straftaten zu<br />
verzeichnen ist.“ 5<br />
Das BKA formuliert in dem Papier an das Bundesamt eine Erwartungshaltung:<br />
„Quellen in maßgeblichen Schlü sselpositionen der rechtsextremistischen Szene<br />
könnten z. B. den Ablauf von Aktionen so steuern, dass keine umfangreichen Maßnahmen<br />
zur Gefahrenabwehr erforderlich werden.“ Das jedoch passiert nicht. Im<br />
Gegenteil. Auch das Thesenpapier des BKA hält fest:<br />
„… die Mehrzahl der Quellen sind nach dem Ergebnis der Ermittlungen [des BKA]<br />
ü berzeugte Rechtsextremisten. Bei diesen entsteht der Eindruck, unter dem Schutz<br />
des VS im Sinne ihrer Ideologie ungestraft handeln zu können und die Exekutive<br />
nicht ernst nehmen zu mü ssen. Es besteht die Gefahr, dass die Quellen nicht vollständig<br />
und umfassend berichten, sondern wesentliche Komplexe auslassen, eigene<br />
Tatbeteiligungen beschönigend darstellen oder auch je nach Sachlage ü bertreiben,<br />
wodurch gegebenenfalls der Eindruck strafrechtlicher Relevanz erweckt wird.“<br />
Das BKA hat eine klare Forderung:<br />
„In den Fällen, in denen die Quelle ‚aus dem Ruder läuft‘, sollte der VS auch die<br />
Strafverfolgung vor den Schutz der Quelle stellen.“<br />
Am Ende des Jahres 1996 hat man beim BKA schließlich genug, es wurde ein<br />
Treffen zwischen den Präsidenten des BKA und des Bundesamtes vereinbart. In<br />
einem Memo ü ber das Gespräch heißt es:<br />
5 Alle Zitate aus dem BKA-Thesenpapier vom 03.02.1997.
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
237<br />
„Die Exekutive [also das BKA] ist über Person und Tätigkeit von Quellen in der<br />
Regel nicht unterrichtet. Es besteht die Gefahr, dass die Zusammenarbeit zwischen<br />
Quellen und VS im Rahmen der Ermittlungsverfahren aufgedeckt wird und somit<br />
ggf. die VS-Maßnahme ins Leere läuft oder Ermittlungsverfahren aufgrund falscher<br />
Quellenmeldungen eingeleitet werden.“<br />
Mit anderen Worten: Das BKA wollte auch wissen, wer Quelle ist, um sie besser<br />
schü tzen zu können. Doch das BKA kritisierte weiter, dass das BfV seine V-Männer<br />
an einer zu langen Leine fü hrt – nicht nur werden die Quellen vor Durchsuchungen<br />
durch die Polizei gewarnt, sie behalten das Wissen nicht fü r sich:<br />
„Es war festzustellen, dass diese Warnung innerhalb der Szene ‚an gute Kameraden‘<br />
weitergegeben wird. Es besteht die Gefahr, dass Beweismittel vor Eintreffen der Exekutive<br />
vernichtet werden.“<br />
Das BKA fü hrt das Beispiel von Norbert Weidner an, einem fü hrenden Mitglied<br />
der FAP und Vordenker der Anti-Antifa-Bewegung – ebenfalls ein V-Mann:<br />
„In dem Ermittlungsverfahren gegen Gary Rex Lauck u. a. gab der Vater des Beschuldigten<br />
Norbert Weidner als Zeuge an, er habe sich schon lange gewundert, wie<br />
gut sein Sohn ü ber polizeiliche und justizielle Maßnahmen informiert gewesen sei.<br />
Insbesondere vor der Durchsuchung anlässlich des FAP-Verbots am 24.02.1995 habe<br />
sein Sohn angegeben, eine Durchsuchung stü nde bevor. In der Nacht vorher habe er<br />
mittels Reißwolf zwei Abfallsäcke voller Unterlagen vernichtet.“<br />
Eine weitere Quelle des BfV, ebenfalls sehr jung rekrutiert, war ebenfalls auffällig<br />
– Thomas Richter alias Corelli:<br />
„Im Rahmen der Ermittlungen gegen die NSDAP-AO wurde das BfV absprachegemäß<br />
ü ber eine bevorstehende Durchsuchung bei Thomas Richter aus Halle informiert.<br />
Bei der Durchsuchung am 07.09.1994 wurde Richter nicht angetroffen und<br />
blieb auch in der Folgezeit untergetaucht.“<br />
Schließlich stehen die Quellen in einem zu engen Kontakt mit dem Bundesamt,<br />
bemängelt das BKA. So der Neonazi Stephan Wiesel. Das BKA schreibt:
238 Dirk Laabs<br />
„Zu der Aktion des Wiesel am 20.04.1996 in Bonn [anlässlich des Geburtstages von<br />
Adolf Hitler] war der VS allgemein ü ber die Überwachungsmaßnahme des BKA<br />
unterrichtet. Wiesel machte telefonisch seinem Quellenfü hrer den Vorwurf, nicht<br />
vorher gewarnt worden zu sein. Dies deutet auf eben diese geü bte Praxis hin.“<br />
Der Mann, Wiesel, wurde an dem fraglichen Tag verhaftet. Die Polizei gestattet<br />
ihm, mit seinem Anwalt zu telefonieren. Stattdessen telefonierte er dreimal mit<br />
seinem Quellenfü hrer, der „massiv auf das Aussageverhalten von Wiesel Einuss“<br />
nahm, wie das Bundeskriminalamt später vermerkte. Die Forderung des BKA-<br />
Präsidenten: „Bei bevorstehenden Exekutivmaßnahmen sollen Warnungen an die<br />
Quellen unterbleiben.“ Aber auch dieser Forderung wird das BfV nicht nachkommen.<br />
Das Papier des BKA macht unmissverständlich klar, dass das BfV V-Männer<br />
vor Durchsuchungsmaßnahmen gewarnt und damit vor einer Strafverfolgung geschützt<br />
hat. Im selben Zeitraum wird auch Tino Brandt von seinen Thüringer V-<br />
Mannführern immer wieder vor Durchsuchungen angerufen. Und obwohl Brandt<br />
wegen schwerem Landfriedensbruchs in erster Instanz verurteilt wurde, bleibt er<br />
auf freien Fuß – die zweite Instanz wurde dann über Jahre verschleppt, so dass<br />
er weiter aktiv in der Szene bleiben konnte. Der „Thüringer Heimatschutz“ radikalisierte<br />
sich so weiter. Die Strafverfolgung wurde in Thüringen durch den Verfassungsschutz<br />
behindert. Mehrere ehemalige und noch aktive Beamte des LKA<br />
Thüringens haben das vor dem NSU-Ausschuss des Landtages in Erfurt beschrieben.<br />
Ein Beamter, der beim BKA ausgebildet worden war, konnte sich damals<br />
schlicht nicht vorstellen, dass es in Deutschland möglich war, dass ein Akteur wie<br />
Tino Brandt V-Mann des Verfassungsschutzes ist. Er irrte.<br />
Die Ermittlungen des BKA und die Beweisaufnahme durch verschiedene parlamentarische<br />
Untersuchungsausschüsse zeigt zudem: Das Bundesamt für Verfassungsschutz<br />
stellt auch weiterhin den Quellenschutz über die Strafverfolgung. Das<br />
BfV hat weder gegenüber dem BKA noch gegenüber dem Ausschuss des Bundestages<br />
eine einzige ihrer zentralen Quellen enttarnt.<br />
Auch die Justiz versagte in Thüringen<br />
Die rechte Szene in Thüringen konnte sich auch weiter radikalisieren, weil sich<br />
verschiedene Verfassungsschutzbehörden einmischten. Für die Polizei wurde die<br />
Lage Ende 1996 noch komplizierter. Ohne erkennbare Gründe wurden Ermittler<br />
aus der erfolgreichen Soko Rex abgezogen und versetzt. Vernetztes Wissen ging<br />
verloren. Da das LKA zu dem Zeitpunkt wegen diverser Skandale unter großem
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
239<br />
öffentlichen Druck stand, wurde von Seiten der LKA-Leitung oftmals die Ermittlungstaktik<br />
über den Haufen geworfen – ohne Konzept und oftmals Anlass wurden<br />
bei Mitgliedern des „Heimatschutzes“ Hausdurchsuchungen durchgeführt. Man<br />
wollte um jeden Preis der Presse Ermittlungserfolge und beschlagnahmte Gegenstände<br />
präsentieren. Auch als Reaktion auf diese Durchsuchungen verschärfte der<br />
„Thüringer Heimatschutz“ und hier insbesondere die „Kameradschaft Jena“ ihren<br />
Kampf. Briefbombenattrappen wurden Anfang 1997 an verschiedene Behörden in<br />
Thüringen verschickt, weitere Bombenattrappen tauchten in der Stadt auf, schließlich<br />
wurden in einer Attrappe einige Gramm TNT gefunden. Das LKA ermittelte,<br />
zum Teil mit neuem Personal, weiter, und stieß abermals auf Hinweise, die Uwe<br />
Böhnhardt belasteten. Man hatte bald genügend Beweise, um Böhnhardt für lange<br />
Zeit ins Gefängnis zu bringen.<br />
Doch zu der Geschichte der Auseinandersetzung der Behörden mit dem NSU<br />
und seinen Vorläufern gehört auch, dass verschiedene Ebenen der Justiz ebenfalls<br />
versagten. Obwohl klare Hinweise von Ermittlern der Polizei zusammengetragen<br />
worden sind, dass die Kameradschaft Jena und der „Thüringer Heimatschutz“ zusammengehörten,<br />
wurden die Ermittlungen in Sachen der verschiedenen Bombenattrappen<br />
und die gegen den THS nicht gebündelt. Die Ermittlungen liefen<br />
nebeneinander her. Der zuständige Staatsanwalt erkannte die Zusammenhänge<br />
und Strukturen nicht oder wollte sie nicht erkennen. Ende 1997 hatten sich genug<br />
Beweise angesammelt, die gereicht hätten, ein Verfahren gegen den THS als kriminelle<br />
oder terroristische Vereinigung zu eröffnen. So sagt der Staatsanwalt Gerd<br />
Michael Schultz vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin:<br />
„Wir konnten am Ende nach diversen Maßnahmen wie Beobachtungen, Observationen<br />
letzten Endes keinen Beweis dafür erbringen, keine konkreten Beweise, dass<br />
eine Vereinigung, der „Thüringer Heimatschutz“ oder die Kameradschaft oder wer<br />
auch immer, gegründet worden wäre mit dem Zweck, Straftaten zu begehen. Zwar<br />
haben einzelne Mitglieder oder einzelne Leute, die wir den Vereinigungen zuordnen,<br />
alleine oder gemeinsam Straftaten begangen. Aber dass diese Vereinigung jetzt zu<br />
dem Zwecke gegründet worden war, Straftaten zu begehen, haben wir nicht feststellen<br />
können. Es gab öfter mal Beobachtungen, dass im Wald Kriegsspiele veranstaltet<br />
wurden oder öfter mal Treffen von Rechten waren, aber unterm Strich hatten wir<br />
keine Personen. Zum Beispiel bei diesen Kriegsspielen im Wald hatten wir keine<br />
Namen.“ 6<br />
6 Aussage von Gerd Michael Schultz in der 49. Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses<br />
des Bundestages am 17.01.2013.
240 Dirk Laabs<br />
Einige der damaligen Ermittler widersprechen dieser Sichtweise vehement. Der<br />
Staatsanwalt hat zudem nicht einmal alle Beweismittel ausgewertet, als er das Verfahren<br />
gegen den THS einstellte.<br />
Derselbe Staatsanwalt war dagegen durchaus hartnäckig, als es um eines der<br />
wichtigsten Mitglieder der Kameradschaft Jena und des THS ging – Uwe Böhnhardt.<br />
Böhnhardt war seit seiner Jugend kriminell, er stahl Autos, lieferte sich dabei<br />
Verfolgungsjagden mit der Polizei, er erpresste andere Jugendliche, schlug sie<br />
zusammen (siehe auch Beitrag von Würstl in diesem Band). Böhnhardt verbrachte<br />
einige Monate im Gefängnis und sollte 1993, da ein Richter eine hohe kriminelle<br />
Energie bei ihm ausmachte, zu drei Jahren Haft verurteilt werden. Doch die Schöffen<br />
überstimmten ihn. Böhnhardt kam auf Bewährung frei – er hielt sich zurück,<br />
was seine kriminellen Aktivitäten anbelangte, el aber sofort als extremes Mitglied<br />
des „Heimatschutzes“ auf. Auch bei dem Überfall in Rudolstadt im September<br />
1995 wurde er erwischt und festgenommen. Sein Zimmer in der Wohnung seiner<br />
Eltern wurde durchsucht, es wurde eine Laser-Zielvorrichtung für eine Waffe<br />
gefunden. Das LKA übernahm die Ermittlungen. Schon im Frühjahr 1996 wurde<br />
Böhnhardt – nur auf Bewährung auf freiem Fuß – wegen dieses Fundes zu zwei<br />
Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Waffenexperten des LKA und der<br />
ehemalige Leiter der Soko Rex hatten ihn schwer belastet, der Staatsanwalt, der<br />
auch gegen den THS ermitteln ließ, blieb an der Sache dran. Im Dezember 1996, in<br />
der zweiten Instanz, wurde dieses Urteil jedoch, ohne Nennung von Gründen, vom<br />
Landgericht in Gera aufgehoben. Ein ungewöhnlicher Vorgang. Die Hintergründe<br />
dieser Entscheidung sind bis heute nicht aufgeklärt, der verantwortliche Richter<br />
musste sich bislang nicht erklären.<br />
Das Thüringer LKA konnte in dieser entscheidenden Phase wiederholt genug<br />
Beweise gegen den THS oder einzelne Mitglieder sammeln – doch aus verschiedenen<br />
Gründen blieben konkrete Anklagen und Urteile aus. Auch aufgrund der<br />
Erfahrung des BKA mit dem BfV, die in dem geheimen Thesenpapier dargestellt<br />
wurden, besteht in Thüringen ebenfalls der Verdacht, dass gezielt Verfahren sabotiert<br />
wurden, um geheimdienstliche Quellen zu schützen. Auch um diesem Verdacht<br />
nachzugehen, wird vom Landtag Thüringen ein weiterer NSU-Ausschuss<br />
eingesetzt.<br />
Gesteuertes Abtauchen in den Untergrund?<br />
Verschiedene Problemfelder überschnitten sich 1997 – in der Hochphase des<br />
„Thüringer Heimatschutzes“ – in Thüringen. Mehrere Inlandsgeheimdienste konkurrierten<br />
um Informanten in der rechten Szene, die Polizeiermittlungen wurden
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
241<br />
behindert, vorhandene Beweismittel aus verschiedenen Gründen nicht konsequent<br />
genutzt, um die rechtsradikalen Strukturen mit Mitteln der Justiz zu zerschlagen.<br />
Eine Führung durch das zuständige Innenministerium fehlte oder war von fragwürdigen<br />
Motiven – dem Quellenschutz von mutmaßlich zentralen Informanten –<br />
fehlgeleitet.<br />
Nur vor diesem Hintergrund kann man das Untertauchen von Uwe Böhnhardt,<br />
Uwe Mundlos und Beate Zschäpe verstehen. Im November 1997 sollen Observanten<br />
des Thüringer Verfassungsschutzes Mundlos und Böhnhardt zu einer Garage<br />
gefolgt sein. Böhnhardt war zuvor vom Mobilen Einsatzkommando (MEK) im<br />
Auftrag des LKA beschattet worden, obwohl er inzwischen in zweiter Instanz für<br />
den Handel mit Nazirock zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde und kurz<br />
vor seinem Haftantritt stand. Wer dem Verfassungsschutz warum den Auftrag gegeben<br />
hat, die beiden jungen Neonazis zu beschatten, konnten die zuständigen<br />
Untersuchungsausschüsse nicht endgültig klären. Erst im Januar 1998 wurde die<br />
Garage vom LKA durchsucht. Der Einsatz begann mit Verzögerung, die zentralen<br />
Zeugen erinnern den Ablauf höchst unterschiedlich. Fest steht inzwischen nur,<br />
dass Böhnhardt mit seinem Auto davonfahren konnte, obwohl er bereits mitbekommen<br />
hatte, dass man Rohrbomben in der Garage gefunden hatte, die ihm zugeschrieben<br />
wurden. Böhnhardt konnte so mit Uwe Mundlos und Beate Zschäpe<br />
iehen. Dass man Uwe Böhnhardt und die anderen bewusst hat abtauchen lassen,<br />
wird auch von ehemaligen Mitgliedern des Thüringer NSU-Ausschusses in Erfurt<br />
noch immer nicht ausgeschlossen. Bis zum Schluss waren die Drei mit dem<br />
V-Mann Tino Brandt in Kontakt. Die Verfassungsschutzbehörden bekamen auch<br />
mit, dass sich zuvor ein harter Kern des THS traf, dessen Mitgliedern die Gesamtgruppe<br />
zu lasch war. Zu diesen überzeugten „Kadern“ gehörten auch Böhnhardt,<br />
Brandt und Mundlos. Bis heute ist unklar, ob Brandt von diesen Treffen die entscheidenden<br />
Details berichtet hat. Brandt, so viel steht fest, hat Böhnhardt, Mundlos<br />
und Zschäpe auf der Flucht aktiv unterstützt und – wie er es zuvor auch getan<br />
hatte – den Verfassungsschutz bewusst desinformiert und falsche Fährten gelegt,<br />
mutmaßlich, um die Drei zu schützen.<br />
Auch ohne die Hilfe von Brandt wussten die Verfassungsschutzbehörden schon<br />
nach wenigen Wochen, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nach Chemnitz ge-<br />
ohen waren. Sie konnten dabei auf abgehörte Telefonate, Meldungen von V-Männern<br />
und Informationen, die man bei der Polizei abgeschöpft hatte, zurückgreifen.<br />
In Chemnitz lebte Thomas Starke, der Freund von Uwe Mundlos, sowie andere<br />
Skinheads, mit denen die „Drillinge“, wie sie behördenintern genannt wurden, seit<br />
langem befreundet waren. Den Verfassungsschutzbehörden wurde auch schnell<br />
klar, wer die Drei konkret unterstützte – eben Starke und vor allem Jan Werner –<br />
die Köpfe der sächsische „Blood and Honour“-Sektion. Auf thüringischer Seite
242 Dirk Laabs<br />
half Ralf Wohlleben seinen Freunden, was dazu führte, dass ihm das LfV Thüringen<br />
und das BfV wochenlang mit einem Flugzeug folgten.<br />
Die Drillinge gerieten durch ihre Nähe zu Starke und Werner zuvor in das Visier<br />
vieler Behörden, die gar nicht nach ihnen suchten. Diverse Landeskriminalämter<br />
und Geheimdienste waren aus verschiedenen Gründen an Jan Werner, Thomas<br />
Starke und „Blood and Honour“ interessiert – es ging um Verfahren wegen<br />
Handels mit Nazirock, Volksverhetzung und anderen Delikten. 1998, in dem Jahr,<br />
in dem Böhnhardt und die anderen nach Chemnitz kamen, liefen daher diverse<br />
Operationen der verschiedenen Polizei- und Verfassungsschutzeinheiten parallel.<br />
Das LfV Sachsen hatte zudem mindestens zwei V-Männer in Chemnitz und damit<br />
in der Nähe des „Trios“ platziert – deren Berichte wurden aber bislang auf<br />
parlamentarischer Ebene nicht ausgewertet, unter anderem weil die Mehrheit der<br />
Mitglieder des sächsischen NSU-Untersuchungsausschusses keine V-Mann-Akten<br />
beantragt hatte, da ein NPD-Abgeordneter ebenfalls Mitglied des Ausschuss war.<br />
„Falls es nicht bald einen radikalen weißen Gegenschlag in<br />
Form einer Endlösung gibt…“<br />
In Chemnitz und innerhalb der rechten Szene wurde zum Zeitpunkt der Ankunft<br />
der Drillinge aus Jena die Anwendung von Gewalt vermehrt diskutiert. Thomas<br />
Starke hatte Mundlos bereits einmal Sprengstoff besorgt, sein ideologischer Hintergrund<br />
barg zusätzliche Sprengkraft in sich: gemeinsam mit den anderen aus<br />
dem „Blood and Honour“-Widerstand folgte er nicht mehr nur einer reinen nationalistisch-sozialistischen<br />
Lehre, der Rassismus stand nun im Vordergrund, der<br />
zu dem Schlachtruf „Race before Nation“ verdichtet wurde. Die Anhänger von<br />
„Blood and Honour“ folgten so dem Grundkonzept des „Weißen Arischen Widerstands“,<br />
das vor allem einen führerlosen Widerstand vorsah.<br />
Dem BfV war in dieser Zeit durch diverse eigene und Fremdinformanten bewusst,<br />
was innerhalb der „Blood and Honour“-Bewegung diskutiert wurde: Ein<br />
bewaffneter Kampf, „Widerstand“ gegen die „ZOG“ – „Zionist Occupied Government“,<br />
Anschläge, Überfälle auf Banken. In diversen theoretischen Papieren<br />
wurde immer wieder zum Kampf aufgerufen – im Geiste des „Weißen Arischen<br />
Widerstands“. So hieß es in einem Text der Bewegung:
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
243<br />
„Wir wissen, und es ist wissenschaftlich erwiesen, daß die Flut farbiger Einwanderer<br />
– nicht jetzt, nicht morgen, aber sehr, sehr bald – die weißen Europäer zu<br />
einer Minderheit werden lassen. Mit anderen Worten, wir werden das letzte bisschen<br />
Kontrolle, das wird noch über unsere eigenen Länder haben, verlieren. ... Falls es<br />
nicht bald einen radikalen weißen Gegenschlag in Form einer Endlösung gibt, um<br />
dieses Problem zu bewältigen, wird die oben beschriebene dunkle Zukunft unser<br />
Ende sein.…<br />
Glauben wir wirklich an die grenzenlose Boshaftigkeit von ZOG [Zionist Occupied<br />
Government] und das Entstehen eines Rassenkrieges? Stehen wir hinter dem Slogan<br />
›Sieg oder Tod‹? Oder sind das bloß bedeutungslose Texte einer White Power-Rock<br />
CD, die auf voller Lautstärke im Beisein einiger betrunkener Freunde gespielt wird<br />
bei ein paar Flaschen Bier ... Unsere Slogans ... sind ernst gemeinte Worte und Aufrufe,<br />
zu den Waffen zu greifen. Dies ist ES, und diejenigen, die nicht bereit sind,<br />
das ultimative Opfer zu erbringen, um die Zukunft unseres arischen Ursprungs zu<br />
sichern, sollen jetzt aufhören zu lesen!“ 7<br />
Angeblich, so ein Zeuge vor dem NSU-Ausschuss in Berlin, habe man diese Diskussionen<br />
innerhalb des BfV nicht ernst genommen, weil man den Zielpersonen<br />
in Chemnitz – etwa Jan Werner – Gewalt nicht zugetraut habe. Das erklärt jedoch<br />
nicht, warum das BfV dennoch diesen großen Aufwand betrieb, um die Gruppe<br />
„Blood and Honour“ aufzuklären und im Griff zu behalten. Vor allem Jan Werner<br />
wurde über Jahre fast lückenlos abgehört, verschiedene Dienste konnten mithören<br />
und in seinen vielen SMSen mitlesen, wie er Konzerte von „Blood and Honour“-<br />
Bands organisierte und dabei Kontakte in ganz Europa knüpfte.<br />
Auch Thomas Starke wurde abgehört, in seinem Fall vom LKA Thüringen, das<br />
tatsächlich auf der Suche nach den Drillingen war. Bei Starke hätten die Ermittler<br />
Anfang 1998 allein anhand von Telefonaten und Kurznachrichten mitverfolgen<br />
können, dass er gerade drei „Kameraden“ in Chemnitz unterbrachte und dafür<br />
diverse andere „Kameraden“ um Hilfe bat. Trotzdem geschah nichts.<br />
Im Fall von Jan Werner fehlen allerdings zentrale Dokumente in den Akten.<br />
So hatten die Verfassungsschutzbehörden durch V-Mann-Meldungen und Abhörmaßnahmen<br />
mitbekommen, dass Werner auf der Suche nach Waffen war – für die<br />
Drillinge, die „weitere Überfälle“ planen würden. Berichtet hat das ein V-Mann<br />
des LfV Brandenburg – der Berliner Carsten Szczepanski alias Piatto. Szczepanski<br />
durfte mit einer Sondergenehmigung das Gefängnis verlassen, um direkt in<br />
Chemnitz, nahe an Jan Werner und den anderen Unterstützern des NSU, zu operieren.<br />
Piatto konnte so präzise über die damaligen Pläne des Trios berichten – man<br />
brauche Waffen, plane Überfälle. An seinem Fall werden nun abermals die strate-<br />
7 Max Hammer: „The Way Forward“, aus dem Jahr 1997.
244 Dirk Laabs<br />
gischen Interessen des BfV deutlich. Denn beim Bundesamt bekam man mit, dass<br />
das LfV Brandenburg unsauber gearbeitet hatte – Piatto telefonierte mit einem<br />
Handy, das auf das Innenministerium in Potsdam zugelassen war. Mit diesem<br />
Handy geriet er in die Telefonüberwachung des LKA Thüringens, das auf der Suche<br />
nach den Drillingen war – just zu dem Zeitpunkt, als sich Jan Werner um Waffen<br />
für die Drei – offenbar mit der Hilfe von Piatto – bemühte. Das BfV warnte<br />
aber das LfV Brandenburg, dass das Handy von Piatto bald aufiegen könnte und<br />
Piatto damit – von der Polizei – enttarnt wäre. Das Handy wurde abgeschaltet, die<br />
Arbeit des LKA Thüringen damit sabotiert. Es war dem BfV also wichtiger, die<br />
Quelle Piatto zu schützen, als zuzulassen, dass die Polizei das Umfeld des Trios<br />
aufklärt und ihm näherkommt. Die Einstellung des BfV gegenüber den Drillingen<br />
war ein dynamischer Prozess – mal nahm man die drei untergetauchten ernster,<br />
mal waren andere Zielobjekte wichtiger. Unumstößlich war in jedem Fall die Regel<br />
seitens des BfV, keine wichtige Quelle in der Szene durch eine Operation – und<br />
sei es die Suche nach „Bombenbastlern“ – zu gefährden.<br />
Zudem muss an dieser Stelle betont werden, dass das LKA Thüringen – in diesem<br />
Fall die zuständigen Zielfahnder – keineswegs heißen Spuren konsequent gefolgt<br />
wären. Man sei überlastet gewesen, erklärten die Zielfahnder später, habe<br />
deswegen etwa die Telefonüberwachung nicht gründlich genug auswerten können.<br />
Inzwischen lässt sich durch die erhaltenen Protokolle feststellen, dass Werner<br />
einen engen Dialog mit Piatto führte. Im Spätsommer planten die beiden ein Treffen<br />
in Brandenburg, nachdem sie sich zuvor über Waffen ausgetauscht hatten. Die<br />
Protokolle, die Werners Telefonüberwachung in den Tagen vor, während und nach<br />
diesem Treffen abbilden, sind jedoch verschwunden.<br />
Piatto ist ein Beispiel dafür, dass V-Männer nicht per se lügen oder als Instrument<br />
der Aufklärung nicht funktionieren können. Wegen Informanten wie ihm<br />
wollen Verfassungsschutzbehörden auf das Mittel V-Mann nicht verzichten. Piatto<br />
berichtete – unter großem Risiko – präzise über die Pläne des Trios und seiner<br />
Unterstützer zu der Zeit. Er operierte direkt im Umfeld der wichtigsten Unterstützer,<br />
durch ihn waren die Verfassungsschutzbehörden so über die Pläne der<br />
Drillinge informiert. Doch die Verfassungsschützer machten nichts aus den Informationen,<br />
reichten sie nicht an die Polizei weiter – darüber hinaus verbrannten sie<br />
Piatto in der entscheidenden Phase. Er verriet den Zeitpunkt einer Lieferung von<br />
Nazirock-CDs an die „Blood and Honour“-Sektion Sachsen. Die Lieferung wurde<br />
von der Polizei gestoppt, die Akteure in Chemnitz und das Umfeld der Drillinge<br />
wussten damit, dass Piatto ein Verräter ist. Er berichtete nie wieder über die drei<br />
üchtigen Thüringer.<br />
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe lebten zweieinhalb Jahre in Chemnitz. In<br />
dieser Zeit berichteten immer wieder V-Leute über sie, ihr Umfeld wurde obser-
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
245<br />
viert, Ermittler und Verfassungsschutzagenten waren ihnen sehr nah. Abermals<br />
hatten die verschiedenen Verfassungsschutzbehörden und die Polizei jedoch konträre<br />
Ziele. Innerhalb des Thüringer LKAs zog man nicht an einem Strang, die<br />
Suche nach den Drillingen wurde immer wieder von LKA-Beamten selber sabotiert.<br />
Das LfV Sachsen – im Auftrag des BfV – nutzte wiederum eine Operation,<br />
die dafür gedacht war, Böhnhardt und die anderen zu nden, lieber dafür, die<br />
Chemnitzer Szene aufzuklären und potenzielle Informanten auszumachen. Um<br />
das eigentliche Ziel – die drei „Bombenbastler aus Jena“ zu nden – ging es, wenn<br />
überhaupt, nur noch in zweiter Linie. Im Ergebnis konnten die „Bombenbastler“<br />
im Sommer 2000 aus Chemnitz verschwinden, nachdem abermals das Fernsehen<br />
über sie berichtet hatte, und ihnen der Boden zu heiß geworden schien. Im Jahr<br />
zuvor hatten Böhnhardt und Mundlos bereits ihre erste – scharfe – Bombe in einer<br />
Nürnberger Kneipe abgelegt, die explodierte und einen jungen Türken verletzte.<br />
Während die mutmaßlichen Mitglieder des NSU die Bomben konstruierten, waren<br />
sie unter großem Fahndungsdruck und mussten mehrmals die Wohnung wechseln.<br />
Dass es ihnen trotzdem gelang, eine scharfe Bombe zu bauen, ist ein Indiz dafür,<br />
dass sie Hilfe – sichere Räume, Bombenmaterial – aus ihrem Umfeld bekommen<br />
haben. Doch etwaige Zeugen und potenzielle Mitverschwörer wie Jan Werner und<br />
Thomas Starke schweigen zu diesem Punkt oder können vom zuständigen BKA<br />
nicht überführt werden. Das fällt dem BKA allerdings auch deshalb schwer, weil<br />
die Verfassungsschutzbehörden der Polizei wesentliche Informationen vorenthalten.<br />
Die Drillinge zogen schließlich Mitte 2000 nach Zwickau, ganz in die Nähe<br />
eines anderen BfV-Spitzels: Ralf Marschner alias Primus. Wenig später begann<br />
die Mordserie des NSU, bei der immer eine Ceska mit Schalldämpfer eingesetzt<br />
wurde.<br />
„Vor diesem Hintergrund sehe das BfV in der jüngeren<br />
Entwicklung Ansätze für einen Rechtsterrorismus“<br />
Dem BfV wurde regelmäßig vorgeworfen, dass das Amt rechten Terror auch in<br />
der entscheidenden Phase – als das Morden des NSU begann – nicht für möglich<br />
hielt. So wurde wiederholt in den verschiedenen Untersuchungsausschüssen<br />
thematisiert, dass das BfV in seinen Jahresberichten nie die Möglichkeiten von<br />
rechtem Terror betont hat – diese Berichte sollen also als Beleg herhalten, dass das<br />
BfV rechten Terror tatsächlich nicht für möglich hielt. Der Inlandsgeheimdienst<br />
kennt allerdings nicht nur eine Wahrheit – gegenüber der Öffentlichkeit oder dem<br />
Parlament kommuniziert der Dienst selten sein ganzes Wissen oder eine Analyse,
246 Dirk Laabs<br />
die auf alle Quellen zurückgreift. Da die heikelsten Informationen meist von V-<br />
Männern stammen, werden die in den Schlüsselberichten ausgeklammert. Intern<br />
und innerhalb der „Staatsschutzfamilie“ kommuniziert das BfV offener.<br />
So war tatsächlich das BfV im Jahr 2000, tragischerweise nur wenige Tage<br />
nach dem ersten Mord des NSU – der Blumenhändler Enver Simsek war in Nürnberg<br />
erschossen worden –, analytisch auf einer heißen Spur. Das BfV hatte Terroranschläge<br />
durch mehrere rechtsextremistische Einzeltäter oder Kleingruppen in<br />
den Jahren zuvor registriert:<br />
• Kay Diesner erschoss 1997 einen Polizisten, verletzte zwei weitere Menschen<br />
schwer. Er bezog sich auf den „Weißen Arischen Widerstand“. In der deutschen<br />
Szene kursierte ein Konzept:<br />
„Wie aus dem in der FASCHISMUS-Schulungsbroschü re angefü hrten „Mein<br />
Kampf“-Zitat hervorgeht, haben wir alle die P icht zum Widerstand – und zwar<br />
zum Widerstand mit a l l e n Waffen! Es laufen Vorbereitungen, dem Staatsterror<br />
gewappnet entgegentreten zu können. Widerstand regt sich, Deutscher Widerstand.<br />
Wir wollen hier keinen neuen Verein grü nden (der dann sowieso ganz schnell wieder<br />
verboten wü rde). Der WEISSE ARISCHE WIDERSTAND DEUTSCHLAND ist<br />
keine Organisation mit Vorsitzendem, Kassierer usw. Man kann ihm nicht „beitreten“,<br />
bekommt auch keinen „Mitgliedsausweis“.“<br />
• Der britische Neonazi David Copeland zündete 1999 mehrere Nagelbomben in<br />
London. Er sagte umfassend aus:<br />
„Frage der Polizei: Warum Angriff auf Schwarze und Asiaten?<br />
Copeland: Weil ich sie nicht mag. Ich will, dass sie aus diesem Land verschwinden.<br />
Ich bin ein nationalsozialistischer Nazi [National Socialist Nazi]. Ich<br />
glaube an die Herrenrasse ... Mein Ziel war politisch, ich wollte einen<br />
Rassenkrieg in diesem Land.<br />
Frage: Also, indem Sie Bomben in Brixton und in der Bricklane legten, hofften Sie<br />
auf ...<br />
Copeland: ... einen Gegenschlag.<br />
Frage: .. von?<br />
Copeland: „... den ethnischen Minderheiten. ... Es wäre nur ein Funken. Dieser Funken<br />
würde das ganze Land in Flammen setzen. Chaos, Zerstörung, Feuer,<br />
das ist okay. Wenn Sie die Turner Diaries gelesen haben, naja, im Jahr<br />
2000 beginnt die Revolution [tatsächlich im Jahr 1991, d.A.], und die Rassengewalt<br />
wird die Straßen beherrschen, es gibt einen Rassenkrieg und<br />
die Menschen werden die BNP wählen.“
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
247<br />
Copeland wird schließlich gefragt, was das ultimative Ziel ist: „Ein nationalsozialistischer<br />
Staat ... für dieses Land, für die ganze Welt. Die Arier würden die Welt<br />
dominieren. Die weiße Rasse ist die Herrenrasse [und] die britischen Menschen<br />
haben ein Recht auf eine ethnische Säuberung.“ Er bezieht sich damit – wie Wiesner<br />
– eindeutig auf das Konzept des „Weißen Arischen Widerstands“.<br />
• In Schweden raubte eine dreiköpge Terrorgruppe, die sich ebenfalls auf den<br />
„Weißen Arischen Widerstand“ berief, eine Bank aus. Einer der Täter erschoss<br />
auf der Flucht zwei Polizisten mit ihren eigenen Waffen und nahm die Pistolen<br />
anschließend mit.<br />
• In Deutschland erschoss der Neonazi Michael Berger, bei dem auch eine psychische<br />
Erkrankung festgestellt wurde, im Juni 2000 zwei Polizisten.<br />
• Bei einem Bombenanschlag in Düsseldorf im Juli 2000, der sich unter anderem<br />
gegen Auswanderer aus Russland zu richten schien und bei dem mehrere<br />
Menschen schwer verletzt wurden, konnte ein rechter Hintergrund nicht ausgeschlossen<br />
worden.<br />
Das waren nur die spektakulärsten Vorkommnisse, es gab noch diverse andere<br />
Vorfälle mit klarem rechtsterroristischem Bezug. Das BfV zog aus diesen Attentaten<br />
in Deutschland und Europa die richtigen Schlüsse. Die Analysten des BfV<br />
stellten diese Anschläge bei einem Treffen aller Landeskriminalämter, des BKA<br />
und der Verfassungsschutzbehörden in Eisenach vor. Sie betonten dort: „Den Waffenfunden<br />
kommt vor der seit ca. eineinhalb Jahren geführten Gewaltdiskussion<br />
[in der Szene] eine besondere Bedeutung zu. Auch wenn sich viele Rechtsextremisten<br />
– wenn auch aus taktischen Gründen – von der Anwendung von Gewalt<br />
distanzieren, haben sich die Stimmen gehäuft, die Gewalt als Mittel zur Durchsetzung<br />
politischer Ziele befürworten.“ Dann folgte ein Eigenlob: „Das BfV konnte<br />
Dank seiner operativen Arbeit – zum Teil in enger Zusammenarbeit mit den<br />
Verfassungsschutzbehörden der Länder und dem MAD – eine ganze Reihe von<br />
Hinweisen auf Waffen- und Sprengstoffbesitz in der rechtsextremistischen Szene<br />
gewinnen und die Strafverfolgungsbehörden informieren. Im Rahmen der sich<br />
anschließenden Strafverfahren werden zumindest drei Gruppierungen in einem<br />
frühen Stadium zerschlagen, noch bevor sie sich zu terroristischen Organisationen<br />
entwickeln oder schwere Gewalttaten verüben konnten.“ Eines der wichtigsten<br />
Instrumente des BfV, um die erwähnten „Gruppierungen“ zu zerschlagen, waren<br />
wiederum Informanten.<br />
Ein Mitarbeiter des BfV bewertete die Entwicklung auf der Sicherheitskonferenz<br />
noch vor einem anderen Hintergrund – die Gesetze, die eine terroristische<br />
Vereinigung nach dem Vorbild der RAF denieren, seien zu starr – sein Amt habe
248 Dirk Laabs<br />
schon umgedacht, sagte der Mitarbeiter vom Bundesamt laut Protokoll: „Er verweist<br />
darauf, dass die seit Jahren von den Verfassungsschutzbehörden benutzte<br />
Denition des Terrorismus weder eine zielgerichtete Vereinigung von mindestens<br />
drei Personen noch ein Agieren aus dem Untergrund mit entsprechender Logistik<br />
und Unterstützerszene zwingend voraussetze. Vor diesem Hintergrund sehe das<br />
BfV in der jüngeren Entwicklung Ansätze für einen Rechtsterrorismus.“ Die anderen<br />
Teilnehmer stimmten nicht überein: „Demgegenüber sind die Vertreter der<br />
LKÄ und des GBA gegen eine darin gesehene Ausweitung der bisherigen De nition<br />
des Rechtsterrorismus. Diese müsse sich – gerade auch wegen der Wirkung<br />
auf die Öffentlichkeit – am Begriff der terroristischen Vereinigung im Sinne des §<br />
129 a StGB orientieren. Ansonsten werde es zu vermeidbaren und kaum lösbaren<br />
Abgrenzungsproblemen kommen.“<br />
Mit anderen Worten: Die Landeskriminalämter und die Bundesanwaltschaft<br />
hatten Angst vor der schlechten Presse. Rechter Terror sollte tabu bleiben. Der<br />
Chef der Staatsschutzabteilung des BKA hatte zwar dafür Verständnis, „dass die<br />
VS-Behörden bei ihrer Bewertung nicht nur die bisherige Rechtsprechung ..., sondern<br />
auch eine phänomenologische Sicht unter Einbeziehung der herausragenden<br />
Fälle (terroristischer) Einzeltäter in Österreich (Briefbombenversender Fuchs) und<br />
den USA (UNA-Bomber) einbeziehen.“ Und der Mann vom BKA betont zudem<br />
selber, dass bestimmte „fremdenfeindliche Gewalttaten“ auf „ausländische Mitbürger“,<br />
„ängstigend“ und „terrorisierend“ wirken. Dennoch: Auch das BKA hielt<br />
es nicht für nötig, die Gesetze und damit die Terrorismus-De nition zu reformieren.<br />
Also hieß es im Protokoll: „Ergebnis: Die Vertreter … stellen übereinstimmend<br />
fest, dass derzeit kein Rechtsterrorismus in Deutschland feststellbar ist.“<br />
Die wichtigsten Akteure des deutschen Sicherheitsapparats standen an diesem<br />
Tag in Eisenach an einem möglichen Wendepunkt – und entschlossen sich dennoch<br />
weiterzumachen wie bisher, obwohl die Hinweise, dass der rechte Terrorismus<br />
nicht mit der RAF zu vergleichen war, immer offensichtlicher wurden. Die<br />
bekannte Kleingruppe von militanten Neonazis, wie eben die Drillinge aus Jena,<br />
hätte genau in das neu denierte Raster gepasst. Sie hatte sich zwar in den Untergrund<br />
begeben, lebte illegal in Chemnitz, hatte dabei aber engen Kontakt zu bekannten<br />
rechten Akteuren und keinen Zugriff auf professionell gefälschte Papiere<br />
wie etwa die RAF. Die Drillinge lebten bei weitem nicht so „tief“ im Untergrund<br />
wie die Terroristen der RAF. Man hätte die Drillinge und ihre Unterstützer mit<br />
noch mehr Argwohn verfolgen können und müssen. Dass man das beim BfV entgegen<br />
der Aussage diverser Mitarbeiter des BfV nicht dennoch gemacht hat, ist<br />
allerdings noch nicht abschließend geklärt.
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
249<br />
„DER NSU IST KEINE ABSTRAKTE SACHE“ –<br />
Zahlreiche Hinweise auf den Nationalsozialistischen<br />
Untergrund<br />
Das BfV nahm die untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe als Bedrohung<br />
lange sehr ernst, zudem hatte man im Jahr 2000 erkannt, dass auch von<br />
Gruppen, die nicht besonders groß und streng organisiert sein müssen, eine akute<br />
Terrorgefahr ausgehen kann. Im Jahr 2002 kommt schließlich eine weitere<br />
Schlüsselinformation hinzu: Gut ein Jahr nach der Sicherheitskonferenz bekamen<br />
verschiedenen Verfassungsschutzbehörden mit, dass eine Gruppe namens NSU<br />
existiert. 2002 berichtete ein V-Mann dem LfV Mecklenburg-Vorpommern von<br />
einem Brief, der in der Szene herumgeschickt wurde und dem Bargeld beigelegt<br />
wurde. Eine Gruppe namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) hatte<br />
ein Schreiben an mehrere rechte Blätter verschickt, in dem es hieß:<br />
„ENTSCHLOSSENES, BEDINGUNGSLOSES HANDELN SOLL DER GA-<br />
RANT DAFÜR SEIN, DAS DER MORGIGE TAG DEM DEUTSCHEN VOL-<br />
KE GEHÖRT. JEDER KAMERAD IST GEFRAGT! AUCH DU ! ! ! GIB DEIN<br />
BESTES – WORTE SIND GENUG GEWECHSELT, NUR MIT TATEN KANN<br />
IHNEN NACHDRUCK VERLIEHEN WERDEN. DER NSU IST KEINE ABS-<br />
TRAKTE SACHE. JEDER KAMERAD GEHÖRT DAZU SOFERN ER DEN<br />
MUT FINDET ZU HANDELN UND SEINEN BEITRAG ZU LEISTEN. WIE<br />
ERFOLGREICH DER NATIONALSOZIALISTISCHE UNTERGRUND IN DER<br />
ZUKUNFT SEIN WIRD (,) HÄNGT AUCH VON DEINEM VERHALTEN AB.“<br />
Wenig später wurde eine Anzeige in dem Skinzine „Der Weiße Wolf“ veröffentlicht:<br />
„Vielen Dank an den NSU, es hat Frü chte getragen ;-) Der Kampf geht weiter…“<br />
Der ehemalige Präsident des BfV Heinz Fromm hat vor dem NSU-Ausschuss<br />
in Berlin zugegeben, dass man die Anzeige durchaus registriert und einen<br />
Vorgang zu einer Gruppe NSU angelegt hat.<br />
Nur wenige Monate später tauchte der Name „NSU“ in einem anderen Zusammenhang<br />
erneut auf. Einer der wichtigsten V-Männer des BfV – Thomas Richter<br />
alias Corelli – hatte seinem Kontakt-Agenten eine CD übergeben, auf der Dateien,<br />
Fotos und ein Cover gespeichert waren. Auf dem Cover war eine Pistole zu sehen<br />
– und der Schriftzug NSU/ NSDAP. Der Begriff wurde bei den Verfassungsschutzbehörden<br />
abgespeichert. Schon der Vordenker der rechten Szene, Michael<br />
Kühnen hatte gefordert, in „Mitteldeutschland“ einen „NS-Untergrund“ zu gründen.<br />
Das Konzept ist also den Verfassungsschutzbehörden ebenfalls seit Jahren<br />
bekannt.
250 Dirk Laabs<br />
Mitarbeiter des BfV haben inzwischen versucht, das Auftauchen der CD zu<br />
relativieren – der V-Mann habe ständig Material in großem Umfang abgeliefert,<br />
die NSU/ NSDAP-CD sei nur eine von vielen CDs gewesen. Allerdings gibt das<br />
BfV inzwischen zu, dass das Cover und ein Text über die NSU nicht bereits ausgedruckt,<br />
sondern lediglich als einzelne Dateien auf der CD gespeichert waren – das<br />
bedeutet, die CD wurde vom BfV gründlich untersucht, die entscheidenden Dateien<br />
auch wahrgenommen. Das BfV gibt inzwischen auch zu, dass man anschließend<br />
den V-Mann gezielt nach der Gruppe NSU/ NSDAP gefragt habe. Man hat<br />
sich also für die neue Gruppe durchaus interessiert. Angeblich blieb die Befragung<br />
von Corelli jedoch ohne Ergebnisse. Der V-Mann ist inzwischen verstorben – an<br />
einem Zuckerschock in Folge einer nicht erkannten und therapierten Diabetes-<br />
Erkrankung. Er kann also zu der CD und der Gruppe NSU/ NSDAP nicht mehr<br />
befragt werden. Der Innenausschuss des Bundestages hat inzwischen einen Sonderermittler<br />
eingesetzt, um den Fall zu untersuchen. 8 Ob man beim BfV die CD<br />
mit dem Brief des NSU in Verbindung gebracht hat, konnte bislang nicht geklärt<br />
werden, würde aber naheliegen.<br />
Der Fall Corelli macht mehrere Punkte klar.<br />
• Das BfV arbeitet Spuren durchaus gründlich und mit logischer Konsequenz<br />
auf. Von Desinteresse oder Schlamperei an dieser Stelle ndet sich zunächst<br />
keine Spur.<br />
• Das BfV hatte die Existenz von Corelli weder gegenüber dem Bundestags-Ausschuss<br />
noch gegenüber dem BKA zugegeben. Er wurde durch die Arbeit eben<br />
jenes Ausschusses bekannt. Auch die Existenz der CD im Archiv des BfV – die<br />
zuvor zunächst in der rechten Szene aufgetaucht war – wurde nur bekannt, weil<br />
das BKA gezielt nach diesem Beweismittel gefragt hatte. Das BfV blockiert<br />
mithin die Aufklärung des NSU-Komplexes und gibt immer nur das zu, was sowieso<br />
bekannt geworden ist. Es ist also zulässig, davon auszugehen, dass aktive<br />
und ehemalige Beamten des BfV auch weiter Wissen zurückhalten.<br />
Als im Jahr 2003 zumindest den Analysten des BfV der NSU ein Begriff war,<br />
spielte der ehemalige BfV-Vizepräsident Klaus-Dieter Fritsche gegenüber dem Innenministerium<br />
nun die Terrorgefahr von rechts herunter. In einem Schreiben an<br />
den damaligen Innenminister Otto Schily beantwortete Fritsche, ob eine „Braune<br />
Armee Fraktion“ existiere:<br />
8 Zum Zeitpunkt des Redaktionsschluss lag sein Bericht noch nicht vor.
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
251<br />
„Bei einem Vergleich mit der RAF muss zumindest das wesentliche Merkmal dieser<br />
terroristischen Bestrebungen berücksichtigt werden. Die RAF führte ihren bewaffneten<br />
Kampf aus der Illegalität heraus. Das heißt, die Gruppe lebte unter falscher<br />
Identität, ausgestattet mit falschen Personaldokumenten und Fahrzeugdubletten in<br />
konspirativen Wohnungen. Dies erforderte ein hohes Know-how und ein Sympathisantenumfeld,<br />
das bereit war, den bewaffneten Kampf aus der Illegalität zu unterstützen.<br />
Zur Finanzierung dieses Kampfes wurden Raubüberfälle begangen. Absichten,<br />
einen Kampf aus der Illegalität heraus mit den damit verbundenen Umständen<br />
zu führen, sind in der rechten Szene nicht erkennbar. Es gibt derzeit auch keine Anhaltspunkte,<br />
dass eine solche Gruppe ein Umfeld nden würde, das ihr einen solchen<br />
Kampf ermöglicht. Die gewaltbejahenden Äußerungen in der rechten Szene sind in<br />
letzter Zeit seltener geworden.“<br />
Schließlich erwähnte Fritsche sogar die Drillinge:<br />
„In der Presse wird angeführt, dass es im <strong>Rechtsextremismus</strong> sehr wohl ein potentielles<br />
Unterstützerfeld gebe. Hierzu wird auf drei Bombenbauer aus Thüringen verwiesen,<br />
die seit mehreren Jahren ‚abgetaucht‘ seien und dabei sicherlich die Unterstützung<br />
Dritter erhalten hätten. Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Personen auf<br />
der Flucht sind und – soweit erkennbar – seither keine Gewalttaten begangen haben.<br />
Deren Unterstützung ist daher nicht zu vergleichen mit der für einen bewaffneten<br />
Kampf aus der Illegalität.“<br />
Abermals behaupten also zentrale Akteure vom BfV an dieser entscheidenden<br />
Stelle, dass man die wesentlichen Informationen – Bestrebungen der rechte Szene,<br />
Anschläge zu begehen, Existenz von Neonazis – wie den Drillingen – im Untergrund,<br />
die Überfälle begangen haben sollen, Auftauchen der Gruppe NSU, die den<br />
Untergrund im Namen trägt – nicht zu einem Gesamtbild zusammengefügt habe.<br />
Man hätte schlicht das Schicksal der abgetauchten Bombenbastler aus Jena „aus<br />
den Augen“ verloren.<br />
Dass man die Drillinge beim BfV plötzlich uninteressant fand, ist bislang jedoch<br />
nichts weiter als eine Behauptung der durch den Berliner NSU-Ausschuss<br />
befragten Zeitzeugen des BfV. Zumal das BfV 2003 zudem von ausländischen Geheimdiensten<br />
gewarnt wurde, dass es eine aktive rechte Terrorgruppe in Deutschland<br />
geben könnte.
252 Dirk Laabs<br />
Das BfV und der Anschlag in der Keupstraße<br />
Noch im Jahr 2004 – als die juristischen Anwürfe wegen der Bombenattrappen von<br />
Jena gegen Mundlos und Zschäpe schon verjährt waren – erwähnte man die drei<br />
explizit in einem „BfV-Spezial“-Bericht, in dem die Terrorgefahr von rechts analysiert<br />
wurde und dutzende rechtsextremistische, potenzielle Terroristen porträtiert<br />
wurden. Unter ihnen waren diverse V-Männer, so dass das BfV geglaubt haben mag,<br />
dass man die Szene im Griff hatte. So wurde ein möglicher Anschlag gegen die<br />
Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindehauses 2003 durch einen V-Mann verraten,<br />
der die Gruppe wesentlich mitgeführt und radikalisiert hatte. Er berichtete jedoch<br />
dem LfV Bayern und nicht dem BfV. Das LfV Bayern ließ das BfV über diese<br />
Operation bis zur Enttarnung der Gruppe im Dunkeln – ein weiterer Beleg dafür,<br />
wie viel Risiko die verschiedenen Verfassungsschutzbehörden bei der Bekämpfung<br />
von rechtsgerichteten Terroristen eingingen und wie wenig man sich abstimmte.<br />
Das „BfV-Spezial“ erschien nur Wochen nach einem Nagelbombenanschlag<br />
in der Kölner Keupstraße im Juni 2004, bei dem Dutzende von Menschen verletzt<br />
wurden und der im Ablauf den Anschlägen von London sehr ähnelte. Die ganze<br />
Widersprüchlichkeit und Problematik der Arbeit des BfV wird auch in diesem<br />
Fall deutlich.<br />
• Stunden nach der Tat, am späten Abend, rief einer der führenden Beamten des<br />
BfV bei der zuständige Leitzentrale an. Er brauche dringend die Nummer des<br />
Mitarbeiters des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen, der für die Führung<br />
der V-Männer in dem Bundesland zuständig war. Der Anrufer kannte den<br />
Mann bereits seit langem, sie hatten die wichtigsten Telefonnummern längst<br />
ausgetauscht. Doch der BfV-Beamte schien den Kontakt so dringend zu brauchen,<br />
dass er versuchte umgehend eine weitere Nummer aus ndig zu machen,<br />
um den Mann des LfV NRW schnell erreichen zu können. Was gab es so Dringendes<br />
in Sachen V-Männer zu besprechen? Die Teilnehmer des Telefonats sind<br />
erkrankt oder wollen sich nicht erinnern.<br />
• Das BfV hat den Anschlag in der Keupstraße als Fall gründlich bearbeitet,<br />
ungefragt für die Kriminalpolizei eine Analyse geschrieben, darin auf den Anschlag<br />
in London hingewiesen, Unterschiede und Parallelen der Fälle herausgestellt.<br />
Zudem verwies das BfV auf einen anderen Anschlag in Köln aus dem<br />
Jahr 2001, den die Polizei schon fast vergessen hatte und der später tatsächlich<br />
dem NSU zugerechnet werden konnte. So weit, so konsequent. Das BfV schloss<br />
nun aus dem Umstand, dass die Nagelbombe sehr fragil und auf einem Fahrrad<br />
befestigt war jedoch, dass die Attentäter aus dem Umland kommen müssten.<br />
Man präsentierte auch Verdächtige aus dem Kölner Großraum.
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
253<br />
Was nicht passierte – jedenfalls wurde dieser Vorgang bislang nicht offen gelegt:<br />
Niemand in der Abteilung Rechtsterrorismus des BfV überprüfte nun systematisch<br />
potenzielle rechtsextremistische Täter aus ganz Deutschland, die für den Anschlag<br />
besonders in Frage kommen würden. Die Drillinge wären – da sie auch in diversen<br />
Polizeidatenbanken als potenzielle Sprengstoffattentäter gespeichert waren – als<br />
mögliche Verdächtige sofort auf dem Radar des BfV erschienen.<br />
• In diesem Zusammenhang ist ebenfalls bemerkenswert, dass das BfV in eine<br />
Falle der Kriminalpolizei tappte. Die überwachte die eigene Homepage, um zu<br />
registrieren, wer besonders oft die Seite besucht, auf der die Videos der mutmaßlichen<br />
Attentäter aus der Keupstraße zu sehen waren. Die Seite wurde so<br />
häug von Computern des BfV angesteuert, dass die Polizei eine Abordnung<br />
dorthin schickte, um nachzufragen, was es mir der Obsession der BfV-Beamten<br />
auf sich hatte.<br />
Fest steht also: Es gab ein großes Interesse zentraler Personen innerhalb des BfV<br />
an dem Anschlag in der Keupstraße, darunter ein Akteur, der vor allem mit der<br />
V-Mann-Führung zu tun hatte. Man analysierte Aufnahmen von den Tätern, sogar<br />
exzessiv. Man zog im BfV die richtigen Schlüsse, verglich das Attentat mit den<br />
rassistischen Anschlägen in London. Aber abermals will man nicht auf Böhnhardt<br />
und Mundlos als mögliche Verdächtige gekommen sein. Man wäre damit wie ein<br />
Schlafwandler den Tätern dicht auf den Fersen gewesen – ohne es jedoch gemerkt<br />
zu haben.<br />
Auch dass auf den Tag genau ein Jahr nach dem Keupstraßenanschlag die Ceska-Mordserie<br />
in Nürnberg weiter ging und ein Mann in Nürnberg erschossen wurde,<br />
will man beim BfV nicht mitbekommen haben. Genauso wenig wie den Fakt,<br />
dass polizeiintern der Anschlag in Köln und die Mordserie aufgrund der Täterbeschreibung<br />
in Verbindung gebracht worden sind – eine spektakuläre Erkenntnis,<br />
denn so hatte man Videoaufnahmen von Verdächtigen, die auch hinter der Ceska-<br />
Serie zu stecken schienen.
254 Dirk Laabs<br />
„Es dü rfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden,<br />
die ein Regierungshandeln unterminieren“<br />
Schließlich hatte das BfV auch mit dem letzten Mord der Ceska-Serie indirekt<br />
zu tun, bei dem die Verfassungsschutzgemeinde besonders exponiert wurde. Als<br />
neuntes Opfer wurde ein junger Mann in seinem Internetcafé in Kassel im April<br />
2006 erschossen.<br />
Ein Jugendlicher wies die Polizei auf einen „richtigen Deutschen“ hin, der während<br />
oder kurz vor der Tat ebenfalls an einem Computer im Café gesessen hatte,<br />
sich bislang aber nicht als Zeuge gemeldet hatte. Die Polizei konnte ihn aus ndig<br />
machen – es war ein V-Mannführer des LfV Hessens, Andreas Temme. Erst gab<br />
er zu, am Tattag in dem Café gewesen zu sein, dann stritt er es ab. Er traf sich<br />
mehrfach mit dem Präsidenten seines Amtes, dazu heimlich mit seiner Che n,<br />
obwohl er schon unter einfachem Mordverdacht stand, man besprach, was zu tun<br />
war. Erst später stellte sich heraus, dass seine Vorgesetzte ihn und seine Kollegen<br />
wenige Wochen vor dem Mord im Internet-Café per E-Mail über die Ceska-Mordserie<br />
informiert hatte, beigefügt war ein Info-Blatt des BKA. Die Chen hatte ihre<br />
Beamten in der Mail aufgefordert, sich unter den V-Leuten umzuhören: „Gibt es<br />
Dinge, die VM [V-Männer] dazu sagen könnten?!“ Temme hat tatsächlich einen<br />
V-Mann in der rechten Szene, der ausgerechnet im Umfeld des Trios eingesetzt ist.<br />
Die Polizei drängte darauf, die V-Männer von Temme zu verhören, fünf Islamisten<br />
und eben jenen jungen Nazi, mit dem Temme zudem am Tattag ausführlich<br />
telefoniert hat. Doch das LfV Hessen verweigerte der Polizei die Spitzel als Zeugen<br />
zu vernehmen, der Geheimschutzbeauftragte des Amtes erklärte, dass „eine<br />
Vernehmung und der damit einhergehende Verlust der Quellen das „größtmögliche<br />
Unglü ck fü r das Landesamt“ darstellen wü rde:<br />
„…wenn solche Vernehmungen genehmigt wü rden, wäre es fü r einen fremden<br />
Dienst ja einfach, den gesamten Verfassungsschutz lahm zu legen. Man mü sse nur<br />
eine Leiche in der Nähe eines V-Mannes bzw. eines V-Mann-Fü hrers positionieren.“<br />
Quellenschutz ist also wichtiger als die Aufklärung einer Mordserie, sobald das<br />
„Staatswohl“ gefährdet ist. Andreas Temme und seine Kollegen beim LfV Hessen<br />
wissen eindeutig mehr als sie zugeben, behalten es aber trotzdem für sich, denn<br />
vieles deutet darauf hin, dass Temme dienstlich und nicht zufällig in dem Internet-Café<br />
war.<br />
Nach dem Mord von Kassel endete die Ceska-Mordserie – ohne dass sie von<br />
der Polizei aufgeklärt wird. Da die Rolle Temmes früh publik wurde, wurde das<br />
LfV Hessen vehement kritisiert, der Präsident musste gehen. Als Nachfolger kam
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
255<br />
ein Spitzenbeamter des BfV, Alexander Eisvogel, der das kleine, vergleichsweise<br />
unbedeutende LfV Hessen für eine Zeit leitete. Er bedankte sich in einem Schreiben<br />
persönlich bei Temme und bezog sich dabei auf ein Vieraugengespräch. Was<br />
genau Eisvogel mit Temme besprach und warum das BfV einen seiner besten Mitarbeiter<br />
gleichsam zu Aufräumarbeiten nach Hessen schickte, ist bislang nicht bekannt.<br />
Der Untersuchungsausschuss des Landtages Hessen hat erst im Jahr 2015<br />
seine Beweisaufnahme aufgenommen.<br />
Anschließend – ab dem Jahr 2006 – will das BfV über seine diversen V-Männer<br />
nichts mehr über ein NSU oder die üchtigen Drillinge gehört haben.<br />
Der Kreis schließt sich dann erst ab dem 4. November 2011.<br />
Zwei Männer überfallen eine Bank in Eisenach. Sie iehen auf Rädern, verladen<br />
die Fahrräder in ein Wohnmobil und werden dabei gesehen. Sie verlassen<br />
nicht die Stadt, sondern warten am Stadtrand. Dort werden sie von einer Polizeistreife<br />
entdeckt. Die beiden Polizisten glauben, man habe auf sie geschossen. Kurz<br />
darauf steht der Camper in Flammen. In dem Wrack werden später die Leichen<br />
von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gefunden. Dazu Waffen, Beutegeld von<br />
verschiedenen Überfällen, falsche Pässe, Rucksäcke. Darin wiederum DVDs mit<br />
einem Film darauf, in dem sich der NSU zu zwei Bombenanschlägen und zehn<br />
Morden bekennt. Diese DVDs jedoch werden von der Spurensicherung erst einen<br />
Monat nach dem Brand in den Rucksäcken – in der Asservatenkammer – entdeckt.<br />
Da war der Film schon lange in der Öffentlichkeit. Denn die DVDs wurden auch<br />
an Parteien, Fernsehsender, muslimische Gemeinden geschickt – von mindestens<br />
einem Helfer des NSU, und von, mutmaßlich, Beate Zschäpe, die bis zum Ende im<br />
Untergrund geblieben ist. Sie lebte seit 2008 in der Zwickauer Frühlingsstraße, in<br />
einer Wohnung, die wie ein sicheres Haus eingerichtet war, mit Kameras, Stahltüren,<br />
falschen Wänden, einem Archiv voller Waffen, Munition und Artikel über<br />
die Ceska-Morde. Kurz nach dem Tod ihrer Freunde soll Zschäpe die Wohnung<br />
in Brand gesteckt haben. Sie irrte anschließend durch Deutschland und stellte sich<br />
dann, vier Tage später, in ihrer Heimatstadt Jena.<br />
Beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln wusste man, was das bedeutet.<br />
Die Details des Kampfes gegen die Rechtsextremisten, den man vor allem mit<br />
Spitzeln, also mit der Hilfe von anderen Rechtsextremisten geführt hat, drohten<br />
nun ans Tageslicht zu kommen, viele der noch aktiven Informanten waren in akuter<br />
Gefahr, enttarnt zu werden.<br />
So war es konsequenterweise der Experte für Rechtsterrorismus Lothar Lingen,<br />
der am 8. November 2011 – vier Tage nach dem Tod von Uwe Böhnhardt<br />
und Uwe Mundlos und nur wenige Stunden nachdem sich Beate Zschäpe in Jena<br />
gestellt hatte – BfV-Akten über rechtsradikale V-Männer heraussuchen ließ, um<br />
sie wenig später – teilweise – vernichten zu lassen. Auch hier ist unklar, welche
256 Dirk Laabs<br />
Akten in welchem Umfang vernichtet worden sind, auch hier hält das Bundesamt<br />
Informationen zurück.<br />
Zudem sollte offenbar verschleiert werden, wie viele Informanten Lingens Abteilung<br />
in den 1990er Jahren wirklich geworben hatte, denn es wurden ebenfalls<br />
Akten aus den frühen Jahren der Abteilung geschreddert. So heißt es im Bericht<br />
des NSU-Ausschusses des Bundestages:<br />
„Ab dem 29. Dezember 2011 seien insgesamt 137 Akten aus dem Forschungs- und<br />
Werbungsbereich vernichtet worden: Dabei habe es sich im Einzelnen gehandelt<br />
um… Forschungs- und Werbungs-Vorgänge aus 1993-1994. Diese Forschungs- und<br />
Werbungsvorgänge aus 1993-1994 seien nicht rekonstruierbar.“<br />
Mit der Vernichtung der Akten war nicht ausschließlich Lothar Lingen betraut,<br />
auch andere Akteure des BfV haben das Schreddern der Dokumente zu verantworten.<br />
Aber es war Lingens Abteilung, die diese Akten in den frühen 1990ern<br />
angelegt hatte, gerade als das BfV sich immer intensiver mit gewaltbereiten Neonazis<br />
auseinandersetzte.<br />
Der Umstand, dass Lothar Lingen auch 2011 noch – fast zwanzig Jahre nachdem<br />
er begann, den <strong>Rechtsextremismus</strong> zu bekämpfen –, für militante Nazis zuständig<br />
war, zeigt, dass es eine große personelle Kontinuität innerhalb des BfV<br />
gibt, die es noch unglaubwürdiger macht, dass die Drillinge aus Jena einfach in<br />
Vergessenheit geraten sein sollen und als Gefahr nicht mehr interessiert haben.<br />
Warum kooperiert das BfV nicht rückhaltlos mit den Aufklärern?<br />
Einer der Hauptverantwortlichen für den Kampf gegen den deutschen Terror,<br />
der Ex-Vizepräsident des BfV, Klaus-Dieter Fritsche, sagte dazu in einer Sitzung<br />
des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses:<br />
„Es dü rfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln<br />
unterminieren. Es darf auch nicht so weit kommen, dass jeder Verfassungsfeind und<br />
Straftäter am Ende genau weiß, wie Sicherheitsbehörden operativ arbeiten und welche<br />
V-Leute und verdeckten Ermittler im Auftrag des Staates eingesetzt sind.“<br />
Und genau darum scheint es auch im NSU-Komplex an zentralen Stellen gegangen<br />
zu sein: Quellenschutz ging vor Strafverfolgung. Geklärt werden muss noch immer:<br />
Hat das BfV das Puzzle – obwohl man dort fast alle zentralen Teile vorliegen<br />
hatte – wirklich nicht zusammengesetzt? Und wenn das so ist – warum nicht?<br />
Hier muss die Analyse ohne vorgefasste Meinung und frei von Klischees – „auf<br />
dem rechten Auge blind“, „rechten Terror nicht für möglich gehalten“ – weitergehen,<br />
um den NSU-Komplex komplett aufklären zu können. Vor allem müssen
Der Verfassungsschutz und der NSU<br />
257<br />
auch die Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz den Aufklärern aus den<br />
verschiedenen Untersuchungsausschüssen ohne Restriktionen vorgelegt werden.<br />
Nur danach sieht es nicht aus. Zu Erinnerung: Im Falle des Wissens des BND um<br />
Adolf Eichmann darf der Auslandsgeheimdienst mit Segen der höchsten Gerichte<br />
weiterhin Akten nur geschwärzt vorlegen. Und auch im Fall des Oktoberfestattentats<br />
wurde erst fast 25 Jahre nach der Tat von Seiten der Exekutive zugegeben,<br />
dass Ankläger und Nebenkläger bei weitem nicht alle Akten bekommen haben. Es<br />
ist also ein langer Atem gefragt. Auch und gerade bei der Aufklärung des NSU-<br />
Komplexes.
Prozesse und Strukturen<br />
der Verfassungsschutzämter<br />
nach dem NSU 1<br />
Thomas Grumke<br />
1 Einleitung<br />
“Too much Civil Service work consists of circulating information that isn’t relevant<br />
about subjects that don’t matter to people who aren’t interested.”<br />
(Satirische BBC Sitcom „Yes, Minister“: PREFACE)<br />
In der Causa NSU gaben und geben einige Verfassungsschutzämter von außen<br />
betrachtet ein desolates Bild ab. Obwohl in diesem Kontext auch erhebliche Fehlleistungen<br />
auf Seiten von Polizei, Justiz und nicht zuletzt der politisch Verantwortlichen<br />
zu beklagen sind, scheint das ohnehin dubiose Image der „Schlapphüte“<br />
in der Öffentlichkeit nahezu irreparabel. Der Fall vom „Frühwarnsystem der Demokratie“<br />
zur, wie einige behaupten, Gefahr für die Demokratie ist dramatisch.<br />
Von jeher sitzen die Ämter für Verfassungsschutz jedoch in einer imageschädigenden<br />
Falle: „Wenn den Diensten Schnitzer unterlaufen, heisst es, sie seien bis<br />
zur Lächerlichkeit ineffektiv. Haben sie Erfolge, heisst es hingegen, sie seien eine<br />
Bedrohung für die Bürgerrechte.“ (Gujer, 2012). „Der Verfassungsschutz“, den es<br />
in Wirklichkeit in dieser Homogenität nicht gibt, ist weiterhin ein Mysterium für<br />
weite Teile der Bevölkerung.<br />
Eine penible Untersuchung von Fehlern und Versäumnissen staatlichen Handelns<br />
ist dringend geboten und wird durch die Untersuchungsausschüsse im Bund<br />
1 Eine Fassung dieses Textes erscheint in Lange und Lanfer (2015, i.E.).<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_9, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
260 Thomas Grumke<br />
und in den Ländern sowie im Zuge des Zschäpe-Prozesses geleistet werden. In<br />
der öffentlichen und politischen Debatte dominieren im Moment Rechtsfragen,<br />
Technikalitäten (z. B. Einsatz von V-Leuten, Verarbeitung von Daten) und Fragen<br />
der Neuorganisation und der besseren Zusammenarbeit (z. B. Verhältnis des<br />
Bundesamtes zu den Landesämtern, Austausch von Daten). Nach den Debatten<br />
von 1992 (Pogrome von Rostock-Lichtenhagen) und 2000 („Aufstand der Anständigen“)<br />
erscheint die jetzige Diskussion zudem manchmal wie ein Déjà-vu (vgl.<br />
Grumke, 2011).<br />
Es haben sich drei Varianten zur Zukunft des Verfassungsschutzes herausgebildet:<br />
Reformieren (vgl. Grumke & Pfahl-Traughber, 2010), abschaffen (vgl. Leggewie<br />
& Meier, 2012; Wesel, 2012) oder „weiter so“. Immer mitgedacht werden<br />
muss das bisherige und zukünftige Verhältnis zur Polizei, die in den meisten Verfassungsschutzbehörden<br />
seit jeher stark personell vertreten ist, z. B. als Führer von<br />
Quellen (V-Leuten) oder Observanten.<br />
Bei einem öffentlichen Fachgespräch der SPD-Bundestagsfraktion am 1.<br />
November 2012 unter dem Titel „Ein Jahr nach Entdeckung des NSU-Terrors“<br />
mahnte der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses, Sebastian Edathy,<br />
eindringlich die „Grundversprechen“ des demokratischen Rechtsstaats an: Der<br />
Schutz der Unversehrtheit aller hier lebenden Menschen und wenn dies nicht gelinge,<br />
die staatliche Aufklärung mit aller Kraft. Im Fall des NSU wurden beide<br />
Grundversprechen gebrochen.<br />
Die Kernhypothese dieses Aufsatzes lautet: Das nach wie vor bestehende Entsetzen<br />
über die neue Qualität der rechtsextremistisch motivierten Mordserie des<br />
sog. „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) hat sich auch mehr als zwei<br />
Jahre nach dessen Entdeckung nicht in eine neue Qualität des nachhaltigen Handelns<br />
in den Verfassungsschutzbehörden transformiert. Es darf nicht nur um strukturelle<br />
Fragen gehen, denn die beste Struktur ist nur so gut wie die in ihr handelnden<br />
Personen. Deshalb werden in diesem Artikel die Organisationsstrukturen<br />
und die Arbeitsweise der Ämter für Verfassungsschutz kurz nachgezeichnet. Die<br />
Kernfrage lautet: Welche Schritte sind notwendig, damit die Verfassungsschutzämter<br />
wirklich einmal „Nachrichten-Dienstleister der wehrhaften Demokratie“<br />
(Schreiber, 2010, S. 34) werden?<br />
Wer die Verfassungsschutzbehörden nicht abschaffen will, sondern sogar für<br />
ein zentrales Element der wehrhaften Demokratie hält, der muss diese auch in<br />
einen entsprechenden personellen und materiellen Stand versetzen. Soll Extremismus<br />
analysiert und nachhaltig bekämpft, oder weiterhin verwaltet werden?
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />
261<br />
2 Aufgaben und Struktur<br />
“In government, many people have the power to stop things happening but almost<br />
nobody has the power to make things happen. The system has the engine of a lawn<br />
mower and the brakes of a Rolls Royce.”<br />
(Yes, Minister: A REAL PARTNERSHIP)<br />
I. Was die Aufgaben der Verfassungsschutzämter betrifft, so hat das Bundesverfassungsgericht<br />
diese jüngst in seinem Urteil vom 24.04.2013 zur Vorratsdatenspeicherung<br />
noch einmal genau – vor allem in Abgrenzung zur Polizei – beschrieben:<br />
„Die Rechtsordnung unterscheidet […] zwischen einer grundsätzlich offen arbeitenden<br />
Polizei, die auf eine operative Aufgabenwahrnehmung hin ausgerichtet und<br />
durch detaillierte Rechtsgrundlagen angeleitet ist, und den grundsätzlich verdeckt<br />
arbeitenden Nachrichtendiensten, die auf die Beobachtung und Aufklärung im Vorfeld<br />
zur politischen Information und Beratung beschränkt sind und sich deswegen<br />
auf weniger ausdifferenzierte Rechtsgrundlagen stützen können. Eine Geheimpolizei<br />
ist nicht vorgesehen“ (BVerfGE, 1 BvR 1215/07, Rand-Nr. 122).<br />
Der immer wieder geäußerten Forderung, doch den Verfassungsschutz komplett aufzulösen<br />
und deren Aufgaben der Polizei zuzuweisen, ist damit eine klare Absage<br />
erteilt. Vielmehr ist es dringend geboten, die Behörden für Verfassungsschutz in den<br />
Stand zu versetzen, die ihr obliegenden Aufgaben – also: die Beobachtung und Aufklärung<br />
von extremistischen Bestrebungen im Vorfeld zur politischen Information<br />
und Beratung – auch adäquat erfüllen zu können. Doch wie sieht der Ist-Zustand aus?<br />
II. Die Ämter für Verfassungsschutz sind entweder Abteilungen in den Innenbehörden<br />
mit einer Ministerialdirigentin/en an der Spitze (i.d.R. Besoldungsgruppe<br />
B7) oder Landesämter, also nachgeordnete Behörden der Innenressorts und<br />
unter deren Fachaufsicht, mit einer/m Präsidentin/en an der Spitze (i.d.R. Besoldungsgruppe<br />
B4). Mit dem Stand 1. Dezember 2014 waren von den 17 Verfassungsschutzämtern<br />
acht eine Abteilung und neun ein Landes- bzw. Bundesamt.<br />
Diese Struktur ist Änderungen unterworfen, wie das Beispiel Berlin zeigt. Hier<br />
wurde das Landesamt für Verfassungsschutz im Jahre 2000 nach einer Reihe von<br />
Fehlleistungen de facto aufgelöst und als Abteilung in die Innenbehörde eingegliedert.<br />
Hier oblag es dann ab Anfang 2001 der Abteilungsleiterin Claudia Schmid<br />
das Amt personell und mental aus dem Kalten Krieg hin zu einem modernen Verfassungsschutz<br />
zu führen. Aus Thüringen ist zu vernehmen, dass die neue Rot-<br />
Rot-Grüne Landesregierung den Verfassungsschutz dort ebenfalls in das Innenministerium<br />
eingliedern will.
262 Thomas Grumke<br />
Der Verfassungsschutz handelt nicht im luftleeren Raum, sondern ist Akteur im<br />
politischen Umfeld. Wie alle anderen Abteilungen der Ministerien bzw. alle nachgeordneten<br />
Behörden, sind alle Verfassungsschützer dem Dienstherrn (hier: den<br />
Innenministern und –senatoren) weisungsgebunden. Zudem sind die Leiter/innen<br />
der Verfassungsschutzbehörden sogenannte „politische Beamte“, werden also direkt<br />
von der politischen Leitung eingesetzt (und ggf. auch wieder abberufen). Wie<br />
das im worst case aussehen kann, zeigt der Fall Helmut Roewer, von 1994 bis 2000<br />
Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz. Durch einen massiven<br />
politischen Eingriff wurde damals der amtierende Präsident Harm Winkler<br />
abgesetzt und durch den aus dem Bundesministerium des Innern kommenden Roewer<br />
ersetzt. Die Urkundenübergabe fand angeblich in einem Erfurter Wirtshaus<br />
statt. Roewer selbst erinnerte sich an die genauen Umstände bei der Befragung<br />
durch den Thüringer Untersuchungsausschuss nicht mehr, da er bei Übergabe des<br />
„gelben Umschlags“ betrunken gewesen sei. Weder der bei Roewers Ernennung<br />
amtierende Innenminister Schuster noch dessen Nachfolger Dewes konnten bei<br />
ihrer Befragung sagen, wer wann warum Roewer diese hochrangige Stelle als<br />
Leiter des Verfassungsschutzes Thüringen angeboten hatte und wie er ausgewählt<br />
wurde (vgl. Thüringer Landtag, 2013, S. 277ff.). Die Amtsführung Roewers wurde<br />
von einem ehemaligen Mitarbeiter als „selbstherrlich“ und „menschenverachtend“<br />
bezeichnet (Thüringer Landtag, 2013, S. 288). Das ernüchternde Fazit des Zwischenberichts<br />
des Untersuchungsausschusses lautet:<br />
„Der Untersuchungsausschuss muss zur Kenntnis nehmen, dass die damalig Verantwortlichen<br />
sich jeder Verantwortung für die Ernennung entziehen. Dies mag eine<br />
Ursache darin haben, dass angesichts der bekanntgewordenen Umstände der späteren<br />
Tätigkeit und der Amtsführung des Präsidenten und der öffentlich notwendigerweise<br />
geäußerten Kritik an der Arbeit des TLfV auch im Zusammenhang mit dem<br />
Untersuchungsauftrag jeder eine Verbindung zur eigenen Person, und sei es auch nur<br />
durch die Verantwortung für die Ernennung des in die Kritik geratenen Präsidenten,<br />
vermeiden will“ (Thüringer Landtag, 2013, S. 508).<br />
Die Kritik an mangelhafter Arbeit des Verfassungsschutzes – hier am Beispiel<br />
Thüringen – muss also zwangsläu g verbunden werden mit einer ebenso scharfen<br />
Kritik an den jeweiligen Dienstherren, die die Arbeit ihrer gesamten Ressorts<br />
schlussendlich verantworten. Die Verfassungsschutzbehörden sind insofern weder<br />
dienstrechtlich noch organisatorisch eine Besonderheit gegenüber allen anderen<br />
Abteilungen bzw. nachgeordneten Behörden der Innenressorts.<br />
III. Nach dem Bekanntwerden des NSU im November 2011 ist viel von einer<br />
strukturellen Neuausrichtung oder Neujustierung der Verfassungsschutzbehörden die<br />
Rede. Bislang wurde im Bundesamt die einige Jahre zuvor getätigte Zusammenlegung
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />
263<br />
der Abteilungen Rechts- und Linksextremismus rückgängig gemacht, so dass der Bereich<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> nun wieder einen eigenständigen Bereich bildet. Der Bereich<br />
Linksextremismus bildet jetzt mit dem sog. „Ausländerextremismus“ eine eigene Abteilung,<br />
die als eine Art organisatorische Resterampe derjenigen Phänomenbereiche<br />
anmutet, denen gegenwärtig eine niedrige (politische) Bedeutung zugemessen wird.<br />
Eine ähnliche strukturelle Entwicklung hat sich in der Abt. Verfassungsschutz in<br />
NRW vollzogen. Doch wie sieht es darüber hinaus mit einer Reform aus?<br />
Eine Presseinformation des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 22. Februar<br />
2013 zum Projekt „Reform des Verfassungsschutzes“ liest sich in diesem Zusammenhang<br />
wie ein Dokument der Hil osigkeit. Circa 15 Monate nach Entdeckung<br />
des NSU wird ein Projekt vorgestellt, „um das BfV für neue Herausforderungen<br />
angemessen aufzustellen“ (Bundesamt für Verfassungsschutz, 2013). Schon der Verlauf<br />
der Umsetzung ist als amtstypisch zu bezeichnen: Der Projektstart erfolgte am<br />
3. September 2012 (zehn Monate nach NSU); das Reformkonzept wurde nach weiteren<br />
fünf Monaten am 1. Februar 2013 vom BMI gebilligt; am 22. Februar 2013 startete<br />
die Umsetzungsphase. Kernthema dieser Reform ist denn auch keine personelle<br />
Verstärkung, wie es mit der massenhaften Einstellung von Fachwissenschaftlern und<br />
Fachwissenschaftlerinnen nach dem 11. September 2001 geschehen war, sondern<br />
eine nicht näher bezeichnete „Konzentration auf das Wesentliche“ bzw. eine „Neupriorisierung“<br />
mit dem Ziel, sich vor allem um gewaltorientierte Extremisten zu<br />
kümmern. Obwohl sicher gut gemeint, gewährt ein weiterer geplanter Reformschritt<br />
einen tiefen Einblick in das typische Dilemma nahezu aller Verfassungsschutzämter:<br />
„Um eine stärkere Anbindung der Arbeit des BfV an gesellschaftliche Entwicklungen<br />
zu gewährleisten, soll ein entsprechender Beirat eingerichtet werden.“ (vgl.<br />
Bundesamt für Verfassungsschutz, 2013). Wie die Arbeit bislang losgelöst von gesellschaftlichen<br />
Entwicklungen überhaupt statt nden konnte, ist erstaunlich, aber<br />
doch systemimmanent. In den 14 „Arbeitspaketen“, die in einer gewaltigen Struktur<br />
mit vier Hierarchiestufen und eigener Geschäftsstelle zu erledigen sind, dreht sich<br />
denn auch lediglich das Paket 8 um wissenschaftliche Expertise (vgl. Abb.1).<br />
In Ministerien ndet allgemein – wenig überraschend – kein „herrschaftsfreier<br />
Diskurs“ à la Jürgen Habermas statt. „Demgemäss hängt das Schicksal von vorgeschlagenen<br />
Erneuerungen und Veränderungen mehr von der Einsicht der Vorgesetzten<br />
denn der Qualität der Argumente ab. Dessen eigene Handlungsoptionen<br />
gelten aber in solchen hierarchischen Strukturen selbst als begrenzt, ist er doch –<br />
eine Formulierung des Althistorikers Christian Meier aus einem ganz anderen Zusammenhang<br />
nutzend – allenfalls Herr in den Verhältnissen und nicht Herr über<br />
die Verhältnisse“ (Pfahl-Traughber, 2010, S. 27). Doch wer ist denn nun in den<br />
Ämtern für Verfassungsschutz – abgesehen von den schon erwähnten Ministern –<br />
Herr in den Verhältnissen und wer ist Herr über die Verhältnisse?
264 Thomas Grumke<br />
Abbildung 1<br />
Organigramm zur Umsetzung der Reform des BfV (Quelle: Bundesamt für<br />
Verfassungsschutz, 2013).
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />
265<br />
3 Personal und Führung<br />
“Reorganizing the Civil Service is like drawing a knife through a bowl of marbles.”<br />
(Yes, Minister: THE WHISKEY PRIEST)<br />
I. Zu Recht wird in allen Ämtern zwischen der Führungsebene und der Arbeitsebene<br />
unterschieden. Das soll auch hier so geschehen. Ein Blick auf die Führungsebene,<br />
also den sog. „Höheren Dienst“ (von Amtsleiter/innen über Referatsleiter/<br />
innen bis zu den Referent/innen), zeigt deutlich eine absolute Übermacht von Juristen.<br />
Was die Behörden für Verfassungsschutz angeht, so sind diese i.d.R. Teil<br />
der allgemeinen inneren Verwaltung. Beschäftigt sind hier in den Leitungsfunktionen<br />
ebenfalls fast ausschließlich Verwaltungsjuristen, die im Zuge der Rotation<br />
einige Jahre im Verfassungsschutz arbeiten und dann weiter ziehen. Vertiefte<br />
Fachkenntnisse in den Extremismusbereichen werden nicht erwartet bzw. sollen<br />
ggf. nach Antritt der Stelle erworben werden. Dieser eklatante Mangel an Fachverstand<br />
wurde im Bereich Islamismus schmerzlich nach dem 11. September 2001<br />
deutlich und durch die Einstellung einer großen Anzahl von Islamwissenschaftler/<br />
innen und Arabist/innen kompensiert. Diese wurden und werden jedoch fast ausschließlich<br />
im Angestelltenverhältnis auf der Arbeitsebene geführt und sind für<br />
Leitungsaufgaben nicht vorgesehen. Um es noch einmal klar zu sagen: auch im<br />
Jahre 2014 sind die Leitungen der Fachreferate oder -abteilungen „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
oder „Islamismus“ keineswegs Politik- oder Islamwissenschaftler, sondern<br />
(zumindest in den Ministerien) im Rahmen der üblichen Rotation alle paar<br />
Jahre neue Verwaltungsjuristen, die vorher andere Themenbereiche des Hauses<br />
vertreten haben und auch nach ihrer Zeit beim Verfassungsschutz wieder in einen<br />
anderen Bereich wechseln werden. Wie in allen anderen Berufsgruppen auch sind<br />
hier einige Personen besser motiviert und mit einer besseren Auffassungsgabe ausgestattet<br />
als andere.<br />
Auch die Leitungen der Behörden für Verfassungsschutz bestehen nach wie<br />
vor, trotz zahlreicher Wechsel im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex, überwiegend<br />
aus Juristinnen und Juristen. Wie Tabelle 1 zeigt, sind dies Stand Ende<br />
2014 elf der 17 Behördenleitungen. Abzüglich der vier Polizisten bleiben lediglich<br />
zwei Behördenleiter mit einer geisteswissenschaftlichen Ausbildung. Eine „Neujustierung“<br />
fand auf dieser Ebene nach NSU nicht statt.
266 Thomas Grumke<br />
Tabelle 1 Personelle Stärke und Leitung der Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder (Stand: 1.12.2014, Quelle: eigene<br />
Recherche)<br />
Leitung Jurist/in<br />
Baden-Württemberg Landesamt (337) Beate Bube (seit 1.2008) ja<br />
Bayern Landesamt (ca. 450) Dr. Burkhard Körner (seit 8.2008) ja<br />
Berlin Abt. (188) Bernd Palenda (seit 11.2012) ja<br />
Brandenburg Abt. (ca. 105) Carlo Weber (seit 6.2013) ja<br />
Bremen Landesamt (ca. 46) Hans-Joachim von Wachter (seit<br />
1.2008)<br />
Hamburg Landesamt (154) Torsten Voß (seit 8.2014) nein Polizist<br />
Hessen Landesamt (ca. 200) Roland Desch (seit 6.2010) nein Polizist<br />
Bundesland Behörde (Personalstärke)<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
Abt. (85) Reinhard Müller (seit 4.2009) nein Polizist<br />
Niedersachsen Abt. (ca. 270) Maren Brandenburger (seit 3.2013) nein Politikwissensch.<br />
Nordrhein-Westfalen Abt. (335) Burkhard Freier (seit 7.2012) ja<br />
Rheinland-Pfalz Abt. (165) Hans-Heinrich Preußinger (seit<br />
3.2009)<br />
Saarland Landesamt (83) Dr. Helmut Albert (seit 1999) ja<br />
Sachsen Landesamt (182) Gordian Meyer-Plath (seit 8.2012) nein Historiker<br />
Sachsen-Anhalt Abt. (106) Jochen Hollmann (seit 9.2012) nein Polizist<br />
Schleswig-Holstein Abt. (ca.100) Dieter Büddefeld<br />
(seit 10.2011)<br />
Thüringen Landesamt (ca. 100) Thomas Sippel (bis 7.2012; seitdem<br />
vakant)<br />
Bund Bundesamt (ca. 2700) Dr. Hans-Georg Maaßen (seit 8.2012) ja<br />
ja<br />
ja<br />
ja<br />
ja
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />
267<br />
Auch in der zweiten und dritten Hierarchiestufe (je nach Größe der Behörde sind<br />
dies Gruppen- und/oder Referatsleitungen) sind weit überwiegend Juristen anzutreffen:<br />
„…praktisch jeder, der etwas zu sagen hat, ist Jurist.“ (Musharbash, 2013).<br />
Dies ist auch der Einstellungspraxis der Innenbehörden geschuldet, da nach wie<br />
vor grundsätzlich nur Juristen für das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit vorgesehen<br />
sind. Die wenigen Ausnahmen der Beamten ohne juristisches Staatsexamen<br />
werden als „Beamte besonderer Fachrichtung“ geführt, die eben nicht beliebig<br />
im Rahmen der fortwährenden Rotation im gesamten Geschäftsbereich einsetzbar<br />
sind und daher auch nicht als für Führungspositionen quali ziert angesehen<br />
werden. Dass in diesem System einige Innenminister, wie z. B. der Pädagoge Ralf<br />
Jäger in Nordrhein-Westfalen, wohl nicht einmal verbeamtet, geschweige denn Referatsleiter<br />
in ihren eigenen Häusern werden würden, ist ein erstaunlicher Fakt.<br />
Wie u. a. Armin Pfahl-Traughber herausgearbeitet hat, kommt Verwaltungsjuristen,<br />
die i.d.R. ihr gesamtes Berufsleben in der öffentlichen Verwaltung – und<br />
hier zumeist in der inneren Verwaltung – verbracht haben, eine „besondere Prägung“<br />
(Pfahl-Traughber, 2010, S. 25) zu. So bemerkte Ralf Dahrendorf bereits in<br />
den 1960er Jahren: „Man wird schwerlich sagen dürfen, dass Offenheit, Flexibilität,<br />
Bereitschaft für neue und überraschende Situationen, Toleranz für marktartig<br />
sich selbst steuernde Bereiche des sozialen Lebens, Skepsis gegenüber dem<br />
Anspruch des Staates auf die sittliche Idee zum Rüstzeug des deutschen Juristen<br />
gehören“ (zitiert n. Pfahl-Traughber, 2010).<br />
Laut des ehemaligen Leiters der Schule für Verfassungsschutz, Hans-Jürgen<br />
Doll, bedarf es zur Erhöhung der Analysekompetenz einer „Brechung des Juristenmonopols“.<br />
Wieder Pfahl-Traughber (2010) folgend, der selbst zehn Jahre beim<br />
Bundesamt für Verfassungsschutz gearbeitet hat, können so erstens „Entwicklungen<br />
auf der Basis historischer, kultureller oder politischer Sachkompetenz besser<br />
eingeschätzt werden“. Zweitens „führt eine interdisziplinäre Herangehensweise<br />
bei der Einschätzung des extremistischen Gefahrenpotentials zu neuen Erkenntnissen<br />
und Perspektiven“. Drittens „können die Verfassungsschutzbehörden dadurch<br />
eher mit dem analytischen Anspruch aus der Wissenschaft mithalten und<br />
ihre Funktion als ‚Frühwarnsystem‘ besser erfüllen“ (S. 26).<br />
Es ist unbestreitbar, dass Behörden im Allgemeinen und Verfassungsschutzbehörden<br />
im Besonderen mit einer Vielzahl rechtlicher Fragen konfrontiert sind und<br />
deshalb Juristen benötigen. Daher hat auch schon jedes mittelständische Unternehmen<br />
eine Rechtsabteilung. Eine so starke Dominanz, wie sie in fast allen Behörden<br />
auszumachen ist, kann aber weder bezogen auf die Analyse- noch auf die<br />
Führungskompetenz als zwingend erforderlich gelten.<br />
II. In den Verfassungsschutzämtern arbeiten nicht hunderte von Extremismusexpertinnen<br />
und Extremismusexperten, die sich diese Aufgabe ausgesucht ha-
268 Thomas Grumke<br />
ben bzw. in langjähriger Fachausbildung darauf vorbereitet wurden. Genau wie<br />
in anderen Behörden arbeitet hier ein Querschnitt des öffentlichen Dienstes. Im<br />
„gehobenen Dienst“, also bei den sog. Sachbearbeitern, sind dies i.d.R. Personen<br />
mit einer Ausbildung an einer der Verwaltungsschulen oder –fachhochschulen der<br />
Länder oder des Bundes. Wie der Name schon sagt, obliegt dieser Dienstgruppe<br />
die Auswertungsarbeit in den Sachgebieten. Hier treffen sich die „offenen“ (Zeitung,<br />
Internet usw.) Erkenntnisse mit den „eingestuften“ (Quellenberichte, Observationsberichte,<br />
Telefonüberwachungen usw.) und werden systematisch zusammengeführt.<br />
Hier wird oftmals entschieden, welche Informationen relevant sind<br />
und welche nicht, was in Berichte ein ießt und was nicht, was die Leitung zu<br />
sehen bekommt und was nicht. Doch auch in dieser Dienstgruppe ist eine große<br />
Spreizung der Qualikationen und Motivationen zu verzeichnen.<br />
Das Beispiel Sachsen zeigt, dass in der Vergangenheit in einigen Verfassungsschutzämtern<br />
zeitweise scheinbar wahllos ohne Berücksichtigung einer relevanten<br />
Qualikation eingestellt wurde. Im Rahmen der Befragungen im Sächsischen<br />
NSU-Untersuchungsausschuss am 19. April 2013 sagte der ehemalige Referatsleiter<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>/-terrorismus im Landesamt für Verfassungsschutz aus,<br />
dass bei dessen Neuaufbau auch Personal eingestellt wurde, das mit dem Arbeitsfeld<br />
vorher nie inhaltlich zu tun hatte (vgl. Julke, 2013). Es wurde deutlich,<br />
„…dass Tischler, Handwerker, Verkäuferinnen, Leute, die auf Bauernhöfen arbeiteten,<br />
‚Leute, die keinerlei Ahnung hatten‘ (so wörtlich), Informatiker und Maurer eingestellt<br />
worden sind. Das Amt habe deren Vergangenheit geprüft, der Referatsleiter<br />
eine Stunde mit ihnen geredet. Dann seien sie auf einen sechswöchigen Lehrgang<br />
zum Bundesamt für Verfassungsschutz geschickt worden“ (Julke, 2013).<br />
Vorher hatte sowohl die Parlamentarische Kontrollkommission in ihrem Abschlussbericht<br />
als auch die Harms-Kommission (vgl. Harms, Heigl & Rannacher,<br />
2013) die Analysefähigkeit des Sächsischen Landesamtes als mangelhaft bewertet,<br />
ebenso wie die Schäfer-Kommission die des Thüringischen (s.u.). Der Bericht der<br />
Harms-Kommission hat hierzu ein ganzes Kapitel dem Thema „Fortbildung“ gewidmet,<br />
denn es wird ernüchtert (und ernüchternd) festgestellt: „Angesichts der<br />
nanziellen Rahmenbedingungen in Bund und Ländern, die einen eigentlich erforderlichen<br />
Zuwachs an qualiziertem Personal – auch mit Studienabschluss – nicht<br />
erwarten lassen, kommt der Fortbildung der Mitarbeiter ein ganz besonders hoher<br />
Stellenwert zu“ (Harms et al., 2013, S. 41).<br />
III. In einer Öffentlichen Anhörung des Haupt- und Innenausschusses im Landtag<br />
Nordrhein-Westfalen am 2. Mai 2013 sah Heinrich Amadeus Wolf, Professor<br />
für Öffentliches Recht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, den
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />
269<br />
dringend benötigten „politologischen Sachverstand“ in den Verfassungsschutzämtern<br />
„meilenweit entfernt“. In seiner Stellungnahme zur Frage 27 „Inwieweit<br />
sehen Sie die Notwendigkeit, die Aus- und Fortbildung sowie Personalführung<br />
beim Verfassungsschutz – wie bei der Polizei – zu professionalisieren und dies<br />
normativ zu verankern?“ antwortet Wolf: „Der Unterzeichner geht davon aus, dass<br />
die Ausbildung schon gegenwärtig professionalisiert ist, es wäre schlimm, wenn<br />
die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes NRW von Amateuren unterrichtet würden.“<br />
(Wolf, 2013, S.15)<br />
Das Thema Fort- und Weiterbildung ist ebenso wie die Analysekompetenz ein<br />
im Verfassungsschutzverbund schon seit langem diskutiertes Thema, das nun offenbar<br />
auch die politische Debatte erreicht hat. In Nordrhein-Westfalen wird in<br />
einem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Reform der Ausrichtung des<br />
Verfassungsschutzes NRW und des Verfassungsschutzgesetzes NRW konsequent<br />
umsetzen“ unter dem Punkt „Aus- und Fortbildung sowie Personalführung professionalisieren“<br />
gefordert:<br />
Bislang bestehen für Mitarbeiter des Verfassungsschutzes keine einheitlichen Personalauswahl-,<br />
Ausbildungs- und Fortbildungsstandards, sondern es wird ein exibles<br />
„Learning by Doing“ praktiziert. Das hohe Niveau der Polizeiausbildung muss<br />
Ansporn sein, auch für alle im Land tätigen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes<br />
entsprechende Leitlinien und Qualitätskriterien zu entwickeln. Das Ziel bundesweiter<br />
Standards ist zudem eine Aufgabe der Innenministerkonferenz. (Landtag NRW,<br />
2013, S. 4). 2<br />
Im Moment obliegt die Aus- und Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
der Verfassungsschutzbehörden der Schule für Verfassungsschutz (SfV) in Heimerzheim<br />
bei Bonn. In dieser alten BGS-Kaserne, intern auch „Heimlichheim“ genannt,<br />
nden neben der Ausbildung des nichttechnischen gehobenen Dienstes des<br />
BfV durch die Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung 3 auch die<br />
Fortbildungen aller 17 Verfassungsschutzämter statt. Musharbash (2013) charakterisiert<br />
die Jugendherbergsatmosphäre in „Heimlichheim“ zutreffend:<br />
2 Es muss erwähnt werden, dass es die FDP war, die zwischen 2005 und 2010 mit Ingo<br />
Wolf den Innenminister stellte und diese richtig beschriebenen Mängel hätte abstellen<br />
können.<br />
3 Vgl. http://www.fhbund.de/nn_14908/DE/01__Studieninteressierte/20__Zentralbereich__Fachbereiche/09__FB__ND/03__BfV/bfv__node.html?__nnn=true.
270 Thomas Grumke<br />
„Der Dienst braucht die besten Experten zu sehr spezi schen Phänomenen wie türkischen<br />
Marxisten oder russischer Wirtschaftsspionage, aber er kann ihnen nur ein<br />
Umfeld bieten, das eher an das Großstadtrevier im Vorabendprogramm erinnert als<br />
an die spannungsgeladene amerikanische CIA-Serie Homeland.“<br />
Trotz erheblicher Anstrengungen in den letzten Jahren, aus der SfV eine hochschulähnliche<br />
Institution oder sogar einen Think Tank bzw. eine „Akademie“ zu<br />
machen und trotz personeller Verstärkung ist diese auch in der Selbstdarstellung<br />
eine Erweiterung vor allem des Bundesamtes für Verfassungsschutz, das auf der<br />
spärlichen Webpräsenz noch einmal deutlich auf seine Dienstaufsicht hinweist. 4<br />
Noch einmal: eine reguläre Fachausbildung für den gehobenen Dienst hat lediglich<br />
das BfV. Die Landesämter für Verfassungsschutz entsenden ihre Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter mehr oder weniger konsequent lediglich zu Fortbildungen<br />
zu allen Extremismusbereichen. Ansonsten gilt „learning on the job“.<br />
IV. Im Fall Thüringen bezeichnet das sog. Schäfer-Gutachten (Schäfer, Wache<br />
& Meiborg, 2012) die Quellenauswertung und Analyse im Fall NSU als „mangelhaft“<br />
(Schäfer et al., 2012, S. 118f.). Die Folgen dieser mangelhaften Auswertung<br />
waren gravierend: der Verlauf des Untertauchens des NSU, des anfänglichen<br />
Spendensammelns in der Szene und der späteren Ansage, man brauche nun kein<br />
Geld mehr, wurden nicht adäquat analysiert und eingeordnet (Schäfer et al., 2012,<br />
S. 193ff.). Winfriede Schreiber, die ehemalige Leiterin des Verfassungsschutz<br />
Brandenburg, bewertet dies so: „Wenn Extremisten abtauchen, liegt es eigentlich<br />
auf der Hand, sich zu fragen, wie sie sich nanzieren. Die Schrift war an der<br />
Wand – aber sie ist nicht richtig gelesen worden.“ (zit. n. van der Kraats, 2013).<br />
Gordian Mayer-Plath, langjähriger Mitarbeiter im Brandenburger Verfassungsschutz<br />
und heute Leiter des Landesamts in Sachsen, schlägt eine konkrete Lösung<br />
für den von Schreiber beklagten analytischen Analphabetismus vor: Man brauche<br />
nicht unbedingt mehr Verfassungsschützer, sondern bessere:<br />
„Wir brauchen ein breiteres Spektrum an Mitarbeitern, vor allem mehr Geistes- und<br />
Sozialwissenschaftler. Denn Extremisten arbeiten mit Chiffren. Die beziehen sich<br />
auf bestimmte Weltanschauungen und Denkrichtungen, die manchmal nur ein Geisteswissenschaftler<br />
kennen kann. Ich will damit nicht sagen, dass der Verfassungsschutz<br />
ausschließlich aus Historikern bestehen sollte, plädiere aber für eine gesunde<br />
Mischung. Nur mal angenommen, sie nden eine Webseite mit lauter Gedichten von<br />
Ernst Niekisch. Da müssen Sie schon wissen, wer das war. Sonst nden Sie die Seite<br />
nicht verdächtig“ (Machowecz, 2012).<br />
4 Vgl. http://www.verfassungsschutz.de/de/das-bfv/akademie-fuer-verfassungsschutz.
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />
271<br />
Dieser eklatante Mangel an sozialwissenschaftlicher Analysekompetenz in den<br />
Verfassungsschutzämtern wird seit langer Zeit beklagt (vgl. Grumke & Pfahl-<br />
Traughber, 2010) und auch in den Ämtern diskutiert. <strong>Rechtsextremismus</strong> wird<br />
jedoch, anders als Islamismus, in vielen Behörden nicht als komplexe gesellschaftliche<br />
Aufgabe verstanden, da hier z. B. keine Fremdsprachenkenntnisse nötig sind.<br />
Wie aber der Fall NSU zeigt, kommt es auf analytische Details an. So kann die<br />
Abwesenheit von Bekennerschreiben nicht verstanden werden, wenn Konzepte des<br />
internationalen <strong>Rechtsextremismus</strong> wie leaderless resistance (vgl. Grumke, 1999)<br />
unbekannt sind. Die für den <strong>Rechtsextremismus</strong> im 21. Jahrhundert entscheidenden<br />
Gebiete der neuen Medien (Internet, soziale Netzwerke etc.) und der Musik<br />
werden zu oft mit Instrumenten und einem Ausbildungsstand des 20. Jahrhunderts<br />
bearbeitet.<br />
Hinzu kommt, dass oftmals die zuständigen Sachbearbeiter nicht dazu ausgebildet<br />
sind noch dazu im hierarchischen Ablauf dazu angehalten werden, die<br />
richtigen Fragen zu stellen. Komplexe Speicherrichtlinien und zum Teil wenig<br />
nutzerfreundliche Speichersoftware tun ihr Übriges, dass Daten heute ebenso unanalysiert<br />
und unverknüpft verbleiben wie früher in den staubigen Registraturen.<br />
Modernes Wissensmanagement weiß: Speichern Wissen Verstehen! Das Speichern<br />
von Bedeutung ist eben nicht möglich und so kommt es auf die analytische<br />
Leistung aller Personen an, die in den Verfassungsschutzbehörden mit Auswertung<br />
zu tun haben.<br />
Doch auch wenn Erkenntnisse irgendwo in der Behörde vorhanden sind, dann<br />
ist entscheidend wo, wer sie mit einem aktuellen Sachverhalt zusammenführt und<br />
vor allem, ob die Führungsebene und die Arbeitsebene hieran gemeinsam arbeiten.<br />
Es gilt, den entscheidenden Schritt über die Verwaltung von Informationen hinaus<br />
zur Analyse von Informationen zu gehen (vgl. Pfahl-Traughber, 2010, S. 25).<br />
Nur so ist zu erklären, dass der Staatssekretär im BMI Klaus-Dieter Fritsche noch<br />
am 11. August 2011 auf die schriftliche Frage der Abgeordneten Jelpke: „Ist die<br />
Bundesregierung nach den Anschlägen in Norwegen bereit, die Ausrichtung der<br />
Arbeit des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) neu zu überdenken<br />
und die ausschließliche Konzentration auf „islamistischen Terrorismus“ aufzugeben<br />
folgendes antwortete: „Abgesehen vom islamistischen Terrorismus gibt<br />
es derzeit keine Personen(gruppen), die terroristische Ziele in Deutschland aktiv<br />
vertreten und verfolgen“ (Drs. 17/6812). Fritsche ist seit Januar 2014 Staatssekretär<br />
im Bundeskanzleramt und Beauftragter für die Nachrichtendienste des Bundes. 5<br />
5 Vgl. http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Biographien/biographie-klaus-dieter-fritsche.html.
272 Thomas Grumke<br />
4 Fazit: Die De-Mystifizierung des Innenmysteriums<br />
“Politician’s logic: We must do something. This is something. Therefore we must<br />
do it.”<br />
(Yes, Minister: PARTY GAME)<br />
I. Der Fall des NSU ist de facto der 11. September des <strong>Rechtsextremismus</strong> in deutschen<br />
Ämtern und offenbart ähnliche analytische und fachliche Schwächen in<br />
vielen zuständigen Verwaltungen, ohne dass hier (bisher) eine Verstärkung durch<br />
Fachpersonal überhaupt in Erwägung gezogen wird – geschweige denn für Leitungspositionen.<br />
Es besteht also nicht nur ein Informations- und Koordinationsdezit<br />
zwischen den Behörden, sondern vor allem ein fachliches und analytisches<br />
Dezit innerhalb der für den <strong>Rechtsextremismus</strong> zuständigen Ämter.<br />
Pauschale Verurteilungen sind an dieser Stelle jedoch vollkommen fehl am<br />
Platze, denn nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Verfassungsschutzbehörden<br />
haben gleichermaßen in der Causa NSU versagt. Nicht selten zu hörende<br />
Vorwürfe, „der“ Verfassungsschutz sei auf dem „rechten Auge blind“ und verfüge<br />
über eine eigene, demokratieferne Mentalität, gehen am wahren Problem vorbei.<br />
Es besteht eben keine Verfassungsschutz-Kultur oder –Mentalität und auch eine<br />
Art corporate identity, wie sie die Polizei zweifellos pegt, ist hier nicht zu nden.<br />
Die Arbeit wird vielmehr, wie gezeigt, politisch gelenkt vom zur Verfügung stehenden<br />
Personal nach bestem Wissen verrichtet. Zu beklagen ist, dass eben bisher<br />
auf allen Ebenen so wenig Wert auf gesättigtes Fachwissen im Bereich <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
gelegt wird und dies zur Qualikation für Führungspositionen kaum<br />
relevant ist.<br />
Anetta Kahane (2013) beklagt zudem eine „Kultur leidenschaftlicher Gleichgültigkeit“<br />
in den Behörden. Und in der Tat mag es manchmal eine Kollision der<br />
Sicherheit der eigenen Karriere mit der Inneren Sicherheit geben. Dies arbeitet<br />
Musharbash (2013) schön in seinem Artikel zur Schule für Verfassungsschutz heraus:<br />
„Auf eine sehr spezielle Art ist die Beamtenhaftigkeit eine Versicherung gegen gemeinschaftliche<br />
Rechtsbeugung. ‚Bevor ein Beamter seinen Pensionsanspruch gefährdet,<br />
macht er lieber gar nichts‘, sagt ein Verfassungsschützer. Waterboarding<br />
wäre beim Verfassungsschutz ganz und gar unvorstellbar. Doch das schützt weder<br />
vor individuellen Fehlern noch vor kollektivem Versagen. […] Zwielichtig agiert haben<br />
möglicherweise einzelne Verfassungsschützer – der große Rest aber ist an einer<br />
Aufgabe gescheitert, die er nur zu gerne bewältigt hätte“.
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />
273<br />
Wie der Harms-Bericht in Sachsen fordert, muss die „Identikation von Deziten<br />
bei Wissen und Befähigung der Mitarbeiter und die Anpassung des Personalkörpers<br />
an die steigenden Herausforderungen des dienstlichen Alltags […] stärker als<br />
bislang als Führungsaufgabe begriffen und wahrgenommen werden.“ (Harms et<br />
al., 2013, S. 44). Berufsanfänger und Quereinsteiger sind zeitnah und umfassend<br />
zu qualizieren. Es muss der Grundsatz gelten: „Erst ausbilden, dann einsetzen“<br />
(Harms et al., 2013, S. 45). Aber welcher Politiker möchte im Moment mit der<br />
Forderung in Verbindung gebracht werden, den Verfassungsschutz personell und<br />
materiell zu stärken?<br />
II. Informierte, aufgeklärte und demokratische Bürgerinnen und Bürger treten<br />
für die Demokratie und gegen ihre Gegner ein und tragen so dazu bei, unsere Demokratie<br />
und ihre Grundwerte zu schützen und zu stärken. In diesem Sinne sind<br />
aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger das Fundament einer demokratischen Kultur<br />
und so der beste Verfassungsschutz. Was Verfassungsschutzämter zu diesem Fundament<br />
beitragen sollen und können muss politisch entschieden und gesellschaftlich<br />
akzeptiert werden.<br />
Es bestehen unterschiedliche Handlungslogiken in den für die hier verhandelte<br />
Frage relevanten Bereichen: Politik, Öffentlichkeit, Presse, Verwaltung (hier: Verfassungsschutz).<br />
Diese gilt es herauszuarbeiten und in die Debatte einzubeziehen.<br />
Das Phänomen <strong>Rechtsextremismus</strong>, das ein gesellschaftliches und kein primär<br />
juristisches Problem ist, kann als solches nur gemeinsam nachhaltig bekämpft<br />
werden. Den Verfassungsschutzämtern kann hier eine wichtige Rolle zukommen,<br />
wenn die oben diskutierten Problemlagen offen angegangen und gelöst werden.<br />
Zu denken gibt hier jedoch die Äußerung eines aktiven Verfassungsschutz-Mitarbeiters:<br />
„‘Ich bin zum Verfassungsschutz gegangen, weil ich etwas gegen Nazis tun wollte‘,<br />
sagt der Mann, der nur am Telefon sprechen möchte […] Umso überraschender wirkt<br />
seine Resignation: ‚Wenn ich die Jahre in eine NGO gegen Rechts investiert hätte,<br />
hätte ich wohl mehr erreicht‘“ (Musharbash, 2013).<br />
Abschließend bleibt festzuhalten:<br />
1. Die Ämter für Verfassungsschutz stehen nach Bekanntwerden des NSU unter<br />
erheblichem Reformdruck.<br />
2. Bisher ist jedoch keine neue Qualität im professionellen Handeln bzw. der Auswertung<br />
des <strong>Rechtsextremismus</strong> zu erkennen.<br />
3. Zentral ist in diesem Zusammenhang das Personal. Nach wie vor gibt es jedoch<br />
weder auf der Arbeits- geschweige denn auf der Leitungsebene den systema-
274 Thomas Grumke<br />
tischen Erwerb von Fachkompetenz hinsichtlich des Phänomens <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />
4. Eine Reform der Personalgewinnung oder Personalentwicklung ist, anders als<br />
nach 9/11, nicht in Sicht. Nach wie vor gelten eine juristische Ausbildung und<br />
die fortlaufende Rotation durch viele Stationen der allgemeinen inneren Verwaltung<br />
als Maßstab für eine gute Führungskraft, auch im Verfassungsschutz.<br />
5. Eine Änderung dieser Praxis wird auch von der politischen Führung nicht gefordert<br />
bzw. augenscheinlich für nötig gehalten. So wird auf allen Ebenen das<br />
Phänomen weiter grundsätzlich nicht von <strong>Rechtsextremismus</strong>experten, sondern<br />
von Autodidakten bearbeitet und gesteuert. Eine sehr große Streuung der<br />
Arbeitsqualität ist also nicht überraschend, sondern systemimmanent.
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU<br />
275<br />
Literatur<br />
Bundesamt für Verfassungsschutz (2013). „Presseinformation des Bundesamtes für Verfassungsschutz<br />
(BfV) zum Projekt ‚Reform des Verfassungsschutzes‘ im BfV“, vom 22.<br />
Februar 2013.<br />
Grumke, T. (1999). Das Konzept des leaderless resistance im <strong>Rechtsextremismus</strong>. Die Neue<br />
Gesellschaft/ Frankfurter Hefte, Juni 1999, S. 495-499.<br />
Grumke, T. (2011). <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rechtspopulismus als Herausforderung für die<br />
Demokratie“. In T. Mörschel & C. Krell (Hrsg.), Demokratie in Deutschland. Zustand –<br />
Herausforderungen – Perspektiven (S. 363-388). Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.<br />
(http://www.demokratie-deutschland-2011.de).<br />
Grumke, T. & Pfahl-Traughber, A. (Hrsg.) (2010). Offener Demokratieschutz in einer offenen<br />
Gesellschaft. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention als Instrumente des Verfassungsschutzes.<br />
Opladen: Verlag Barbara Budrich.<br />
Gujer, E. (2012). „Deutschlands Schlapphut-Syndrom“, in: NZZ vom 14.08.2012: http://www.<br />
nzz.ch/aktuell/international/uebersicht/deutschlands-schlapphut-syndrom-1.17477593<br />
Harms, M., Heigl, F.-J. & Rannacher, H. (2013). Bericht über die Untersuchung und Evaluierung<br />
der Arbeitsabläufe und –strukturen des Landesamtes für Verfassungsschutz<br />
Sachsen unter besonderer Betrachtung der Ereignisse im Zusammenhang mit dem sog.<br />
„Nationalsozialistischen Untergrund“ vom 20. Februar 2013, Dresden: http://www.smi.<br />
sachsen.de/download/SMI/Endfassung_Bericht_Expertenkommission_im_LfV_Sachsen.pdf.<br />
Julke, R. (2013). „Sachsens Verfassungsschutz: Mit Tischlern, Handwerkern und Verkäuferinnen<br />
gegen Staatsfeinde“, in: Leipziger Internet-Zeitung vom 20.4.2013.<br />
Kahane, A. (2013). „Mit leidenschaftlicher Gleichgültigkeit“, in: Berliner Zeitung vom<br />
03.03.2013.<br />
Landtag NRW (2013): Antrag der Fraktion der FDP: „Reform der Ausrichtung des Verfassungsschutzes<br />
NRW und des Verfassungsschutzgesetzes NRW konsequent umsetzen“<br />
(Drs 16/2119), Düsseldorf.<br />
Lange, H.-J. & Lanfer, J. (Hrsg.) (2015 i.E.). Verfassungsschutz zwischen administrativer<br />
Effektivität und demokratischer Transparenz. Wiesbaden: Springer VS.<br />
Leggewie, C. & Meier, H. (2012). Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue<br />
Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik. Archiv der Jugendkulturen.<br />
Machowecz, M. (2012). „‘Die Clowns im Auge haben‘. Sachsens Verfassungsschutzchef<br />
Gordian Meyer-Plath über die Not, ein Amt zu übernehmen, dessen Ruf ramponiert ist“.<br />
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MDR (2012): „Roewers Berufung war lange geplant“, auf: http://www.mdr.de/themen/nsu/<br />
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Musharbash, Y. (2013). „In Heimlichheim: Wie konnte es passieren, dass der Verfassungsschutz<br />
die Terroristen des NSU aus dem Auge verlor?“. DIE ZEIT vom 14.03.2013.<br />
Pfahl-Traughber, A. (2010). Analysekompetenz und Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes.<br />
In T. Grumke & A. Pfahl-Traughber (Hrsg.), Offener Demokratieschutz in<br />
einer offenen Gesellschaft. Öffentlichkeitsarbeit und Prävention als Instrumente des<br />
Verfassungsschutzes S. 15-32. Opladen: Verlag Barbara Budrich.<br />
Schäfer, G., Wache, V. & Meiborg, G. (2012). Gutachten zum Verhalten der Thüringer<br />
Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des „Zwickauer Trios“, Er-
276 Thomas Grumke<br />
furt (14.05.2012): http://www.thueringen.de/ imperia/md/content/tim/veranstaltungen/120515_schaefer_gutachten.pdf<br />
Thüringer Landtag (2013). Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses 5/1 (Drucksache<br />
5/5810), Erfurt (07.03.2013): http://www.thueringer-landtag.de/imperia/md/content/<br />
landtag/drucksachen/drs55810.pdf<br />
Van der Kraats, M. (2013). „Brandenburgs Verfassungsschutz-Chen: ‚Vorschnelle Schlüsse<br />
bei NSU-Ermittlungen‘“. Potsdamer Neueste Nachrichten vom 27.03.2013.<br />
Wesel, U. (2012). „Spitzel, Wanzen, Bomben: Die Chronique scandaleuse des Verfassungsschutzes<br />
seit 1950 zeigt vor allem eins: Er ist über üssig und gehört schleunigst abgeschafft“.<br />
DIE ZEIT vom 26.01.2012.<br />
Wolff, H. A. (2013). „Schriftliche Stellungnahme zur Vorbereitung der öffentlichen Anhörung<br />
des Hauptausschusses und des Innenausschusses des Landtags Nordrhein-Westfalen<br />
am 2. Mai 2013“ vom 26.04.2013.
Fallbeispiel Grass Lifter<br />
Künstlerische Interventionen zum NSU im öffentlichen<br />
Raum in Sachsen<br />
Franz Knoppe und Maria Gäde<br />
1 Einführung<br />
Wenn ein klei n er Ort tägli ch in überregionalen Medien erscheint, ist etwas Besonderes<br />
passiert. Wenn an diesem Ort über das Besondere nichts in der Öffentlichkeit<br />
zu nden ist, wird es Zeit für die Kunst. Der Soziologe Niklas Luhmann<br />
wusste über die Kunst zu sagen: „Kunst weist darauf hin, dass der Spielraum des<br />
Möglichen nicht ausgeschöpft ist, und sie erzeugt deshalb eine befreiende Distanz<br />
zur Realität“ (Luhmann, 2006, S. 160).<br />
Der kleine Ort ist in diesem Fall Z wickau, eine Stadt in Westsachsen. Das besondere<br />
Ereignis war die Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrundes<br />
(NSU), dessen drei Kern-Mitglieder Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate<br />
Zschäpe über zehn Jahre in Zwickau gelebt haben. Es stellte sich die Frage, wie die<br />
Zwickauer und auch die sächsische Bevölkerung nach Aufdeckung des NSU damit<br />
umgingen, dass diese Rechtsterroristen jahrelang unter ihnen gelebt haben. Die<br />
Frage, wie das Thema in der Öffentlichkeit behandelt und diskutiert wird, lag damit<br />
sofort auf dem Tisch. Wir meinen Verdrängungsmechanismen zu beobachten,<br />
sowohl bei der Bevölkerung, als auch bei Vertretern 1 der Politik. Ein sichtbares<br />
Zeichen war der Abriss des Hauses in der Frühlingsstraße 26, wo die Terroristen<br />
bis zuletzt Unterschlupf suchten. Heute nden sich dort keine Zeichen mehr. Aus<br />
1 Im Folgenden wird aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung nur die männliche<br />
Form verwendet. Es sind jedoch stets Personen männlichen und weiblichen Geschlechts<br />
gleichermaßen gemeint.<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
278 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />
diesem Grund wollten und wollen wir, die Grass Lifter, mittels der Kunst das Besondere<br />
an diesem Ort zeigen. Die Grass Lifter, das sind junge Erwachsene aus<br />
Zwickau, Plauen, Berlin, der Schweiz und Österreich und wir arbeiten international<br />
von Nairobi über Stendal, Berlin bis Chemnitz. Die Künstlergruppe ndet sich<br />
projektbezogen zusammen, um mit künstlerischen Mitteln das politische Thema<br />
NSU und <strong>Rechtsextremismus</strong> zu bearbeiten.<br />
Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit der T eilnahme an der 27. Jahrestagung<br />
des Forums Friedenspsychologie. Wir möchten a m Beispiel der Grass<br />
Lifter untersuchen, wie künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum und<br />
bezogen auf politische Prozesse funktionieren können. Wir re ektieren unsere<br />
eigenen Aktionen und öffnen die „Black Box“ einer Künstlergruppe. Wir beschreiben<br />
unseren Ansatz, unsere Taktiken, Prinzipien, Theorien und gruppendynamische<br />
Prozesse, um Funktionen offenzulegen, die für uns notwendig erscheinen, um<br />
erfolgreich Aktionen durchzuführen. Mit diesem Beitrag wollen wir zeigen, wie<br />
die noch relativ junge Form des Kunstaktivismus in lokalen und kommunalen Politikprozessen<br />
funktioniert und arbeiten kann. Unsere Herangehensweise ist konstruktivistisch<br />
und zum Teil aus einer systemtheoretischen Perspektive geschrieben.<br />
In der Rolle als Aktionskünstler fühlen wir uns der wissenschaftlichen Genauigkeit<br />
verpichtet, ohne fachspezische Ansprüche zu erheben.<br />
Wir wollen im ersten Schritt die Motivation und das von uns wahrgenommene<br />
Problem als Ausgangspunkt für unsere Aktivitäten darlegen. Im zweiten Schritt<br />
werden die Zielgruppe, Taktiken, Prinzipien und Theorien vorgestellt, die für uns<br />
entscheidend bei der Umsetzung der verschiedenen Aktionen waren. Abschließend<br />
werden wir die Wirkungen unserer künstlerischen Arbeit beschreiben und<br />
die Ergebnisse zur Diskussion stellen.<br />
2 Kunstaktivismus als friedenspsychologischer Beitrag<br />
Wir b etrachten psychologische Systeme als von der Gesellschaft externe Systeme,<br />
die also Umwelt der Gesellschaft sind. Gesellschaft besteht aus Kommunikation<br />
(Luhmann, 2006, S. 35). Als Künstlergruppe versuchen wir mit Artefakten (z. B.<br />
Miniguren oder Auszeichnungen), Bildern und Storys kommunikative Prozesse<br />
und Irritationen auszulösen, um langfristig psychologische Veränderungen zu erreichen.<br />
Ziel dieser Prozesse ist es nicht, wie beim Design die Dinge zu verbessern,<br />
oder attraktiver zu machen, sondern das Gegenteil ist der Fall. Kunst ästhetisiert<br />
die Dinge der Gegenwart, um das Dysfunktionale, Absurde, Unnütze an ihnen zu<br />
enthüllen. „Die Gegenwart zu ästhetisieren [mit den Mitteln der Kunst] bedeutet<br />
sie zu toter Vergangenheit zu machen“ (Groys, 2014, S. 90).
Fallbeispiel Grass Lifter<br />
279<br />
Auf der kommunikativen Ebene stellt Kunst damit den Konsens über den Dissens<br />
in der Gegenwart her (Luhmann, 2000, S. 92f.). Unsere Kunst greift Erkenntnisse<br />
aus der Wissenschaft auf und wendet sie mit kreativen Techniken aus der<br />
Aktionspraxis an (z. B. den Erfahrungen des Ansatzes des Globalen Lernens). Die<br />
Plausibilität unserer Aktionen können wir nicht abschließend bewerten. Was wir<br />
beitragen möchten, ist der Blick aus der Praxis zurück in die friedenspsychologische<br />
wissenschaftliche Arbeit.<br />
3 Blinder Fleck unserer Aktionen<br />
Die Taten des NSU zielten gegen Menschen mit Migrationsbiographie. Alle Morde<br />
außer dem ungeklärten Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter waren rassistisch<br />
motiviert. Hier sind Menschen betroffen und es werden kulturelle Gruppen<br />
bedroht, die wir in unserer Zusammensetzung als Künstlergruppe nicht widerspiegeln.<br />
Wir sind weder People of Colour noch erleiden wir schwerwiegende Diskriminierungserfahrungen<br />
in der Gesellschaft. Als Künstler ging es uns daher auch<br />
nie darum, für die Opfer zu sprechen und diese zu vertreten. Unser Fokus besteht<br />
darin, den Teil der Gesellschaft, in der die Täter ihr zu Hause wählten, zur Re exion<br />
anzuregen und dort Diskurse auszulösen.<br />
4 Motivation – Problembeschreibung<br />
Am ersten Jahrestag der Aufdeckung der Verbrechen des NSU beobachteten wir,<br />
wie ein Kam erawagen der DPA die verlassene grüne Wiese in der Frühlingsstraße<br />
26 in Zwickau lmte, den Ort an dem der NSU zuletzt wohnte und seine Verbrechen<br />
wahrscheinlich plante.<br />
An jenem Abend sendete die Tageschau Stellungnahmen von Politikern, Opferverbänden<br />
und and eren zivilgesellschaftlichen Akteuren. Eine Stellungnahme<br />
aus der Region Zwickau, z. B. von der Oberbürgermeisterin Dr. Pia Findeiß, gab<br />
es nicht. Auch gab es keine öffentliche Veranstaltung in Zwickau, die an dem<br />
symbolischen Datum die Taten in einen Kontext der Aufarbeitung, Aufklärung<br />
oder Erinnerung setzte. Eine Kleinstadt, die monatelang im Fokus der Öffentlichkeit<br />
stand und sich an das Synonym des NSU „Zwickauer Terrorzelle” gewöhnen<br />
musste, fand am Jahrestag der Aufdeckung der Verbrechen keine Worte. Bewusst<br />
oder unbewusst versuchten die politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure der<br />
Stadt, diesen aus unserer Sicht notwendigen Diskurs nicht zu benennen. Das war<br />
der Ausgangspunkt, der Auslöser für die Idee, das Gras, das über die Sache wächst,
280 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />
auszugraben und den Zustand des Verdeckens symbolisch zur Vergangenheit zu<br />
erklären.<br />
Ähnlich wie in Mügeln (Schellenberg, 2014, S. 85; siehe auch den Beitrag von<br />
Schellenberg in diesem Band) fanden es Politiker in Zwickau schwierig, die Terrorzelle<br />
NSU mit ihrem Ort zu verbinden. Während in den Medien noch von der<br />
“Zwickauer Terrorzelle” gesprochen wurde, distanzierten sich Politiker von der<br />
Art der Zuschreibung und verwiesen auf die Herkunft der Täter, die aus Jena kamen<br />
(Decker, 2013). Das Problem Rechtsradikalismus wurde argumentativ generalisiert<br />
und als allgemeingesellschaftliches und als nicht Zwickau spezi sches<br />
Problem präsentiert. So wollten die politischen Akteure von Zwickau lokale Aufklärungsmöglichkeiten<br />
die spezi sch zum NSU sind, auf eine allgemeingesellschaftlichere<br />
Ebene heben. Dazu gehörte der Vorschlag, dass ein Dokumentationszentrum<br />
aller Opfer rechter Gewalt in Zwickau gebaut werden sollte (Lasch, 2013).<br />
Dieses wurde abgelehnt und damit konnten lokalspezische Problemlösungen, die<br />
von anderen Akteuren vorgeschlagen wurden, mit dem Verweis auf die Ablehnung<br />
des Dokumentationszentrums wegdiskutiert werden.<br />
Dennoch kam es in Zwickau auch zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema<br />
NSU. Kurz nach dem ersten Jahrestag ga b es im sozio-kulturellen Zentrum „Gasometer“<br />
eine Podiumsdiskussion zum Thema. Im Jahr 2013 thematisierte der örtliche<br />
Kunstverein mit einer Ausstellung die „Existenz des NSU“ (Naumann, 2013).<br />
Für uns waren die Reaktionen der Stadtoberen nicht ausreichend. Unsere Annahme<br />
ist es, dass solch eine Terrorzel le ein Umfeld brauchte, das sie stützte und in dem<br />
sie sich organisieren konnte. Dieses Umfeld wiederum, so nehmen wir an, braucht<br />
ebenfalls ein Umfeld, in dem es mit seiner Haltung nicht auffällt oder wo man lieber<br />
wegschaut und solche Prozesse toleriert. Diesem Umfeld des Umfeldes der „Terrorzelle“<br />
bewusst zu machen, dass solche Taten unter uns nicht mehr möglich sein<br />
dürfen, ist das langfristige Ziel unserer Aktionen. Wir wollen, dass die Bevölkerung<br />
sich mit dem Geschehenen auseinandersetzt und anhaltende Formen der Aufklärung<br />
zulässt. Da dies für zivilgesellschaftliche Initiativen nicht ohne Unterstützung der<br />
lokalen politischen Verantwortlichen zu erreichen ist, leiten wir daraus unsere Anspruchshaltung<br />
an die politischen Akteure in Zwickau, Chemnitz und Sachsen ab.<br />
Diese Ausgangsituation war für uns entscheidend, aktiv zu werden. Nur waren<br />
wir nicht gut genug in der Stadt vernetzt, um politische Entscheidungsträger dazu<br />
zu bringen, etwas zu tun. Auch kam uns die Haltung in der Stadt eher so vor,<br />
als wüsste niemand so genau wie er sich verhalten sollte. Wo waren also die, die<br />
ebenfalls fanden, dass nicht einfach Gras über die Sache wachsen sollte? Für uns<br />
kam also nur in Frage, mit einer symbolischen Aktion das Thema wieder auf die<br />
Agenda zu setzen, denn dafür brauchten wir keine weiteren Unterstützer und große<br />
Organisationsvorleistungen.
Fallbeispiel Grass Lifter<br />
281<br />
5 Der Weg zu den Kunstaktionen<br />
Im Rahmen der Künstlergruppe Grass Lifter wurden bisher vier Aktionen durchgeführt.<br />
Im Folgenden wer den die Aktionen vorgestellt.<br />
Tabelle 1 Überblick über die Aktionen<br />
Aktion 06.05.2013<br />
Das Gras, das über<br />
die Sache wächst<br />
Anlass NSU Prozessbeginn<br />
Maßnahmen<br />
Symbolischer<br />
Spatenstich in die<br />
Grasäche der<br />
Frühlingsstr. 26,<br />
Zwickau, Übergabe<br />
des Grases<br />
an die Oberbürgermeisterin<br />
von<br />
Zwickau<br />
04.11.2013<br />
War da was?<br />
Grass it up!<br />
2. Jahrestag Aufdeckung<br />
NSU<br />
Figurenaufstellungen<br />
mit utopischen<br />
Themen an<br />
den Orten, wo die<br />
Täter lebten.<br />
06.05.2014<br />
Fragen iegen<br />
1. Jahrestag des<br />
NSU-Prozessbeginns<br />
Luftballonperformance<br />
mit Fragen<br />
zum NSU-Komplex,<br />
die über<br />
Sachsen gestreut<br />
wurden.<br />
04.11.2014<br />
Goldener Hase<br />
3. Jahrestag Aufdeckung<br />
NSU<br />
Negativ-Preisübergabe<br />
„Goldener<br />
Hase“ an<br />
den Verfassungsschutz<br />
Sachsen<br />
und Online-Petition<br />
Wir orientieren uns am Standardwerk des Kunstaktivismus „Beautiful Trouble –<br />
Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution” (Boyd & Oswald, 2014)(Boyd<br />
und Mitchell 2014). Darin werden Taktiken, Prinzipien und Theorien beschrieben,<br />
die für erfolgreichen Kunstaktivismus Bedingung sein können. Wir halten uns im<br />
Folgenden an die im Buch verwendete Terminologie.<br />
5.1 Zielgruppe<br />
Aus unserem Ansatz, das Umfeld des Umfeldes der Terrorzelle zur Reexion anzuregen,<br />
leitet sich auch unsere Zielgruppe ab. Wir wollen Menschen erreichen, die im Sozialraum<br />
Zwickau und Chemnitz wohnen. Menschen, die die Welt vor allem über Massenmedien<br />
beobachten und nur bedingt im politischen System mitwirken. Bei diesen Menschen<br />
wollen wir Diskurse und Diskussionen auslösen, die Teil einer Haltungsänderung<br />
sein könnten. Da das Thema in der Stadt nicht besonders beliebt war und noch immer<br />
nicht ist, wussten wir, dass das, was wir machen nicht so interessant sein würde, dass<br />
diese Menschen zu uns strömen würden. Trotzdem wollten wir genau diese Menschen<br />
erreichen. Erst danach wollten wir die politisch Verantwortlichen ansprechen. Unsere<br />
Zielgruppe umfasste damit bis zu 327.000 Menschen (Landkreis Zwickau, 2015).
282 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />
Abbildung 1 Mögliche Antwort auf die Frage: Wie gesellschaftlich reagieren auf die<br />
Terrorzelle NSU in Zwickau? (zweite Aktion: 04.11.2013 – War da was?<br />
Grass it up!)
Fallbeispiel Grass Lifter<br />
283<br />
Abbildung 2 und 3 Prophetische Intervention im öffentlichen Raum (zweite Aktion:<br />
04.11.2014 – War da was? Grass it up?).
284 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />
Wie können wir in Zukunft verhindern, dass solche Taten unter uns geplant werden?<br />
Wie gehen wir mit dem Geschehen um? Wie muss eine Gesellschaft aussehen,<br />
die solche Taten vermeiden kann?<br />
Wir wissen als Künstler: Was die Menschen von der Gesellschaft und ihrer<br />
Welt wissen, ist geprägt von den Massenmedien (Luhmann, 2004). Also mussten<br />
wir unsere Geschichte in die Medien tragen, denn sie sind in der Lage, durch ihre<br />
Annahmen neue Weltkonstruktionen zu ermöglichen und damit eine öffentliche<br />
Meinung als Resultat ihrer eigenen Wirksamkeit zu verändern (Luhmann, 2006,<br />
S. 498). Diese Vorannahmen beeinussten die Auswahl unserer Methoden, die wir<br />
zur Umsetzung der Ziele brauchten.<br />
5.2 Taktiken<br />
Den Begriff Taktik kennen wir vor allem aus dem Sport, Spiel oder Militär. Aber<br />
auch der Kunstaktivismus bedient sich verschiedener Taktiken, um zum Ziel zu<br />
gelangen. Taktiken sind bestimmte kreative Formen, die helfen das Ziel zu erreichen.<br />
Diese Taktiken reichen von Streiks über Besetzungen bis hin zu Flashmobs<br />
oder unsichtbaren Theatern. Einige dieser Taktiken haben sich im Laufe der Jahre<br />
bereits bewährt, andere Formen sind noch weniger bekannt. Nicht selten werden<br />
auch mehrere Taktiken miteinander kombiniert, abgewandelt oder es entstehen gar<br />
neue Formen innerhalb einer Künstlergruppe oder Aktion.<br />
Eine unser Herangehe nsweisen war die Taktik der prophetischen Intervention<br />
(Boyd, 2014, S. 52). Damit versuchen Kunstaktivisten, eine gegenwärtige politische<br />
Situation in etwas Vergangenes zu transferieren, in dem sie durch eine Vision<br />
oder Utopie etwas Neues entstehen lassen. Durch die gezielte und überspitzte Ästhetisierung<br />
von gegenwärtigen Prozessen und Systemen werden diese in die Vergangenheit<br />
projiziert und ihrer aktuellen Bedeutung beraubt (Groys, 2014). Doch<br />
was kommt dann?<br />
Uns ging es nie darum, Antworten auf gesellschaftliche Prozesse zu geben oder<br />
zu nden. Das überlassen wir der Gesellschaft vor Ort. Doch nachdem wir das<br />
Gras ausgegraben haben, trafen wir auf einen starken Widerstand von Seiten der<br />
Entscheidungsträger. Wir fühlten uns wie Nestbeschmutzer. Das wollten wir gar<br />
nicht sein, wir wollten nur Fragen stellen, aber selbst das erschien zu viel. Was also<br />
tun, dachten wir? Wir bastelten Miniguren. Bei unserer zweiten Aktion am zweiten<br />
Jahrestag (04.11.2013) der Aufdeckung des NSU bauten wir alles so klein, dass,<br />
wenn man es nicht wusste, die Figuren auch nicht auf elen. Das Konzept haben<br />
wir uns beim Künstler Slinkachu (2012) abgeschaut. Weniger als Fragen stellen<br />
konnten wir nicht. Diese zu wiederholen, hielten wir auch nicht für zielführend.
Fallbeispiel Grass Lifter<br />
285<br />
Deswegen versuchten wir, mit Mini guren Zukunftsszenarien darzustellen. Wir<br />
wollten damit ironisch die Angriffs äche wegnehmen und uns als Personen der<br />
Öffentlichkeit entziehen. Inhaltlich ging es darum, die aktuelle Weltsituation aus<br />
der Perspektive der betroffenen Menschen zu betrachten. Das bestehende Problem<br />
wird nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft abgeleitet. Das Grundkonzept<br />
„von der Zukunft her führen“, das sich aus der „Theorie U“ (Scharmer,<br />
2013) ableitet, ndet sich im Kunstaktivismus (Boyd, 2014, S. 52) genauso wieder<br />
wie in der Persönlichkeits- und Organisationentwicklung. Nun hatten wir nicht<br />
die Zeit, mit mehr als 300.000 Menschen Re exionsprozesse durchzudeklinieren<br />
und haben uns daher entschieden, positive Visionen erlebbar zu beschreiben. Wir<br />
nannten diese Szenarien „realisierte Utopien“ (Grass Lifter, 2013) und beschrieben<br />
mögliche Visionen, die aus diesem Gedankenexperiment entstanden. Diese sollten<br />
so attraktiv und unangreifbar sein, dass sie einfach übernommen werden könnten.<br />
Es ist umstritten, ob in der Frühlingsstr. 26 an die Taten erinnert werden soll.<br />
Zudem wurde von den Stadtoberen die Angst geschürt, es könnte dort ein Wallfahrtsort<br />
entstehen. Wir entschieden wir uns dort eine Baustelle für einen „Raum<br />
für Dialog“ zu eröffnen (siehe Abbildung 1). In der Polenzstr. 2, wo das Trio<br />
ebenfalls wohnte, ließen wir symbolisch eine Flüchtlingsfamilie einziehen, die<br />
von ihren Mitbewohnern willkommen geheißen wird (siehe Abbildung 2). Damit<br />
spielten wir auf die Tatsache an, dass es in Zwickau über 7.000 leerstehende Wohnungen<br />
gibt und die Flüchtlinge vor Ort in einem abgewrackten Heim am Rande<br />
der Stadt untergebracht sind. Die in der Utopie vorgeschlagene dezentrale Unterbringung<br />
sollte Zwickau wiederbeleben, da die Stadt stark von Abwanderung und<br />
Überalterung betroffen ist. Sie soll zu einem lebendigen Ort gemacht werden, wo<br />
wieder Kinder auf der Straße spielen und unterschiedlichste Gerüche das Wohnen<br />
lebenswerter machen.<br />
Taktisch wollten wir damit eine Identitätskorrektur (Bic hlbaum, 2014a, S. 39)<br />
erzeugen. Hinter dieser Taktik verbirgt sich die Idee, über das Ansehen einer Institution<br />
in der Öffentlichkeit zu berichten bzw. aus einer neuen Perspektive zu beleuchten.<br />
Kunstaktivisten er nden Botschaften und präsentieren diese der Öffentlichkeit.<br />
Dies funktioniert negativ wie positiv. So erließen beispielsweise erfundene<br />
Entscheidungsträger nach der Naturkatastrophe in Haiti die Schulden, die dem<br />
Land nach seiner Unabhängigkeit von Frankreich auferlegt wurden, um französische<br />
Sklavenbesitzer für „ihren verlorenen Besitz“ zu entschädigen (Bichlbaum,<br />
2014a, S. 41). Diese neue Perspektive ist für die jeweilige Institution (hier: Frankreich)<br />
meist nicht schmeichelhaft, weshalb sie versucht, genau diese Perspektive zu<br />
vermeiden. Mit den Mini guren zeigten wir alternative positive Utopien zum gesellschaftlichen<br />
Ist-Zustand der Stadt Zwickau und versuchten, die Diskussion von<br />
einer offenen Fragehaltung zu bestimmten Möglichkeiten zu bewegen.
286 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />
In unserer vierten Aktion Goldener Hase wählten wir den Verfassungsschutz<br />
(VS) als Aufhänger und konkrete Institution für eine Identitätskorrektur. Gleichzeitig<br />
kombinierten wir die Aktion mit einer Online-Petition an die Oberbürgermeisterinnen<br />
von Chemnitz und Zwickau, sowie an den Ministerpräsidenten des<br />
Freistaates Sachsen Stanislaw Tillich. Für uns hatte der VS in der Aufklärung der<br />
NSU-Morde versagt. Das Versagen fand sich in diversen Landesämtern und im<br />
Bundesamt wieder und füllt Ordner der Untersuchungsausschüsse. Da wir über<br />
Zwickau hinaus das Thema stärker fokussieren wollten, entschieden für uns das<br />
Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen als Projektions äche. Wir zeichneten<br />
sie daher stellvertretend für den gesamten Verfassungsschutz mit dem Negativpreis<br />
„Goldener Hase” aus (siehe Abbildung 4).<br />
Abbildung 4<br />
Preisverleihung „Goldener Hase“ an und vor dem Verfassungsschutz Sachsen<br />
(vierte Aktion: 04.11.2014 – Goldener Hase).<br />
Der goldene Hase steht dabei symbolisch für den Ausspruch: „Mein Name ist<br />
Hase, ich weiß von nichts” und wurde z. B. für das Schreddern von Akten oder<br />
das plötzliche Auftauchen von Akten symbolisch vergeben (Spiegel Online, 2013).<br />
Am meisten entspricht der Preis jedoch der Grundhaltung und der Aussage des da-
Fallbeispiel Grass Lifter<br />
287<br />
maligen Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Peter Fritsche:<br />
„Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln<br />
unterminieren“ (Aust & Laabs 2014, S. 805). Fritsche ist mittlerweile Geheimdienstkoordinator<br />
im Bundeskanzleramt (vgl. Beitrag von Laabs in diesem Band).<br />
Damit kehrten wir die Rolle des Verfassungsschutzes um. War er eben noch der<br />
wissende Geheimdienst, der beobachtet und Informationen sammelt, die er gezielt<br />
mitteilt, um die Verfassung zu schützen, wurde er zum nichtwissenden, schweigenden<br />
Akteur. Diese Rolle war für uns und viele andere die „gefühlte“ Wahrheit,<br />
die es auszusprechen galt. Nun lobten (ästhetisierten) wir ihn für seine gezielte<br />
Zurückhaltung von Informationen und die anscheinende Ohnmacht bezüglich der<br />
Aufklärungsarbeit und skandalisierten damit den mangelnden Aufklärungswillen.<br />
Eine weitere Funktion erfüllte der Preis als Aufhänger. Zu einer Preisverleihung<br />
kann eingeladen werden und kommt man auch gern. Dem MDR reichte allein<br />
das Bild vor Ort, inhaltliche Interviews wurden woanders erstellt. Der MDR<br />
Sachsenspiegel berichtete ausführlich, die DPA und viele regionale Medien übernahmen<br />
die fertige Story. Obwohl der Verfassungsschutz nicht zu der eigentlichen<br />
Preisverleihung erschien, lud er uns daraufhin zu einem Gespräch ein.<br />
5.3 Prinzipien<br />
Während die Taktik das Vorgehen einer Aktion bestimmt, sind es die Prinzipien,<br />
die bestimmte Werte und Regeln beein ussen, die für eine erfolgreiche Umsetzung<br />
von Aktionen beitragen. Insbesondere heterogene und dezentrale Gruppen,<br />
wie es die Grass Lifter sind, bedienen sich gemeinsamer Prinzipien, die ein kollektives<br />
Handeln überhaupt erst ermöglichen und langfristige Zusammenarbeit<br />
sichern. Transparente Prinzipien ermöglichen es auch Außenstehenden, Aktionen<br />
und deren Hintergründe besser nachvollziehen zu können. Wir schildern in diesem<br />
Abschnitt Prinzipien, die wir für unsere Arbeit wichtig halten.<br />
Das sicherlich relevanteste Prinzip für unseren gruppendynamischen Prozess<br />
war Konsens statt Kompromiss. Als Künstler wollten wir möglichst klar eine<br />
Botschaft senden. Wie auch immer der Empfänger damit umging, die Botschaft<br />
musste klar sein. „Das Gras über der Sache symbolisch auszugraben“ war eine<br />
Redewendung, die jeder sofort begriff. Schwieriger wurde es bei unserer zweiten<br />
Aktion War da was? Grass it up!. Wir stellten an drei Orten utopische Szenarien<br />
mithilfe von Miniguren nach. Damit wurden das Gesamtbild und die Ideen ndung<br />
komplexer.
288 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />
Abbildung 5<br />
Symbolischer Spatenstich, um das Gras, das in der Frühlingsstraße 26 über<br />
die NSU-Sache wächst, auszugraben (erste Aktion: 06.05.2013 – Das Gras,<br />
das über die Sache wächst).<br />
Jeder in der Gruppe brachte seine eigene Idee und Vorstellung ein. Geübt in gewaltfreier<br />
Kommunikation (vorausgesetzte gruppendynamische Technik), brauchte<br />
es neben Moderationsmethoden immer die Einsicht der Gruppe, einen kompromisslosen<br />
Konsens für eine Idee zu nden. Denn nur dann konnten wir „eine”<br />
möglichst unmissverständliche Botschaft senden. Das unterscheidet Kunstaktivismus<br />
vom reinen politischen Handeln. Kunstaktivisten suchen die ästhetische Idee,<br />
um politisches Handeln zu irritieren, während das Politische den Kompromiss<br />
zum Machterhalt sucht.<br />
Eine Umsetzungsform als mögliches Design ästhetischer Ideen ist die Möglichkeit,<br />
in Geschichten zu denken (Canning & Reinsborough, 2014a). Menschen<br />
lieben und erinnern sich an Geschichten. Sie vermitteln komplexe Sinnzusammenhänge<br />
schneller als abstrakte Erzählungen.<br />
Unser Name Grass Lifter bedeutet so viel wie die, die das Gras ausgraben. An<br />
der Frühlingstraße wächst im wahrsten Sinne des Wortes eine Graswiese über die<br />
NSU-Sache. So konnten wir mehr Aufklärung fordern, indem wir unseren Spaten<br />
nahmen und das Gras an diesem Ort ausgruben. Diese Metapher war so eindeu-
Fallbeispiel Grass Lifter<br />
289<br />
tig wie klar. Wir versuchten auch in den darauffolgenden Aktionen, dieses Bild<br />
immer wieder zu benutzen und verankerten es in unserem Gruppennamen. Die<br />
zweite Aktion erschuf realisierte Utopien mittels Miniatur guren, über die diskutiert<br />
werden konnte.<br />
Abbildung 6<br />
Fragen über den NSU-Komplex iegen symbolisch vom Zwickauer Hauptmarkt<br />
über ganz Sachsen (dritte Aktion: 06.05.2014 – Fragen iegen).<br />
Bei der dritten Aktion ließen wir das ausgegrabene Gras und Fragen, die sich bei<br />
der gesellschaftlichen Aufklärung des NSU ergeben, symbolisch an Luftballons<br />
über Sachsen iegen. Bei der letzten Aktion, der Übergabe des goldenen Hasen,<br />
dekonstruierten wir die Rolle des Verfassungsschutzes, indem wir ihm eine Metapher<br />
zuschrieben und diese mittels einer Preisübergabe unterstützten. Die Funktion<br />
solcher Bilder ist es, für Journalisten die Geschichten vorzubereiten und damit<br />
eine Grundintention in die Medienbotschaften zu bauen. Diese können von den<br />
Rezipienten leicht und schnell aufgefasst werden. Jede neue Geschichte erweitert<br />
oder beschreibt die bestehende Geschichte der politisch Handelnden. Es gilt, dem<br />
jeweiligen gültigen Narrativ eine bessere Erzählung gegenüberzustellen. Wir wollen<br />
mit unseren Geschichten Sinn erschaffen, der emotional verstanden wird.<br />
Um Geschichten zu richtig zu erzählen hilft uns das Prinzip Zeigen ist besser<br />
als erklären (Cannin g, Reinsborough & Buckland, 2014). Geschichten leben von<br />
Bildern und Metaphern. Bilder sind sprachunabhängig und je nach Kontext und<br />
Hintergrundwissen kann der Betrachter unterschiedliche Bedeutungen aus ein und<br />
demselben Bild erfahren. Unsere Bilder sollten die Botschaft des Gesagten zusätzlich<br />
vermitteln. Gummistiefel und der Spaten unterstützen die Metapher, das Gras<br />
über der Sache auszugraben. Dem Verfassungsschutz vorzuwerfen, dass er nicht
290 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />
genug bei der Aufklärung der NSU-Verbrechen mithilft, zeigte ein goldener Hase<br />
für die Redewendung: „Mein Name ist Hase – Ich weiß von nichts”. So wurde der<br />
jeweiligen Geschichte ein unterstützendes Bild bereitgestellt und eine vertraute<br />
Situation kreiert, die sofort das Ziel einer Aktion erkennen lässt. Ein weiteres Beispiel<br />
ist unsere zweite Aktion. Durch die Aufstellung und Ablichtung von unseren<br />
Miniaturguren in verschiedenen Schauplätzen, konnten wir Situationen aufzeigen<br />
und brauchten nur noch wenige Wörter benutzen. Wir ließen Bilder erzählen,<br />
um das Unsichtbare sichtbar zu machen (Bloch, 2014, S. 115ff). Zusätzlich wurden<br />
weitere Informationen zu den Situationen in Form von Reden für Interessierte auf<br />
unserer Homepage zur Verfügung gestellt.<br />
Das Prinzip Mach das Unsichtbare sichtbar will Zusammenhänge sichtbar machen,<br />
die unmittelbar nicht sichtbar sind oder die tatsächlich unsichtbar bleiben<br />
sollen. So ist beispielsweise die Gletscherschmelze auf Grund des Klimawandels<br />
für Stadtbewohner erst einmal nicht sichtbar. Noch schwieriger wird es bei „kommunikativen“<br />
Problemen wie Rassismus. Die Verbrechen des NSU sind in Sachsen<br />
nicht weiter öffentlich sichtbar. Es gibt selten Ausstellungen, geschweige denn<br />
Dauerausstellungen, noch feste Orte der Erinnerung oder Aufarbeitung. Wir versuchen<br />
daher, dieses Prinzip so wörtlich wie möglich umzusetzen. Das Gras in der<br />
Frühlingstraße auszugraben und symbolisch ein „Bauloch“ zu hinterlassen oder<br />
Fragen, die im NSU-Komplex entstehen, symbolisch mit Luftballons aufsteigen zu<br />
lassen, sind Versuche das Unsichtbare für die Bevölkerung sichtbarer zu machen.<br />
Abbildung 7 Preis „Goldener Hase“ mit Polizei: Dieses Bild wurd e besonders gern von<br />
Medien genutzt (vierte Aktion: 04.11.2014 – Goldener Hase).
Fallbeispiel Grass Lifter<br />
291<br />
Die Prinzipien Zeigen ist besser als erklären und das Unsichtbare sichtbar machen,<br />
werden unterstützt durch ein weiteres Prinzip: Nimm den Medien die Arbeit<br />
ab (Bichlbaum, 2014b, S. 118ff). Viele Medien leiden unter Redakteur-, Zeit- und<br />
Geldmangel. Für zivilgesellschaftliche Akteure kann es daher hilfreich sein, wenn<br />
den Journalisten ein Großteil der Arbeit abgenommen wird. Dazu zählt eine Pressemitteilung<br />
mit fertigen Zitaten, Bilder der Aktion machen und die Aufbereitung<br />
der Texte auf einer Homepage. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Bilder<br />
und Texte, die Online sofort zur Verfügung standen, auch gerne rezipiert wurden.<br />
Daneben gilt aber auch hier, den Journalisten nicht nur eine Geschichte, Texte und<br />
Bilder zu liefern, sondern vor allem anlassbezogen zu agieren ( Agenda Setting,<br />
siehe unten). Bei der zweiten und vierten Aktion wurden wir als Akteur dann bereits<br />
n achgefragt, ohne selbst einladen zu müssen.<br />
5.4 Theorien<br />
Theorien helfen, die Welt übersichtlicher zu beobachten und ihre Komplexität zu<br />
verringern. Sie sind Grundlage für unser Handeln. Eine der zentralen Theorien ist<br />
das sogenannte Agenda Setting. Dabei wird versucht, ein Thema auf die politische<br />
Tagesordnung (policy-cycle) zu setzen. Das Problem wird benannt, formuliert und<br />
als entscheidungsrelevant markiert. Eine besondere Rolle haben die Medien. Sie<br />
selektieren in der Rolle der „Gate-Keeper“ Informationen und beein ussen mit<br />
ihren Botschaften die politischen Akteure und Empfänger in ihrer Meinungsbildung.<br />
Will man politische Entscheidungen herbeiführen, ist Agenda Setting, der<br />
erste Schritt im policy-cycle (Bogumil & Jann, 2009, S. 25).<br />
Dabei ist die Wahl des optimalen Zeitpunkts entscheidend. Es stehen folgende<br />
Fragen im Vordergrund: Wann wird die Botschaft am besten gehört? Wann sind<br />
die Medienbeobachter bereit, die Botschaft im Einklang mit ihren Relevanzkriterien<br />
weiterzutragen? Dafür eignen sich insbesondere Jahrestage und symbolische<br />
Daten, an denen relevante Ereignisse passiert sind. Das können Todestage, Unglücke,<br />
Eröffnungen (Fall der Mauer), Unterzeichnungen (Friedensvertrag) oder<br />
Veröffentlichungen von medienrelevanten Büchern und Studien sein.<br />
In unserem Fall haben wir uns den Beginn des NSU-Gerichtsprozesses in<br />
München als symbolisches Datum für unsere erste Aktion ausgesucht. Nachdem<br />
am ersten Jahrestag der Aufdeckung des NSU in der Frühlingsstraße 26 in<br />
Zwickau, wo die NSU-Terroristen zum Schluss wohnten, ein Kamerawagen einer<br />
Agentur stand und das Gras lmte, wussten wir, der letzte Wohnort und damit die<br />
Stadt Zwickau bleiben von überregionaler Bedeutung. So kam es dann auch. Am<br />
06.05.2013, dem Tag des Prozessbeginns in München, informierten wir die Presse,
292 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />
dass wir das Gras, das über die NSU-Sache wächst, symbolisch ausgraben werden.<br />
Wir zogen uns Gummistiefel an und gewappnet mit einem Spaten zogen wir zur<br />
Wiese, um Spuren der Aufklärung zu hinterlassen. Der MDR Sachsen richtete<br />
eine Live-Schaltung ein und regionale Pressevertreter waren vor Ort. Auch alle<br />
anderen Aktionen fanden entweder am Jahrestag der Aufdeckung der Terrorzelle<br />
oder am Jahrestag des Prozesses statt. Das Medieninteresse an den Jahrestagen<br />
der Aufdeckung der NSU-Terrorzelle war generell größer, als an den Jahrestagen<br />
des Prozessbeginns. Der richtige Zeitpunkt half uns ungemein, unsere Botschaft<br />
an die Medien zu vermitteln und ihre Relevanz-Hürden für eine Berichterstattung<br />
zu überspringen.<br />
Neben dem richtigen Zeitpunkt stellt sich die Frage nach dem geeigneten Interventionspunkt<br />
(Canning & Reinsborough, 2014b, S. 170ff). Damit sind „neuralgische<br />
Punkte“ gemeint, die ein System irritieren und destabilisieren können.<br />
Für uns stellte sich also die Frage, wo wir den Hebel ansetzen sollten, um eine<br />
möglichst größte Wirkung erzielen zu können. Wir entschieden uns bei den ersten<br />
beiden Aktionen die Orte zu nehmen, an denen die NSU-Terroristen zuletzt wohnten.<br />
Für uns symbolisierten sie genau das, was wir kritisierten: die Geschehnisse<br />
wurden in der Frühlingsstraße 26 bewusst unkenntlich gemacht. So rief uns am<br />
06.05.2013, als wir das Gras ausgraben wollten, die von öffentlicher Hand geführte<br />
Wohnungsgesellschaft an und fragte was wir dort vorhaben. Als wir es ihnen<br />
erzählten, meinten sie erschüttert, dass sie das Gras doch genau deswegen gesät<br />
haben. Auch beim Verfassungsschutz wussten wir, dass er den Negativpreis nur<br />
ungern öffentlich entgegennehmen würde. Also mussten wir nach Dresden fahren,<br />
um Originalbilder vom Schauplatz (vgl. Abbildung 4) erzeugen zu können. Interventionspunkte<br />
müssen nicht nur Orte sein, es können auch bestimmte Personen,<br />
ideologische Vorstellungen oder Entscheidungspunkte sein (Canning & Reinsborough,<br />
2014b, S. 170), die den Schwachpunkt eines Systems präsentieren.<br />
Doch selbst wenn Zeit- und Interventionspunkt richtig gesetzt sind, kann es<br />
sein, dass die Botschaft nicht verstanden wird. Nur wenn die Logik der Aktion<br />
(Boyd & Russel 2014, S. 170ff) richtig dargestellt ist, hat sie überhaupt eine Chance<br />
beachtet und wahrgenommen zu werden. Die Logik einer Kunstaktion sollte für<br />
einen Unbeteiligten, z. B. zufällig vorbeilaufenden Passanten, sofort zu erkennen<br />
sein. Das war in unseren Aktionen nicht sofort der Fall, aber auch nicht notwendig,<br />
da wir meist an wenig frequentierten Orten aktiv wurden. Die Logik der Aktion<br />
wurde deswegen für die medialen Beobachter so gebaut, dass diese die Botschaft<br />
schnell kontextualisieren und ihren Beobachtern (Zuschauer, Leser) weitervermitteln<br />
konnten.<br />
Zum Schluss stellt sich die Frage, welchem ethischen Ansatz folgen wir als<br />
Künstlergruppe? Für die Autoren dieses Artikels steht fest, dass jede Handlung
Fallbeispiel Grass Lifter<br />
293<br />
und Entscheidung dem ethischen Imperativ folgen sollte: „Handle stets so, dass<br />
die Anzahl der Möglichkeiten wächst.“ (Foerster & Pörksen, 2008, S. 36). Denn da<br />
jede Entscheidung ein „Massenmord an Möglichkeiten“ ist (Grebe, 2011), so muss<br />
die getroffene Entscheidung danach mehr Möglichkeiten zulassen als davor. Das<br />
Gras, das über eine Sache gesät wird, folgt dem nicht, es schließt Entscheidungsräume.<br />
Die Entscheidung, sich aktiv mit dem NSU in Sachsen auseinanderzusetzen,<br />
folgt dagegen dem ethischen Imperativ.<br />
6 Wirkungen<br />
Unsere Aktionen funktionieren vor allem über die Medien. Das heißt, wir bringen<br />
ein Thema, in unserem Fall die Aufklärung über den NSU in Sachsen, wieder auf<br />
die tagespolitische Agenda. Wenn wir nach den Wirkungen fragen, unterscheiden<br />
wir zwischen unmittelbaren (direkten) und mittelbaren (langfristigen) Wirkungen.<br />
Unmittelbare Wirkungen konnten wir vor allem anhand von Medienartikeln<br />
messen. So erreichten wir mit jeder Aktion durchschnittlich mehrere hunderttausend<br />
Menschen, allein über die klassischen Medien. Eine besondere Rolle<br />
spielen sogenannte Anzeigenblätter bzw. Wochenblätter. Diese erreichen fast alle<br />
Haushalte in der Zielregion. Unsere Story erschien mit Foto direkt auf der Titelseite<br />
der Wochenblätter und landete damit in fast jedem Haushalt der Region<br />
Zwickau. Im Durchschnitt gab es mehr als 9 Medienberichte pro Aktion. Dabei<br />
sind Mehrfacherwähnungen (z. B. im Radio oder der lokalen Printpresse) nicht<br />
berücksichtigt. Soziale Medien spielten lokal eine untergeordnete Rolle, erreichten<br />
aber vor allem nationale und internationale Aufmerksamkeit. Weitere direkte<br />
Rückmeldungen sind Leserbriefe, Mails oder Anrufe. Hier gab es eher wenige<br />
Rückmeldungen, meist im einstelligen Bereich pro Aktion. Eher waren dann persönliche<br />
Erwähnungen erlebbar, wie z. B. an der Supermarktkasse: „Sie sind doch<br />
der Mann aus dem Fernsehen, na viel Spaß beim Ausgraben.” Direkte politische<br />
Wirkungen haben wir in Chemnitz nach der vierten Aktion erreicht. Dort heißt<br />
es in der Antwortmail der Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) auf unseren<br />
„offenen Brief“: „Die von Ihnen angesprochenen Themen werden außerdem<br />
von einer Arbeitsgruppe bearbeitet, die sich in Chemnitz mit <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
beschäftigt. Für das Jahr 2015 hat sich die Arbeitsgruppe vorgenommen, einen<br />
Vorschlag zu erarbeiten, wie mit der Aufarbeitung der Verbrechen des NSU in<br />
Chemnitz umgegangen werden kann. Im Fokus steht auch, wie Re exionsprozesse<br />
gestaltet werden können“ (Ludwig, per E-Mail an Franz Knoppe, 2014). In Zwickau<br />
haben wir eine direkte Wirkung durch die Gründung einer Arbeitsgruppe<br />
erreicht. Die Teilnehmer sind Multiplikatoren aus der Zivilgesellschaft, die sich
294 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />
aus dem lokalen Bündnis für Demokratie Zwickau zusammengeschlossen haben,<br />
um die richtige Form der Aufarbeitung für Zwickau zu suchen.<br />
Mittelbare Wirkungen sind schwieriger zu beobachten. Diskussionen, die in<br />
Wohnzimmern ausgelöst wurden, können schwer beobachtet werden, ebenso können<br />
informelle Gespräche von Entscheidungsträgern nur über Hörensagen erahnt<br />
werden. Sichtbare Zeichen, die wir beobachten konnten, sind eher unbewusste Diskurserscheinungen<br />
und Formulierungen, bei denen schwer belegbar ist, dass sie<br />
durch uns entstanden sind. So schreibt z. B. die Freie Presse in einem Artikel:<br />
„Im NSU-Prozess und in Untersuchungsausschüssen wird versucht zu verhindern,<br />
dass über den Fall selbst Gras wächst, ohne dass seine Details ausgeleuchtet sind“<br />
(Eumann, 2014). Oder der ehemalige Landtagsabgeordnete in Sachsen Miro Jennerjahn<br />
benutzt im Fall Mügeln für seinen Blogeintrag eine ähnliche Terminologie,<br />
wie wir ihn für unsere 2. Aktion benutzt haben. Aus „War da was? Grass it<br />
up!“ (Grass Lifter, 2014) wird „Mügeln – war da was?“ (Jennerjahn, 2015). Auch<br />
beobachten wir, dass das Thema in der Stadt offener angesprochen wird. Wurde in<br />
einem früheren informellen Gespräch nach dem ersten Jahrestag (November 2012)<br />
von Seiten des Theaters noch gesagt, dass dieses Thema nicht weiter behandelt<br />
wird, so packt das Theater dieses „Heiße Eisen“ (Kohlschein, 2015) im Jahr 2015<br />
nun an. Weitere mittelbare Wirkungen sind zwei Preise 2 , die wir für unsere Arbeit<br />
erhielten. Diese sind hilfreich, um Aufmerksamkeit für das Thema zu erzielen und<br />
unsere Botschaft mit verstärkter Reputation mitzuteilen. Abschließend lässt sich<br />
sagen, dass wir mit relativ wenig Aufwand eine relativ hohe Außenwirkung erzielen<br />
konnten. Als rein ehrenamtliche arbeitende Künstler, die nur geringe Sachkosten<br />
gefördert bekommen, konnten wir mit unserem Thema eine Stimme bilden,<br />
die Gehör ndet.<br />
7 Diskussion & Fazit<br />
Aus Perspektive einer K ünstlergruppe können wir an Orten, an denen ein Meinungsvakuum<br />
besteht, also Akteure vor Ort ein Thema noch nicht oder kaum aufgegriffen<br />
haben, dieses Vakuum mit künstlerischen Mitteln füllen. Dabei ist der<br />
Zeitpunkt entscheidend und die Frage muss richtig beantwortet werden, wann und<br />
wie die Medien bereit sind, die anderslautende Botschaft zu transportieren. Das<br />
Thema sollte kreativ in einer Geschichte verpackt werden, so dass die Botschaft<br />
2 „Anerkennungspreis Förderpreis sächsischer Demokratiepreis 2013“ und Preisträger<br />
des Wettbewerbes „Aktiv für Demokratie und Toleranz 2014“ der Bundeszentrale für<br />
politische Bildung.
Fallbeispiel Grass Lifter<br />
295<br />
leicht transportiert werden kann und der Empfänger die Neuigkeit zur Situation<br />
versteht und sich eine Meinung bilden kann. Dabei hilft es, wenn bestimmte Rahmenbedingungen<br />
erfüllt werden. Die Geschichten und Bilder der Grass Lifter<br />
konnten Zuschauer und Zuhörer gewinnen und somit eine Veränderung der Situation<br />
herbeiführen. Kunstaktionen in öffentlichen Räumen und Debatten sollen und<br />
können eine neue Form darstellen, um gesellschaftliche Prozesse zu beschleunigen<br />
und zum Schwingen zu bringen. Aus unserer Erfahrung werden Kunstaktionen<br />
von Medien gern aufgenommen, da sie den Konsens über den Dissens eines<br />
gesellschaftlichen Themas mit Geschichten und Bildern grif g transportieren<br />
können. Kunstaktivismus unterscheidet sich damit kreativ von den ritualisierten<br />
Protestformen, wie z. B. Demonstrationen oder Petitionen. Er kann am richtigen<br />
Zeitpunkt, Ort und Entscheidungspunkt mit relativ wenigen Mitteln (Sachmittel,<br />
Personal) durchgeführt werden. Der Protest gegen Rechts wird oft mit Linksextremismus<br />
gleichgesetzt. Der Kunstaktivismus bietet hier zusätzlich die Chance,<br />
bestehende Links/Rechts Schemen zu durchbrechen und ein Stück der befreienden<br />
Distanz zur unserer sozial konstruierten Realität zu schaffen 3 .<br />
3 Für die wertvolle Kritik und Korrekturen die dazu beigetragen haben, dass wir diesen<br />
Artikel so fertig stellen konnten, möchten wir Gundula Hoffmann, Nele Marie Wolfram,<br />
Claudia Meier und Christian Landrock danken.
296 Franz Knoppe und Maria Gäde<br />
Literatur<br />
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Fallbeispiel Grass Lifter<br />
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Kapitel 4<br />
Gesellschaftliche Reaktionen<br />
„Juden, Roma und Sinti, ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Asylbewerber<br />
brauchen nicht nur den Schutz von Polizei und Justiz, sondern die Unterstützung<br />
aller Menschen, um sich in Deutschland sicher fühlen zu können“<br />
(Ignatz Bubis und Dieter Wunder, Gemeinsamer Aufruf des Zentralrates der<br />
Juden in Deutschland und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft,<br />
Frankfurt am Main, 9. Dezember 1992).
<strong>Rechtsextremismus</strong><br />
Herausforderungen für die ganze Gesellschaft<br />
Anetta Kahane<br />
Anlass dieser Zwischenbilanz ist die Enttarnung des NSU, auch wenn wir wissen,<br />
es geht um mehr. Dennoch lässt sich an dem Beispiel NSU gut erklären, wie eine<br />
ganze Gesellschaft versagt hat. Und ich meine die ganze Gesellschaft, Anwesende<br />
ausdrücklich eingeschlossen. Es ist richtig, die Ordnungsbehörden zu kritisieren,<br />
aber auch ein wenig billig, wenn wir es unterlassen, dabei auf uns selbst zu schauen<br />
und auf das, was wir übersehen haben. Denn das ist eine Menge. Wir werden über<br />
beides reden müssen.<br />
Ich nehme an, dass Sie mich als Praktikerin eingeladen haben. Deshalb werde<br />
ich Ihnen auch Praktisches berichten. Es ist nämlich eine Sache, über <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
zu reden, um zu versuchen, ihn zu verstehen – und ich bin wirklich sehr<br />
froh, dass ich Sie an dieser Stelle nicht auffordern muss, <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />
Gegenstand der Wissenschaft ernst zu nehmen – eine andere Sache ist es jedoch,<br />
praktisch zu handeln. Beide Seiten brauchen einander.<br />
Als sich der Vorhang hob und im November 2011 Stück für Stück klar wurde,<br />
was der NSU ist, welche Verbrechen er begangen hat, war der Schrecken groß.<br />
Zehn Morde, Bombenanschläge, zahlreiche Banküberfälle – das alles war von<br />
den Behörden und der Gesellschaft unentdeckt geblieben. Unentdeckt als Tat von<br />
Nazis. Rechtsterrorismus galt als Horrorfantasie überdrehter Wichtigtuer oder als<br />
ideologische Wahnvorstellung militanter Antifas. Doch dass Polizei und Verfassungsschutz<br />
dabei eine derart fatale Rolle gespielt hatten, konnten sich selbst jene<br />
nicht vorstellen, ohne als Verschwörungstheoretiker abgetan zu werden, die nun<br />
endgültig die Realität abgeschüttelt hatten.<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_11, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
302 Anetta Kahane<br />
Heute, zweieinhalb Jahre später, nach einer bewegenden Trauerfeier in Anwesenheit<br />
der Kanzlerin, nach Abschluss der ersten Untersuchungsausschüsse, nach<br />
einem Rock-Fest in Jena, nach Versprechen von Polizei, Justiz und Verfassungsschutz,<br />
dass jetzt alles überprüft und verbessert würde, treffen wir uns hier um<br />
nachzusehen, ob sich insgesamt in der Gesellschaft etwas verändert hat und ob<br />
geschehen ist, was die Behörden versprochen haben. Zu P ngsten 2014 fand eine<br />
öffentliche Gedenkveranstaltung statt. Anlass war der 10. Jahrestag des Bombenanschlags<br />
auf die Kölner Keupstraße. 50.000 Menschen kamen unter dem Motto<br />
Birlikte zusammen. Birlikte bedeutet Zusammenstehen – so wie inNâzm Hikmets<br />
Gedicht: frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald. Gauck hat dort geredet;<br />
Udo Lindenberg, BAP, Clueso – sie alle waren gekommen. Wie ein gutes Jahr zuvor<br />
in Jena verurteilten die Redner alle Neonazis und besonders den NSU, und wie<br />
dort beschworen sie das Miteinander. Unterschiedlich war nur die Selbstbetrachtung<br />
der Städte – in Jena ging es vor allem darum, den Ruf der Stadt wiederherzustellen,<br />
in Köln spielte dieses Bedürfnis keine Rolle. In Jena wurde das Publikum<br />
in Bussen herangefahren, in Köln kam, wer wollte. Dafür endete die Veranstaltung<br />
in Köln jäh: der Wetterdienst hatte eine Sturmwarnung herausgegeben und so<br />
musste der Platz geräumt werden. Der Sturm kam übrigens tatsächlich, wir waren<br />
mit unserem Team mittendrin.<br />
Ich will Ihnen einige Szenen schildern, aus dem Westen wie aus dem Osten,<br />
anhand derer ich versuchen will, ein Bild dessen zu zeichnen, was der <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
heute ist und wie er entstand.<br />
Zunächst die Schlaglichter aus dem Westen:<br />
• Die erste Szene zeigt eine weitere Kundgebung für Abdullah Öcalan und<br />
den deutschen Justizminister im Gespräch über den Brandanschlag 1992 auf<br />
ein Wohnhaus in Mölln. Das Opfer wird nach der Tat gefragt. Ein wichtiger<br />
Augen blick für den Minister: Ibrahim Arslan aus Mölln geht ihn auch an. Eine<br />
Entschädigung wie ein Verkehrsopfer? Da ist der Minister beleidigt. Und bezeichnet<br />
den Ruf aus dem Publikum, der Staat habe den NSU mitnanziert, als<br />
„Bullshit“.<br />
• Der Bürgermeister von Köln hingegen sagt, die Opfer dürften auf Entschädigung<br />
hoffen. Und begrüßt keinen einzigen der Anwesenden.<br />
• BAP sitzt im Sturm in einer Getränkehandlung von Türken fest, und die einzige<br />
Kommunikation mit den Gastgebern ist ein freundliches Kopfnicken, als diese<br />
ihnen Getränke anbieten.
<strong>Rechtsextremismus</strong><br />
303<br />
Zwei Schlussfolgerungen:<br />
1. Dreißig Jahre Einwanderung – und noch immer sind die Einwanderer nicht Teil<br />
der deutschen Gesellschaft. Diese Gesellschaft klebt am alten Konzept und gestaltet<br />
auch nicht ihre Zukunft. Wer jedoch nicht akzeptiert, dass ethnische und<br />
kulturelle Vielfalt eine Tatsache ist, kann auch nicht über Diskriminierung und<br />
Rassismus reden. Diese Abwehr ist eine Abwehr des Themas insgesamt. Weder<br />
die Behörden noch die Gesellschaft haben sich wirklich auf ein Miteinander in<br />
Vielfalt eingestellt. Der Korpsgeist hat sich nicht verändert, selbst wenn jetzt<br />
einige Einwanderer mitspielen dürfen.<br />
2. <strong>Rechtsextremismus</strong> ist auch ein Ost-West-Problem. Hier lebt der kalte Krieg<br />
fort. Nach 1945 zeigten die Kommunisten auf den Westen. Zu Recht, gewiss.<br />
Aber sie vergaßen die eigenen Mentalitäten und dass der Nationalsozialismus<br />
nicht per Beschluss verschwindet. Der Westen seinerseits hielt sich in den<br />
90er Jahren für geheilt. Als die Wende kam, war ‚68 durch die Institutionen<br />
marschiert und nahm stirnrunzelnd zur Kenntnis, dass sich die DDR jetzt per<br />
Mauerfall angeschlossen hatte. Die Konservativen sahen große Möglichkeiten,<br />
die 68er lauter Unmöglichkeiten. Beide ignorierten zunächst den <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und Autoritarismus in der postkommunistischen Gesellschaft Ostdeutschlands<br />
– nur um ihn etwas später von sich wegschauend ausschließlich<br />
im Osten zu sehen. So wie damals die DDR auf den Westen, wies man jetzt mit<br />
dem Zeigenger auf den Osten – ebenfalls ohne zu bemerken, wie der eigene<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> und Populismus wuchs. Wir sagten damals: „Wer im Osten<br />
den <strong>Rechtsextremismus</strong> gewähren lässt, versaut auch die Preise im Westen.“<br />
So konnte der NSU vom Osten aus im Westen wüten, denn dort hatte niemand<br />
mit einer strukturierten Form der „Ostfolklore“ gerechnet. Trotz des versuchten<br />
Anschlags in München auf den Synagogenbau durch Herrn Wiese, der ja auch aus<br />
dem Osten kam. Auf der einen Seite die Türken isoliert und noch nicht angenommen<br />
und auf der anderen ein <strong>Rechtsextremismus</strong>, der sowohl unterschätzt als auch<br />
allein auf den Osten bezogen wurde – diese Diskrepanz war ein zentrales Element<br />
des Erfolgs des NSU. Beidem, Ost wie West, liegt eine gemeinsame Geschichte<br />
zugrunde, die Schuldabwehr und Schuldumkehr zu einem festen Bestanteil der<br />
Alltagskultur gemacht hat. Der Nationalsozialismus hat bis in die Familien hinein<br />
eine tiefe Spur von Einstellungen und Mustern hinterlassen, die auf unterschiedliche<br />
Weise bis heute fortwirken.
304 Anetta Kahane<br />
Nun die Beispiele aus dem Osten:<br />
• Kinder von Asylbewerbern werden von anderen beschimpft und geschlagen,<br />
irgendwo in einer kleinen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. Die Lehrerinnen<br />
wehren sich gegen Vorwürfe der Eltern. Es gibt Ärger. Die Lehrer fordern<br />
mehr Stunden, weil sie sonst den Anforderungen nicht gewachsen sind. Oder<br />
die Kinder sollen in eine Sonderschule.<br />
• Ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern ist fast überwiegend von Nazis bewohnt,<br />
die der Siedlerszene angehören. Ein Ehepaar organisiert ein Rockkonzert.<br />
Aus dem Erlös wollen sie eine Spende für die Schule im Nachbarort machen,<br />
um den Lehrern eine Fortbildung zu nanzieren, denn die meisten Kinder<br />
aus Nazifamilien gehen in diese Schule. Die Schule lehnt die Spende ab: Es<br />
gebe kein Problem mit <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />
• In Fortbildungen für P egekräfte kommt es immer wieder zu Diskussionen.<br />
Viele rechte Frauen drängen in soziale Berufe. Ihr Umgang mit Patienten oder<br />
Kollegen, die nicht-deutscher Herkunft sind, ist oft unerträglich. Dies kommt<br />
auch in den Fortbildungen zur Sprache. Thema sind dann aber „die Ausländer“<br />
und nicht die Berufsethik oder das Problem rechtsextremer Frauen.<br />
Der <strong>Rechtsextremismus</strong> selbst ist nur eine Seite des Problems, die wohl entscheidende<br />
aber ist der Umgang mit ihm. Neben den Schwächen von Behörden wie<br />
Polizei, Justiz und Verfassungsschutz ist es vor allem die Reaktion der Gesellschaft,<br />
die die Bekämpfung des <strong>Rechtsextremismus</strong> schwer macht. In Ostdeutschland<br />
gehört gerade ein Prozent der Wohnbevölkerung einer sichtbaren Minorität<br />
an. Die Norm ist noch stärker als im Westen von völkischen Vorstellungen geprägt.<br />
Schlussfolgerungen:<br />
1. Nach der Einheit wurde es unter Helmut Kohl unterlassen, die „Ausländer“ als<br />
Teil der Gesellschaft zu bezeichnen und zu verlangen, dass sich der Osten darauf<br />
einstellt. Im Gegenteil: Anfang der 90er Jahre wurde rechte Gewalt quasi<br />
belohnt, sowohl politisch durch den Asylkompromiss als auch gesellschaftlich,<br />
indem Jugendarbeit mit akzeptierendem Ansatz über Jahre die rechte Szene<br />
geradezu förderte.<br />
2. Eine eigene persönliche Auseinandersetzung mit dem Erbe der DDR in Bezug<br />
auf deren Umgang mit Rassismus und Antisemitismus fand kaum und erst sehr<br />
spät statt. Ebenso wenig gab es eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus,<br />
der ja auch auf dem Boden Ostdeutschlands stattgefunden hatte.<br />
Historische und politische Bildung einschließlich einer innergenerationellen
<strong>Rechtsextremismus</strong><br />
305<br />
Debatte kamen nicht vor. Über die Zeit des Nationalsozialismus wurde einfach<br />
ein Sprung gemacht. Das Erbe des einen wie des anderen blieb weitgehend unberührt.<br />
Dies ist ein ernstzunehmender Unterschied zum Westen. Stattdessen<br />
hat sich im Osten der Status der ewigen Opfer festgesetzt. Opfer des „Hitlerfaschismus“,<br />
der Bomben, des Kommunismus, des Westens und der „Ausländer“.<br />
Dieser Opferstatus und der sekundäre Autoritarismus, von dem Brähler und<br />
Decker (Decker, Kiess & Brähler, 2012, 2014) sprechen, sind Seelenverwandte.<br />
3. Der Mangel an Empathie – ja, teilweise ihre komplette Abwesenheit – hat gewiss<br />
auch mit dem Mangel an Auseinandersetzung zu tun. Konikt- und Organisationsfähigkeit<br />
sind eine wichtige Voraussetzung für praktische Empathie in<br />
Deutschland. Sie bedeuten, für etwas einzustehen und eine Haltung zu zeigen.<br />
Die Bildungseinrichtungen im Osten haben auch den emanzipatorischen Ansatz<br />
übersprungen. Wer außerhalb der großen Städte mit nonkonformen oder<br />
stark belasteten Themen wie <strong>Rechtsextremismus</strong> umgeht, ndet in der Regel<br />
wenig Unterstützung. Und kann nicht einmal sicher sein, von der Polizei geschützt<br />
zu werden, wie der jüngste Fall aus Hoyerswerda zeigt.<br />
Die aufgezählten Beispiele beschäftigen sich vor allem mit der Software, auf der<br />
das Programm <strong>Rechtsextremismus</strong> läuft. Das Programm selbst wird im Folgenden<br />
sicher noch ausführlich dargestellt werden. Es gibt viele Experten, die das staatliche<br />
Versagen im Fall NSU genau beschreiben können und jeden Kameradschaftsführer<br />
in Deutschland mit Namen kennen. Darum geht es mir heute nicht. Die<br />
Frage, die uns als Praktiker beschäftigt, ist vielmehr: Was können wir tun?<br />
Eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit dem <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
impliziert, über Rassismus zu reden, ihn zu ächten, zu sanktionieren und Opfer zu<br />
schützen. Und das mit allen Mitteln, die einer offenen Gesellschaft zur Verfügung<br />
stehen.<br />
Die Amadeu Antonio Stiftung hat vier Schwerpunkte:<br />
1. Internet und Öffentlichkeitsarbeit<br />
2. Gender und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
3. Antisemitismus als Querfronthema<br />
4. Ländlicher Raum versus abgehängte Stadtteile<br />
In diesen Themen spiegelt sich auch die Modernisierung des heutigen <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
wider. Er ist ganzheitlicher, atomisiert seine Elemente und dockt an<br />
bestehende Befunde an, er ist internationaler und auf seine Weise globalisierter<br />
geworden. Er dringt in Bereiche wie grüne Landwirtschaft, sanfter Tourismus
306 Anetta Kahane<br />
u.v.m. ein. Er ist gut organisiert und technisch t. Das Internet ist sein Medium.<br />
Er ernährt sich vom Rassismus anderer abwertender Ideologien und bedient Populisten.<br />
Er hebt auf neue Themen ab wie Islamismus oder beschwört die jüdische<br />
Weltherrschaft. Er vernetzt sich international und globalisiert seine Begriffswelt.<br />
Er ist querfrontfähig geworden. Er besteht nicht mehr auf geschlossene Weltbilder,<br />
sondern kann sehr gut einzelne Facetten auffangen und nutzen. Er setzt innerhalb<br />
Europas auch auf die traditionelle nationalistisch-antisemitische Karte und pro -<br />
tiert dabei von einem Mangel an Aufarbeitung des Holocaust und der Kollaboration<br />
in den jeweiligen Ländern, nach dem Motto „Wir hätten gegen die Juden und<br />
ihr System zusammenhalten sollen“. Er ist anti-kapitalistisch.<br />
Der <strong>Rechtsextremismus</strong> in Deutschland ist zugleich militant und sozialrevolutionär<br />
(entsprechend seiner Genese im Osten) und elitär-bürgerlich, vulgärrassistisch<br />
oder esoterisch. Beides mischt sich zurzeit, nachdem es zunächst einen Ost-<br />
West-Unterschied gegeben hatte. Kameradschaften nach dem Modell „National<br />
Befreite Zonen“ organisieren sich jetzt auch im Westen, und rechte Siedler mit<br />
Ökohöfen gibt es auch im Osten.<br />
Im europäischen Kontext bildet Deutschland eine Schnittmenge zwischen beidem.<br />
Osteuropa ist nationalrevolutionär militant. Westeuropa hat populistische<br />
und rassistische Bewegungen. In Deutschland wird die Synthese probiert.<br />
Das kann sehr gefährlich werden. Deshalb ist die erste Praxis immer die des<br />
Schutzes von Minderheiten. Migranten und Betroffene rechter Gewalt sollten nicht<br />
weiter isoliert bleiben. Der Migrationsbereich, die Integrationsbeauftragten, das<br />
hat der NSU gezeigt, müssen mit denen zusammenarbeiten, die sich mit <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
beschäftigen. Wir müssen zusammen denken und zusammenarbeiten.<br />
Eine ganz neue Praxis muss daraus werden und ein neues Selbstverständnis. Und<br />
natürlich Druck auf die Politik, über deren Rolle an anderer Stelle gesprochen<br />
werden wird.<br />
Anders geht es nicht.
<strong>Rechtsextremismus</strong><br />
307<br />
Literatur<br />
Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2012). Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen<br />
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„Lügenpresse“?<br />
„<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Rassismus“ in den Medien<br />
Britta Schellenberg<br />
„Lügenpresse“ oder „ein Hort von Neonazis“ – das Spannungsfeld der Zuschreibungen<br />
ist breit, wenn es um tatsächlich oder vermeintlich extrem rechte und rassistische<br />
Vorfälle geht. Die „Pegida“ 1 -Demonstrationen in Dresden und die Berichterstattung<br />
hierüber verdeutlichen das im Jahr 2014/15. Hinter ihnen steckt eine<br />
komplexe langjährige Entfremdung von gemeinsamen Normvorstellungen. Ausgehend<br />
von einem konkreten Fall und der öffentlichen Debatte über ihn werden im<br />
Artikel die mediale Thematisierung von „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Rassismus“<br />
ebenso wie die Debattenbeiträge von Akteuren, die an der Medienberichterstattung<br />
Kritik üben, betrachtet und in Beziehung zu ihren Normvorstellungen und<br />
Problemwahrnehmungen untersucht. Zunächst wird die mediale Berichterstattung<br />
über einen rassistischen und extrem rechten Übergriff in der sächsischen Kleinstadt<br />
Mügeln (2007) in ihrem zeitlichen Verlauf nachgezeichnet. Dabei wird aufgezeigt,<br />
durch welche äußeren Impulse und Stilmittel sie bestimmt ist. Anschließend<br />
werden die Akteure, die Kritik an „den Medien“ üben, in ihrer Positionierung zum<br />
Vorfall und ihren Einschätzungen gegenüber der Medienberichterstattung dargestellt.<br />
Ziel der empirischen Analyse ist es, problematische Strukturen jenseits des<br />
Neonazismus aufzuzeigen, die jedoch – wie aktuell „Pegida“ zeigt – grundlegende<br />
1 „Pegida“ ist die Abkürzung für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des<br />
Abendlandes“. Seit Mitte Oktober 2014 demonstrierten sie – in Anlehnung an die bürgerbewegten<br />
Montagsdemonstrationen in der untergehenden DDR – jeden Montag in<br />
Dresden.<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_12, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
310 Britta Schellenberg<br />
Herausforderungen für eine demokratische Auseinandersetzung und die Strategieentwicklung<br />
im Bereich „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Rassismus“ markieren.<br />
1 Der konkrete Fall 2<br />
In der sächsischen Kleinstadt Mügeln gab es im August 2007 pogromähnliche<br />
Ausschreitungen gegen als „fremd“ de nierte Menschen indischer Herkunft.<br />
Während des jährlich statt ndenden Altstadtfestes in der sächsischen Kleinstadt<br />
Mügeln wurde eine Gruppe, zu der sieben indische Migranten und zwei Deutsche<br />
gehörten, physisch attackiert. Ein Großteil konnte sich in eine nahe gelegene Pizzeria<br />
üchten, die dann von etwa 40 bis 50 gewaltbereiten Neonazis angegriffen<br />
wurde. Eine Menge von bis zu 200 Stadtbewohnern sammelte sich schaulustig vor<br />
der Pizzeria. Zwei Polizisten schützten die inzwischen in der Pizzeria verbarrikadierten<br />
Inder vor der gewaltbereiten Menge bis Unterstützung von der Bereitschaftspolizei<br />
eintraf. Sie wurde auch angegriffen und konnte erst Stunden später<br />
die öffentliche Ordnung wiederherstellen.<br />
Im Nachgang des Übergriffs entfaltete sich ein öffentlicher Kon ikt über die<br />
Tatmotive ebenso wie über den Verlauf des Geschehens. Der polizeiliche Staatsschutz<br />
und die Staatsanwaltschaft stritten – trotz gegenteiliger Aktenlage 3 – einen<br />
„rechtsextremen“ Hintergrund ab und stellten „Fremdenfeindlichkeit“ als Motiv<br />
infrage. Die lokale Politik und zunächst auch die Staatsregierung (CDU) teilten<br />
diese Interpretation. In der Folge wurde der Fall von den staatlich Zuständigen<br />
nicht zielführend bearbeitet, es kam in der polizeilichen Ermittlungsarbeit fast zu<br />
einer Täter-Opfer-Umkehr. Andere Akteure, einige Bürger, zivilgesellschaftliche<br />
Organisationen der Region und viele Medien, aber auch Bundes- und Regionalpolitiker,<br />
thematisierten hingegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />
So entfaltete sich eine kontroverse öffentliche Debatte über die<br />
Bedeutung des „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und der „Fremdenfeindlichkeit“ 4 bzw. des<br />
2 Die folgenden Ausführungen basieren auf den Ergebnissen meiner Dissertation und<br />
der Folgestudie für die Heinrich-Böll Stiftung/Weiterdenken (vgl. Schellenberg,<br />
2014a, 2014b).<br />
3 Das Tatgeschehen nach Aktenlage habe ich übersichtlich in Schellenberg (2014b) rekonstruiert.<br />
4 Tatsächlich wurde vor allem die Bedeutung des „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und der „Fremdenfeindlichkeit“<br />
diskutiert, allerdings wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />
und einigen Medien der Begriff „Rassismus“ ebenfalls verwendet. Daher wird im<br />
Folgenden immer wieder der Begriff „Fremdenfeindlichkeit“ benutzt. Heute wird der<br />
passendere Begriff „Rassismus“ deutlich häufiger gebraucht.
„Lügenpresse“?<br />
311<br />
Rassismus. Später sind einschlägige Urteile gefallen, allerdings wurden nur wenige<br />
Täter ermittelt, sie kamen weitgehend mit milden Strafen davon. Inzwischen ist<br />
ein „fremdenfeindlicher“ Hintergrund amtlich verzeichnet und die Tatsache, dass<br />
mindestens ein Teil der Täter dem Neonazi-Spektrum zuzuordnen ist, öffentlich<br />
bekannt (vgl. Schellenberg, 2014b).<br />
1.1 Direkt nach dem Vorfall: Die Kategorisierung durch<br />
unterschiedliche Akteure<br />
Der Vorfall wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen der Region, den Opfern<br />
und einigen Bürgern, die den Übergriff beobachtet hatten, sofort als „rassistisch“<br />
bzw. „fremdenfeindlich“ und „rechtsradikal“ motiviert eingeschätzt.<br />
Die Zeugen waren (zunächst) gegenüber Ermittlungsbehörden und auch Journalisten<br />
auskunftsbereit. Einen „fremdenfeindlichen“ und/oder „rechtsextremen“<br />
Tathintergrund sahen auch fast alle Bundespolitiker, inklusive der Bundesregierung<br />
(mindestens CDU 5 und SPD), ebenso die sächsischen Parteien Die Grüne/<br />
Bündnis 90, Die Linke und die SPD. Im Kontrast hierzu steht eine Gruppe, die<br />
keinen rechtsextremen und auch weithin keinen fremdenfeindlichen Hintergrund<br />
annahm: sächsische Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden, der Bürgermeister und<br />
Stadtrat von Mügeln, Teile der Sächsischen Staatsregierung (CDU), die Tatverdächtigen<br />
und Bürger aus Mügeln sowie der bundesdeutschen radikalen Rechten,<br />
inklusive der NPD. Sie kritisierten u. a. „die Medien“ für ihre angeblich „hysterische“<br />
und „vorurteilshafte“ Berichterstattung über den Vorfall.<br />
2 Die mediale Berichterstattung<br />
Bereits die Anzahl der Beiträge in den untersuchten Medien, die den Vorfall thematisierten,<br />
verrät, dass der Fall die Medien interessiert hat. Die überregionalen<br />
Tageszeitungen 6 druckten im Zeitraum vom 20. August 2007, und damit bereits<br />
ab dem ersten Tag nach dem Übergriff bis zum 1. Februar 2008 jeweils über 50<br />
5 Für die CSU vertrat Peter Gauweiler eine dezidiert andere Position: Er beurteilte den<br />
Vorfall als hysterische „Medienstory“ und stritt <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit<br />
als Tathintergrund ab.<br />
6 Komplett erfasst wurden Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau,<br />
Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und die Welt. Weitere berücksichtigte Zeitungen<br />
vgl. Literaturverzeichnis.
312 Britta Schellenberg<br />
Artikel. Die Süddeutsche Zeitung publizierte sogar 94 Artikel in ihrer Print-Ausgabe.<br />
Hinzu kam eine aktuelle und ausführliche Berichterstattung in den Online-<br />
Diensten. Von einigen Zeitungen wurden spezielle Informationsforen eingerichtet,<br />
inklusive Bildmaterial. 7<br />
Die Berichterstattung zum „Fall Mügeln“ war in allen untersuchten Zeitungen<br />
intensiv, wobei FAZ, FR und Die Welt nahezu gleich häu g berichteten,<br />
während die TAZ eine leicht höhere, die SZ eine erheblich höhere Artikelanzahl<br />
verzeichnete. Auch die überregionalen Wochenzeitungen berichteten. Im Spiegel<br />
und insbesondere in der Zeit wurde der Fall häu g als bloße Referenz zum Thema<br />
„<strong>Rechtsextremismus</strong>“ oder „rassistische Gewalt“ genutzt – daher die deutlich<br />
höhere Anzahl ihrer Artikel (print) gegenüber dem Focus. In den – tagesaktuellen<br />
– Online-Diensten wurde ähnlich intensiv wie in den Tageszeitungen (print<br />
und online) berichtet. Die Zeit berichtete hier deutlich weniger. Die Mitteldeutsche<br />
Zeitung ist eine Zeitung mit lediglich regionaler Reichweite, ihr Umfang ist deutlich<br />
kleiner als der der überregionalen Zeitungen und des Tagesspiegels – was die<br />
geringere Artikel-Anzahl in dieser Zeitung erklären kann. Die Sächsische Zeitung<br />
allerdings, deren Umfang ebenfalls deutlich schmaler ist, berichtete – als Zeitung<br />
der betroffenen Region – am intensivsten.<br />
2.1 Impulse und Problemanalyse im zeitlichen Verlauf<br />
2.1.1 Phase 1: Ausländerhasser und Rechtsextreme<br />
Der Vorfall wird den Medienvertretern durch Bürger, die Zeugen des Vorfalls waren,<br />
Engagierte aus der näheren Umgebung und zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />
aus der Region bekannt. Berichtet wird von ausländerfeindlichen, rassistischen<br />
und extrem rechten Rufen („Ausländer raus!“, „Hier kommt der nationale<br />
Widerstand“) und dem aggressiven, gewalttätigen Verhalten gegen die als „fremd“<br />
Stigmatisierten und die Polizei. Bereits am Tag nach dem Vorfall treffen die ersten<br />
Journalisten in der Kleinstadt Mügeln ein und fotograeren die verletzten und geschockten<br />
Gesichter der Opfer. Berichte über den Vorfall erscheinen unter stichwortartigen<br />
Überschriften wie „<strong>Rechtsextremismus</strong>“, „Rechtsradikalismus“ oder<br />
7 Die Berliner Zeitung schaltet in Reaktion auf den Fall Mügeln am 21. August ein<br />
Dossier „<strong>Rechtsextremismus</strong>“: www.berliner-zeitung.de/rechte-gewalt (10.01.2015).<br />
Andere Medienorgane nutzen bereits vorhandene Seiten ihrer Institution, um den Fall<br />
Mügeln ausführlicher zu thematisieren, Stern etwa eine Themenseite zu „Neonazi-<br />
Gewalt“, die sie bereits im Juli 2007 eingerichtet hatte und ihre mut-gegen-rechte-gewalt-Seite.
„Lügenpresse“?<br />
313<br />
„Ausländerfeindlichkeit“. In einigen Berichten wird von Neonazis als mutmaßliche<br />
Täter berichtet (vgl. Schellenberg, 2014a, S. 232ff.).<br />
Die Zeitungen bringen in den folgenden Tagen den Vorfall als „Thema des Tages“<br />
oder „Brennpunkt“ auf der Titelseite ihrer Printausgaben. Neben schlich-<br />
8<br />
ten Meldungen werden ausführliche Berichte gedruckt. Dabei wird die lebhafte<br />
regionale rechtsextreme Szene beschrieben, ebenso das Ausmaß rechtsextremer<br />
Gewalt in Deutschland. Zudem erscheinen Informationskästen zu Begriffen wie<br />
„No-go-Area“ und Interviews mit Vertreterinnen von Beratungsstellen zu rassistischer<br />
Gewalt oder der Jüdischen Gemeinde. Die Einschätzung „rechtsextrem“<br />
wird von den Print-Zeitungen geteilt, unabhängig davon, ob es sich um regionale<br />
oder überregionale Medien handelt, um Publikationen aus den neuen oder alten<br />
Bundesländern und auch weitgehend unabhängig von der politischen Ausrichtung<br />
des Mediums. Allerdings gab es in den ersten Tagen vereinzelt zurückhaltende<br />
Stimmen in der Presse. So betont die Rheinische Post, man solle erst einmal die<br />
9<br />
Ermittlungen abwarten, bevor man „Neonazi-Überfall“ rufe. Auch die konservativen<br />
Blätter FAZ und Die Welt drucken anfangs jeweils (nur) einen Artikel, in<br />
dem auch gefragt wird, ob es sich – wie mutmaßlich im „Fall Sebnitz“ 10 – um eine<br />
falsche <strong>Rechtsextremismus</strong>-Zuschreibung handeln könnte. 11<br />
Dramatisierung, Dämonisierung und Entmenschlichung: Während das Geschehen<br />
als „rechtsextrem“ eingeordnet wird, wird die Täter-Gruppe in den Berichten<br />
häu g als „Meute“ oder „Horde“ bezeichnet. Beispiele sind: Ausländer<br />
8 Beispielsweise ist Mügeln das Tagesthema in der Berliner Zeitung vom 21.08.2007, in<br />
der TAZ am 22.08.2007 und in der FR sowohl am 21.08. als auch am 23.08.2007, in<br />
der MZ am 22.08.2007 in der SZ am 23.08.2007; SäZ vom 25./26.08.2007; MZ vom<br />
22.08.2007, S. 4; Die Welt am Sonntag vom 26.08.2007: „Rechte Gewalt in Deutschland.“<br />
Von Freia Peters. Zudem stellt die MZ ein Brennpunkt zu Mügeln ins Netz.<br />
Ebenfalls werden Fernsehbeiträge gesandt, z. B. ein Kontraste-Beitrag, ARD vom<br />
20.09.2007: „Mügeln – eine Stadt wäscht sich rein.“ Von Caroline Walter und Alexander<br />
Kobylinski (Zeit: 7:42 min). http://www.rbb-online.de/kontraste/ueber_den_tag_<br />
hinaus/extremisten/muegeln_eine_stadt.html (10.01.2015).<br />
9 Rheinische Post: „Der Mob und das Dorf Mügeln.“ Vom 20.08.2007. Von Reinhold<br />
Michels. http://www.presseportal.de/pm/30621/1035325/rheinische_post (10.01.2015).<br />
10 Der Tod eines Jungen in Sebnitz wurde zunächst als rechtsextrem motiviert eingestuft,<br />
was zu einer großen öffentlichen Debatte führte. Die Gerichte stellten später keinen<br />
rechtsextremen Tathintergrund fest. Seither wird bei entsprechenden Vorfällen immer<br />
wieder spekuliert, es gebe falsche oder auch böswillige <strong>Rechtsextremismus</strong>-Verdachtsfälle.<br />
11 FAZ vom 21.08.2007: „Gruß aus Sebnitz“, S. 10; ähnlich Welt: Die Welt vom<br />
22.08.2007: „Was geschah im sächsischen Mügeln? Voreilige Empörungsgemeinschaft.“<br />
Von Thomas Schmid.
314 Britta Schellenberg<br />
bzw. Migranten „wurde(n) (...) von einer Meute Neonazis durch Mügeln gejagt und<br />
brutal zusammengeschlagen“, „Mob von Mügeln“, „Horde Neonazis samt Sympathisanten“<br />
und „Mob von 50 deutschen Jungmänner(n)“ oder „rechtsradikale<br />
Prügelhorden in Mügeln“. Häu g verwendet wird auch der Begriff „Hetzjagd“.<br />
So heißt es etwa: „Ausländerjagd in Mügeln“, „Hetzjagd auf Ausländer“, „brutale<br />
Treibjagd“, „Menschenjagd von Mügeln“, „Hetzjagd auf Inder in Sachsen“, „Hetzjagd<br />
auf Ausländer in Sachsen“ oder „brutale Hetzjagd auf indische Besucher im<br />
sächsischen Mügeln“ (vgl. Schellenberg, 2014a, S. 257f.). Sowohl die Begriffe<br />
„Meute“ und „Horde“ als auch „Hetzjagd“ veranschaulichen und dramatisieren<br />
das Tatgeschehen. Mit den Begriffen „Meute“ und „Horde“ werden die Täter entindividualisiert<br />
und entmenschlicht. Sie werden im Kontrast zu „normalen“ Menschen<br />
dargestellt und als animalisch, verroht und aus einer niedrigen Bildungsund<br />
Sozialschicht stammend beschrieben. Mit dem Begriff „Hetzjagd“ wird die<br />
Perspektive auf die Opfer gelenkt. Sie würden behandelt wie Tiere, die verfolgt<br />
werden, weil sie eingefangen und ermordet werden sollten. Manchmal wird betont,<br />
dass die Hetzjagd durch die „gesamte Stadt“ bzw. „die Stadt“ ging – allerdings<br />
lässt der Begriff „Hetzjagd“ – auch ohne konkrete Lokalisierung – durchaus assoziieren,<br />
dass die Opfer über eine längere Zeit oder Strecke „gejagt“ wurden. Da<br />
dies nicht zutrifft, der Fluchtort war etwa 30 bis 50m vom ersten Ort des Übergriffes<br />
entfernt, greifen die Kritiker „die Medien“ für diese Begriffsverwendung<br />
später an.<br />
In der ersten Phase der Berichterstattung, als von einem Neonazi-Übergriff ausgegangen<br />
wird, gibt es keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Tätern, ihren<br />
Beweggründen und Ursachen für ihre Probleme, es werden auch keine Möglichkeiten<br />
diskutiert, wie bei entsprechenden Taten gegengesteuert werden könnte.<br />
2.1.2 Phase 2: Keine Rechtsextremen.<br />
Was steckt hinter der Gewalteskalation?<br />
Bereits am Tag zwei und drei nach dem Übergriff wenden sich Polizei und Staatsanwaltschaft<br />
mit Pressemitteilungen an die Öffentlichkeit: Hierin heißt es, ein<br />
rechtsextremer Hintergrund sei auszuschließen und selbst ein fremdenfeindliches<br />
Motiv müsse nicht vorgelegen haben. Dass dies behauptet wird, obwohl die diensthabenden<br />
Polizisten noch in der Tatnacht das Delikt der „Volksverhetzung“ aufgenommen<br />
hatten und obwohl die bereits vorliegenden Aussagen von Polizisten,<br />
Zeugen, inklusive Opfern, in den Polizeiakten klar das Gegenteil belegen, bleibt<br />
der Öffentlichkeit unbekannt.<br />
Aufgrund der Fehlinformation durch die Ermittlungsbehörden verändert sich<br />
die Berichterstattung: Gemeldet wird nun, dass die polizeilichen Ermittlungen
„Lügenpresse“?<br />
315<br />
keinen rechtsextremen Hintergrund bestätigt haben. Fest stünde, dass es sich weder<br />
um einen von Rechtsextremen „geplanten Vorfall“ noch um einen Übergriff,<br />
„an dem organisierte Rechtsextreme beteiligt gewesen seien“ handele. 12 Allerdings<br />
bleibt der „Fall Mügeln“, trotz des (angeblichen) Ermittlungsergebnisses, „kein<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> als Tathintergrund“, Thema der Presse. Es kommt sogar zu<br />
einer zeitlich längeren und nun auch inhaltlich intensiven Auseinandersetzung:<br />
In der Öffentlichkeit wird heftig darüber gestritten, ob es sich um einen fremdenfeindlichen<br />
bzw. rassistischen Vorfall handelte oder nicht. Das Thema wird kontrovers<br />
diskutiert – und hält sich gerade durch den Nachrichtenfaktor „Kontroverse“<br />
in den Medien. Außerdem war zwar die Feststellung „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ eine<br />
vielfach replizierte Nachricht wert, doch hatte der Befund kaum zu einer Auseinandersetzung<br />
mit Verursachern und Hintergründen der Gewalteskalation geführt.<br />
Jetzt, als geglaubt wird, „Neonazis“ hätten nichts mit der Tat zu tun, gewinnt das<br />
Thema für viele Medienvertreter an Bedeutung. Die Frage, warum sich „normale“,<br />
nicht-rechtsextreme, Bürger in eine fremdenfeindliche/rassistische „Gewaltorgie“<br />
verstiegen, scheint für viele Journalisten und Redaktionen interessanter als die<br />
Frage, was Rechtsextreme bewegt (und warum viele Bürger zuschauen).<br />
Denn: Angesichts der bereits stattgefundenen Interviews mit Zeugen, auch<br />
Opferzeugen, eigner Beobachtungen in der Kleinstadt, aber auch erster patriarchalischer<br />
Abwehrversuche des Bürgermeisters sind sich die meisten Journalisten<br />
sicher: hier spielt Fremdenfeindlichkeit/Rassismus eine Rolle. So beginnt in den<br />
Medien eine lebhafte Diskussion über (Mit-)Verursacher der Gewalt, die Sozialisationshintergründe<br />
der scheinbar „normalen“ Beteiligten sowie ihre möglichen<br />
negativen Eigenschaften und Beweggründe.<br />
12 N-tv vom 31. August 2007. Unter n-tv.de: http://www.n-tv.de/846548.html.<br />
(10.01.2015); Die Welt vom 30.08.2007: „Mügeln: Offenbar kein politischer Hintergrund.“<br />
Die Welt vom 1.9.2007: „Gewalt gegen Inder in Mügeln war nicht von langer<br />
Hand geplant.“
316 Britta Schellenberg<br />
Tabelle 1 Problemanalyse Journalisten<br />
Impuls von außen Deutung: Problem (Mit-) Verursacher Begründung/ Argumentationsmuster<br />
Zeugenberichte, auch<br />
Opferzeugen, Gespräche<br />
vor Ort<br />
Pressemitteilung der<br />
Polizei und Staatsanwaltschaft:<br />
kein <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />
Der Fall war „rechtsextrem“,<br />
„neonazistisch“<br />
motiviert.<br />
Der Fall war<br />
„rassistisch“ bzw.<br />
„fremden-feindlich“<br />
motiviert.<br />
Rechtsextreme und/oder Neonazis<br />
(keine weiteren Verantwortlichen<br />
werden festgestellt)<br />
Rassisten/ Fremdenfeinde<br />
in „spezischen<br />
Regionen“<br />
---<br />
Zeigt sich häug in<br />
a) manchen Regionen<br />
b) Sachsen<br />
c) Ostdeutschland<br />
vielleicht auch keine<br />
fremdenfeindliche<br />
Motivation,<br />
Hintergründe noch<br />
unklar<br />
Lokal- und<br />
Regionalpolitik<br />
a) ... weil Äußerungen des Mügelner Bürgermeisters<br />
Verdrängung der Probleme und/<br />
oder eigenen Rassismus zeigen.<br />
b) ... weil Politiker Probleme nicht zugeben<br />
wollen (Abwiegelung).<br />
c) ... weil es viele Probleme in der sächsischen<br />
Politik gibt und diese nicht gelöst werden.<br />
Aber auch: Einordnung der zum Teil<br />
mehrdeutigen Äußerungen der Lokal- und<br />
Regionalpolitik als problemorientierte<br />
Stellungnahme.<br />
Polizei a) ... zeigt sich in Äußerungen zum Vorfall.<br />
b) ... zeigt sich auch in unsensibler und inkorrekter<br />
Behandlung der Opfer.<br />
a Die Tabellen in diesem Artikel stellen überarbeite Versionen aus Schellenberg 2014a dar.
„Lügenpresse“?<br />
317<br />
Problemanalyse: Ausführlich wird diskutiert – angereichert durch Zitate diverser<br />
Akteursgruppen – warum es in der Kleinstadt zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen<br />
kommen konnte. Wiederkehrende Muster der Argumentation sind:<br />
Es müsse eine allgemein verbreitete Fremdenfeindlichkeit unter den Mügelner<br />
Altstadtfestbesuchern geben. Und: Diese sei typisch für „spezi sche Regionen“.<br />
Diese Regionen werden nicht immer verortet, allerdings wird häu g speziell auf<br />
das Bundesland Sachsen Bezug genommen oder generell auf Ostdeutschland. Als<br />
Problemverschärfer wird zudem recht häug auf den Mügelner Bürgermeister als<br />
Vertreter der Gemeinde und zum Teil auch auf die Sächsische Staatsregierung verwiesen:<br />
ihre Reaktionen werden als Mangel an Aufklärungswillen interpretiert,<br />
zum Teil wird auch Fremdenfeindlichkeit bei den Zuständigen selbst vermutet und<br />
mit Zitaten untermauert (der Bürgermeister hatte der Financial Times gegenüber<br />
geäußert: „Ausländer-raus-Rufe können jedem Mal über die Lippen kommen“).<br />
Einzelne Journalisten glauben darüber hinaus, dass die Polizei eine problematische<br />
Rolle bei der Bearbeitung des Vorfalls spielt, auch weil einige ihrer Vertreter<br />
gegenüber der Gruppe der Opfer voreingenommen zu sein scheinen (eine<br />
Ermittlerin hatte formuliert: „Die Inder sollten sich jetzt nicht in die Opferrolle<br />
hineinsteigern“).<br />
Normorientierungen: Das Selbstverständnis eines friedliebenden, vielfältigen,<br />
demokratischen Deutschlands sehen die meisten Journalisten durch den Vorfall<br />
und seine Bearbeitung angegriffen. Der Vorfall gewinnt daher für Viele noch<br />
grundlegender an Bedeutung, als zunächst von der Polizei und Staatsanwaltschaft<br />
ausgeschlossen wurde, dass die Verursacher des rassistischen Vorfalls Neonazis<br />
waren. Als besonders bedrohlich wird empfunden, dass sich viele Bürger, die nicht<br />
zur extrem rechten Szene gehören, an den Ausschreitungen beteiligten. Vor dem<br />
Hintergrund der eigenen Normvorstellungen, die sich – ob bewusst oder unbewusst<br />
– auf das Grundgesetz und menschenrechtliche Standards beziehen, steht<br />
zum einen der rassistische Gewaltakt an sich in der Kritik, zum anderen aber auch<br />
jene Bürger und Institutionen, die akzeptierten, dass die Grundrechte verletzt wurden<br />
und jene, welche eine effektive Aufklärung behindern.<br />
Doch obwohl die Berichterstattung nun „Rassismus“, „Fremdenfeindlichkeit“<br />
und „fremdenfeindliche Gewalt“ thematisiert, wird diese neue inhaltliche Einordnung<br />
in den Überschriften (die übrigens selten von den Autoren selbst stammen)<br />
häug nicht durchgehalten: Es nden sich weiterhin „<strong>Rechtsextremismus</strong>“-Headlines.<br />
Dies deutet darauf hin, dass die Themen „Rassismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“<br />
kaum selbstständig, sondern als Teile der Kategorie „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
wahrgenommen werden. Durch die undifferenzierten Überschriften kommt<br />
es aber zu argumentativen Widersprüchen bzw. zu einer mangelnden Stringenz in<br />
der Argumentation. Damit eröffnet sich auch eine Angriffsäche für Kritiker, die
318 Britta Schellenberg<br />
„den Medien“ vorwerfen, immer wieder unberechtigt, aber hysterisch, „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
zu thematisieren – und kann somit zum Beweis für die (angeblich)<br />
mangelnde Glaubwürdigkeit der Medien herangezogen werden.<br />
Das „Ost“-Framing: Häug kommt es (nicht in der Sächsischen Zeitung) zu<br />
einer weiteren nicht unproblematischen Zuschreibung: Breiten Raum nimmt die<br />
Diskussion, (ob und) warum Fremdenfeindlichkeit und <strong>Rechtsextremismus</strong> speziell<br />
ostdeutsche Probleme seien, ein. Es werden diverse Ursachen diskutiert und<br />
Erklärungen gefunden. So wird der Vorfall oft recht schlicht und stigmatisierend<br />
als „Problem Ostdeutschland“ eingeordnet und damit scheinbar „erklärt“. Natürlich<br />
ist es nicht entscheidend, dass sich der Vorfall, der rassistische und rechtsradikale<br />
Übergriff, das Wegschauen, Vertuschen und Verdrehen von Tatsachen in<br />
Mügeln, in Nordsachsen, in Sachsen, in Ostdeutschland ereignet hat. Es scheint<br />
sich eher um eine Abwehrhaltung zu handeln: Pauschale, vorurteilsgeleitete Einordnungen<br />
von Problemen helfen den Urhebern, sich persönlich nicht mit entsprechenden<br />
Phänomenen tiefer und auch selbstreexiv auseinandersetzen zu müssen.<br />
Zwar ist eine örtliche, regionale, kulturell-historische Einordnung des Vorfalls<br />
nicht völlig irrelevant. Aber die Vehemenz und Emotionalität, mit der eine örtlichkulturelle<br />
Zuordnung die Debatte über den Vorfall prägt, muss verwundern. Sie<br />
zeigt, dass Ost-West-Be ndlichkeiten die Debatte über „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ in<br />
problematischer Weise überlagern. Die Ost-Fokussierung führt sogar dazu, dass<br />
herangezogene Experten, wie der Wissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, entsprechend<br />
der Kategorisierung „<strong>Rechtsextremismus</strong> ist ein Problem Ostdeutschlands“<br />
zitiert werden, obwohl deren Forschungen diesem Befund differenziert widersprechen.<br />
Allerdings wird das „Ost“- Framing keineswegs ächendeckend durch „die<br />
Medien“ betrieben und wird in einigen Berichten deutlich kritisiert. Nachhaltig<br />
thematisiert und diskutiert wird es in der ostdeutschen Sächsischen Zeitung. Eine<br />
starke öffentliche Diskussion um den „Fall Mügeln“ und eine Fokussierung auf<br />
„Ostdeutschland“ wird als einseitig und diskriminierend beklagt. Doch trotz offensichtlich<br />
problematischer Muster bei vielen Journalisten, kann keinesfalls von<br />
einer pauschalen Verurteilung durch „die Medien“ gesprochen werden. Allerdings<br />
zeigte die Gesamtanalyse, dass die Ost-West-Be ndlichkeiten die Debatte über<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> und Rassismus überlagerten – sie scheinen (das legen die Inhalte<br />
der Artikel und Leserbriefe/-kommentare nahe) mit dafür verantwortlich zu<br />
sein, dass sich das Thema relativ lange in den Medien hielt.<br />
Verurteilung einer Stadt? Ein weiterer Vorwurf gegen „die Medien“ ist, dass sie<br />
die Kleinstadt Mügeln pauschal verurteilen würden. Unmittelbar nach dem Übergriff<br />
besuchten Journalisten diverser Medien Mügeln, fotogra erten und suchten<br />
das Gespräch mit Bürgern, dem Bürgermeister und vor Ort anzutreffenden Opfern.
„Lügenpresse“?<br />
319<br />
Die Journalisten kommen, als die Menschen vor Ort noch keine Antworten auf die<br />
vielen Fragen, die sich nach den Ausschreitungen ergaben, gefunden hatten. Die<br />
Journalisten fragten und waren schnell für Viele unerwünschte Gäste. Die meisten<br />
Kleinstadtbürger fühlten sich überfordert von den Medien-Teams, die in ihre kleine,<br />
ruhige Stadt kamen und eine Vielfalt und Unruhe mitbrachten, die es dort nicht gab.<br />
Nur Einzelne waren den gegenüber Journalisten auskunftsbereit: Einige Bürger, die<br />
zum Teil nicht beim Namen genannt werden wollten, und die Opfer. Bereits einen<br />
Monat nach dem Übergriff wollten auch die Opfer nicht mehr mit der Presse reden,<br />
weil sie den Eindruck hatten, diese verschlimmere bestehende Probleme.<br />
Tatsächlich berichten Journalisten oft kritisch über die Bürger und den Bürgermeister<br />
der Kleinstadt. Die Mügelner werden vielfach als Passive beschrieben; sie<br />
seien oft selbst fremdenfeindlich oder es fehle ihnen an Zivilcourage und einer<br />
eigenen Haltung. So berichtet der Stern beispielsweise, dass viele Bürger dem<br />
Vorfall passiv beiwohnten. Sie würden „Rechtsradikalen“ eine Bühne geben. Hingegen<br />
stellt die sächsische Regionalzeitung, Sächsische Zeitung, die sehr breit berichtet,<br />
die Bürger auch als „ausländerfreundlich“ dar.<br />
2.1.3 Phase 3: (Noch) eine Wende in der Einschätzung<br />
der Tathintergründe?<br />
Eine gute Woche nach der Gewalteskalation beschäftigt eine neue Nachricht die<br />
Medien: Der Focus (print) berichtet, dass die Polizei bestätigt hat, inzwischen gebe<br />
es „Anzeigen von Deutschen gegen Inder“ (die bisher als Opfer bekannt sind). Das<br />
Blatt spottet: „Sachsen. Die üblichen Verdächtigen“ und glaubt, „politisch korrekte<br />
Meinungsmacher“ könnten einen harmlosen Fall zum rechtsextremen oder fremdenfeindlichen<br />
Übergriff stilisieren. 13 Ähnlich hatte schon einige Tage zuvor die<br />
Junge Freiheit argumentiert. 14 Doch erst mit dem Printartikel im Focus kommt die<br />
Idee, die Opfer könnten auch Täter sein, in der seriösen Presse an. In vielen Medienorganen<br />
wird nun verkündet: Es gebe eine Wende in den Ermittlungen, die Inder<br />
seien Täter. Diese Nachricht wird als neu in den Medien repliziert, meist ohne<br />
Einordnung durch die Autoren. Besonders häu g heißt es „Inder sind möglicherweise<br />
auch Täter“, etwas seltener wird die Nachricht als Befund präsentiert „Inder<br />
13 Focus vom 27.08.2007, Nr. 35/2007: „Sachsen. Die üblichen Verdächtigen.“ von Alexander<br />
Wendt. Focus-Online interpretiert den Fall komplett konträr. Grund hierfür<br />
könnte neben unterschiedlichen Normvorstellungen der Autoren der Hang zur Konformität<br />
bei Online-Medien sein. Sie müssen schneller reagieren, haben weniger Zeit<br />
für eigene Recherche und halten sich daher stark an die Meldungen der Nachrichtenagenturen.<br />
14 Junge Freiheit vom 24.08.2007.
320 Britta Schellenberg<br />
sind auch Täter“ und nur sehr selten wird zwar die neue Nachricht mitgeteilt, jedoch<br />
ihre Bedeutung kritisch hinterfragt: in diesen wenigen Berichten wird betont,<br />
dass die Migranten mit indischen Wurzeln Opfer rassistischer Gewalt bleiben und<br />
dass einer Anzeige gegen die Opfer allein keinerlei Bedeutung zukommen müsse,<br />
da prinzipiell Jeder gegen Jeden Anzeigen erstatten könne. Beachtlich ist an dieser<br />
Stelle, wie wenige Journalisten die Nachricht kritisch reektieren (können?).<br />
Schon einige Tage darauf folgt allerdings der nächste Impuls, durch die Junge<br />
Freiheit. Am 31. August veröffentlicht die Wochenzeitung ein Interview mit<br />
dem Mügelner Bürgermeister, das von der Presse vor allem kritisch aufgenommen<br />
wird. Der Bürgermeister äußert sich hierin abwertend über all jene, die dem Vorfall<br />
eine fremdenfeindliche oder rechtsextreme Bedeutung zusprechen. Er behauptet,<br />
Mügeln werde durch Medien und Politik unzulässig vorverurteilt und sagt auch,<br />
möglicherweise wären „die Inder“ (mit)schuld am Geschehen. Seine Interpretation<br />
des Falls und der Debatte gewinnt einen deutlich rechtsradikalen Drall (vgl. unten<br />
ausführlich). Das Bürgermeister-Interview in der rechtsradikalen Zeitung garantiert<br />
weiterhin Kon ikt und Kontroverse und verlängert damit die starke Präsenz<br />
des „Falls Mügeln“ in den Medien. Erst nach einigen Tagen geht die Intensität der<br />
Berichterstattung wieder zurück. Das Interview scheint vielen Journalisten (wieder)<br />
vor Augen zu führen, dass es sich um einen rassistischen und fremdenfeindlichen<br />
Übergriff gehandelt haben muss. Als Chronisten geben sie kritische Zitate<br />
aus der gesamten Bundesrepublik, insbesondere von Regional- und Bundespolitikern,<br />
wieder. Diskutiert wird, ob nicht der Bürgermeister mit seinen Aussagen<br />
Teil des Problems „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Fremdenfeindlichkeit“ ist, kritisiert<br />
wird auch, dass er sich einer rechtsradikalen Zeitung als Interviewpartner zur Verfügung<br />
stellte. Allerdings berichten viele Journalisten nicht alleine durch Zitate,<br />
sondern kommentieren auch kritisch selbst. Sie erinnern beispielsweise an frühere<br />
problematische Aussagen des Bürgermeisters (etwa gegenüber der Financial Times<br />
Deutschland „fremdenfeindliche Parolen können jedem mal über die Lippen kommen“)<br />
und bemängeln, dass er nicht Probleme in der Kleinstadt thematisiert.<br />
Kon ikt und Kontroverse: Die Nachrichtenfaktoren „Kon ikt“ und „Kontroverse“<br />
sind mit ausschlaggebend für die lange Präsenz des Falls in den Medien<br />
(vgl. Tabelle 2). Jedoch fällt auf, dass die mediale Inszenierung der Kontroverse<br />
zum Teil mehr handwerkliche Schablone ist als eine korrekte inhaltliche Auseinandersetzung:<br />
insbesondere die Positionen der Politik (Bundesparteien) werden<br />
als kontrovers dargestellt, obwohl diese weitgehend identisch in ihren Deutungen<br />
und Normsetzungen (insbesondere Bundespolitiker) sind. Zivilgesellschaftliche<br />
Akteure hingegen werden – ebenso realitätsfern – recht einmütig als Kontrapunkt<br />
zur Politik präsentiert. Überraschend wird übrigens überdurchschnittlich häu g<br />
der Zentralrat der Juden befragt.
„Lügenpresse“?<br />
321<br />
Dass es sich tatsächlich um einen Kon ikt über Aufklärungswillen und bundesdeutsche<br />
Normen handelt, den zwei ideologische Gruppen kon ikthaft austragen,<br />
wird kaum sichtbar. 15 Auf der einen Seite die Zeugen, inklusive Opfer, ihre<br />
Unterstützer wie Opferanwälte und zivilgesellschaftliche Organisationen, Bundespolitiker,<br />
viele Regionalpolitiker und die Journalisten selbst, auf der anderen Seite<br />
die Radikale Rechte, die Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden, die lokale Politik<br />
und – mit im Verlauf der Debatte zunehmenden Positionierungsschwierigkeiten –<br />
die sächsische Staatsregierung/CDU.<br />
2.1.4 Phase 4: Abklingen und Ende der Berichterstattung<br />
Nach dem Abklingen der Kommentare über das Bürgermeister-Interview sinkt<br />
die Quantität der Berichterstattung rapide. Berichtet wird nur dann wieder, wenn<br />
Urteile in den Gerichtsverfahren gefällt werden. Aufsehen erregt vor allem der<br />
Urteilsspruch vom 4. Dezember 2007 gegen einen (Haupt-)Täter wegen Sachbeschädigung<br />
und Volksverhetzung. Das Gerichtsurteil (acht Monate Gefängnis)<br />
provoziert wieder ausführlichere Artikel und Hintergrundberichte. Die Presse<br />
druckt die Begründung des von Vielen als hart bewerteten Urteils: Die Tat sei „im<br />
Vorfeld eines Pogroms“ 16 verübt worden. Die Medien titeln „Es war der Anfang<br />
eines Pogroms“ oder „Knapp am Pogrom vorbei“. 17 In den bald erscheinenden Jahresrückblicken<br />
wird der Vorfall dann noch einmal thematisiert, dabei wird er als<br />
„rassistischer“ bzw. „fremdenfeindlicher“ Übergriff „im Vorfeld eines Pogroms“<br />
erinnert. Von einigen Medien werden zudem die staatlichen Bearbeitungskompetenzen,<br />
insbesondere des Bürgermeisters und der Polizei, kritisch erinnert. Der<br />
Focus (print) erzählt eine etwas andere Geschichte, ist damit aber innerhalb der<br />
überregionalen, seriösen Medien alleine:<br />
15 Das liegt sicherlich auch am fehlenden Akten-Wissen der Journalisten.<br />
16 Zitat aus dem Gerichtsurteil vom 4. Dezember, Amtsgericht Oschatz.<br />
17 Vgl. u. a. FR vom 6.12.2007: „Knapp am Pogrom vorbei /Mit der Haftstrafe gegen<br />
einen der Täter von Mügeln statuiert das Gericht ein Exempel.“ Von Bernhard<br />
Honnigfort, S.5.
322 Britta Schellenberg<br />
„Im Juni 2007 endete der Prozess im Fall Ermyas M. mit einem Freispruch. Der<br />
vermeintlich extremistische Überfall war zur Schlägerei unter Betrunkenen geschrumpft.<br />
Nichtsdestotrotz wiederholte sich das Szenario der Vorverurteilung<br />
einen Monat später nach einer Schlägerei im sächsischen Mügeln: Obwohl bis heute<br />
nicht geklärt ist, was genau passiert war, sprachen die meisten Medien von einer<br />
‚ausländerfeindlichen Hetzjagd’. Es gab aber nicht nur acht (durch Schläge) verletzte<br />
Inder, sondern auch vier (durch Stiche und Schnitte) verletzte Deutsche, und keiner<br />
weiß, wer angefangen hat. Von den verletzten Deutschen war deshalb sicherheitshalber<br />
meist gar nicht erst die Rede. Was hoffentlich kein Trend wird.“ 18<br />
Dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits ein erstes einschlägiges Urteil<br />
gegen einen (Haupt-)Täter u. a. wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung<br />
vorlag, bleibt unerwähnt. 19<br />
18 Focus vom 10.12.2007, Nr. 50/2007: „Jahresrückblick 2007 – Essay: Chinalinksruck?<br />
Weltklimadoping?“ Von Michael Klonovsky. Zu diesem Zeitpunkt war das erste einschlägige<br />
Urteil bereits gefällt. Allerdings waren die Anzeigen gegen die Opfer mit<br />
indischem Migrationshintergrund noch nicht fallen gelassen worden.<br />
19 Auch der Verfassungsschutz geht einen überraschenden Weg: In seinem Jahresbericht<br />
erwähnt er den rassistischen und neonazistischen Fall nicht – aber stattdessen erst- und<br />
einmalig indischen Extremismus in Sachsen. Einen entsprechenden Vorwurf hatte die<br />
NPD in der Debatte über den Vorfall in Mügeln den indischen Opfern gemacht. (Vgl.<br />
Schellenberg, 2014b, S. 88-90).
„Lügenpresse“?<br />
323<br />
Tabelle 2 (Neu-) Interpretation nach Impulsen/„Nachrichten“<br />
Datum Impuls/<br />
„Nachricht“<br />
21. und<br />
22.08.2007<br />
Pressemitteilungen Polizei<br />
und Staatsanwaltschaft<br />
27.08.2007 Artikel im Focus (Print)<br />
Basiert auf<br />
Artikel der Jungen Freiheit<br />
vom 24.08.2012<br />
und<br />
Kernaussage (Neue) Interpretation Medien<br />
(Häugkeit)<br />
Es gibt keinen rechtsextremen<br />
Hintergrund.<br />
Ob Fremdenfeindlichkeit eine<br />
Rolle spielte, müssen die Ermittlungen<br />
erst noch zeigen.<br />
Es gibt eine Wende in den Ermittlungen:<br />
Die Inder sind (auch) Täter.<br />
Keine Rechtsextremen.<br />
Der Vorfall war fremdenfeindlich<br />
motiviert.<br />
Inder sind auch Täter.<br />
(++)<br />
Inder sind möglicherweise<br />
auch Täter. (+++)<br />
Polizeiaussage: Anzeige<br />
von Deutschen/gegen Inder*<br />
erstattet.<br />
Inder sind Opfer – es hat sich<br />
nichts verändert. (+)<br />
Art der Berichterstattung<br />
Chronisten & Aufklärer<br />
Vorwiegend als<br />
Chronisten berichtet,<br />
selten eigene<br />
Einordnung der<br />
Informationen.
324 Britta Schellenberg<br />
Tabelle 2 (Fortsetzung)<br />
Datum Impuls/<br />
„Nachricht“<br />
31.08.2007 Mügelner Bürgermeister<br />
im Interview mit der Jungen<br />
Freiheit<br />
4.12.2007 Urteilsspruch Amtsgericht<br />
Oschatz<br />
Kernaussage (Neue) Interpretation Medien<br />
(Häugkeit)<br />
Der Fall war weder fremdenfeindlich<br />
noch rechtsextrem.<br />
Die wahren Täter sind Inder,<br />
Medien und die Bundespolitik<br />
(etc.).<br />
Kritik am Interview mit<br />
Rechtsradikalen<br />
(+++)<br />
Bürgermeister hat selbst Problem<br />
mit RE u. Ff. (+++)<br />
Es war ein besonders schlimmer<br />
Fall („Im Vorfeld eines<br />
Pogroms“),<br />
u. a. Volksverhetzung<br />
Bürgermeister ist nicht mehr<br />
tragbar (gegen Grundwerte<br />
verstoßen)<br />
(+)<br />
Es war ff, gewalttätig,<br />
gefährlich<br />
(+++)<br />
Kein problematischer Fall,<br />
scheinbar nicht fremdenfeindlich<br />
oder rechtsextrem (nur<br />
Focus Print, 10.12.07)<br />
Art der Berichterstattung<br />
Kritik wird häug<br />
über Zitate geübt,<br />
insb. von Bundespolitikern<br />
aller<br />
Parteien. Zudem:<br />
Vielfach eigene<br />
Stellung-nahmen<br />
von Journalisten.<br />
Sachliche Berichte<br />
über Urteilsspruch.<br />
Teilweise auch<br />
Kommentierung.<br />
Ignoriert Urteilsspruch
„Lügenpresse“?<br />
325<br />
Im Januar 2008 berichten viele Zeitungen, allerdings knapp, wieder über den<br />
„Fall Mügeln“ und zwar, weil Zeuginnen, die einen weiteren Täter belasteten,<br />
erfolglos versuchten, ihre Aussagen wegen Erinnerungslücken zurückzunehmen.<br />
Dass die folgenden Urteile mild auselen oder nach späteren Revisionen zurückgenommen<br />
bzw. abgemildert wurden, dass die Neonazi-Gewalt in Mügeln explodierte<br />
und die NPD in den kommenden Stadtrat einzog, ging im medialen<br />
Alltag unter. Keine Nachricht auch, dass viele, die sich damals in Mügeln gegen<br />
Rassismus und Neonazismus engagierten, inzwischen fortgezogen sind, weil sie<br />
selbst zu Opfern der Neonazis wurden. Nur einzelne investigativ arbeitende Journalisten<br />
besuchten noch einmal ein Jahr nach dem Übergriff das Mügelner Altstadtfest<br />
2008: hier stellten Neonazis ihre Dominanz deutlich zur Schau. Meine<br />
Veröffentlichungen haben allerdings 2014 zum Wiederaufgreifen des Vorfalls in<br />
den Medien geführt. 20<br />
3 Medienberichterstattung<br />
(und bundesdeutsche Normen) in der Kritik<br />
Die Thematisierung von <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rassismus/Fremdenfeindlichkeit<br />
durch die Medien hat deutliche Kritik bei denen, die den extrem rechten und<br />
rassistischen Hintergrund nicht akzeptieren wollten, ausgelöst. Sie unterstellen,<br />
dass „die Medien“ hysterisch auf das Thema „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ oder „Fremdenfeindlichkeit<br />
(in Ostdeutschland)“ reagierten und aufgrund eigener Vorurteile<br />
oder aufgrund von Böswilligkeit Fehlinformationen verbreiteten.<br />
3.1 Die Radikale Rechte<br />
Am klarsten richtet sich die Radikale Rechte gegen die Medienberichterstattung:<br />
die extrem rechte NPD meint etwa, „die Medien“ (wie auch die Politik) sei an<br />
verbrecherischen Geschäften beteiligt, deren Ziel es sei, das deutsche Volk zu zerstören.<br />
Aber auch die populistische, neue Rechte, etwa die Junge Freiheit, glaubt,<br />
in der Medienberichterstattung zeige sich ein zielgerichtetes und planmäßiges<br />
Handeln gegen die Interessen „der Deutschen“. Die Thematisierung von „Rechts-<br />
20 U. a. in Spiegel, FAZ und Tagesspiegel. Vgl. Spiegel, 25/2014 „Rassistische Hegemonie“<br />
von Steffen Winter. FAZ vom 17.06.2014: „Die Idylle sollte keine Kratzer bekommen“<br />
von Stefan Locke; Tagesspiegel vom 21.06.2014: „Motiv Rassismus – erkannt<br />
und gleich verdrängt“ von Andrea Dernbach.
326 Britta Schellenberg<br />
extremismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“ sei ein politisches Projekt der „Linken“,<br />
der „Deutschfeinde“ und „Ausländerlobby“, um alles „Rechte“ zu diskreditieren.<br />
Beide Strömungen der radikalen Rechten glauben, die „etablierten“ Medien<br />
würden von böswilligen Feinden Deutschlands systematisch und totalitär gesteuert.<br />
Sie verwenden Begriffe wie „ma öses Zusammenspiel“, „Machenschaften“,<br />
„Medienmaa“. Häu g nutzen sie Metaphern aus dem Bereich „Industrie“ und<br />
„System“, „Desinformationsfabrikanten“, „gleichgeschaltete Meinungsindustrie“,<br />
„deutschfeindliche Meinungsindustrie“, „anti-deutsche Meinungsindustrie“. So<br />
wird eine kommerzielle und für die massenhafte Reproduktion planende arbeitende<br />
Institution assoziiert, die als böse Macht die „Strippen“ zieht, um – und das<br />
ist die Diskussion in diesem speziellen Fall – die Mügelner, die Ostdeutschen und<br />
schließlich das deutsche Volk zu bekämpfen. Die auf die Medien bezogenen Metaphern<br />
„Lohnschreiber“ und „anti-deutsche Medienschreiber“ lassen Journalisten<br />
als Feinde Deutschlands und als seelenlose Rädchen in einem mächtigen und<br />
lukrativen Getriebe erscheinen. Mit den Bildern über „die Medien“ werden auch<br />
antisemitische Verschwörungstheorien aktualisiert.<br />
Charakteristische Zuschreibungen zeigen sich zudem in den Wortbildungen<br />
„Systempresse“ oder „Systempolitiker“. Auch diese pejorativen Bezeichnungen<br />
der parlamentarischen Demokratie (vgl. Müller, Sommer & Thiel, 2010, S. 195)<br />
unterstellen eine planend arbeitende Institution, die im Hintergrund bundesdeutsche<br />
Medien und Politik lenkt. Auch diese Metaphern transportieren verschwörungstheoretische<br />
Annahmen: durch eine „fremdbestimmte“, „anti-deutsche“<br />
Medienberichterstattung und Politik solle eine umfassende Bewusstseins- und Gesellschaftsveränderung<br />
in Deutschland erreicht werden. Ziel sei es, das Deutsche<br />
zum Bösen zu stilisieren und zu beschmutzen. Damit ist der Zirkelschluss vollzogen:<br />
Die Akteure, die <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit bzw. Rassismus<br />
thematisieren, sind anti-deutsche Verschwörer, weil sie den Deutschen Böses<br />
wollen und nicht anerkennen, dass Deutsche – so die Überzeugung der radikalen<br />
Rechten – stets gut und heldenhaft sind und jene, die nach ihrer Einschätzung nicht<br />
völkisch deutsch sind, gefährlich, kriminell, gewalttätig etc. So ist es charakteristisch<br />
für die rechtsradikale Argumentation, dass stets Gruppen von „Deutschen“<br />
und „Ausländern“ oder „Ausländer-Lobbyisten“ und „Deutschfeinden“ („Verräter“)<br />
etabliert werden. „Die Deutschen“ müssen von der radikalen Rechten vor den<br />
feindlichen Medien in Schutz genommen werden.<br />
Die radikalen Rechten richten sich prinzipiell gegen die Thematisierung von<br />
„<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Fremdenfeindlichkeit“. Die Emotionalität, die sich<br />
gegen Gespräche über <strong>Rechtsextremismus</strong>, Ausländerfeindlichkeit/Rassismus entfaltet<br />
und zur Fundamentalkritik gegen die etablierten Medien wird, zeigt sich<br />
u. a. in der Wochenzeitung Junge Freiheit . „Bewußt (sic) fehlinterpretierte Ge-
„Lügenpresse“?<br />
327<br />
walttaten“ wie „Mügeln, Sebnitz und Hohmann“ 21 würden zum Anlass genommen,<br />
um den politisch geförderten „Kampf gegen Rechts“ auszudehnen, schreibt<br />
die Wochenzeitung. In der Rubrik „Zitate“ veröffentlicht sie Ausschnitte aus der<br />
Presse (u. a. aus Die Welt und von Spiegel-Online ), die beweisen sollen, dass die<br />
Thematisierung „Mügeln(s)“ neue Möglichkeiten gegen „rechtschaffende Rechte“<br />
vorzugehen eröffnen soll (vgl. Schellenberg, 2014, S. 203ff.).<br />
Doch die Radikale Rechte entwirft noch einen Angriffspunkt: Die Medien<br />
würden die Kleinstadt Mügeln mit böswilliger Absicht und gegen die Fakten als<br />
„Hort des <strong>Rechtsextremismus</strong>“ darstellen, heißt es etwa im Artikel mit der aussagekräftigen<br />
Überschrift „Von der Schlägerei im Bierzelt zur ‚Hetzjagd’“. 22 Tatsächlich<br />
kreiert die Radikale Rechte einen Kausalzusammenhang zwischen der<br />
Einschätzung des Vorfalls als „rechtsextrem“ und einer angeblichen Kollektivschuld<br />
der Stadt Mügeln und aller ihrer Bürger. So unterliegt ihrer Argumentation<br />
stets die absurde Behauptung, „die Mügelner“ (später auch die Ostdeutschen) seien<br />
legitim als „rechtsextrem“ zu bezeichnen, wenn der Übergriff in Mügeln einen<br />
„rechtsextremen“ oder „fremdenfeindlichen“ Hintergrund hatte. Deswegen gilt<br />
der Umkehrschluss: Weil die Bürger Mügelns „anständig“ sind und nicht „rechtsextrem“,<br />
dürfe man nicht von einem rechtsextremen oder fremdenfeindlichen Tathintergrund<br />
sprechen. Gleichzeitig übernehmen die radikalen Rechten lautstark<br />
die Rolle der Beschützer gegenüber den Mügelner Bürgern. Sie sprechen „die<br />
Mügelner“ als Kollektiv an. Das Gleiche gilt für die Ostdeutschen – auf die die<br />
Gruppe der Mügelner ausgedehnt wird und die im Verlauf der Debatte immer stärker<br />
als die angeblich Diskriminierten von den Rechtsradikalen angesprochen werden.<br />
Und schließlich wird die Brücke zu den „nationalen Deutschen“, den „wahren<br />
Deutschen“, den radikalen Rechten selbst, die sich gegen böswillige Mächte,<br />
Ausländer, Politik und Medien (gemeinsam) zur Wehr setzen müssen, geschlagen.<br />
Dieser Dreischritt – „Mügelner“, „Ostdeutsche“, „nationale Deutsche“ – wird in<br />
der Debatte über den „Fall Mügeln“ von den radikalen Rechten vorgegeben – und<br />
von einigen anderen Akteuren zumindest teilweise mitgegangen. Er verspricht in<br />
der kon ikthaften Auseinandersetzung ein (vermeintlich) bequemes „Deutschsein“,<br />
das auf ostdeutsche Identitäten zurückgreift und sich kritikfrei jenseits von<br />
bundesrepublikanischen Normvorstellungen positioniert.<br />
21 Weiter werden in den Texten der Bombenanschlag in Düsseldorf und der Fall Ermays<br />
M. genannt. Beim Fall Hohmann handelt es sich nicht um eine „Gewalttat“, sondern<br />
um eine antisemitisch konnotierte Schuld-Debatte.<br />
22 Junge Freiheit, 36/07, vom 31. August 2007: „Von der Schlägerei im Bierzelt zur<br />
‚Hetzjagd’. Medien: Wie die Berichterstattung über den ‚Fall Mügeln’ die politische<br />
Diskussion beeinflusst / ‚Leichtfertige Vorverurteilung’“ von Michael Paulwitz.
328 Britta Schellenberg<br />
3.2 Der Bürgermeister und Stadtrat der Kleinstadt Mügeln<br />
Auch der Bürgermeister (Deuse, FDP) und der Stadtrat Mügelns wollen nicht über<br />
„<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „Fremdenfeindlichkeit“ reden. Dem Thema „Fremdenfeindlichkeit“<br />
wird ausgewichen, das Thema „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ ablehnend -<br />
xiert. Die lokale Politik thematisiert zunächst „allgemeine Gewalttätigkeit“ und<br />
beügelt später Debatten über die mögliche (Mit)Schuld der Opfer an den Ausschreitungen.<br />
Erst spät, nach einschlägigen Gerichtsurteilen wird die Einstufung<br />
„fremdenfeindlicher Tathintergrund“ akzeptiert.<br />
Bezüglich des <strong>Rechtsextremismus</strong> wird juristisch versiert (wenngleich tatsachenfern)<br />
begründet, warum es sich nicht um „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ handeln soll. Der<br />
Begriff „Fremdenfeindlichkeit“ wird nur aufgegriffen, um jenen, die ihn thematisieren,<br />
im Gegenzug vorzuwerfen, sie hegten Vorurteile gegen „die Mügelner“<br />
und „die Ostdeutschen“. Tatsächlich schlage nicht „Ausländern“ Fremdenfeindlichkeit<br />
entgegen, sondern der (so de nierten) Eigengruppe. Der Bürgermeister<br />
glaubt, „die Medien“, aber auch (Bundes-)Politiker, würden Mügeln kollektiv als<br />
fremdenfeindlich und rechtsextrem „vorverurteilen“. Das vielfach gebrauchte<br />
Wort „vorverurteilen“ unterstreicht die Annahme, Mügeln sei dann als Kollektiv<br />
zu verurteilen, wenn es sich um einen fremdenfeindlichen oder rechtsextremen<br />
Vorfall gehandelt habe. Das heißt im Umkehrschluss auch: wenn „die Inder“ den<br />
Streit entfacht hätten, würde Mügeln zu Unrecht als rechtsextremes Städtchen dargestellt.<br />
Tatsächlich wirbt der Bürgermeister bald für die Auffassung, „die Inder“<br />
seien mindestens mitschuld an den Ausschreitungen.<br />
Bürgermeister und Stadtrat verfügen über kein demokratisches Reaktionsrepertoire<br />
– heterogene Stimmen aus der Gemeinde (die es durchaus gab) werden<br />
nicht gesammelt, eine kontroverse Debatte wird nicht zugelassen – stattdessen versucht<br />
der Bürgermeister, alleine die Deutungsmacht über den Vorfall zu erlangen<br />
(kein <strong>Rechtsextremismus</strong>, keine Fremdenfeindlichkeit). Das gelingt ihm sogar in<br />
seiner Kleinstadt, überzeugt Journalisten, Bundespolitiker und die Fraktionen im<br />
Sächsischen Landtag jenseits der CDU allerdings nicht. Der Bürgermeister beklagt<br />
zunehmend, die mediale Berichterstattung sei unfair gegen seine Person und<br />
die Stadt Mügeln – obwohl er medial sehr präsent ist. Aber er möchte als alleiniger<br />
Deuter der „Wahrheit“ präsentiert werden und kann Heterogenität und Pluralismus<br />
nicht akzeptieren (vgl. Schellenberg, 2015). Auch die Uneinheitlichkeit und Vielfalt<br />
der Medien unterschätzt er, wenn er beispielsweise in der Presse bekundet,
„Lügenpresse“?<br />
329<br />
dass er die verletzten Inder im Krankenhaus besucht habe – und dabei beklagt,<br />
dass die Medien dies nicht berichten würden. 23<br />
Doch er bringt auch Kritik gegen die Berichterstattung in die Debatte ein, die<br />
stichhaltig ist und von verschiedenen Akteursgruppen (der Radikalen Rechten und<br />
vorerst auch der Sächsischen Staatsregierung) aufgegriffen wird. Er unterstreicht<br />
seine inzwischen erlangte Einschätzung, die Berichterstattung sei insgesamt verlogen,<br />
mit einem Beispiel: es werde von einer „Hetzjagd“ durch die Stadt gesprochen,<br />
obwohl die Strecke der Verfolgung nur etwa 30-50 Meter betrug. So sagt<br />
er: „Mir schwillt der Kamm, wenn ich lese, die Inder seien durch die ganze Stadt<br />
gehetzt worden. Dabei sind es von dem Festzelt bis zu der Pizzeria nur 30 Meter.“<br />
24<br />
Die Teilkritik wird in der Debatte von nun an immer wieder artikuliert und dient<br />
als Beleg für die mangelnde Glaubwürdigkeit der Medien ( pars pro toto). Der<br />
Bürgermeister zählt eine Reihe weiterer Gründe für die angebliche Fehldeutung<br />
der Medien auf, u. a. Stursinn und Arroganz der Journalisten. Doch der schwerwiegendste<br />
Grund ist ein Vorwurf und betrifft die eigenen Be ndlichkeiten: so wird<br />
behauptet, „die (überregionalen) Medien“ würden Vorurteile gegen den Osten hegen<br />
und nur daher <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit thematisieren.<br />
Die Position des Bürgermeisters verändert sich im Verlauf der Debatte deutlich:<br />
von einer vornehmlich regressiven, auch hilos-autoritären Reaktion („es gibt keine<br />
Rechtsextremisten in Mügeln“, „wir sind anständig“) bewegt er sich hin zu einer<br />
zunehmend rechtsradikalen Argumentation. Dies zeigt sich zum einen in der Ausweitung<br />
der scheinbaren Opfergruppe: nicht nur „die Mügelner“, sondern schnell<br />
„die Ostdeutschen“ insgesamt und später dann „die (wahren/nationalen) Deutschen“<br />
und „Deutschland“, werden zu Opfern der Berichterstattung erklärt. Auch<br />
verschwörungstheoretische Annahmen werden formuliert: so wird unterstellt, „die<br />
Medien“ beteiligten sich an einem verschwörerischen Anti-Rechts-Kampf, der tatsächliche<br />
Aufklärung verhindere. Besonders weit reichen die Äußerungen des<br />
Bürgermeisters im Gespräch mit der rechtsradikalen Jungen Freiheit: er beklagt<br />
eine „tiefe Kluft zwischen Medien und Volk“ und stimmt zu, dass es einen Mangel<br />
an Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland gibt. 25<br />
23 Er wird mit der entsprechenden Klage u. a. in der Welt vom 23.08.2007 zitiert: „Warum<br />
sich der Bürgermeister in Mügeln nach den Übergriffen auf Ausländer falsch verstanden<br />
fühlt. Hassbriefe aus aller Welt.“ Von Uta Keseling.<br />
24 Focus-Online vom 22.08.2007: „Bürgermeister: ‚So was machen Mügelner nicht’“.<br />
Von Iris Mayer.<br />
25 Junge Freiheit, 36/07, vom 31. August 2007: „‚Ein neues Sebnitz’. Nach der Gewalt<br />
in Mügeln steht der Ort am Pranger. Bürgermeister Gotthard Deuse kämpft für seine<br />
Stadt.“ Interview mit Mügelns Bürgermeister Deuse von Moritz Schwarz.
330 Britta Schellenberg<br />
Tabelle 3 Entwicklung der Problemanalyse der lokalen Politik<br />
Phase 1 Phase 2<br />
Problem Fall und Debatte Verursacher Ursache der Debatte / Argumentationsmuster<br />
/ ARGM<br />
(ARGM)<br />
Verursacher<br />
1. Falls es ein rechtsextremer<br />
Vorfall war, kommt<br />
der Rechts-extremismus<br />
von außerhalb Mügelns.<br />
2. Bürgermeister und Stadt<br />
Mügeln werden persönlich<br />
verletzt, weil der<br />
Vorfall als fremdenfeindlich<br />
und rechtsextrem<br />
debattiert wird.<br />
Bedrohung der Stadtgemeinde<br />
von außen.<br />
1. Rechtsextreme<br />
2. Medien<br />
Bedrohung<br />
durch Personen<br />
außerhalb<br />
von Mügeln.<br />
Der Fall wird als rechtsextrem und/oder fremdenfeindlich<br />
eingeordnet, ...<br />
1. ... wegen Unaufrichtigkeit: Für eine gut verkaufbare<br />
Schlagzeile wird eine Stadt „geopfert“.<br />
2. ... weil es Vorurteile gegen Ostdeutsche gibt.<br />
3. ... weil „nationalstolze“ Deutsche weniger Rechte<br />
haben.<br />
a) Deutsche Opfer zählen nicht so viel wie ausländische<br />
Opfer.<br />
b) Es gibt keine Meinungsfreiheit, sondern Tabus.<br />
U. a. darf nicht über Ursachen rechtsextreme Gewalt<br />
geredet werden.<br />
c) Es gibt eine Kluft zwischen Medien und deutschem<br />
Volk.<br />
1. Die Medien<br />
2. Politiker/Politik, vor<br />
allem Linke, aber auch<br />
weitgehend die gesamte<br />
Bundespolitik (weil sie<br />
unter Druck steht).<br />
3. Unbestimmte Kräfte/<br />
Verschwörer, welche eine<br />
Anti-<strong>Rechtsextremismus</strong>-<br />
Atmosphäre geschaffen<br />
haben.<br />
Bedrohung durch „Kapitalismus“ und „Unvölkische“. Bedrohung durch Personen,<br />
die nicht zur ethnisch-politischen<br />
Wir-Gruppe gehören<br />
oder ihre Interessen nicht<br />
vertreten.
„Lügenpresse“?<br />
331<br />
3.3 Die Sächsische Staatsregierung<br />
Während verschiedene sächsische Parteien die Themen „<strong>Rechtsextremismus</strong>“,<br />
„Neonazismus“, „Fremdenfeindlichkeit“ und „Rassismus“ nach dem Vorfall in der<br />
Kleinstadt intensiv diskutieren, bezieht die Sächsische Staatsregierung (CDU mit<br />
kleinem SPD-Partner 26 ) keine klare Stellung und vermeidet zunächst entsprechende<br />
Diskussionen. Zwar pocht der Innenminister (Buttolo/CDU) auf das staatliche<br />
Gewaltmonopol und kritisiert, es dürfe nicht hingenommen werden, dass eine<br />
Menge gegenüber einer kleineren Gruppe gewalttätig wird. Doch der Ministerpräsident<br />
(Milbradt/CDU), der Innenminister, der Justizminister und mit ihnen die<br />
gesamte sächsische CDU-Fraktion reden im Zusammenhang mit dem Fall weder<br />
von <strong>Rechtsextremismus</strong> noch von Fremdenfeindlichkeit, geschweige denn Rassismus.<br />
Nur SPD-Politiker und die sächsische Ausländerbeauftragte (de Haas/CDU)<br />
thematisieren kritisch, aber wenig hörbar, Fremdenfeindlichkeit.<br />
Stattdessen wird von den ein ussreichen politischen Vertretern schnell jenen,<br />
die <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit thematisieren, vorgeworfen, sie<br />
unterstellten den Ostdeutschen zu Unrecht, sie seien fremdenfeindlich, gewalttätig<br />
und rechtsextrem. Beklagt wird auch, der „Fall Mügeln“ werde durch die überregionale<br />
Presse (und die Bundespolitik) skandalisiert. Behauptet wird gar, dass<br />
die öffentliche Debatte über den Vorfall für Zulauf bei den Rechtsextremen sorge.<br />
Insbesondere die Medien werden zur Zielscheibe der Angriffe von Vertretern der<br />
Sächsischen Staatsregierung. Die überregionale Presse brauche Skandale; prototypisch<br />
dafür stehe der „Fall Sebnitz“, der sich als gut verkaufbare Geschichte<br />
erwiesen habe. Der immer wieder artikulierte Vorwurf lautet: die „überregionale<br />
Presse“ verbreite die Auffassung eines fremdenfeindlichen Ostens, in dem es<br />
an Zivilcourage mangele. Grund sei, dass die Journalisten ihre journalistische<br />
Sorgfaltspicht vernachlässigten und ihre Vorurteile bestätigen wollten. Fehlende<br />
Orts- und Situationskenntnisse führten zu Betroffenheitsbekundungen. So würde<br />
von einer „Hetzjagd durch die ganze Stadt“ gesprochen, obwohl es nur um eine<br />
kleine Strecke ginge (vgl. Schellenberg, 2014).<br />
Selbst auf die parlamentarischen Anfragen der NPD, die schnell den Fall für<br />
sich zu nutzen versteht, wird lange nicht kritisch reagiert. Einer großen Anfrage<br />
der extrem rechten Partei wird scheinbar mit möglichst wenig Arbeitsaufwand<br />
geantwortet – die kargen Antworten zeigen auch, dass die Staatsregierung zu diesem<br />
Zeitpunkt kein Interesse verspürt, Anschuldigungen der rechtsextremen Partei<br />
gegen Opfer, gegen Passanten-Zeugen, Politiker und Medien zu entkräften. So<br />
26 Die CDU hatte 55 Sitze im Landtag, die SPD 13 Sitze. Die SPD stellte nur zwei Ministerien<br />
(Arbeit und Soziales sowie Wissenschaft und Kunst).
332 Britta Schellenberg<br />
lässt sie auch den Vorwurf unwidersprochen, dass „die Medien“ Mügeln als eine<br />
„durchgängig ausländerfeindlich(e)“ Stadt diffamierten. Sie gibt der NPD scheinbar<br />
sogar recht, wenn diese im „Fall Mügeln“ die Diskriminierung von Deutschen<br />
beklagt. Formuliert wird: „Die Sächsische Staatsregierung lehnt jede Vorverurteilung<br />
sowohl gegenüber Deutschen als auch gegenüber Ausländern ab“ (Sächsisches<br />
Staatministerium des Innern, 2007, Antwort auf Frage 137). Insgesamt präsentiert<br />
sich die Staatsregierung immer wieder als Verteidigerin unbescholtener<br />
Bürger gegenüber angeblich vorurteilsbeladenen Angriffen „der Medien“.<br />
Tabelle 4 Problemanalyse der Sächsischen Staatsregierung (Phase 1)<br />
Problem / Argumentationsmuster<br />
Es handelte sich um allgemeine Gewalttätigkeit.<br />
Sie ist prinzipiell zu verurteilen (normative Aussage).<br />
Die Debatte ist ein Problem.<br />
1. Die Debatte ist hysterisch und falsch, weil<br />
a) ein fremdenfeindlicher und rechtsextremer Hintergrund nicht erwiesen<br />
ist.<br />
b) es tatsächlich eine „Hetzjagd auf Mügeln und die Mügelner“ gibt.<br />
Verursacher<br />
Unklar.<br />
Medien<br />
Bundespolitiker<br />
Westdeutsche<br />
2. Die Debatte ist vorurteilsbeladen gegen Ostdeutsche, weil<br />
a) Ostdeutschen ohne ausreichende Beweise „Ausländerfeindlichkeit“<br />
und <strong>Rechtsextremismus</strong> unterstellt wird.<br />
b) Westdeutsche sich fremdenfeindlich gegenüber Ostdeutschen<br />
äußern.<br />
Eine Verschiebung in der Argumentation der Staatsregierung (CDU) ndet erst<br />
statt, als die öffentliche Debatte anhält, als u. a. auch die indische Botschaft und<br />
die Bundesregierung kritische Nachfragen stellen und die NPD schließlich eine<br />
parlamentarische Auseinandersetzung (Landtagsdebatte) erzwingt. Die CDU/<br />
Staatsregierung redet nun über den Nationalsozialismus, der in der Gegenwart<br />
dazu führe, dass es immer wieder Verdachtsmomente gebe. Die Verantwortung<br />
für die als problematisch wahrgenommene Debatte über den „Fall Mügeln“ wird<br />
der NPD zugeschoben. Fremdenfeindlichkeit wird lediglich von der Ausländerbeauftragten<br />
angesprochen. Die NPD stattdessen wird als Gefahr ausgemacht: sie<br />
wird als Erbin des Nationalsozialismus, prinzipielle Initiatorin von Gewalt und<br />
als verfassungsfeindlich dargestellt. Ansonsten werden weiterhin Bendlichkeiten<br />
angesprochen, die sich auf die Debatte über den Vorfall und das Thema „Rechtsex-
„Lügenpresse“?<br />
333<br />
tremismus im Osten“ beziehen. Immer noch wird unterstellt, es würden vor allem<br />
Vorurteile zu einer heftigen Debatte geführt haben, allerdings werden jetzt selbst<br />
diese auch mit der NPD verknüpft: „re exhafte Pauschalverdächtigung“ gegen<br />
Deutsche und „unfaire Kampagnen gegen ganze Bundesländer“ existieren, weil<br />
„die Vorbilder der NPD die größten Verbrechen begingen“ (Sächsischer Landtag,<br />
2007, S. 7841).<br />
Die Staatsregierung betreibt vor allem politische Schadensbegrenzung: insgesamt<br />
ist die Positionierung der CDU nun geleitet von einer deutlichen Abgrenzung<br />
gegenüber der NPD, und gleichzeitig gegenüber Linksextremisten, dem Tribut an<br />
die lokale Bevölkerung (durch die Betonung deren Opferwerdens), anhaltender<br />
Medienkritik, wenngleich nun leicht verändert nur noch gegen „Teile der Medien“<br />
– und eines explizites Pochen auf den demokratischen Rechtsstaat (Lynchjustiz<br />
27 werde nicht akzeptiert). Mit dieser Debatte entsteht die merkwürdige Situation,<br />
dass die CDU, statt <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rassismus zu thematisieren,<br />
über Linksextremismus redet, die (bzw. Teile der) Medien kritisiert und die NPD<br />
attackiert.<br />
27 Die Verwendung des Begriffs „Lynchjustiz“ legt ein Fehlverhalten auch der Opfer<br />
nahe.
334 Britta Schellenberg<br />
Tabelle 5 Problemanalyse der Sächsischen Staatsregierung (Phase 2)<br />
Problem / Argumentationsmuster<br />
Der Fall ist<br />
problematisch<br />
... weil<br />
die NPD ihn zu verantworten<br />
hat.<br />
Gefahr „Extremismus“<br />
für die Demokratie / ARGM<br />
1. Die Schlägertrupps der NPD<br />
sind für Gewaltorgien wie in<br />
Mügeln verantwortlich.<br />
Verursacher<br />
NPD<br />
Die Debatte<br />
ist problematisch<br />
(Nur Ausländerbeauftragte:<br />
... weil in der Bevölkerung<br />
Fremdenfeindlichkeit<br />
u. Mangel<br />
an Zivilcourage<br />
herrscht.)<br />
... weil die NPD sie<br />
nutzt.<br />
2. Die NPD ist verfassungsfeindlich.<br />
1. Die NPD behauptet, dass<br />
die Inder, weil sie an dem<br />
Ausgang des Übergriffs<br />
(mit-)schuld waren, gelyncht<br />
werden dürfen.<br />
2. Die NPD argumentiert verfassungsfeindlich.<br />
... weil Linksextremisten<br />
die Bevölkerung<br />
verunsichern und<br />
verängstigen.<br />
... weil sie hysterisch<br />
und vorurteilsbeladen<br />
geführt wird.<br />
1. Die Linksextremisten<br />
bekämpfen nicht <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />
sondern die<br />
sächsische Bevölkerung.<br />
2. Sie stellen eine Bedrohung<br />
dar, weil sie Eigentum verwüsten.<br />
3. Sie sind verfassungsfeindlich.<br />
Die Medien führen falsche<br />
Debatten, verurteilen pauschal<br />
und gefährden deshalb die<br />
Demokratie.*<br />
Linksextremisten<br />
(Teile der)<br />
Medien<br />
* Sind sie also auch „extremistisch“?
„Lügenpresse“?<br />
335<br />
4 Fazit<br />
Problematische Muster der Berichterstattung waren: Pauschalisierende und stark<br />
vereinfachende Titel, Überschriften und Stichworte wie „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und<br />
„Mügeln“, die den Medien den Vorwurf einbrachten, sie würden unberechtigte<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>-Debatten führen und eine Stadt kriminalisieren. Tatsächlich<br />
sind die Inhalte der Berichte differenzierter.<br />
Die Ost-West-Bendlichkeiten überlagerten die Berichterstattung: Viele Journalisten<br />
verorteten die Probleme vor allem in Ostdeutschland. Dies behinderte<br />
zum einen eine re ektierte Auseinandersetzung (der westdeutschen und der ostdeutschen<br />
Rezipienten, der Journalisten). Zum anderen konnten die Kritiker der<br />
Medien den Vorwurf, Ostdeutsche würden diskriminiert für die eigene Argumentation<br />
und ihre ideologischen Ziele nutzen.<br />
Besonders problematisch ist, dass Nachrichten von Ermittlungsbehörden und<br />
anderen Journalisten häug wiedergeben wurden, ohne dass ihre Richtigkeit oder<br />
Aussagekraft kritisch geprüft, re ektiert und eingeordnet wurde. Zudem wurde<br />
nicht kontinuierlich und nachhaltig berichtet. Das hatte zur Folge, dass ein fehlerhaftes<br />
Bild der Entwicklung des Rassismus und Neonazismus entstand. Wenig<br />
hilfreich war zudem, dass zunächst die Täter häu g dämonisiert wurden und solange<br />
„Neonazis“ als Täter diskutiert wurden, keine inhaltliche Auseinandersetzung<br />
(Ursachensuche oder Lösungsstrategien) stattfand. Nachdenklich muss auch<br />
stimmen, dass sich das Thema vor allem aufgrund anhaltender (emotionaler) Kon-<br />
ikthaftigkeit (und der hierüber ausgetragenen Ost-West-Be ndlichkeiten) – jenseits<br />
eines sachlichen Aufklärungsziels – in den Medien hielt.<br />
Nichtsdestotrotz muss festgehalten werden, dass die mediale Berichterstattung<br />
durchaus positive Effekte hatte. Ihr kam, weil sie Informationen öffentlich machte,<br />
die sonst nicht bekannt geworden wären, eine herausragende Rolle für die Wahrnehmung<br />
der Probleme zu. Indem Medien ein Sprachrohr auch der Zeugen waren<br />
und externe Akteure integrierten (u. a. indische Botschaft, Wirtschaftsvertreter),<br />
haben sie den politischen Druck auf die Zuständigen erhöht und jenen, die den Fall<br />
zielführend bearbeiten wollten (etwa Amtsrichter, Opferanwälte, Opferberatung,<br />
Mobile Beratung, auch einzelne Bürger), Rückhalt verschafft. Ohne diese Akteure<br />
wäre der „Fall Mügeln“ vermutlich tatsächlich ein „zweites Sebnitz“ geworden –<br />
d. h., man hätte weder einen extrem rechten noch rassistischen Tathintergrund belegen<br />
können.<br />
Die Kritiker der medialen Berichterstattung zeichneten sich dadurch aus, dass<br />
sie prinzipiell die Thematisierung von „<strong>Rechtsextremismus</strong>“ und „fremdenfeindlicher/<br />
rassistischer Gewalt“ ablehnten. Die radikalen Rechten, aber auch lokale<br />
Politik und m.E. die Sächsische Staatsregierung (CDU) behaupteten, dass sich
336 Britta Schellenberg<br />
die Berichterstattung nicht an „objektiven Gegebenheiten“ orientiere, sondern<br />
„falsch“, „hysterisch“, „vorurteilsgeleitet“ oder gar „böswillig“ sei. Durch den Verweis<br />
auf einzelne problematische Muster stellten diese Kritiker die Glaubwürdigkeit<br />
der Medienberichterstattung insgesamt in Frage.<br />
Tatsächlich hat die Kritik an der öffentlichen Debatte über den „Fall Mügeln“<br />
darüber hinaus auch gesellschaftliche Fehlentwicklungen begünstigt: Die Entwicklungen<br />
der Debatte (u. a. Veränderung der Position des Bürgermeisters hin<br />
zu radikal rechten Argumentationsmustern) und vor Ort (Explosion der neonazistischen<br />
Gewalt, Einzug der NPD in den Stadtrat) zeigen, dass die Fehlinformationen<br />
durch staatliche Zuständige sowie die negativen Zuschreibungen gegen<br />
„die Medien“ und die (Bundes-)Politik zu einer schleichenden Entfremdung von<br />
bundesdeutschen Normvorstellungen führten. Die pauschale Medienkritik gepaart<br />
mit Abwehrreaktionen und Zuschreibungen (insbesondere Ost-West-Be ndlichkeiten)<br />
hat eine Brücke zu rechtsradikalen Verschwörungstheorien und Gedankenwelten<br />
geschlagen. Diese ideologischen Entwicklungen dürfen in ihrer Dynamik<br />
nicht unterschätzt werden – sie haben heute ihren Anteil an den demokratischen<br />
Adaptionsproblemen der Pegida-Anhänger in der sächsischen Großstadt Dresden,<br />
unweit von Mügeln, inklusive ihrer „Lügenpresse“-Rufe.<br />
Wissenschaftler haben sich der Berichterstattung über „<strong>Rechtsextremismus</strong>“<br />
und „fremdenfeindliche Gewalt“ in der Vergangenheit vor allem kritisch genähert,<br />
ohne die Stärken der medialen Berichterstattung herauszuarbeiten. Kritisiert<br />
wurde etwa, dass die Berichterstattung Nachahmungseffekte auslösen würde, dass<br />
sie recht zufällig wäre und realitätsfremd sei – begründet wurde dies mit dem<br />
Verweis auf die amtliche Kriminalstatistik, die unkritisch zur Grundlage einer<br />
wirklichkeitsnahen Einschätzung erklärt wurde (vgl. Brosius & Esser 1995; Esser,<br />
Scheufele & Brosius, 2002; Kleinen-v. Königslöw et al., 2002). 28 Meine Fallstudie<br />
zum Umgang mit rassistischer und extrem rechter Gewalt – aber auch die Erfahrungswerte<br />
der Opferberatungsstellen und Opferanwälte, ebenso wie die bereits<br />
heute vorliegenden Erkenntnisse zum „NSU“-Komplex – stellen diese Sichtweise<br />
in Frage, ebenso die Aussagekraft isolierter Medienkritik. Erst ein breiterer Blick<br />
auf Akteure, ihre Interessen, Impulse und Interaktionen kann Aufschluss über die<br />
Stärken und Schwächen der medialen Berichterstattung geben. Meine Analyse<br />
macht Vertuschungsbemühungen, problematische Bearbeitungsmuster und falsche<br />
Weichenstellungen durch staatliche Akteure sichtbar und verdeutlicht ihren prob-<br />
28 Natürlich ist es u. a. ein Verdienst, dass Frames der Thematisierung herausgearbeitet<br />
und nachwiesen wurde, dass „Schlüsselereignisse“ eine überdurchschnittlich intensive<br />
und längerfristige Thematisierung „fremdenfeindlicher Gewalt (in Ostdeutschland)“<br />
provozieren.
„Lügenpresse“?<br />
337<br />
lematischen Einuss auf die mediale Berichterstattung. Diese wurde insbesondere<br />
durch faktenfremde Impulse der Ermittlungsbehörden, der lokalen und regionalen<br />
Politik, aber auch ihre unzureichende Reexion und Überprüfung durch Journalisten,<br />
problematisch (bspw. Nachricht: „Inder sind Täter“).<br />
Das Analyseergebnis legt damit nahe, dass sich Journalisten nicht mehr, sondern<br />
weniger an der amtlichen Kriminalstatistik und den Aussagen der Ermittlungsbehörden<br />
orientieren sollten – sie sollten stattdessen idealerweise stärker<br />
investigativ arbeiten, Zeit für Recherche und Re exion haben und fachliches,<br />
etwa juristisches, Hintergrundwissen anwenden. Die <strong>Rechtsextremismus</strong>- und<br />
Rassismus-Forschung hat sich bislang kaum mit der problematischen staatlichen<br />
Bearbeitungspraxis (insbesondere: Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden, Innenministerien,<br />
Landespolitik) beschäftigt. Sie hat bisher auch – trotz berechtigter<br />
Kritik – zu wenig die Verdienste der Medien und insbesondere investigativ arbeitender<br />
Journalisten dabei untersucht und berücksichtigt.
338 Britta Schellenberg<br />
Literatur<br />
Brosius, H.-B. & Esser,F. (1995). Eskalation durch Berichterstattung. Massenmedien und<br />
Fremdenfeindliche Gewalt. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />
Esser, F., Scheufele, B. & Brosius, H.-B. (Hrsg.). (2002). Fremdenfeindlichkeit als Medienthema<br />
und Medienwirkung. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.<br />
Kleinen-v. Königslöw, K, Scheufele, B. & Esser, F. (2002). Eskalationsprozesse 2000. Gewalt-<br />
und Berichterstattungswellen als Resonanzeffekte von ‚Düsseldorf’ und ‚Sebnitz’.<br />
In Esser, F., Scheufele, B. & Brosius, H.-B. (Hrsg.), Fremdenfeindlichkeit als Medienthema<br />
und Medienwirkung. Deutschland im Internationalen Scheinwerferlicht (S. 95-142).<br />
Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.<br />
Lakoff, G. (1987). Women, Fire, and Dangerous Things: What Categories Reveal About the<br />
Mind. Chicago: University of Chicago Press.<br />
Luhmann, N. (1996). Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.<br />
Müller, F., Sommer, M. & Thiel, F. (2010). Funktionen der Sprache in rechtsextremen Medien<br />
– Eine Zusammenfassung. In Schuppener, G. (Hrsg.), Sprache des <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />
Spezi ka der Sprache, rechtsextremistischer Publikationen und rechter Musik<br />
(S. 193-198). Leipzig: Hamouda.<br />
Öffentliche Mitteilung vom 21.08.2007, polizeilicher Staatsschutz.<br />
Pressemittelung vom 22. 08.2007, Staatsanwaltschaft Leipzig.<br />
Sächsischer Landtag, Dezember 12, 2007: Drucksache 4/9692. 94. Sitzung, Tagesordnungspunkt<br />
9 „Schlägerei beim Mügelner Altstadtfest am 18./19. August 2007“,S. 7829-7843.<br />
Sächsisches Staatsministerium des Innern, Albrecht Buttolo, im Namen und im Auftrag der<br />
Sächsischen Staatsregierung, November 6, 2007: Drucksache: 4/9692. Antwort auf die<br />
Große Anfrage der NPD.<br />
Staatsanwaltschaft Leipzig, Ermittlungsakten, 8 Bände Akten zu Az.: 608 Js 43641/07.<br />
Schellenberg, B. (2015). Autoritarismus, Rassismus, <strong>Rechtsextremismus</strong>. Ein Fallbeispiel.<br />
In O. Decker, J. Kiess & E. Brähler (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> der Mitte und sekundärer<br />
Autoritarismus (S. 153-170). Gießen: Psychosozial-Verlag.<br />
Schellenberg, B. (2014a). Die <strong>Rechtsextremismus</strong>-Debatte. Charakteristika, Kon ikte und<br />
ihre Folgen, <strong>Edition</strong> <strong>Rechtsextremismus</strong>. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.<br />
Schellenberg, B. (2014b). Mügeln. Die Entwicklung rassistischer Hegemonien und die Ausbreitung<br />
der Neonazis. Hrsg. von: Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen. Reihe Demokratie.<br />
Dresden. https://www.boell.de/sites/default/les/muegeln_download.pdf (10.01.2015).<br />
Medien (fettgedruckte vollständig erfasst)<br />
Berliner Kurier, Berliner Zeitung, Deutschlandradio Kultur, dpa (Deutsche Presse Argentur),<br />
epd (Evangelischer Pressedienst), Focus und focus-online, Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung (FAZ) und faz-online, Frankfurter Rundschau (FR), Lausitzer Rundschau,<br />
Mannheimer Morgen, Märkische Oderzeitung, Mitteldeutsche Zeitung (MZ), Münchener<br />
Abendzeitung, Nordkurier, netz-gegen-nazis, Npd-blog.info, n-tv, Ostsee-Zeitung, Reuters,<br />
Rheinische Post, Rhein-Neckar Zeitung, Sächsische Zeitung (SäZ), Spiegel und spiegelonline,<br />
Stern und stern-online, Süddeutsche Zeitung (SZ) und sueddeutsche-online, Der<br />
Tagesspiegel (Tsp.) und tagesspiegel-online, tagesschau, Tageszeitung (TAZ), Die Welt<br />
und welt-online, Westfalen-Blatt, Die Zeit und zeit-online
„Lügenpresse“?<br />
339<br />
Rechtsradikale Medien (fettgedruckte vollständig erfasst)<br />
Altermedia, Junge Freiheit (JF), Politically Incorrect (pi), Sachsen Stimme
Todesopfer rechtsextremer<br />
und rassistischer Gewalt in Brandenburg<br />
(1990-2008)<br />
Zur Problematik der statistischen Erfassung politisch<br />
motivierter Kriminalität<br />
Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />
1 Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt –<br />
offizielle und andere Zahlen<br />
64 Menschen wurden in Deutschland seit 1990 aus rechtsextremen bzw. rassistischen<br />
Motiven getötet – das sind die ofziellen Zahlen der Bundesregierung. 1 Die<br />
Statistik beruht auf Angaben der Polizeibehörden bzw. der Innenministerien der<br />
Bundesländer und sie wird seit vielen Jahren heftig kritisiert. Es gibt weitere Listen,<br />
die weitaus mehr Todesfälle verzeichnen: Nach Recherchen der Journalisten<br />
Heike Kleffner und Frank Jansen (Tagesspiegel und ZEIT) liegt die Zahl bei 152.<br />
In der Liste der Amadeu Antonio Stiftung sind sogar 184 Todesopfer aufgeführt. 2<br />
In Brandenburg werden insgesamt 9 Tötungsdelikte statistisch dem Bereich<br />
„Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ (PMK-rechts) zugeordnet. Die Landesregierung<br />
teilte dazu 2012 in einer Antwort auf eine Anfrage der Fraktion DIE<br />
LINKE mit: „Alle anderen Fälle konnten nicht berücksichtigt werden, weil durch<br />
das Gericht festgestellt worden ist, dass kein politisches Motiv vorlag, und bis zum<br />
1 Zuletzt z. B. mittgeteilt am 5. November 2014 bei der Fragestunde der Bundesregierung<br />
auf die Frage 17 der MdB Martina Renner (DIE LINKE).<br />
2 Vgl. die Auflistungen im Internet: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/todesopfer-rechter-gewalt<br />
(abgerufen am 12.01.15); https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewaltseit-1990<br />
(abgerufen am 12.01.2015).<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_13, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
342 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />
gegenwärtigen Zeitpunkt auch nicht bekannt geworden ist.“ 3 In der „Jansen-Liste“<br />
sind hingegen insgesamt 26 brandenburgische Fälle verzeichnet. Die Amadeu<br />
Antonio Stiftung und der Verein Opferperspektive e.V. kommen zu noch höheren<br />
Zahlen. Berücksichtigt man alle – im Detail variierenden – Listen (inklusive der<br />
in der PMK-Statistik erfassten Taten), so gibt es in Brandenburg insgesamt 33<br />
Todesfälle.<br />
Über die Frage des wirklichen Ausmaßes rechter Gewalt und speziell über die<br />
Zahl der Todesopfer wird seit Jahren intensiv debattiert. Insbesondere der Verein<br />
Opferperspektive und das landesweite Aktionsbündnis gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt haben das Thema immer wieder auf die politische<br />
Tagesordnung gesetzt.<br />
Ende 2012 wurde von der brandenburgischen Landesregierung entschieden,<br />
sämtliche umstrittenen Fälle aus den Listen des Tagesspiegels, der Opferperspektive<br />
und der Amadeu Antonio Stiftung zu überprüfen. Neben einer internen Prüfung<br />
durch die Polizei sollte es eine externe, unabhängige Untersuchung im Rahmen<br />
eines Forschungsprojekts geben. Damit wurde das Moses Mendelssohn Zentrum<br />
der Universität Potsdam beauftragt. Mit der externen Vergabe einer solchen retrospektiven<br />
Überprüfung hat sich Brandenburg für einen anderen Weg entschieden,<br />
als das Land Sachsen-Anhalt, das eine interne Nachprüfung von insgesamt neun<br />
bislang statistisch nicht als politisch motiviert geführten Todesfällen aus der „Jansen-Liste“<br />
durch das Innen- und Justizministerium vornehmen ließ. Grundlage<br />
dieser Prüfung in Sachsen-Anhalt waren insbesondere die polizeilichen Ermittlungsakten<br />
sowie die Gerichtsurteile. Dem im Januar 2013 veröffentlichten Prüfbericht<br />
ist zu entnehmen, dass drei der neun Fälle nunmehr als politisch rechts<br />
motiviert eingestuft werden. 4 Festzuhalten ist allerdings: Im Gegensatz zu Brandenburg<br />
handelte es sich hier um eine behördeninterne Prüfung.<br />
3 Landtag Brandenburg, Drucksache 5/4956, S. 3.<br />
4 Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt & Ministerium für Justiz<br />
und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt (Hrsg.). (2013). Rechts motiviert?<br />
Bericht zur Untersuchung ausgewählter Tötungsdelikte der Jahre 1993 bis 2008 in<br />
Sachsen-Anhalt, Magdeburg.
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />
343<br />
2 Das Forschungsprojekt<br />
Das Projekt wird seit Mai 2013 im Auftrag des Ministeriums des Innern des Landes<br />
Brandenburg am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien<br />
e.V. (Universität Potsdam) durchgeführt. 5 Grundlage der Untersuchung ist die<br />
Auswertung von Prozess- und Ermittlungsunterlagen sowie begleitende Recherchen<br />
und Interviews. Begleitet wird das Forschungsprojekt von einem Expertenarbeitskreis,<br />
in dem die einzelnen Fälle bzw. Fallanalysen regelmäßig diskutiert<br />
werden. Neben den Projektmitarbeitern nehmen an diesem Arbeitskreis Vertreterinnen<br />
und Vertreter aller bei diesem Thema relevanten zivilgesellschaftlichen<br />
Akteure und staatlichen Institutionen teil 6 . Dieser Arbeitskreis hat eine beratende<br />
Funktion. Entscheidungen über Methodik und Ergebnisse des Forschungsprojekts<br />
werden von den Mitarbeitern des Moses Mendelssohn Zentrums verantwortet.<br />
Mit dem Forschungsprojekt werden insbesondere folgende Ziele verfolgt:<br />
• Sichtung, Dokumentation und Bewertung der 33 Fälle (insbesondere der 24<br />
Fälle, die noch nicht in der ofziellen Statistik erfasst sind);<br />
• Erklärung der unterschiedlichen Einschätzungen;<br />
• Empfehlungen zur polizeilichen und justiziellen Praxis, insbesondere zu den<br />
PMK-Kriterien.<br />
Im Weiteren soll zunächst die Entwicklung der statistischen Erfassung politisch<br />
motivierter Kriminalität von 1959 bis heute in ihren Grundzügen dargestellt werden.<br />
Obwohl die polizeilichen Erfassungssysteme seit Anfang der 1990er Jahre<br />
weiterentwickelt wurden und die seit 2001 zugrunde liegende Denition sehr umfassend<br />
ist, bleibt die Erfassung rechtsmotivierter Gewalt doch mit erheblichen<br />
Problemen verbunden. Dies soll dann anhand einiger Fallbeispiele aus unserem<br />
Forschungsprojekt verdeutlicht werden.<br />
5 Das Team besteht aus Dr. Christoph Kopke (Leitung), Gebhard Schultz (Dipl.-Pol.),<br />
Dorina Feldmann (stud. Mit.). Beratend wirkt Priv. Doz. Dr. Gideon Botsch mit. (www.<br />
mmz-potsdam.de)<br />
6 Ministerium des Innern und für Kommunales, Landeskriminalamt; Fachhochschule<br />
der Polizei; Generalstaatsanwaltschaft; Integrationsbeauftragte des Landes; Demos –<br />
Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung; Opferperspektive e.V.; Aktionsbündnis<br />
gegen Gewalt, <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit; Amadeu<br />
Antonio Stiftung.
344 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />
3 Definitionen und Zählweisen<br />
3.1 Politische Kriminalität / politisch motivierte Kriminalität<br />
Eine allgemeingültige politikwissenschaftliche oder kriminologische De nition<br />
politischer Kriminalität existiert nicht. Je nach Staatsform und der Intention des<br />
jeweiligen Rechtssystems variiert das Verständnis von politischer Kriminalität.<br />
Werner Maihofer (1974) umschrieb politische Kriminalität „als Kehrseite und Negativbild<br />
jedes politischen Systems“ (S. 328).<br />
Unter politischer Kriminalität versteht man in unserem Zusammenhang zunächst<br />
all die Straftatbestände, die das Ziel haben, den demokratischen Rechtsstaat zu gefährden<br />
(§§ 84-91a StGB). Als „Staatsschutzdelikte“ gelten Delikte, die sich erkennbar<br />
gegen den Verfassungsstaat bzw. die staatliche Ordnung richten. Als klassische<br />
oder echte Staatschutzdelikte gelten dabei die folgenden Straftatbestände lt. Strafgesetzbuch<br />
(StGB): §§ 80-83 (Friedensverrat und Hochverrat), §§ 84-91 (Gefährdung<br />
des demokratischen Rechtsstaates), §§ 94-100a (Landesverrat und Gefährdung der<br />
äußeren Sicherheit), §§ 102-104a (Straftaten gegen ausländische Staaten), §§ 105–<br />
108e (Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen),<br />
§§ 109–109h (Straftaten gegen die Landesverteidigung), §§ 129a (Bildung terroristischer<br />
Vereinigungen), §§ 129b (Kriminelle und terroristische Vereinigung im Ausland),<br />
§§ 234a (Verschleppung), §§ 241a (Politische Verdächtigung).<br />
Straftaten der Allgemeinkriminalität (z. B. Brandstiftungen, Körperverletzungsund<br />
Tötungsdelikte, Sachbeschädigungen und Widerstandshandlungen) werden zur<br />
politisch motivierten Kriminalität gerechnet, wenn die Würdigung der inneren und<br />
äußeren Tatumstände auf ein politisches Motiv hindeutet (vgl. BMI, o.J.).<br />
Als politisch motivierte Kriminalität gelten Straftaten, „die von den Beteiligten<br />
politisch gemeint oder von den Kontrollorganen als politisch de niert werden.“<br />
(Willems, 2002, S. 141; identisch u. a. BMI & BMJ, 2001, S. 264)<br />
3.2 Polizeiliche Erfassungssysteme<br />
Die statistische Erhebung von „politisch motivierten Straftaten“ bzw. die entsprechende<br />
Zuordnung von Straftaten hat Folgen. Kurz gesagt: Die Zählweise bestimmt<br />
die Sichtweise. Die Erfassung politisch motivierter Kriminalität in Form<br />
einer Statistik gilt ofziell als „die Grundlage für die Sensibilisierung der Öffentlichkeit<br />
für Gefährdungslagen in bestimmten Deliktbereichen“ 7 .<br />
7 Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom<br />
27.09.2015, Bundestagsdrucksache 17/7161.
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />
345<br />
3.2.1 Erfassung vor 2001<br />
Seit 1959 werden sog. „echte Staatsschutzdelikte“ gesondert in der allgemeinen<br />
„Polizeilichen Kriminalstatistik“ (PKS) als „Polizeiliche Kriminalstatistik –<br />
Staatsschutz“ (PKS-S) aufgeführt. Die PKS-S ist eine Ausgangsstatistik, d. h.,<br />
dass die Straftaten erst in die Statistik ein ießen, wenn die Ermittlungen zu dem<br />
Fall abgeschlossen sind und an die Staatsanwaltschaft oder das Gericht übergeben<br />
werden. Ab Januar 1961 werden Staatsschutzdelikte außerdem zusätzlich durch<br />
den „Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Sachen Staatsschutz“ (KPMD-S)<br />
statistisch erfasst. Der KPMD-S ist seit 1966 eine Eingangsstatistik und umfasst<br />
Delikte, die aus einer extremistischen Motivation heraus das Ziel der Systemüberwindung<br />
haben. Bei der Eingangsstatistik werden Fälle tatzeitnah mit der Aufnahme<br />
der Ermittlungen und somit schon beim ersten Anfangsverdacht der KPMD-S<br />
gemeldet. Während die PKS-S nur die Kriminalitätsentwicklung für ein Kalenderjahr<br />
abbildete, ermöglicht die KPMD-S eine bessere und zeitnahe Information<br />
über aktuelle polizeiliche Lagebilder und somit mehr Möglichkeiten zur Prävention<br />
und Gefahrenabwehr. 8<br />
Ein wesentliches Bestimmungskriterium der PKS-S war die Zuordnung der<br />
Straftat zu einer Organisation. Bei der Darstellung der PKS-S ergaben sich daraus<br />
frühzeitig zwei Probleme, die dazu führten, dass 50% – 70% aller Staatschutzdelikte<br />
weder als links- noch als rechtsextremistisch klassiziert werden konnten.<br />
Entweder waren die Motivlagen nicht eindeutig bzw. fehlten vollkommen oder die<br />
Zugehörigkeit zu einer Organisation konnte nicht nachgewiesen werden (vgl. BMI<br />
& BMJ, 2001, S. 266).<br />
Im Kontext des Anstieges rechtsextremer Gewalt nach der Wiedervereinigung<br />
wurde Anfang 1992 der Sondermeldedienst für fremdenfeindliche, 1993 für antisemitische<br />
Straftaten eingeführt. 9 Mit diesen Anpassungen wurde auf gesellschaftliche<br />
Entwicklungen und Debatten reagiert, die man nicht mehr ignorieren konnte.<br />
Dies war auch eine Reaktion auf die Vorwürfe, die Behörden verschleierten – be-<br />
8 Auf der anderen Seite weist eine Eingangsstatistik eine höhere Unsicherheit auf, denn<br />
der Sachverhalt kann sich im Zuge weiterer Ermittlungen anders darstellen. Um damit<br />
verbundene Unsicherheiten gering zu halten, sind nachträgliche Korrekturmöglichkeiten<br />
vorhanden (Vgl. BT-Drs. 17/7161).<br />
9 Antisemitische Straftaten wurden gesondert aufgeführt, da manche antisemitische<br />
Straftaten nicht zwingend dem <strong>Rechtsextremismus</strong> zugeordnet werden können. Die<br />
KPMD-S erlaubt keine Mehrfachnennungen. Wenn in einem Fall beispielsweise nicht<br />
zwischen Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus unterschieden werden kann, weil<br />
möglicherweise beide Hintergründe in Frage kommen, erfolgt die Einordnung nach<br />
einer vermuteten Motivation (Vgl. BT-Drs. 16/14122, BT-Drs. 17/7161).
346 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />
wusst aus politischem Kalkül oder systembedingt unbewusst – das wahre Ausmaß<br />
rechtsmotivierter Gewalt. Dennoch sorgten die Sondererfassungssysteme nicht für<br />
eine Lösung der Probleme bzw. für ein Ende der Auseinandersetzungen. So heißt<br />
es beispielsweise in einer Studie aus dem Jahre 1994: „Die Kriterien, nach denen<br />
konkrete Straf- und Gewalttaten durch die Polizei als fremdenfeindlich eingestuft<br />
werden, sind keineswegs eindeutig festgelegt, so dass von den einzelnen Polizeidienststellen<br />
auch sehr Unterschiedliches als fremdenfeindlich de niert und eingeordnet<br />
wird“ (Willems, Wirtz & Eckert, 1994, S. 9). Auch gebe es zwischen den<br />
Bundesländern teilweise große Unterschiede in der Ermittlungsarbeit und in der<br />
statistischen Erfassung. „Dies beeinträchtigt die Zuverlässigkeit und Aussagekraft<br />
der polizeilichen Statistik zu fremdenfeindlichen Straftaten erheblich“ (Willems<br />
et al., 1994, S. 9).<br />
3.2.2 Die Änderung der Erfassung der PMK nach 2001<br />
Auch innerhalb der Sicherheitsbehörden wurde das Erfassungssystem zunehmend<br />
kritisch gesehen. So räumte der damalige BKA-Vize-Präsident Bernhard Falk ein,<br />
das bisherige polizeiliche Meldesystem bilde eine „überkommene“ und „verzerrte“<br />
Darstellung des polizeilichen Lagebildes ab und sei somit „ungeeignet“ (Falk,<br />
2001, S. 10). Im Jahre 2000 befasste sich die Arbeitsgemeinschaft „AG Kripo“, die<br />
aus Mitgliedern des Bundeskriminalamts und der Landeskriminalämter bestand,<br />
mit dem Erfassungssystem und legte einen Arbeitsgruppenbeschluss zur 167. Konferenz<br />
der Innenminister bzw. Innensenatoren des Bundes und der Länder (IMK)<br />
vor. Dort wurde am 10. März 2001 ein einheitliches De nitionssystem Politisch<br />
motivierter Kriminalität (PMK) verabschiedet, das (rückwirkend zum 01.01.2001)<br />
bis heute seine Anwendung ndet. Die Erfassungs- bzw. Meldesysteme KPMD-S<br />
und PKS-S sowie die Sondermeldedienste für fremdenfeindliche und antisemitische<br />
Straftaten wurden von dem „Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen<br />
politisch motivierter Kriminalität“ (KPMD-PMK) abgelöst.<br />
Bei dem neuen De nitionssystem ist nicht die Motivation einer Systemüberwindung,<br />
sondern die „tatauslösende politische Motivation“ (BT-Drs. 16/14122,<br />
S. 3) zentrales Bestimmungsmerkmal politisch motivierter Kriminalität. Demnach<br />
handelt es sich um politisch motivierte Kriminalität, wenn „in Würdigung der Umstände<br />
der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen,<br />
dass sie<br />
• den demokratischen Willensbildungsprozess beein ussen sollen, der Erreichung<br />
oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die Realisierung<br />
politischer Entscheidungen richten,
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />
347<br />
• sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer Wesensmerkmale,<br />
den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes<br />
richten, oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern<br />
der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel haben,<br />
• durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen<br />
auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder<br />
• gegen eine Person gerichtet sind, wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität,<br />
Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft<br />
oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen<br />
Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status und die Tathandlung<br />
damit im Kausalzusammenhang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang<br />
gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet (Hasskriminalität).<br />
Oder<br />
• Tatbestände der echten Staatsschutzdelikte erfüllt sind; sie sind immer als<br />
PMK zu erfassen, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht<br />
festgestellt werden kann“ (BT-Drs. 17/7161, S. 45).<br />
Im neuen Denitionssystem werden die Fälle den entsprechenden Kategorien und<br />
Merkmalsgruppen zugeordnet (siehe Abbildung 1). Je nach ihrer Art, Ausmaß und<br />
Schwere, wird die Tat der Deliktqualität zugeordnet. Die größte Kategorie an Delikten<br />
machen Propagandadelikte aus, weswegen sie gesondert aufgeführt werden.<br />
Liegt eine „besondere Gewaltbereitschaft der Täter“ (Glet, 2011, S. 83) vor, wird<br />
eine Straftat in der Kategorie „politisch motivierte Gewaltkriminalität“ erfasst.
348 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />
Tabelle 1 De nitionssystem Politisch motivierte Kriminalität (nach Ziercke, 2006, S. 64).<br />
Propagandadelikte<br />
(§§ 86, 86a StGB)<br />
Hasskriminalität<br />
– Fremdenfeindliche<br />
Straftaten<br />
– Antisemitische<br />
Straftaten<br />
– Weitere<br />
Politisch motivierte<br />
Kriminalität – links<br />
Politisch motivierte<br />
Kriminalität (ohne<br />
Propagandadelikte)<br />
Kernenergie<br />
– Transport<br />
– Zwischenlager<br />
– weitere<br />
Politisch motivierte<br />
Kriminalität – rechts<br />
Deliktqualität<br />
Themenfelder<br />
Phänomenbereiche<br />
Politisch motivierte<br />
Gewaltkriminalität<br />
Separatismus<br />
– Z. B. ETA<br />
(baskische Untergrundorganisation)<br />
Politisch motivierte<br />
Ausländerkriminalität<br />
Internationale Bezüge<br />
Extremistische Kriminalität<br />
Terrorismus<br />
Weitere<br />
Themenfelder<br />
Sonstige bzw. nicht<br />
zuzuordnen<br />
Im zweiten Schritt der Kategorisierung wird die Straftat einem Themenfeld zugeordnet,<br />
wobei im Gegensatz zu den alten Meldesystemen nun auch Mehrfachnennungen<br />
möglich sind. Schließlich wird nach Berücksichtigung des Täterhintergrundes<br />
die Tat einem Phänomenbereich zugeordnet. Taten, bei denen ein Motiv<br />
der Systemüberwindung deutlich wird, werden zudem gesondert aufgeführt (vgl.<br />
Ziercke, 2006).<br />
3.2.3 Politisch motivierte Kriminalität – rechts<br />
Nach der neuen Unterscheidung sind politisch rechts motivierte Straftaten solche,<br />
die nach der „politischen Motivation der Täter“ so einzuschätzen sind bzw. „wenn<br />
die Tat bzw. die Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür (enthalten), dass diese<br />
auf Basis einer rechten Gesinnung begangen (wurden)“ (BMI & BMJ, 2006,<br />
S. 137). „Auf Basis „rechter Gesinnung“ meint hier, dass bei der Tat ganz oder teilweise<br />
Bezüge zu Rassismus, völkischem Nationalismus, Sozialdarwinismus oder<br />
Geschichtsrevisionismus (v. a. Leugnen der Shoa) erkennbar sind (vgl. Bongartz,<br />
2013; Feustel, 2011). Die gesonderte Kategorie Fremdenfeindlichkeit umfasst Delikte,<br />
die gegen Personen aufgrund ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Nationalität,<br />
Hautfarbe, Religion oder Herkunft gerichtet sind. In der weiteren Kategorie<br />
Antisemitismus werden Straftaten mit antijüdischer Haltung erfasst.
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />
349<br />
Das neue System ermöglicht die Erfassung von politisch motivierter Kriminalität<br />
– rechts (PMK-rechts), auch wenn die Tat nicht explizit eine rechtsextreme<br />
Motivation besitzt. Bei dem neuen De nitionssystem ist es nicht mehr zwingend<br />
erforderlich, dass die Tat die Abschaffung der freiheitlich demokratischen Grundordnung<br />
zum Ziel hat oder haben muss. Das reale Ausmaß rassistischer Gewalt<br />
entsprach offenbar nicht den bis dahin gültigen theoretischen Vorannahmen. So<br />
heißt es dann auch folgerichtig im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht des<br />
Innenministeriums und des Justizministeriums aus dem Jahre 2006: „Aufgrund<br />
phänomenologischer Entwicklungsprozesse war eine realitätskonforme Abbildung<br />
des Straftatenaufkommens auf der Basis der am Extremismusbegriff orientierten<br />
Erfassung nicht mehr gewährleistet.“ (BMI & BMJ, 2006, S. 134)<br />
Die neue Denition ist relativ umfassend und erfasst z. B. auch sozialdarwinistisch<br />
motivierte Taten. Gleichwohl bleibt die Erfassung rechtsmotivierter Gewalt<br />
mit erheblichen Problemen verbunden, von denen einige im Folgenden exemplarisch<br />
dargestellt werden.<br />
4 Definition und Wirklichkeit<br />
Für die polizeiliche und juristische Aufarbeitung eines Tatgeschehens sind die detaillierte<br />
Rekonstruktion der Einzeltaten sowie die Zurechnung dieser Taten auf<br />
die jeweiligen Täter von zentraler Bedeutung: Täter können nur dann belangt werden,<br />
wenn ihnen konkrete Taten zweifelsfrei nachzuweisen sind bzw. zugeordnet<br />
werden können. Die Frage der Bewertung der Motivlage gestaltet sich allerdings<br />
schwieriger. Hier können allgemeine politische Motive oder bestimmte Vorurteile,<br />
pauschale Ablehnung einzelner Personengruppen etc., zu scheinbar klar unpolitischen<br />
direkten Tatmotiven hinzukommen. Gerade bei einer sozialwissenschaftlichen<br />
Herangehensweise ist der Blick auf das gesamte Tatgeschehen wichtig,<br />
auch „tatbegleitende“ Motive müssen beachtet werden. Denn die Vorstellung des<br />
Vorliegens eines isolierten tatauslösenden Motivs hat etwas stark vereinfachendes<br />
und „künstliches“: Bei vielen Taten wird eine Überlagerung verschiedener Motive<br />
deutlich, wobei es oft schwer ist, diese klar zu gewichten bzw. ein dominantes<br />
Motiv herauszunden. Handelt es sich z. B. um Raub, wenn man dem Opfer schon<br />
ansehen kann, dass es arm ist? Könnte es bei diesem Verbrechen nicht auch um<br />
Demonstration von Macht und Gewalt, um die Erniedrigung Schwächerer gegangen<br />
sein? Auch wenn das politische Motiv nur nebensächlich scheint, darf es nicht<br />
unterbewertet werden.<br />
Der Begriff „politisch motiviert“ erscheint vor dem Hintergrund vieler realer<br />
Tatabläufe wenig angemessen, da er sich als zu stark oder zu eng erweist. Eine
350 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />
zielgerichtete Umsetzung politischer Absichten ist nur in wenigen Fällen festzustellen.<br />
Festzustellen ist bei vielen Tätern der von uns untersuchten Fälle jedoch<br />
eine sehr schlichte, aber doch deutliche Gesinnung, insbesondere ein deutliches<br />
Feindbild. Die Täter geraten – manchmal durchaus eher zufällig – in Situationen<br />
(z. B. in Konikte), die von ihnen mit Hilfe ihrer „Ideologie“ interpretiert und bewältigt<br />
werden. Da sich diese oft letztlich auf ein Feindbild reduziert, agieren sie<br />
häug sehr brutal („Feindvernichtung“), wo andere vielleicht nur verbal oder gar<br />
nicht reagieren würden.<br />
Die anfängliche Einschätzung des diensthabenden Polizisten ist von zentraler<br />
Bedeutung für die weitere Bearbeitung des Falls (durch Polizei, Staatsanwaltschaft<br />
und Gericht), insbesondere auch für die Einstufung als politisch oder unpolitisch.<br />
Es ist zu bedenken, dass viele dieser Beamten kaum über Erfahrungen mit politisch<br />
motivierter Kriminalität verfügen, da diese nur einen sehr geringen Teil ihrer<br />
Alltagsarbeit ausmacht.<br />
Zudem ist die Arbeit der Polizei primär darauf ausgerichtet, das Verbrechen<br />
aufzuklären und die Täter zu nden. Im Mittelpunkt der polizeilichen Arbeit<br />
steht – in der Anfangsphase mit hoher Intensität – die kriminalistische Arbeit.<br />
Ausgehend von der Tatortarbeit wird das Tatgeschehen ermittelt und nach den<br />
Tätern gesucht. Dies geschieht in den meisten von uns untersuchten Fällen professionell<br />
und zügig: Die Zeugen werden in der Regel sofort befragt und die Täter<br />
meistens schnell gefunden. Die Fälle sind aus kriminalistischer Sicht meistens relativ<br />
schlicht strukturiert: Die Täter hinterlassen Spuren am Tatort, verhalten sich<br />
bei der Tatbegehung auffällig, äußern sich Dritten gegenüber zur Tat usw. und<br />
werden infolgedessen im Rahmen einfacher Routinearbeit schnell ermittelt. Im<br />
Kontext der Tataufklärung und der Suche nach dem Täter ist es für die Polizei oft<br />
gar nicht erforderlich, sich im Detail mit den Motiven zu befassen.<br />
Aber es sollte unserer Auffassung nach durchaus manchmal etwas genauer hingesehen,<br />
gefragt bzw. nachgefragt werden. Wir wollen an wenigen Beispielen illustrieren,<br />
wie sich die Problemstellung konkret aufzeigen lässt. Nehmen wir zum<br />
Beispiel einen Fall aus dem Jahre 2001. Tatort ist ein Plattenbau in der brandenburgischen<br />
Kleinstadt Wittenberge. Einer der für das Sektionsgutachten verantwortlichen<br />
Rechtsmediziner untersucht die Leiche schon am Tatort. Das Gutachten<br />
beginnt mit einer Beschreibung des Wohnhauses. U. a. ist hier zu lesen: „An<br />
den Wänden im Treppenhaus mehrfache Darstellungen in Form spiegelverkehrter<br />
Hakenkreuze.“ Im Tatortbericht der Polizei ndet sich kein Hinweis darauf. Zwar<br />
wird auf Schmierereien an der Wohnungstür und „blutfarbene Anhaftungen“ im<br />
Treppenhaus eingegangen. Die Hakenkreuze werden jedoch nicht erwähnt. Es soll<br />
hier nicht behauptet werden, dass damit ein politisches Motiv übersehen wurde,
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />
351<br />
aber bemerkenswert bleibt die Notiz des Mediziners doch. Dem Tatortfundbericht<br />
ist zu entnehmen, dass Arzt und Polizei zeitgleich im Haus waren.<br />
Gelegentlich fehlt der Polizei offensichtlich auch der Überblick über rechtsextreme<br />
Strukturen vor Ort. Z. B. wird bei einem Fall von mehreren Zeugen und<br />
Beschuldigten ein Treffpunkt erwähnt, an dem man sich traf, um Alkohol zu trinken<br />
und sich zu unterhalten. Die Information, dass es sich hier um einen zentralen<br />
Neonazi-Treffpunkt gehandelt haben soll, ndet sich allerdings nur in einer „Antifa“-Broschüre.<br />
In den polizeilichen Ermittlungsakten nden sich keine derartigen<br />
Hinweise.<br />
Die Täterstruktur in den von uns untersuchten Fällen entspricht verbreiteten<br />
allgemeinen Vorannahmen: Es handelt sich fast ausschließlich um männliche Jugendliche,<br />
Heranwachsende und junge Erwachsene. Der Bildungsgrad ist in der<br />
Regel niedrig, die Familienverhältnisse sind oft zerrüttet und gewaltbestimmt,<br />
Alkoholmissbrauch spielt eine große Rolle. Sicherlich ist rechtsextreme Gewalt<br />
weithin Jugendgewalt; dissoziale Persönlichkeitsstörungen spielen eine große Rolle.<br />
Doch dürfen diese Aspekte auch nicht überbetont werden. 10 Bei einer Analyse<br />
rechtsextremer Tötungsdelikte müssen selbstverständlich auch und insbesondere<br />
die politischen Hintergründe und Bezüge angemessen berücksichtigt werden.<br />
Dazu ein weiterer exemplarischer Fall aus Brandenburg: Auf dem Grundstück<br />
eines älteren Ehepaars in Fürstenwalde treffen sich am 17. Juni 1993 mehrere Personen,<br />
um gemeinsam Alkohol zu trinken. Dabei gerät der Arbeitslose H. H. (geb.<br />
1955) zunächst in einen Streit mit dem ABM-Beschäftigten P. A. (geb. 1970) und<br />
dem Schüler M. K. (geb. 1977). Anschließend wird H. H. von den beiden Jüngeren<br />
stundenlang brutal misshandelt, woran er letztendlich stirbt.<br />
Das Opfer wird von beiden Tätern (insbesondere vor der Polizei und dem psychologischen<br />
Gutachter) als „dreckiger Assi“ und „Schnorrer“ stigmatisiert. Dies<br />
deutet auf eine sozialdarwinistische Motivation hin. Die Tatsache, dass der soziale<br />
Status der Täter kaum höher einzuschätzen ist als der des Opfers, spricht u.E. nicht<br />
gegen diese Annahme. Dass Angriffe auf sozial Benachteiligte von Tätern verübt<br />
werden, die selbst sozial marginalisiert sind, ist keineswegs ungewöhnlich. „Dieser<br />
Umstand verführt Behörden und Medien zu dem vorschnellen Schluss, der Angriff<br />
sei eine ‚Milieu-Tat‘. Doch auch in einem solchen Fall ist […] das Weltbild<br />
des oder der Täter_innen entscheidend“, schreibt auch Lucius Teidelbaum in seiner<br />
Studie über Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus (Teidelbaum, 2013, S. 68).<br />
Entscheidend ist offenbar auch, wie wir uns Rechtsextremisten vorstellen. So<br />
vermissen manche Forscher ein geschlossenes, gar geschultes rechtsextremes<br />
10 Dies geschieht u.E. z. B. bei Marneros (2005). Vgl. dazu die Kritik von Buschbom<br />
(2013).
352 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />
Weltbild: „Eine gnosiologisch fundierte rechtsextremistische Ideologie“ sei bei<br />
„rechtsextremistischen“ Gewalttätern „in der Regel nicht vorhanden“, konstatieren<br />
Marneros, Steil und Galvao (2005, S. 434), „und wenn, dann nur in oskelhafter<br />
oder gar skurriler Form“. 11 In unserem erwähnten Fall sehen sich beide Täter selbst<br />
aber klar als „Rechte“ und werden auch in ihrem Umfeld so wahrgenommen. Sicherlich<br />
verfügen sie über keine „intellektuelle“, „ausgefeilte“ Weltanschauung.<br />
Die stigmatisierenden Äußerungen der Täter fallen allerdings sehr deutlich aus<br />
(u. a. „der war schlecht, dreckig“, „ein niedriger Mensch, ein dreckiger Penner“)<br />
und werden von ihnen auch wiederholt vorgetragen. 12 Damit ist die Annahme einer<br />
politischen Motivation nach unserer Auffassung gerechtfertigt. In der PMK-Statistik<br />
ist dieser Fall bislang nicht enthalten.<br />
Bei fast allen von uns untersuchten Fällen (auch bei den als „unpolitisch“ kategorisierten)<br />
ist nachweisbar, dass die Täter über eine rechtsextreme Gesinnung<br />
verfügten oder zumindest Kontakte zu rechtsextremen Cliquen (Skinheads) hatten.<br />
Bei mehreren Fällen ist zwar eine unmittelbare Tatmotivation im Sinne einer<br />
„rechtsextremen“, menschenverachtenden oder rassistischen Motivlage nicht direkt<br />
nachweisbar. Gewaltneigung und Gewaltanwendung sind aber erkennbar durch die<br />
Zugehörigkeit zu einer „rechten“ Clique bzw. die Übernahme rechtsextremer Einstellungsmuster<br />
und Gesinnungen (z. B. Menschenbild, Gewalt als Problemlösung<br />
…) mindestens mit begünstigt worden. 13<br />
Ein weiteres Beispiel: Am 11. März 1992 wird eine vierzehnjährige Schülerin<br />
im Keller eines 10-stöckigen Neubauwohnhauses in Schwedt (Oder) von vier<br />
Tätern brutal ermordet. Im Urteil des Bezirksgerichts Frankfurt (Oder) heißt es<br />
dazu: „Über einen Zeitraum von etwa 5 Stunden haben sie mit immer neuen Steigerungen<br />
[das Opfer / Anm. Verf.] roh zu Tode gequält.“ Der gemeinschaftliche<br />
Mord wurde von drei Jugendlichen und einem jungen Erwachsenen aus Schwedt<br />
begangen.<br />
Dieser Fall wird bislang nicht in der PMK-Statistik aufgeführt. Auch aus unserer<br />
Sicht war die Tat nicht politisch motiviert. Ausgelöst werden die Misshandlungen<br />
anscheinend durch einen Beziehungskon ikt. Die weitere Eskalation des<br />
11 Ähnlich: Marneros, Steil & Galvao, 2003, S. 383f.<br />
12 Bezeichnenderweise äußert einer der Täter (M.K.) gegenüber dem psychologischen<br />
Gutachter: „Einmal habe ich vor einem halben Jahr einen verdroschen, der mich als<br />
Penner bezeichnete.“<br />
13 Siehe auch Bericht zur Untersuchung ausgewählter Tötungsdelikte der Jahre 1993 bis<br />
2008 in Sachsen-Anhalt (Ministerium für Inneres & Ministerium für Justiz, 2013).<br />
Hier wird bei mehreren Fällen, die letztlich als nicht politisch motiviert gewertet werden,<br />
immerhin die Argumentation angefügt, es sei aber möglich, dass die Brutalität<br />
mit der rechtsextremen Gesinnung zusammenhänge.
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />
353<br />
Tatgeschehens scheint intrinsisch motiviert. Gleichwohl heißt es in einem psychologischen<br />
Gutachten 14 über einen der Täter (M. C., geb. 1976):<br />
„Seit der Wende fühlt der Jugendliche sich zu den Rechtsradikalen hingezogen. Er<br />
ist Mitglied rechtsradikaler Skinheads. Er fühlt sich dem betont aggressiven Umgangsstil<br />
dieser Skinheadgruppierungen deutlich verp ichtet und zeigt eine besondere<br />
Afnität zu aggressiven Bewältigungs- und Lösungsmodalitäten. Er sieht körperlich-aggressive<br />
Auseinandersetzungen als probates und legitimes Mittel sozialer<br />
Konikt- und Problembewältigung an. Diese Af nität dürfte durch seine Hinwendung<br />
zu rechtsradikalen Skinheadgruppierungen mitgeprägt sein.“<br />
Der Einuss der Skinheadkultur in den 1990ern in kleineren Städten Ostdeutschlands<br />
ist kaum zu überschätzen. Dies zeigt ein weiteres psychologisches Gutachten<br />
zu diesem Fall, in dem es heißt, die Angeklagte J. S. (geb. 1976) sei „… Mitglied<br />
von losen Cliquen bzw. Gruppierungen durchschnittlich 12-21-jähriger gewesen,<br />
wobei sie mit älteren besser zurechtkäme, habe sich selbst den ‚Linken‘ verbunden<br />
gefühlt, diese seien gegen die ‚Glatzen‘ eingestellt gewesen (‚weil die unschuldige<br />
Menschen verprügeln und Schutzgeld erpressen‘).“ Gleichwohl scheint sie die<br />
Brutalität der Skinheads auch zu beeindrucken. „Ich wollte auch mal jemanden so<br />
richtig verprügeln, wie das die Glatzen auch tun.“<br />
Ähnlich kritisch äußert sich noch ein weiterer Täter (R. S., geb. 1970) über die<br />
Skinheads. Im psychologischen Gutachten wird er wie folgt zitiert: „Ich nde sie<br />
ganz große Scheiße, ich bin gegen so was, sollen sie doch die Ausländer in Ruhe<br />
lassen und überhaupt.“ Trotz dieser Distanzierung scheint er aber deren brutale<br />
Methoden durchaus zu schätzen: “… allerdings habe er auch einiges von den Skinheads<br />
abgesehen. Die würden mit schweren Stiefeln auf andere eintreten.“<br />
Relevant sind rechtsextreme Einstellungen und Gruppenstrukturen insbesondere<br />
auch deshalb, weil sie an den persönlichen und sozialen Problemen Jugendlicher<br />
„andocken“ und deshalb für sie attraktiv werden. Dazu ein letztes Zitat aus einem<br />
psychologischen Gutachten:<br />
„Voller Wut und Ohnmachtsgefühle begann Herr B. eine Lehre, und nach seinem<br />
Umzug in ein Lehrlingswohnheim, weg von der aggressiven Kontrolle durch den Vater,<br />
fand er schnell Anschluss an eine Gruppe von jungen Leuten, die sich der rechten<br />
Gesinnung zugetan fühlten und sich mit massivem Alkoholmissbrauch gegenseitig<br />
die Erlaubnis gaben, Menschen auszurauben, zu prügeln und sogar zu töten. Dies<br />
entwickelte sich als Freizeitverhalten und wurde der Langeweile und Ödnis ihres<br />
sonstigen Daseins entgegengesetzt […].<br />
14 Die Verfahrensunterlagen inkl. der psychologischen Gutachten liegen uns vollständig<br />
vor. Aus Datenschutzgründen sind sie gleichwohl nicht allgemein zugänglich.
354 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />
Herr B. kann anschaulich beschreiben, wie sehr es ihm gefallen hat, als er bemerkte,<br />
dass andere Menschen Angst bekamen, dass sie (die Gruppe) machen konnten, was<br />
sie wollten und niemand in der Lage war, sie aufzuhalten. Er fühlte sich zum ersten<br />
Mal in seinem Leben anerkannt, so akzeptiert wie er war und in einem Verbund<br />
aufgenommen, der die familiären Bedürfnisse befriedigte. Er hatte die Opfergruppe<br />
verlassen und war Mitglied einer Tätergruppe geworden.“<br />
5 Zusammenfassung<br />
Gegenüber den älteren an „Staatsschutz“ und „Extremismus“ orientierten De -<br />
nitionsansätzen politischer Gewalt bzw. Kriminalität und den entsprechenden<br />
polizeilichen Erfassungssystemen stellt das Denitionssystem Politisch motivierte<br />
Kriminalität (PMK) unzweifelhaft eine deutliche Verbesserung dar. Gleichwohl<br />
stellt das Erkennen entsprechender Motivlagen bzw. Relevanzen weiterhin erhebliche<br />
Anforderungen an die Analysekompetenz der Polizei. Der Themenkomplex<br />
PMK sollte somit in der Aus- und Fortbildung gebührend berücksichtigt werden.<br />
Grundsätzlich sollte aber das polizeiliche Erfassungssystem nicht überbewertet<br />
und mit Erwartungen überfrachtet werden. Es handelt sich um eine polizeiliche<br />
Ersteinschätzung (Eingangsstatistik). Insofern sollte eine Einstufung einer Tat als<br />
PMK-Tat eben noch kein Ausdruck einer „staatlichen Anerkennung“ sein oder so<br />
gewertet werden. 15<br />
Es hat sich bei unserer Untersuchung allerdings gezeigt, dass Einstellungen,<br />
Ideologien und Ideologiefragmente auch dann berücksichtigt werden müssen,<br />
wenn sie die Tat eher nur begleiten und nicht konsistent greifbar sind, weil sie<br />
trotzdem mögliche Einussfaktoren auf (Gewalt-)Handeln darstellen.<br />
Es zeigte sich z. B. in mehreren Fällen, dass trotz Zugehörigkeit zu einem anscheinend<br />
gleichen Milieu doch „Ideologien der Ungleichwertigkeit“ wirksam<br />
werden können, dass sich einzelne Individuen durch Herabwertung anderer, vermeintlich<br />
oder tatsächlich sozial noch schwächerer Personen aufwerten und dies<br />
zur „Begründung“ für gewalttätiges Verhalten dient.<br />
In anderen Fällen wurde deutlich, wie die in den 1990er Jahren omnipräsente<br />
rechtsextreme Jugendkultur auch auf nicht-rechte Jugendliche ausstrahlte. So wur-<br />
15 Die Gleichsetzung einer PMK-Einstufung mit staatlicher Anerkennung ist in der Literatur<br />
verbreitet vorzufinden. Allerdings zeigt die gelegentliche Praxis nachträglicher<br />
Einstufungen, dass die PMK-Statistik doch keine reine Eingangsstatistik ist. Hier sollte<br />
über alternative Verfahren nachgedacht werden, um eine angemessene staatliche<br />
Dokumentation von vorurteilsgeleiteten und politisch motivierten Straftaten zu gewährleisten<br />
(vgl. auch Fussnote 8).
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />
355<br />
de gewalttätiges Handeln, da als erfolgreich beobachtet, als Verhaltensoption übernommen.<br />
Anders ausgedrückt: Die rechtsextreme Jugendszene beein usste ganz<br />
offensichtlich Wertvorstellungen und Handlungen auch von Jugendlichen, die sich<br />
selbst der Szene nicht zurechneten.<br />
Nach Durchsicht der Fallakten halten wir einen engen Motivbegriff für ungeeignet,<br />
die oft komplexen und vielschichtigen Gewalttaten umfassend beschreiben<br />
und erklären zu können. Man sollte vielleicht von der Begrif ichkeit „motiviert“<br />
Abstand nehmen, denn Motive sind schwer greifbar. Täter können eigenes Handeln<br />
nicht immer selbst konsistent begründen. Auf der anderen Seite können Täter<br />
ihre Motivation auch verschleiern, um mögliche negative Konsequenzen zu minimieren.<br />
Insgesamt müssen die Theorien, Denitionen und Erfassungskriterien, die den<br />
Komplex der vorurteilsgeleiteten, der politisch motivierten und der Hasskriminalität<br />
beschreiben, auf den Prüfstand. Dies ist zuvorderst eine wissenschaftliche und<br />
politische Aufgabe, sie betrifft aber auch Polizei und Justiz.
356 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz<br />
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Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg …<br />
357<br />
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108.
Demokratieferne Rebellionen<br />
Pegida und die Renaissance völkischer<br />
Verschwörungsphantasien<br />
Samuel Salzborn<br />
Es bedarf schon eines guten Gedächtnisses, um sich die Abkürzungen und Slogans,<br />
unter denen das rassistische und verschwörungsphantastische Milieu in den<br />
letzten Monaten auf die Straße gegangen ist, alle zu merken: Neben den HoGeSa<br />
(„Hooligans gegen Sala sten“) und der Pegida („Patriotische Europäer Gegen<br />
die Islamisierung des Abendlandes“) bildeten sich lokale Ableger, die unter Abkürzungen<br />
wie Ogida, Rogida, Kagida, Saargida, Dügida, Kögida oder Bogida<br />
operierten. Schon vor der ersten HoGeSa-Demonstration in Köln hatten sich in<br />
separaten Mahnwachen prorussische und antiamerikanische Friedensbewegte regelmäßig<br />
zu „Montagsdemonstrationen“, später dann für einen „Friedenswinter“<br />
versammelt.<br />
Überraschend an diesen Demonstrationen war weniger ihr fortwährender Etikettenwechsel,<br />
sondern die scheinbar unvorhersehbare Menge an Menschen, die<br />
an den Demonstrationen teilgenommen hat und deren Zahl regelmäßig in die<br />
Tausende ging. Um die Dynamik der Ereignisse einordnen zu können, sollte man<br />
aber nicht vorschnell der Marketingstrategie der Organisatoren folgen, nach der<br />
sich „ganz normale Bürger“ versammelt hätten – denn es handelte sich vielmehr<br />
um ein sehr spezisches Spektrum von Personen, das deshalb lange Zeit politisch<br />
nicht mobilisierbar war, weil gerade sein Egoismus und sein demokratiefernes<br />
Weltbild es daran gehindert hat, öffentlich in Erscheinung zu treten. Das politische<br />
Klima und damit der Kontext, in dem sich diese Demonstrationen abspielen, hat<br />
sich aber geändert, mit der „Alternative für Deutschland“ (AfD) ist eine Partei –<br />
zumindest vorübergehend (Kurth & Salzborn, 2014) – bei Wahlen erfolgreich, die<br />
genau dasselbe Klientel anspricht und insofern dazu motiviert, von ihren Stamm-<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
360 Samuel Salzborn<br />
tischen aufzustehen und die Online-Kommentarspalten zu verlassen und sich in<br />
die tatsächliche Wirklichkeit zu wagen (Salzborn, 2012, S. 114-117).<br />
1 Protestmotivationen: Egoismus und Demokratieferne<br />
Egoistisch ist der gegenwärtige Protest, weil es nicht ernsthaft um Angst vor etwas,<br />
sondern um Angst um etwas geht: um die eigenen (gefühlten) Privilegien. Diese<br />
Privilegien werden als gefährdet wahrgenommen und verbunden mit nationalem<br />
Pathos, in dem eine Vielzahl der Demonstranten eigentlich nur deshalb Kritik an<br />
der Politik formuliert, weil diese nicht die jeweils subjektiven, höchst persönlichen<br />
Partikularinteressen durchsetzt. Diese nicht auf den wirklichen Lebensumständen,<br />
sondern lediglich auf einer falschen Selbstwahrnehmung basierende Grundhaltung<br />
zeigte sich auch in den repräsentativen Daten des ARD-Deutschlandtrends<br />
vom Januar 2015, in dem Pegida-Sympathisanten die Sicherheit ihrer persönlichen<br />
Lebensumstände generell als signikant schlechter wahrnehmen, als der Rest der<br />
Bevölkerung.<br />
Eine empirische Studie der TU Dresden unter Leitung von Hans Vorländer,<br />
die im Dezember 2014 und Januar 2015 bei mehreren der Pegida-Veranstaltungen<br />
erhoben wurde, zeigt, dass der „typische“ Pegida-Demonstrant aus der Mittelschicht<br />
kommt, gut ausgebildet ist und für die regionalen Verhältnisse über ein<br />
leicht überdurchschnittliches Einkommen verfügt und berufstätig ist. Überdies ist<br />
er 48 Jahre alt, männlich und religiös wie auch parteilich ungebunden. Nur ein<br />
Viertel der Befragten ist dabei tatsächlich durch die Themenfelder „Islam, Islamismus<br />
oder Islamisierung“ motiviert. (Vorländer, 2015) Eine explorative Studie des<br />
Göttinger Instituts für Demokratieforschung unter Leitung von Franz Walter hat<br />
diese Erkenntnisse grundsätzlich bestätigt und darüber hinaus gezeigt, dass die<br />
politische Sympathie bei den Pegida-Anhängern in überwältigendem Maße bei der<br />
AfD liegt. (Walter, 2015)<br />
Und deshalb ist die besagte Klientel auch als demokratiefern zu bezeichnen:<br />
Denn in einer Demokratie wird über Interessenkonikte gestritten und es ist nötig,<br />
Mehrheiten zu erlangen, wenn man die eigenen Position umgesetzt sehen möchte.<br />
Mit Meckern und Nörgeln kommt man nicht weit, das ewige Lamento von „denen<br />
da oben“, die sowieso nur machten, was sie wollen, ist zugleich auch das Lamento<br />
einer extrem politikfaulen Klientel, die sich bequem darin eingerichtet hat, selbst<br />
nicht politisch aktiv werden zu müssen, in Parteien, Gewerkschaften oder anderen<br />
Interessenorganisationen. Die Angebote, die auf den friedensapologetischen Verschwörungsmahnwachen<br />
und den rassistischen Pegida-Demonstrationen gemacht<br />
werden, versprechen nun aber den Teilnehmern etwas anderes: Durch ein punk-
Demokratieferne Rebellionen<br />
361<br />
tuelles Engagement „denen da oben“ einmal zu zeigen, dass „das Volk“ anders<br />
denke – das bleibt freilich eine Lüge, weil ein paar Tausend Demonstranten immer<br />
noch eine verschwindende Minderheit sind, die unbotmäßig viel mediale Aufmerksamkeit<br />
bekommt und die, mit dem Zeitpunkt, an dem die Aufmerksamkeit<br />
nachlassen wird, in ihre Verschwörungsmuster zurückfallen wird, nach denen nun<br />
eben ihre Meinung wieder nicht repräsentiert sei.<br />
Den Zulauf, den die Demonstrationen zur Zeit haben, erklärt also nicht nur ihr<br />
Inhalt, sondern mehr noch ihr Kontext: die Angst vor Krieg und Terrorismus in<br />
der Bevölkerung ist groß, das Thema ist politisch und medial generell auch ohne<br />
Pegida sehr präsent, so dass gegenwärtig auch noch so verrückte Anliegen als<br />
weniger verrückt erscheinen, weil sie sich im Fahrwasser einer allgemeinen Besorgtheit<br />
bewegen. Und dabei gibt es die Demonstrationen gegen „Überfremdung“<br />
oder „Islamisierung“ seit Jahren und auch die antiamerikanische und prorussische<br />
Stoßrichtung der deutschen Friedensbewegung war schon in den 1980er Jahren<br />
groß (Herzinger & Stein, 1995). Das von Pegida verwandte Schlagwort „Islamisierung“<br />
ist dabei lediglich ein Vorwand, um rassistische und völkische Positionen<br />
wieder öffentlich zu platzieren (Salzborn, 2014). Außerdem darf man nicht vergessen:<br />
die rechte Szene hat gerade in Sachsen in den letzten Jahren immer wieder<br />
in ähnlicher Größenordnung mobilisieren können und auch die rechtsextremen<br />
Demonstrationen gegen die Wehrmachtsausstellung in den 1990er Jahren gingen<br />
in die Tausende, was die Teilnehmerzahlen angeht. Und allein in Dresden, dem<br />
Kristallisationspunkt der rassistischen Pegida-Bewegung, kamen NPD und AfD<br />
bei der letzten Landtagswahl im August 2014 zusammen auf 27.861 Zweitstimmen<br />
(Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, 2014).<br />
Nun ist sicher richtig, dass nicht jeder, der an diesen Demonstrationen teilnimmt,<br />
ein Neonazi ist (auch wenn aus diesem Milieu stark mobilisiert und teilgenommen<br />
wird); gleichwohl zeigt sich gegenwärtig das tatsächliche Mobilisierungspotenzial,<br />
das die rechte und antidemokratische Szene in der Bundesrepublik<br />
hat: Zusammengesetzt aus einem russlandnahen, antisemitischen und antiamerikanischen<br />
Friedensbewegungsspektrum, das sich selbst oft sogar als links versteht<br />
und einem offen rassistischen Milieu mit kriminellen Tendenzen, die sich nicht nur<br />
bei dem einschlägig vorbestraften Hauptorganisator der Pegida-Bewegung zeigen,<br />
sondern sich auch massenhaft im gesamten Hooligan-Milieu nden. Ein wichtiger<br />
Unterschied zwischen beiden Spektren ist dabei allerdings ihre soziale Heterogenität:<br />
Während die antiamerikanischen Friedensdemonstrationen eine erhebliche<br />
Zugkraft auf gesellschaftlich tendenziell desintegrierte Personen ausüben, wird<br />
der rassistische Pegida-Protest getragen von sozial mehr oder weniger etablierten<br />
und situierten Personen, die um den Verlust ihres sozialen Status fürchten, ohne<br />
dass dieser wirklich bedroht wäre. Eine FoLL-Studie an der Georg-August-Uni-
362 Samuel Salzborn<br />
versität Göttingen (Büdenbender, Uhlemann, Drögemeier, Eisen & Weiss, 2014)<br />
konnte dabei zeigen, dass bei den Friedensdemonstrationen ein erhebliches Moment<br />
der sozialen Integration darin besteht, dass ihre Teilnehmer – oft: erstmalig<br />
in ihrem Leben – bei der Teilnahme nicht mehr das Gefühl haben, „der Spinner“<br />
zu sein, sondern sich mit zahlreichen Gleichgesinnten zusammennden und insofern<br />
ihre objektiv nach wie vor bestehende Verrücktheit nun allein dadurch, dass<br />
sie sozial geteilt wird, nicht mehr als solche empnden und dadurch auch emotional<br />
gestärkt werden.<br />
2 Das Weltbild der Verschwörungsängste<br />
Das Moment des Verschwörungsglaubens verbindet denn auch weltanschaulich<br />
beide Flügel der aktuellen Demonstrationen: die einen glauben an eine Verschwörung<br />
internationaler Mächte, die anderen an die einer multikulturellen Gesellschaft,<br />
beide phantasieren geheime Aktivitäten von Politik und Medien, die angeblich den<br />
Protest „des Volkes“ begrenze oder unterdrücke, wobei den Sicherheitsbehörden<br />
jeweils eine zentrale Rolle zugesprochen wird, weil sie entweder nicht (angemessen)<br />
handeln oder weil sie den Protest zu limitieren versuchen würden. Während<br />
demokratische Medien dabei als „Lügenpresse“ verunglimpft werden, nur weil<br />
sie die rassistischen Partikularinteressen eben auch als solche benennen, werden<br />
Propagandamedien wie dubiose Internetblogs oder das russische Fernsehen glori-<br />
ziert – weil sie den eigenen Wahn zur Wahrheit erklären.<br />
Die konkreten Verschwörungsmythen werden dabei fast so schnell produziert,<br />
wie die Ereignisse statt nden – was mit der Logik der Verschwörung zu tun hat:<br />
Sie bedarf keiner Fakten, keiner Realität, keiner Wirklichkeit außer ihrer selbst,<br />
um zu funktionieren. Es bedarf stets nur eines Anlasses, nicht einer Ursache, damit<br />
Verschwörungsphantasien formuliert werden – denn ihre jeweils eigene hermetische<br />
Wahnwelt funktioniert in ihrer Struktur ganz unabhängig von der Wirklichkeit,<br />
da sie in keiner Weise an empirische oder historische Fakten gebunden<br />
ist, sondern lediglich mit einem Phantasieweltbild korrespondiert, das jederzeit<br />
reformulierbar, jederzeit reproduzierbar und damit auch jederzeit in Variationen<br />
abrufbar ist.<br />
Kaum ein politisches Ereignis bleibt frei von entsprechenden Verschwörungsmythen<br />
– mögen es so offensichtlich verrückte Ideen wie der Ein uss von außerirdischen<br />
Lebensformen auf die Weltpolitik sein oder auch die zahlreichen, bis<br />
ins minutiöse Detail ausphantasierten Wahnvorstellungen über die amerikanische<br />
Politik, insbesondere im Kontext mit dem internationalen Terrorismus (Beyer,<br />
2014; Jaecker, 2014). Selbst nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris im
Demokratieferne Rebellionen<br />
363<br />
Januar dieses Jahres dauerte es nur Stunden, bis dubiose Internetblogs voll waren<br />
mit antiamerikanischen und antisemitischen Verschwörungsmythen rund um die<br />
Anschläge. Aber auch der Glaube an eine „Islamisierung des Abendlandes“ gehört<br />
zu diesen Mythen, denn sind die Migrationsprozesse in Deutschland gegenwärtig<br />
zwar wieder deutlich wahrnehmbarer, aber doch sowohl im Vergleich mit den<br />
1990er Jahren wie auch mit der Aufnahme von Flüchtlingen durch andere, besonders<br />
außereuropäische Staaten als vergleichsweise gering zu bewerten.<br />
Verschwörungsmythen werden dabei geglaubt, nicht obwohl, sondern weil sie<br />
erfunden sind und weil sie im Widerspruch zu allen Erkenntnissen stehen, die mit<br />
der Realität korrespondieren. Deshalb wird es auch nicht möglich sein, dem Anhänger<br />
einer Verschwörungsphantasie diese individuell zu widerlegen: Er glaubt<br />
sie, weil sie irrational ist – und jeder Beleg dieser Irrationalität wird wieder in das<br />
Wahnweltbild des großen Verschwörungsglaubens integriert. Genau deshalb bleibt<br />
die aktive Beteiligung an den gegenwärtigen Demonstrationen und Mahnwachen<br />
auch relativ konstant: weil sie den Teilnehmern die Möglichkeit gibt, in einem<br />
Weltbild, mit dem sie in ihrem normalen Leben als verrückt gelten, sozial und<br />
emotional durch die Verbindung mit anderen stabilisiert zu werden.<br />
Dabei geht es um Phantasien von einer regredierten Welt, dem Traum von<br />
einem harmonischen und widerspruchsfreien Selbst, in dem alles nur einer Logik<br />
gehorcht, nämlich der eigenen – keine Widersprüche, keine Ambivalenzen, nur<br />
Identität. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1900, S. 625) hat das begrif ich<br />
in der Unterscheidung von „materieller Realität“ und „psychischer Realität“ gefasst<br />
– die Verschwörungsphantasien als psychische Realität sind dabei nahezu<br />
hermetisch von der materiellen Realität abgekoppelt: als Wahnvorstellungen, die<br />
einer identitären und widerspruchsfreien Logik folgen, die nur in der Logik der<br />
jeweils eigenen Psyche funktioniert. Alles kreist um das überhöhte Selbst, das sich<br />
dem egoistischen Größenwahn hemmungslos hingibt, aus sich selbst heraus die<br />
Welt zu deuten. (Salzborn, 2010, S. 317-342) Nur, und das macht den aggressiven<br />
Zorn vieler Verschwörungsphantasien aus, dass die Welt sich fortwährend nicht so<br />
verhält, wie es der Verschwörungsanhänger gern hätte, dass ihm niemand glaubt,<br />
wo doch er – und nur er – es besser weiß als alle anderen.<br />
3 Strategien des Umgangs<br />
Auch wenn verständlich ist, dass manche sagen, man müsse die Sorgen, die die<br />
Menschen bei diesen Demonstrationen umtreiben, ernst nehmen, darf man dabei<br />
einen Fehler nicht machen: die Demonstranten sorgen sich nicht um wirkliche<br />
politische oder gesellschaftliche Probleme, sie sorgen sich ausschließlich um sich
364 Samuel Salzborn<br />
selbst. Die Probleme und Ängste, die sie haben, mögen real sein – eine ernsthafte<br />
Grundlage und damit Berechtigung haben sie nicht. Der Fehler liegt nicht<br />
im politischen System, sondern bei den Demonstranten, genauer gesagt: bei ihrer<br />
Demokratieferne. Sie haben nicht verstanden, dass Demokratie die Herrschaft des<br />
Volkes ist, bei dem Mehrheiten auf der Basis von Wahlen entscheiden – und nicht<br />
diejenige, die glauben, sie würden den „Volkswillen“ nur deshalb vertreten, weil<br />
sie es immer wieder behaupten (Salzborn, 2015). Deshalb ist genau die umgekehrte<br />
Konsequenz politisch geboten: Nicht den Forderungen der Demonstranten nachzugeben,<br />
sondern ihnen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Auch diese<br />
Menschen können verstehen lernen, dass nicht ihr egoistischer Wille in der Politik<br />
umgesetzt wird, sondern das, was in langwierigen und debattenintensiven politischen<br />
Prozessen ausgehandelt wird. Demokratie ist Repräsentation – was aktuell<br />
auf die Straße getragen wird, ist nicht der Protest für mehr oder bessere Demokratie,<br />
sondern der Protest gegen die Demokratie – und dafür, dass diejenigen, die<br />
dort demonstrieren, selbst die Macht haben wollen, ihre egoistischen Partikularinteressen<br />
als Gemeinwohl zu verkaufen. Dass das eine Lüge ist, ist jedem klar – insofern<br />
darf nicht verwechselt werden, dass der Protest auf der Straße nicht weniger<br />
ist als ein verschwörerischer und rassistischer Protest gegen die Demokratie und<br />
ihre Organe.<br />
Wer heute als Rassist auf die Straße geht und sich gegen die Gefahren von<br />
Islamisierung und Salasmus wendet, kann sich sicher sein, dass er damit gegen<br />
ein Thema protestiert, das tatsächlich vielen Menschen Angst macht, weil der Islamismus<br />
fraglos eine massive Bedrohung der offenen Gesellschaft und der individuellen<br />
Freiheiten, wie sie die westlichen Demokratien versprechen und weitgehend<br />
garantieren, darstellt. Bisher gelingt es aber den Sicherheitsbehörden in<br />
Deutschland relativ erfolgreich, die realen Gefahren, die von radikalen Islamisten<br />
in Deutschland ausgehen, abzuwägen und gegen sie vorzugehen – was Fehler<br />
und Mängel keineswegs schönreden soll. Eine „Islamisierung des Abendlandes“<br />
ist jedoch eine freie Er ndung, sie ist ein apokalyptisches Szenario, dass die Gedankenwelt<br />
der Weimarer Republik wieder aufruft – als Oswald Spengler (1918,<br />
1922) mit seinem zweibändigen Werk über den „Untergang des Abendlandes“ die<br />
irrationalen Ängste mobilisierte, die den Aufstieg des Nationalsozialismus ermöglichten.<br />
Und genau das ist das Ziel der Gruppen, die heute als Pegida – oder mit<br />
welchen Abkürzungen auch immer – durch die Straßen ziehen: die Formulierung<br />
von apokalyptischen, ausweglosen Szenarien, in denen scheinbar nicht mehr abgewogen<br />
und debattiert werden kann, sondern es einer entschlossenen und harten<br />
Entscheidung bedürfe.<br />
Der rassistische Ruf gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“ ist in Wahrheit<br />
der Ruf nach einer antidemokratischen und autoritären Lösung eines Prob-
Demokratieferne Rebellionen<br />
365<br />
lems, das nur in den Ängsten und Phantasien seiner Anhänger besteht. Das Paradoxe<br />
daran ist: die Anhänger der Pegida-Slogans sind mit ihrem autoritären und<br />
gegenaufklärerischem Weltbild gar nicht so weit vom Islamismus entfernt, sie sind<br />
Brüder im Geiste, die sich aber trotzdem bekämpfen, weil sie um einen Vorherrschaftsanspruch<br />
miteinander streiten. Insofern ist auch die alte Forderung gewerkschaftlicher<br />
und anderer Bildungsarbeit, nach der Menschen dort abgeholt werden<br />
müssten, wo sie stehen, im aktuellen Fall völlig falsch, denn sie stehen an einem<br />
antidemokratischen Ort, der allein schon deshalb nicht in die demokratische Debatte<br />
integriert werden kann, weil seine Kernforderungen antidemokratisch sind.
366 Samuel Salzborn<br />
Literatur<br />
ARD-DeutschlandTREND EXTRA nach dem Anschlag in Paris 8. Januar 2015. Eine Studie<br />
im Auftrag der tagesthemen.<br />
Beyer, H. (2014). Soziologie des Antiamerikanismus. Zur Theorie und Wirkmächtigkeit<br />
spätmodernen Unbehagens. Campus: Frankfurt<br />
Büdenbender, M., Uhlemann, N., Drögemeier, L., Eisen, S., & Weiss, S. (2014). Verschwörungstheoretisches<br />
Denken auf Mahnwachen für den Frieden. Mechanismen der Wirklichkeitskonstruktion?<br />
Ergebnispräsentation des FoLL-Projekts aus dem Wintersemester<br />
2013/14. Göttingen: Georg-August-Universität.<br />
Freud, S. (1900): Die Traumdeutung. Gesammelte Werke Bd. II/III. Frankfurt: Fischer Taschenbuch<br />
Verlag.<br />
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Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte. Rowohlt: Reinbek beim Hamburg.<br />
Jaecker, T. (2014). Hass, Neid, Wahn. Antiamerikanismus in den deutschen Medien. Campus:<br />
Frankfurt.<br />
Kurth, A. & Salzborn, S. (2014). Türöffnerin nach Rechts: Die „Alternative für Deutschland“.<br />
Gegenblende. Das gewerkschaftliche Debattenmagazin 28 (Juli/August).<br />
Salzborn, S. (2010). Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche<br />
Theorien im Vergleich. Frankfurt: Campus.<br />
Salzborn, S. (2012). Demokratie. Theorien, Formen, Entwicklungen . Baden-Baden: Nomos/UTB.<br />
Salzborn, S. (2014). <strong>Rechtsextremismus</strong>. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. Baden-Baden:<br />
Nomos/UTB.<br />
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Wiesbaden: Springer VS.<br />
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der Weltgeschichte (2 Bde.). Wien/Leipzig: Braumüller 1918 (Bd. 1) & München: Beck<br />
1922 (Bd. 2).<br />
Vorländer, H. (2015). Wer geht warum zu PEGIDA-Demonstrationen? Präsentation der<br />
ersten empirischen Umfrage unter PEGIDA-Teilnehmern. Dresden: TU.<br />
Walter, F. (2015). Aktuelle Forschungsergebnisse zu den Pegida-Protesten. Göttinger Institut<br />
für Demokratieforschung: Zugriff am 28. Januar 2015 http://www.demokratie-goettingen.de/blog/studie-zu-pegida<br />
Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (2014): Landtagswahl 2014 / Wahlkreisergebnis.<br />
Zugriff am 20. Dezember 2014 http://www.statistik.sachsen.de/wpr_neu/pkg_<br />
s10_nav.prc_nav_karten?p_thema=114306423&p_nav_ebene=1&p_bzid=LW14&p_<br />
ebene_ort=SN*14&p_klapp=Wahlergebnisse
Lachen gegen den Ungeist?<br />
Zum Potenzial des politischen Kabaretts am Beispiel<br />
der Thematisierung des „NSU“-Diskurses<br />
Frank Schilden<br />
1 Einleitung<br />
Eine rassistische Mordserie und Kabarett – passt das zusammen? Ja, sogar unbedingt!<br />
Es wäre sogar ein schlechtes Zeichen, wenn die rassistischen Morde des<br />
„NSU“ und der Umgang mit diesen in der Öffentlichkeit, der Politik und den zuständigen<br />
Behörden nicht vom zeitgenössischen Politischen Kabarett thematisiert<br />
und satirisch überformt werden würden. Ziel dieses Beitrags ist es, zu Beginn den<br />
Mythos der alles dürfenden Satire mindestens zu relativieren, zu erklären und in<br />
den entsprechenden Kontext zu rücken. Danach werden die Begriffe Kabarett und<br />
Politisches Kabarett kurz de niert und differenziert, bevor angedeutet werden<br />
soll, wie Kabarett, wenn es Politik und Öffentlichkeit thematisiert, funktioniert.<br />
Aus linguistischer Perspektive soll dann mit Verweisen auf Metasprachliches, vor<br />
allem auf die Thematisierung von Argumentationen aus dem öffentlichen Raum,<br />
eine besondere Spielart kabarettistischer Vorträge am Beispiel der Thematisierung<br />
des „NSU“ im Kabarett aufgezeigt werden. Eine Reexion über das aufklärerische<br />
und didaktische Potenzial von Kabarett schließt den Beitrag ab.<br />
2 Satire darf alles, wenn sie Satire ist.<br />
Abhandlungen und Texte über Satire, Witz, Humor oder Kabarett beginnen häu-<br />
g mit einem Zitat von Tucholsky. Auch im öffentlichen Diskurs zu Fragen der<br />
Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit beruft man sich gerne auf Tucholsky. Häu g<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_15, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
368 Frank Schilden<br />
zu Recht, manchmal aber auch nicht 1 . Tucholsky beantwortet seine Frage, „Was<br />
darf die Satire?“, zwar kurzum mit „Alles“ (Tucholsky, 1919a), aber ganz so einfach<br />
ist es bei Tucholsky nicht. Es kommt darauf an, was Satire überhaupt ist,<br />
und Tucholsky argumentiert vor allem aus der Warte der Funktion von Satire. Mit<br />
anderen Worten: Satire darf eben dann alles, wenn sie die Funktion satirischer<br />
Texte bzw. Überformungen erfüllt. Besonders bei der Annäherung an Tabuthemen<br />
manifestiert sich dieses Spannungsverhältnis im öffentlichen Diskurs: vermeintliche<br />
Mohammed-Karikaturen, den Papst herabsetzende Darstellungen der Titanic,<br />
Dieter Nuhrs Ausführungen zum Islam, vulgäre Aussagen von Serdar Somuncu.<br />
Satire im Sinne Tucholskys geht es nicht um bloße Provokation oder ober ächliche<br />
Beleidigung, „Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel<br />
gegen alles, was stockt und träge ist“, sie kämpft „um des Guten<br />
willen“, sie hat „die Berechtigung, die Zeit zu peitschen“ (Tucholsky, 1919a, Hervorhebung<br />
von mir, F.S.). Auch mögliche Mittel benennt Tucholsky klar: Satire<br />
muss übertreiben, die Wahrheit aufblasen und dabei eben auch zum Ziele der Zeitkritik<br />
„ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht“ sein. Was soll der Effekt der Satire<br />
sein? Hier formuliert Tucholsky: „Die echte Satire ist blutreinigend“. Worum es<br />
Tucholsky hier geht, ist eine Abkehr von dem negativen Verständnis von Satire,<br />
dem bloßen Dagegen-Sein, hin zu einem positiven Verständnis: Ziel ist nicht das<br />
Dagegen, sondern das Für-etwas-anderes-Sein, „Politische Satire steht immer in<br />
der Opposition“ – Mittel ist wiederum die aufgeblasene Wahrheit (in den Augen<br />
des Satirikers). „[D]er Satiriker […] verallgemeinert und malt Fratzen an die Wand<br />
und sagt einem ganzen Stand die Sünden einzelner nach, weil sie typisch sind,<br />
und übertreibt und verkleinert“ (Tucholsky, 1919b) im Dienste dessen, was er, der<br />
Satiriker, oder sie, die Satirikerin, für richtig hält.<br />
Wendet man diese etwas differenzierteren Ausführungen Tucholskys auf die<br />
oben beispielhaft benannten Satire-Beispiele an, dürfte klar sein, dass die Mohammed-Karikaturen,<br />
die noch immer auf rechten bzw. rechtsextremen Demonstrationen<br />
oder Kundgebungen unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit gezeigt<br />
werden, dem Anspruch „echter Satire“ im Sinne Tucholskys nicht gerecht werden<br />
können, es ist reines Dagegen. Sie ist dort eben nicht Mittel, die Zeit zu peitschen,<br />
sondern Effekthascherei. Eine ähnliche Karikatur kann in einem anderen Kontext<br />
aber sehr wohl „echte“ Satire zum Ziele der Zeitkritik sein. Vor allem die Karikaturen,<br />
die französische Karikaturistinnen und Karikaturisten nach dem schrecklichen<br />
Terroranschlag auf den Sitz des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo<br />
in Paris veröffentlicht haben, sind ein schönes Beispiel dafür – vor allem weil sie<br />
1 Zum Verhältnis der Grundrechte im Kontext von Satire vgl. die interessanten Ausführungen<br />
von Schröder (2007) und Gärtner (2009).
Lachen gegen den Ungeist?<br />
369<br />
auch thematisieren, dass sich die Pegida 2 -Bewegung eben dieses Attentat politisch<br />
zu Nutze macht.<br />
3 Das Verhältnis von Satire und (Politischem) Kabarett<br />
Bislang wurde Satire hier nicht wissenschaftlich deniert und – an den Beispielen<br />
ablesbar – für unterschiedliche mediale Realisierungen von Satire, nämlich Bilder,<br />
schriftliche Texte und mündlich realisierte Texte, als Oberkategorie gebraucht. Soll<br />
Satire deniert werden, so sollte man nach Breinig von ihrer „soziale[n] Funktion,<br />
Aggression und ästhetische[n] Vermittlung“ ausgehen (Breinig, 1984). Auch Meyer-Sickendieck<br />
(2007) sieht in dem modernen Satire-Begriff keine Gattungsbezeichnung,<br />
sondern vielmehr die Oberbezeichnung für „von aggressiv-ironischer<br />
Rhetorik geprägte ästhetische Werke“, die der „Verspottung des Lasters, im Unterschied<br />
zur Verspottung konkreter Einzelpersonen“, dient. Budzinski (1985) führt<br />
weiter aus, dass Satire „mit Mitteln des Komischen als negativ empfundene gesellschaftliche<br />
und politische Zustände und Konventionen“ übertrieben aggressiv und<br />
ironisch darstellt, um damit Verweriches darzustellen.<br />
Satire ist also der Überbegriff für aggressive Zeitkritik, Verspottung des Lasters,<br />
nicht des Einzelnen, in ästhetischem Gewand. Die unterschiedlichen medialen<br />
Vermittlungen und Stilmittel (Parodie, Ironie, Sarkasmus usw.) nden sich in der<br />
Form der ästhetischen Vermittlung wieder. Eine dieser ästhetischen Vermittlungen<br />
ist die vor einem real fassbaren (und zusätzlich einem möglichen TV-, Internetoder<br />
Rundfunk-)Publikum auf die Bühne gebrachte Form, die ich im Folgenden<br />
mit Kabarett bezeichnen werde. Die große Schnittmenge zwischen dem, was die<br />
Begriffe Kabarett und Satire bezeichnen, spiegelt sich nicht nur in der spannend<br />
ähnlichen Etymologie der beiden Begriffe wider 3 . Auch im de nitorischen Kern<br />
sind Satire und Kabarett recht nah beieinander, bei beiden Begriffen spielt die<br />
Zeitkritik, also die (gesellschaftliche) Funktion, eine entscheidende Rolle: „Kabarett<br />
[…] ist ein zeitlich und örtlich begrenztes Miteinander verschiedener Kunstformen<br />
[…] zum Zwecke leichter und teilweise oder durchgehend zeitkritischer<br />
Unterhaltung, […] die sich kritisch mit Zeiterscheinungen und deren Exponenten<br />
im öffentlichen Leben auseinandersetzt (Budzinski, 1985). In diesem Sinne kann<br />
2 Abkürzungen der Gruppierung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des<br />
Abendlandes“.<br />
3 Satire von lanx satura (lat.) = Schüssel mit vermischtem Inhalt (vgl. Panagl, 2004);<br />
Kabarett von cabaret (frz.) = a) Kneipe, Schenke; b) Kneipen, in denen Speiseplatten<br />
mit Schüsseln unterschiedlichen Inhalts serviert wurden (vgl. Rothlauf, 1994).
370 Frank Schilden<br />
„Kabarett eine pädagogische Institution unserer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft<br />
sein“ (Henningsen, 1967). Auch Buring (2007) ordnet „Kabarett als<br />
Instrument der politischen Bildung“ ein. Appignanesi bezeichnet dahingehend<br />
Kabarett sogar als ein Medium mit berichtender und kritischer gesellschaftlicher<br />
Funktion (vgl. Appignanesi, 1976). Hauptmerkmal ist dabei nach Fleischer Multimodalität<br />
(vgl. Fleischer, 1989): Es gibt verschiedene Kommunikationsebenen,<br />
Tanz, Verkleidung, Einsatz von White Boards, Videos oder Bildern. Auch neuere<br />
Publikationen argumentieren ähnlich und ich p ichte bei, dass „Kabarett aufklären<br />
will, die Meinungsbildung der Zuschauer beein ussen will, sogar eine politische<br />
Kontrollfunktion ausübt“ (Reinhard, 2006). Kabarett hat also aufklärerische<br />
Funktion, ist investigativ, aggressiv, kritisch einem Laster gegenüber.<br />
Die Frage, wie diese Zeitkritik funktioniert, ist damit noch nicht beantwortet,<br />
dazu komme ich später. Neben der gemeinsamen Funktion von Satire und Kabarett<br />
ndet sich in Budzinskis Denition aber auch ein Differenzierungsmerkmal: Klassisches<br />
Kabarett ist örtlich und zeitlich begrenzt, ndet auf einer Bühne, in einer<br />
bestimmten Stadt, an einem Abend, zu einem bestimmten Zeitpunkt, vor einem<br />
bestimmten Publikum statt. Ein satirischer Text ist ein satirischer Text, bspw. Orwells<br />
Animal Farm, ein satirischer Film ist ein satirischer Film, bspw. Chaplins<br />
Great Dictator, – ganz unabhängig vom Rezeptionszeitpunkt. Ein satirischer Text,<br />
der in einem Bühnenprogramm dargeboten wird, wird in diesem Moment Teil des<br />
kabarettistischen Programms. Nach der Performance ist er wieder ein satirischer<br />
Text. Kabarett ist demnach auf die Bühne gebrachter satirischer Inhalt, aber nicht<br />
jeder satirische Inhalt ist gleich kabarettistisch.<br />
Die Entwicklung hin zum Medien- und damit Massenkabarett, das z. B. von den<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ausgestrahlt wird, damit aber keinesfalls<br />
das „klassische“ Bühnenkabarett abgelöst hat, hat die von Budzinski angeführte<br />
Differenzierungsmöglichkeit der örtlichen und zeitlichen Begrenzung ein wenig<br />
aufgeweicht: Durch die Ausstrahlung im Rundfunk oder durch Internetdienste<br />
oder die Speicherung auf Onlineportalen wie Youtube wird der kabarettistische<br />
Vortrag an ein dispersives Publikum indirekt durch ein Massenmedium vermittelt<br />
(vgl. Maletzke, 1998), es wäre also nicht mehr zeitlich und räumlich begrenzt.<br />
Allerdings ist der entscheidende Punkt für die Kabarettdenition die Möglichkeit<br />
der Interaktion mit einem Publikum (vgl. Pschibl, 2008), es ist also für den Vortrag<br />
erst einmal entscheidend, ob ein fassbares Publikum während des Vortrags anwesend<br />
ist (wie es bspw. auch bei den Mitternachtsspitzen, Die Anstalt, dem Satire<br />
Gipfel usw. der Fall ist), und nicht, ob eventuell ein weiteres nicht berechenbares<br />
Publikum andernorts gleichzeitig oder zu einem anderen Zeitpunkt auch rezipiert.<br />
Dass die Rezeptionssituation in diesen Fällen eine andere ist, dürfte allerdings<br />
klar sein.
Lachen gegen den Ungeist?<br />
371<br />
Wellstein (2007) ordnet Comedy, Intellektuelle Satire, Polit-Klamauk und Politisches<br />
Kabarett mittels der Merkmale „Kritischer Anspruch“ und „Politischer<br />
Bezug“ an (Abbildung 1).<br />
Abbildung 1 Politisches Kabarett (nach Wellstein, 2007)<br />
Sind beide Merkmale in einem vorgetragenen Text wenig ausgeprägt, handelt es<br />
sich demnach um Comedy. Ist lediglich der politische Bezug zur Unterhaltung<br />
stark ausgeprägt, liegt Polit-Klamauk vor, bei einer einseitig starken Ausprägung<br />
des kritischen Anspruchs ist es ein Vortrag Intellektueller Satire. Sind beide Merkmale<br />
stark vorhanden, handelt es sich nach Wellstein um Politisches Kabarett. Dieses<br />
Modell ist aus mehreren Perspektiven problematisch. Zum einen trennt Wellstein<br />
nicht nach dem Produkt und nach Vortrag des Produkts, sodass sich Satire in<br />
seinem Modell auf derselben Ebene bendet wie Kabarett. Bezieht sich Wellstein<br />
hier auf den Vortrag, wäre eine Differenzierung von Kabarett und Politischem Kabarett<br />
anstatt der Trennung Intellektuelle Satire versus Politisches Kabarett mittels<br />
der gewählten Merkmale zumindest ebenenkonstant. Zum anderen ist unklar, an<br />
welcher Stelle das Maß an kritischem Anspruch und politischem Bezug erreicht<br />
ist, um von Satire und nicht von Comedy und von Kabarett und nicht von Polit-<br />
Klamauk zu sprechen. Außerdem wirkt die Einteilung so, als könne ein vollständiger<br />
Vortrag immer genau einer Kategorie zugewiesen werden. Die Beispiele Dieter<br />
Nuhr und im Besonderen Serdar Somuncu, Oliver Kalkofe oder Carolin Kebekus<br />
zeigen, dass dies mitnichten so ist, es handelt sich um ein prototypisch zu lesendes<br />
Modell. Innerhalb eines Programms können Texte aus verschiedenen Kategorien<br />
vorgetragen werden. Allerdings helfen Wellstein die Merkmale bei einer Kategorisierung<br />
von Politischem Kabarett (wenn auch nicht bei der Differenzierung und<br />
der Beschreibung des Verhältnisses von Kabarett und Satire). Auch Wellstein sieht
372 Frank Schilden<br />
im Merkmal der Kritik bei politischem Bezug und daraus resultierender Aufklärung<br />
das klare Ziel von Politischem Kabarett, „Missstände zu thematisieren und<br />
aufzudecken und Erkenntnis im Publikum zu fördern“ (Wellstein, 2007).<br />
4 Linguistisches Verständnis von Politik<br />
Im Weiteren soll hier das Merkmal des politischen Bezugs ein wenig diskutiert<br />
werden. Wellstein weist darauf hin, dass man Politik eng, aber auch weit fassen<br />
kann. Darin sind sich auch Linguistinnen und Linguisten, die sich mit dem Verhältnis<br />
von Sprache und Politik befassen, weitestgehend einig (vgl. z. B. Carius<br />
& Schröter, 2009; Niehr, 2014). In einem engen Politikverständnis stehen die<br />
sprachlichen Handlungen von Trägern und Trägerinnen politischer Ämter – vom<br />
Staatsoberhaupt bis zu „Hinterbänklern“ – im Vordergrund sowie die Bekanntmachungen<br />
von politischen Parteien (Partei-, Wahl- oder Grundsatzprogramme,<br />
Wahlkampfmittel etc.). Diese Äußerungen können zum einen an die Öffentlichkeit<br />
gerichtet sein, zum anderen kann aber auch die fachsprachliche Betrachtung<br />
in bspw. Kommissionen Kern der Betrachtung sein. Bei einem weiteren Politikverständnis<br />
kommt die öffentliche Kommunikation über Politik in den Massenmedien,<br />
wie politischer Journalismus oder Auftritte in Polit-Talkshows, mit hinzu,<br />
während ein weites Politikverständnis „auch das Reden aller Mitglieder der Gesellschaft<br />
über Politik“ miteinbezieht (Carius & Schröter, 2009). Das zieht somit<br />
die Äußerungen von bspw. Lobbyverbänden, Personen oder Gruppen des öffentlichen<br />
Interesses (z. B. Thilo Sarrazin oder die Toten Hosen) mit in die Betrachtung<br />
ein. Abbildung 2 stellt die Gegenstandsbereiche der linguistischen Betrachtung<br />
von Politik unter dem Oberbegriff politische Sprache nach Burkhardt (1996) dar:<br />
Abbildung 2 Gegenstandsbereiche der Politolinguistik (Burkhardt, 1996)<br />
Die idealtypische Einteilung von Burkhardt ist für diesen Kontext zweifach interessant.<br />
Zum einen verdeutlicht sie, warum Kabarett mit politischem Bezug für die<br />
Linguistik interessant ist, es gehört zum halböffentlichen Bereich des Sprechens<br />
über Politik und thematisiert wiederum politische Mediensprache, Politikerspra-
Lachen gegen den Ungeist?<br />
373<br />
che, mittels derer sich Politiker und Politikerinnen oder Parteien zum Erzeugen<br />
von Zustimmungsbereitschaft (vgl. Niehr, 2014) an eine breite Öffentlichkeit richten,<br />
und die Sprache in der Politik, die den eher fachsprachlichen Bereich abdeckt.<br />
Zum anderen ist die kleine Präposition über hier interessant, denn sie offenbart<br />
eine stilistische Eigenschaft des Politischen Kabaretts, die dadurch erklärbar<br />
wird: Das Sprechen über Sprechen bzw. Sprache – Metasprache (vgl. Schiewe &<br />
Wengeler, 2005). Walther Dieckmann hat bereits 1969 in Anlehnung an Lexikon-<br />
Denitionen Politik aus linguistischer Perspektive de niert als „staatliches oder<br />
auf den Staat bezogenes Sprechen [sprachlichen Handeln, F.S.]“ (Dieckmann,<br />
1975). Heiko Girnth formuliert den Zusammenhang zwischen Sprache und Politik<br />
so, dass Sprache nicht einfach ein Mittel im politischen Diskurs ist, sondern<br />
die „Bedingung der Möglichkeit von Politik“ (Girnth, 2002). Im zweiten Teil der<br />
Denition von Dieckmann ndet sich das Sprechen über Politik wieder, sie beinhaltet<br />
nicht nur den Sprachgebrauch von Politikern selbst, sondern auch das<br />
auf den Staat bezogene Reden und Schreiben über eben jenen (vgl. Niehr, 2014).<br />
Politisches Kabarett ist also zum einen Teil des Politischen selbst, wenn man ein<br />
weites Politikverständnis gelten lässt, thematisiert aber auf der anderen Seite die<br />
weiteren Bereiche eines solchen Verständnisses und zwar sprachlich, indem der/<br />
die Kabarettist/-in mittels Sprache auf das staatliche oder auf den Staat bezogene<br />
sprachliche Handeln Bezug nimmt. Das Sprechen über die Verbrechen des „NSU“<br />
und deren Aufarbeitung und Protagonisten kann also, je nach Fokus des Gesagten,<br />
verschiedene Facetten des Modells Burkhardts betreffen: den Verfassungsschutz<br />
und dessen Äußerungen als staatliche Behörde, die politischen Diskussionen und<br />
Kämpfe über und um den Verfassungsschutz sowie die mediale Berichterstattung<br />
über den „NSU“.<br />
5 Existenzformen von Sprache<br />
Dass Sprache wiederum selbst ein höchst heterogen benutztes Label ist, ist in der<br />
Linguistik hinreichend bekannt. Peter von Polenz (1973) unterscheidet insgesamt<br />
6 „Erscheinungsweisen“ von Sprache, auf die man referieren kann, wenn man<br />
mittels Sprache über Sprache spricht: Sprachkompetenz, Sprachsystem, Sprachgebrauch<br />
4 , Sprachnorm, Sprachverwendung, Sprachverkehr. Für den Kontext<br />
dieses Aufsatzes sind vor allem die beiden Formen Sprachgebrauch und Sprachverwendung<br />
relevant. Während mit Sprachverwendung eine einzelne sprachliche<br />
4 Von Polenz nutzt „Sprachbrauch“, durchgesetzt hat sich aber im Laufe der Zeit<br />
„Sprachgebrauch“ als Fachterminus.
374 Frank Schilden<br />
Handlung eines Individuums zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort<br />
bezeichnet wird (bspw. die Aussage von Eva Hermanns zur Familienpolitik unter<br />
dem NS-Regime), ist (öffentlicher) Sprachgebrauch ein auf gesellschaftlich-sozialer<br />
Ebene beschreibbares Phänomen, das aus einer Vielzahl von Aussagen zu<br />
einem bestimmten Thema besteht (vgl. Niehr 2014). Öffentlicher Sprachgebrauch<br />
ist mit den Mitteln der (linguistischen) Diskursanalyse auf verschiedenen Ebenen,<br />
in der sog. Düsseldorfer Schule wären das Lexik, Metaphorik, Argumentation und<br />
eben Sprachthematisierungen (Metasprache), beschreibbar. Das Thematisieren<br />
von bestimmten Diskursen ist somit ein möglicher Teil der Thematisierung von<br />
Sprachgebrauch.<br />
Sprache ist zudem auf unterschiedlichen Ebenen thematisierbar. Innerhalb der<br />
einzelnen Ebenen sind nun wiederum unterschiedliche Aspekte der jeweiligen<br />
Ebene thematisierbar, wie bspw. die Wortebene oder die Ebene der Argumentation.<br />
Ich möchte dies an einem kleinen Beispiel aus Die Anstalt vom 9.12.2014<br />
verdeutlichen. Mit Blick auf die zum Teil rechtspopulistischen und rassistischen<br />
Demonstrationen von Pegida in Dresden führt Claus von Wagner in seinem Solo<br />
aus:<br />
Liebe PEGIDAs – und weil es grad so aktuell ist – liebe CSU, eure Feindbilder, die<br />
sind so real wie der Weihnachtsmann und nichts anderes als schlecht versteckter<br />
Rassismus. Und die eigentliche Frage ist doch die: Wenn man das Abendland nur<br />
„verteidigen“ kann, indem man menschenfeindliches Gedankengut vor sich herträgt<br />
– was gibt’s dann eigentlich noch zu verteidigen. 5<br />
Sprachlich geschieht hier viel Interessantes, bspw. das Zusammenbringen der Empfehlungen<br />
der CSU für Migrantinnen und Migranten, auch im Privaten deutsch<br />
zu sprechen, mit den Protesten der Pegida. Hier möchte ich mich allerdings auf<br />
die verschiedenen Ebenen der Sprachthematisierung und die entsprechend thematisierten<br />
sprachlichen Elemente und Aspekte konzentrieren. Mit dem Einschub<br />
„und weil es grad so aktuell ist“ thematisiert der Kabarettist hier den zu diesem<br />
Zeitpunkt öffentlich geführten Diskurs über die Empfehlungen der CSU, kurz vor<br />
diesem Teil des Solos war das zentrale Zitat per Bildschirm dem Bühnen- und TV-<br />
Publikum gezeigt worden 6 . Der Einschub thematisiert also den Diskurs, das Zitat<br />
erst einmal eine konkrete (zentrale) Sprachverwendung einer Partei. Der folgende<br />
5 http://www.zdf.de/ZDFmediathek/kanaluebersicht/2078314#/beitrag/video/2300716/<br />
Solo:-Claus-von-Wagner (ab 4:20min, zuletzt eingesehen am 12.12.2014).<br />
6 Bei dem in der Sendung gezeigten Zitat handelt es sich um die Formulierung aus dem<br />
Leitantrag zum CSU-Parteitag 2014, diese Formulierung hat es aber – zu großem Teil
Lachen gegen den Ungeist?<br />
375<br />
Rassismus-Vorwurf bringt die themenverwandten Aussagen der Pegida und der<br />
CSU in einen Zusammenhang und thematisiert und kritisiert dabei den Sprachgebrauch<br />
beider Gruppen gleichzeitig und zwar über die Ebene der – in den Augen<br />
des Kabarettisten – (subtilen) rassistischen Argumentation. Das Solo schließt mit<br />
dem metasprachlichen Hinweis auf ein zentrales Mehrwort-Lexem der Pegida, das<br />
hier mit der Zusammenstellung auch der CSU in den Mund gelegt wird: die „Verteidigung<br />
des Abendlandes“ gegen alles Fremde.<br />
6 Wie funktioniert (Politisches) Kabarett?<br />
Um zu beschrieben, wie satirische oder komische Effekte im Kabarett erzielt werden<br />
können, wird häu g zur Beschreibung und Analyse bzw. Interpretation von<br />
(rhetorischen) Stilmitteln, wie Ironie oder Übertreibung oder auch Travestie, gegriffen.<br />
Diese Beschreibungen greifen zumeist eine Ebene zu hoch, denn diese<br />
Stilmittel sind im Kabarett im Dienste des zugrunde liegenden Prinzips der Funktionsweise<br />
von Kabarett zu sehen: „Kabarett ist das Spiel mit dem erworbenen<br />
Wissenszusammenhang des Publikums“ und mit „den Bruchstellen“ eben dieses<br />
Wissens (Henningsen, 1967). Eine mögliche Bruchstelle wäre im obigen Beispiel<br />
das Nebeneinander einer nachweislich demokratischen Partei, der CSU, und einer<br />
sehr heterogenen Masse, der Pegida-Bewegung, in einer Position, die wenig demokratisch<br />
ist: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Rassismus. Inkongruent<br />
wird es in dem Moment, wenn das Publikum merkt, dass eine demokratische Partei<br />
wie die CSU per denitionem keine rassistischen Thesen und Forderungen vertreten<br />
dürfte. Dieser Punkt wird auch bei Andreas Rebers´ Beitrag im Satire Gipfel<br />
(Abschnitt 6.2.2) wiederkehren, wenn Rebers mit der bildlichen Darstellung des<br />
Mörder-Trios in den Medien und dem Wissen der Öffentlichkeit spielt, sodass sich<br />
das Publikum merklich ertappt fühlt. Der hier zugrunde gelegte Wissensbegriff<br />
bezeichnet weniger ein binär an der Welt überprüfbares Wahrheitswissen im Sinne<br />
eines Wahr-falsch-Verhältnisses, sondern ideologisch gebundene Überzeugungen,<br />
bei denen persönliche Erfahrungen der Rezipienten sowie emotionale Bewertungen<br />
eine große Rolle spielen (vgl. Beckers, 2012; Schilden, 2013). Um diese „Heterogenität<br />
gesellschaftlichen Wissens“, um „dominierende und konkurrierende<br />
Denkweisen in einer Gesellschaft“ (Wengeler, 2013a), die „in einer gegebenen Zeit<br />
zu einem gegebenen Ort [innerhalb einer bestimmten Gruppe, F.S.]“ dominant<br />
sicherlich auch aufgrund der öffentlichen Häme – nicht in den Beschluss des Parteitags<br />
geschafft.
376 Frank Schilden<br />
sind (Wengeler, 2013b), zu analysieren, eignet sich eine diskurslinguistische Herangehensweise.<br />
Das Vorhandensein von politischem Wissen und politischen Überzeugungen ist<br />
also zum einen Voraussetzung dafür, dass Kabarett seinen Zweck, seine Funktion,<br />
erfüllen kann – ohne vorhandenes politisches Wissen, bzw. politische Einstellungen<br />
oder Überzeugungen, können auch keine Bruchstellen in diesem/-n zum Zwecke<br />
der aufklärenden Zeitkritik evoziert werden. Zum anderen, und da spielt wieder<br />
Metasprachliches eine wichtige Rolle, sind politisches Wissen und politische<br />
Überzeugung zu einem großen Teil sprachgebunden, das hat auch Henningsen<br />
bereits erkannt (vgl. Beckers, 2012; Henningsen, 1967). Damit ist auch der Erwerb<br />
politischen Wissens zum großen Teil sprachgebunden: über den Politikunterricht<br />
und in der politischen Bildung, in Nachrichten, Zeitungen, Reden etc. Politisch<br />
gebildete Menschen (er)kennen die politische Dimension der Begriffe alternativlos,<br />
ausländerfreie Zone, Solidarität oder von in andere Kontexte transformierten<br />
Argumentationsstrukturen, ohne dass explizit darauf hingewiesen werden muss,<br />
dass nun auch Sprache thematisiert wird. Eitz & Stötzel (2009) fassen dieses Phänomen,<br />
vor allem für sog. Identi kationsvokabeln, unter den Begriff „implizite<br />
Sprachthematisierung“. Diese Form der Thematisierung bereitet dem Publikum<br />
ein zusätzliches Vergnügen, da es dabei selbst die Leistung des Erkennens der<br />
Sprachthematisierung vollbringen muss. Das Erkennen ist möglich, weil bestimmte<br />
Begriffe zentral für bestimmte Diskurse oder Ideologien sind, in „Schlagwörtern<br />
werden die Programme kondensiert“ (Dieckmann, 1975).<br />
6.1 Kabarett und Lachen<br />
Budzinski sieht in den Mitteln des Komischen den rhetorischen Weg der Wahl,<br />
wenn es um die Vermittlung satirischer Inhalte im Kabarett geht (Budzinski,<br />
1985), eine Auseinandersetzung mit Humortheorien im Zusammenhang mit Kabaretttheorien<br />
ist dementsprechend eine lohnenswerte Perspektive. Bei den Ausführungen<br />
zu Henningsens Kabarett-Denition fällt auf, wie nah sich diese Denition<br />
an den Ideen der Inkongruenztheorie(-n) zum Humor bzw. der Komik bewegt<br />
(vgl. Brock, 2004). Allerdings ist es hier wichtig, zu betonen, dass Kabarett nicht<br />
unbedingt witzig ist um des Witzes willen, wie es bspw. bei Comedy der Fall ist,<br />
sondern die Kollision der Wissensbereiche, das Entdecken von Bruchstellen im<br />
eigenen Wissen, durch die zugrunde gelegte Inkongruenz zu komischen Effekten<br />
führen kann, diese aber nicht das Hauptziel der Performance sind. Die Sprachthematisierungen<br />
stellen dabei eine weitere mögliche Kommunikationsebene dar (vgl.<br />
Brock, 2004), die erkannt werden kann, aber nicht zwangsläu g erkannt werden
Lachen gegen den Ungeist?<br />
377<br />
muss, um dem Plot folgen zu können. Dass beim Publikum eine aktive Rolle anzunehmen<br />
ist, es sich auf die Kollision von Wissen einlassen muss, ist eine Grundbedingung<br />
zur Erfüllung der satirischen Funktion des Kabaretts.<br />
An dieser Stelle ist kein Platz für eine detaillierte Auseinandersetzung mit<br />
(linguistischen) Theorien des Humors, zwei relevante Ansätze sollen aber kurz<br />
erwähnt sein. Schubert (2014) nennt „zwei wesentliche linguistische Ansätze der<br />
Humortheorie“, die sich wiederum beide in den allgemeinen Ansatz der Inkongruenz-Theorie,<br />
bzw. Incongruity Theory, einordnen lassen: 1) Semantische Skript-<br />
Theorie des Humors (Semantic Script Theory of Humour) (vgl. Raskin, 1985), 2)<br />
Allgemeine Theorie verbalen Humors (General Theory of Verbal Humour) (vgl.<br />
Attardo, 2001, 2008). Raskins Theorie beruht auf der Annahme, dass zur Entstehung<br />
von Humor zwei (oder bei mehreren Ebenen auch mehr) mentale Skripte für<br />
Rezipienten unerwartet miteinander kombiniert werden, sodass eine Inkongruenz<br />
entsteht, die vom Rezipienten gelöst werden muss. Hier spielt das politische Wissen<br />
des Publikums an einem Kabarettabend eine bedeutende Rolle, da Skripte<br />
durch Andeutungen, Identi kationsvokabeln, Argumentationsmuster und Diskursthematisierungen<br />
getriggert werden. Das Beispiel von Volker Pispers zu den<br />
rassistischen Morden des „NSU“ zeigt, wie mit sprachlich realisierter Argumentation<br />
metasprachlich auf die Argumentation in anderen politischen Kontexten angespielt<br />
wird. Allerdings kommt das Kabarettpublikum mit gewissen Erwartungen<br />
zur Vorstellung bzw. die Kabarettsendung wird mit solchen rezipiert, sodass<br />
das Publikum in kognitiver „Alarmbereitschaft“ und auf der Suche nach Inkongruenzen,<br />
Pointen und politischer Zeitkritik ist. Attardos Ansatz, die allgemeine<br />
Theorie verbalen Humors, ist eine Weiterentwicklung der Theorie Raskins und<br />
ist „nicht nur auf ausformulierte Witze, sondern auch auf andere humoristische<br />
Texte […] anwendbar“ und bietet „ein recht umfassendes Instrumentarium“ an<br />
(Schubert, 2014), wenn es um die Analyse „humorvoller Kommunikationsakt[e]“<br />
geht. Attardos Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Kriterien bzw. Gesichtspunkte<br />
nennt, mittels derer verbaler Humor betrachtet werden kann: Ausgehend<br />
von einer möglichen Skriptopposition (1) und dem logischen Mechanismus, der<br />
die Inkongruenz entstehen lässt (2), über die Opfergruppe (3) und die narrative<br />
Strategie (4), hin zur sprachlichen Realisierung (5) und den Situationsparametern<br />
(6) (vgl. Schubert, 2014). Für Politisches Kabarett wurde hier zu den Kriterien 3<br />
und 6 schon Relevantes ausgeführt, die Gesichtspunkte 1, 2, 4 und 5 werden nun<br />
exemplarisch gefüllt.
378 Frank Schilden<br />
6.2 Der „NSU“-Diskurs im Kabarett<br />
Das bislang theoretisch ausgeführte soll im Folgenden nun auf zwei Beispiele aus<br />
dem „NSU“-Diskurs im Kabarett angewandt werden. Bei den kabarettistischen<br />
Überformungen der Ereignisse um die sog. Zwickauer Terrorzelle, den „NSU“,<br />
fällt auf, dass die Morde an sich gar nicht kritisch bearbeitet werden, die Ablehnung<br />
der rassistischen Morde ist schlicht vorausgesetzt. Es geht vielmehr um Diskurs-<br />
bzw. Medienkritik oder um antizipierte Reaktionen, die aus vergangenen<br />
öffentlichen Reaktionen abgeleitet werden, sowie um Kritik an der gesellschaftlichen<br />
Mitte. Damit leistet das Politische Kabarett zu diesem Thema einen wichtigen<br />
Beitrag zur öffentlichen Auseinandersetzung und kritischen Verarbeitung der<br />
rassistischen Mordserie des NSU. Die beiden folgenden Beispiele sollen dies verdeutlichen.<br />
Zuerst soll ein Ausschnitt von Volker Pispers auf der Preisverleihung<br />
des Deutschen Kleinkunstpreises 2012 näher betrachtet werden.<br />
6.2.1 Volker Pispers<br />
Es ist immer wieder erstaunlich, was man alles ndet, wenn man richtig sucht.<br />
Das steht ja schon in der Bibel: „Wer suchet, der ndet.“ Und so erklärt sich auch<br />
das Verfassungslose, nämlich warum diese Schlappschwänze, verzeihenseweise,<br />
Schlapphüte vom Verfassungsschutz 13 Jahre lang nicht bemerkt haben, dass hier<br />
ein braunes Mördertrio unterwegs war. [Pause] Sehen Sie, wenn man nicht sucht,<br />
kann man auch nicht nden. Man kann natürlich sagen: „Wenn man etwas gut n-<br />
det, muss man es nicht suchen“. [Gelächter] Sehense mal: Diese Zwickauer Zelle ist<br />
vor 13 Jahren abgetaucht. Vor 13 Jahren haben die sich ihrer Verhaftung entzogen<br />
und sind abgetaucht. Wären das Islamisten gewesen, hätten am Tach danach die<br />
Fahndungsplakate an jedem zweiten Baum gehangen. Aber als Nazis standen sie<br />
natürlich unter besonderem Verfassungsschutz. [Gelächter] Und wäre die dumme<br />
örtliche Polizei denen nicht noch in die Quere gekommen, dann wären die heut<br />
noch unterwegs. Plötzlich, innerhalb von wenigen Tagen, wurden Erkenntnisse gesammelt<br />
über bis zu 20 Helfershelfer im Hintergrund und diese Erkenntnisse konnten<br />
die Spezialisten vom Verfassungsschutz 13 Jahre lang mit all ihren V-Leuten<br />
nicht sammeln. Wer´s glaubt, ist selig, am Schlafen. Jetzt bin ich ganz gespannt, was<br />
bei den Untersuchungsausschüssen rauskommt. Werden die wirklich untersuchen,<br />
warum nach diesen Nazis nicht gesucht worden ist? [Pause] Auch die Schlapphüte<br />
werden vom Kopf her stinken und in meinen Augen gibt´s nur 2 Möglichkeiten: Entweder<br />
der gesamte Verfassungsschutz steckt bis über beide knallrote Ohren tief im<br />
braunen Sumpf. Oder die Führungsebene vom Verfassungsschutz hat 13 Jahre lang<br />
in der Nase gebohrt, uns die Popel jedes Jahr als Verfassungsschutzbericht auf den<br />
Tisch gelegt – und in den unteren Ebenen haben die Nazi-Fans den braunen Sumpf<br />
mit V-Leuten bewässert. [Pause] Wozu werden sie sich bekennen? Zur Unfähigkeit<br />
oder zur Mittäterschaft? Soll ich mal raten? Wissen Sie, was sich rausstellen wird?<br />
Die Führungsebene war völlig ahnungslos, die Führungsebene beim Verfassungs-
Lachen gegen den Ungeist?<br />
379<br />
schutz war völlig ahnungslos, es war ein unglaublich geschickter Einzeltäter – das<br />
ist Tradition in Deutschland – ein [Gelächter] unglaublich [Gelächter, längeres Klatschen]<br />
ein unglaublich geschickter Einzeltäter, der die oberen Etagen getäuscht hat<br />
und den braunen Sumpf vor dem Amt geschützt hat. Und der, der wird jetzt den<br />
Preis zahlen müssen, denn das kennen wir aus jedem Agenten-Film, meine Damen<br />
und Herren, zu jedem Geheimdienstauftrag gehört immer der Satz: „Wenn Sie erwischt<br />
werden, müssen wir leugnen, Sie gekannt zu haben.“ (Volker Pispers, Wortlaut<br />
Preisverleihung Deutscher Kleinkunstpreis 2012, eigenes Transkript)<br />
Auf einer ersten Ebene übt Volker Pispers mit dem Vortrag dieses Textes Zeit- und<br />
Politikkritik, vor allem übt er Kritik an der Behörde Verfassungsschutz, der es<br />
trotz Involvierung durch V-Männer nicht gelungen ist, die Morde zu verhindern<br />
oder aufzuklären. Dies gelingt Pispers mittels einer sehr dichten Sprache und Argumentation,<br />
da er eine große Menge relevanten und in diesem Falle homogenen<br />
Wissens beim Publikum voraussetzen kann und aus dem Diskurs rund um die<br />
Morde des „NSU“ nur die diskursiven Eckdaten, die wichtigsten Akteure und Ereignisse<br />
benennen, sie aber erstmal nicht weiter erklären oder detailliert in einen<br />
Zusammenhang bringen muss: Verfassungsschutz, 13 Jahre (5 mal) , Nazis, örtliche<br />
Polizei, Helfershelfer im Hintergrund, V-Leute, Mördertrio, Verfassungsschutzbericht,<br />
Untersuchungsausschüsse, obere Etagen, brauner Sumpf. Pispers<br />
Meinung zum Verfassungsschutz macht allein das Wortspiel Schlappschwänze<br />
bzw. Schlapphüte klar. Spannender ist aber die gesamtargumentative Richtung des<br />
Beitrags. Pispers bietet 2 mögliche Konklusionen zu den vorher benannten Daten<br />
an (vgl. Toulmin, 1996) an: Der Verfassungsschutz ist entweder Mittäter oder völlig<br />
inkompetent. Beide Meinungen sind im öffentlichen Diskurs so vertreten, Pispers<br />
kann also durch die bloße Zitation der Argumente an die Argumentationen<br />
anknüpfen und kann so mehrheitstauglich recht simpel argumentieren. Der Kabarettist<br />
thematisiert also implizit die Argumente aus dem öffentlichen Raum, indem<br />
er sie auf der Bühne satirisch einsetzt. Pispers geht aber noch einen Schritt weiter<br />
und zitiert ein weiteres Argument und argumentiert auf einer tieferliegenden<br />
Ebene, was zugleich zu Inkongruenzen auf Seiten des Publikums führt. Pispers<br />
zitiert ein Argument, dass aus dem Vergangenheitsbewältigungsdiskurs der BRD<br />
bekannt ist (vgl. Eitz & Stötzel, 2007, 2009; Fischer & Lorenz, 2009; Kämper,<br />
2005): Hitler als Einzeltäter und im Zusammenhang damit die hier mitgemeinte<br />
verführte und damit angeblich unschuldige große Masse 7 . Pispers Argumentation<br />
7 Diese abwehrende Reaktion nach dem Mai 1945 war zumeist durch eine vermeintliche<br />
Unterstellung von „Kollektivschuld“ ausgelöst. Schriftliche Belege, dass die Politiker<br />
der Alliierten den Begriff Kollektivschuld benutzt oder im rechtlichen Sinne für eine<br />
solche argumentiert haben, gibt es meines Wissens nach nicht. Das Gegenteil ist der
380 Frank Schilden<br />
funktioniert an dieser zentralen Stelle so: Was viele Menschen nach dem Mai 1945<br />
meinten, mit einem Wahrheitsanspruch äußern zu können, das könnte auch heute<br />
noch im Kontext des „NSU“ das Ergebnis einer öffentlichen Meinungsbildung<br />
sein. Aber genauso faktisch falsch wie es bspw. mit Blick auf die Geschichte des<br />
Antisemitismus in Europa ist, zu sagen, dass ein Einzeltäter die Deutschen 1933<br />
verführt habe, wäre es falsch, wenn es das Ergebnis der Ermittlungen und der<br />
öffentlichen Diskussion im Jahre 2012 (2015) wäre, dass es nur einen Hauptschuldigen<br />
beim Versagen des Verfassungsschutzes bzw. innerhalb der Gesellschaft im<br />
Kontext der Morde des „NSU“ gäbe. Und genau an diesem Punkt setzt Pispers<br />
tiefere Argumentation an: Es geht um komplexe Verschränkungen, Entwicklungen,<br />
Kausalketten und auch Verantwortungen eines jeden einzelnen – eben auch<br />
des Publikums. Das Publikum stimmt den beiden Konklusionen der ersten argumentativen<br />
Ebene, Verfassungsschutz als Mittäter oder als inkompetent, mit klarer<br />
Schuldzuweisung zu, muss aber bei der Prognose von Pispers erkennen, dass auch<br />
eine dritte Möglichkeit mit dem Hinweis auf die Diskurs-Geschichte der BRD<br />
zumindest möglich ist, bei der sich jeder einzelne dann nach seinem Anteil an der<br />
Schuld und seiner Rolle in der Kausalkette kritisch hinterfragen müsste, denn die<br />
Einzeltäterthese hat sich als historisch unhaltbar herausgestellt. Die Parallele zur<br />
Vergangenheitsbewältigung der BRD – das hat Tradition in Deutschland – kann<br />
nur hergestellt werden, wenn man den Hinweis von Pispers argumentativ einordnen<br />
und das metasprachliche Potenzial des impliziten Argument-Zitats erkennen<br />
kann. Die Rolle des Publikums und das mitgebrachte Wissen sind für das Funktionieren<br />
von Politischem Kabarett also unverzichtbar, Pispers geht davon aus, dass<br />
die zitierten Argumente erkannt und eingeordnet werden können.<br />
6.2.2 Andreas Rebers<br />
Was mich ein bisschen irritiert und was mich ärgert, ist die Darstellung in der<br />
Öffentlichkeit, dieser Damen und Herren, dieser NSUler. [Schwarz-weiß-Bild des<br />
Mörder-Trios erscheint] Wie die dargestellt werden, ich hab immer das Gefühl,<br />
wenn ich das sehe, diese Fotos hat man im Mai ´45 gemacht. [Kurzes Gelächter] Ja,<br />
und das soll ja auch so wirken, damit die gesellschaftliche Mitte in der Talkshow sagen<br />
kann, „och, guck dir die mal an, ha, mmmh, die sehen ja auch schon anders aus.<br />
Die sehen nicht aus wie wir. Denn wir sind ja multikulturell und wir sind bunt.“ Und<br />
da kann sich jeder Tugendbold dran gesund stoßen. Aber das ist mir ein bisschen zu<br />
einfach, ich glaube, so sehen die gar nicht aus. [Buntes Bild des Trios erscheint] Auh<br />
Fall, die Nürnberger Prozesse sind ein Beispiel dafür, die Ermittlungen des Simon<br />
Wiesenthal Center ein anderes. Die Kollektivschuldthese wurde vielmehr „vor allem<br />
aus Kreisen ehemaliger NS-Eliten […] gestreut“ (Fischer & Lorenz, 2009). Auch Eitz<br />
& Stötzel (2007, 2009) und Kämper (2005) argumentieren vergleichbar.
Lachen gegen den Ungeist?<br />
381<br />
man, eigentlich gar nicht unsympathisch, die sehen ein bisschen aus wie wir. [Pause]<br />
Das ist nicht schön, ich weiß das, aber, eh, Faschismus kommt immer aus der<br />
gesellschaftlichen Mitte. So ist das nun mal, sonst wäre er nicht tragfähig. [Pause]<br />
So what, [Pause] lassen wir das, nech, bei uns hat alles seinen Platz. [Spielt Akkordeon<br />
und singt] Akten, die mal geschreddert sind, Fakten, die dann verheddert sind.<br />
Wir sind perdü und nicht per du und Müllers Esel, was weiß ich, wer war in der<br />
NSU – die Meisten sagen, weiß ich nicht. Am Ende steht auf weiter Spur ein kleines<br />
Tischlein-deck-dich und wenn du fragst, wie geht es dir, dann sagt das Tischlein:<br />
„Leck mich!“. Das war ein Witz! Wo bleibt der Lacher? Bald kommt der K-Kabelbrand<br />
– im Herzschrittmacher. (Andreas Rebers, Satire Gipfel am 8.4.2013)<br />
Andreas Rebers’ Auseinandersetzung mit dem „NSU“ im Kabarett unterscheidet<br />
sich stilistisch von der Volker Pispers’, allerdings gibt es auch Gemeinsamkeiten.<br />
Volker Pispers erzählt anekdotisch, zum Teil vulgär, und bleibt in seinem argumentativen<br />
Kern implizit, die Kritik wird nur angedeutet. Andreas Rebers macht<br />
zu Beginn explizit, was er als kritikwürdig ansieht, nämlich die Art und Weise,<br />
wie der mediale Diskurs um den „NSU“ geführt wird: „Was mich ein bisschen irritiert<br />
und was mich ärgert, ist die Darstellung in der Öffentlichkeit, dieser Damen<br />
und Herren, dieser NSUler“, Rebers übt Diskurskritik als Zeitkritik. Rebers nutzt<br />
dafür die häug im öffentlichen Raum benutzten schwarz-weißen Bilder des Trios<br />
und setzt diesen ein Farbfoto beim Camping als Kontrast gegenüber.<br />
Rebers verweist in diesem Kontext explizit auf den „Mai ‘45“, Pispers war auch<br />
beim Verweis auf die NS-Vergangenheit Deutschlands und die sprachliche Vergangenheitsbewältigung<br />
ein wenig impliziter. Rebers unterstellt der öffentlichen<br />
Berichterstattung zugleich eine bestimmte Funktion, die erfüllt werden soll, indem<br />
genau diese Bilder benutzt werden: Die Öffentlichkeit soll sich nicht mit dem<br />
„NSU“ identi zieren können, soll ihr Credo der bunten Gesellschaft aufrechterhalten<br />
können. Rebers Urteil darüber ist klar: „Da kann sich jeder Tugendbold<br />
dran gesund stoßen.“ Mit der erwähnten gesellschaftlichen Mitte hat dieses auf<br />
den schwarz-weißen Bildern dargestellte Trio nichts zu tun. Mit dem Bildwechsel<br />
hin zum bunten Camping-Bild ändert sich auch die Wahrnehmung im Publikum,<br />
das Trio erscheint plötzlich als Teil der bürgerlichen Mitte, als Teil des Publikums:<br />
„Mensch, die sehen ja aus wie wir“. Rebers löst durch die Nutzung der weniger bekannten<br />
Darstellung des „NSU“ beim Campen eine Inkongruenz im idealistischen<br />
Gesellschaftsbild des Publikums aus. Diese Erkenntnis, dass das Trio als Teil der<br />
gesellschaftlichen Mitte offenbar wird, passt nicht zur ablehnenden Haltung und<br />
Darstellung in den öffentlichen Medien, bei medienwirksamen Kundgebungen<br />
oder Lichterketten. Dies alles ießt zusammen im zentralen Statement von Rebers:<br />
„Faschismus kommt immer aus der gesellschaftlichen Mitte. So ist das nun mal,<br />
sonst wäre er nicht tragfähig. [Pause] So what, [Pause] lassen wir das, nech, bei uns
382 Frank Schilden<br />
hat alles seinen Platz“ – auch Faschismus, auch der „NSU“. Implizit mitgemeint<br />
sind hier weitere häug in politischen Reden und Berichterstattungen gebetsmühlenartig<br />
aus der gesellschaftlichen Mitte ausgeschlossene Parteien (NPD, AfD,<br />
Pro-Parteien) oder Organisationen (HoGeSa, Pegida) – welche aber offensichtlich<br />
in der BRD ihren Platz haben. Daran ändert sich eben – und das ist der Kernkritikpunkt<br />
Rebers’ – nichts, wenn man den Diskurs so führt, als wäre der „NSU“ nicht<br />
auch aus der gesellschaftlichen Mitte entstanden.<br />
Im abschließenden Lied lässt es sich Rebers aber nicht nehmen, ähnlich wie Pispers,<br />
auch die Vorgänge in den Behörden zu kritisieren. Rebers nennt „Akten, die<br />
mal geschreddert sind“ und „Fakten, die dann verheddert sind“. Aber auch diese<br />
Erwähnung von zwei Vorkommnissen in deutschen Behörden im Zusammenhang<br />
mit dem „NSU“ reiht sich in die Diskurskritik Rebers nahtlos ein, schließlich wird<br />
eine vollständige Aufarbeitung der Vorkommnisse so schlichtweg behindert.<br />
7 Fazit<br />
Es wurde bereits oben ausgeführt, dass „Kabarett eine pädagogische Institution<br />
unserer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft sein“ kann. Aggressive Zeitkritik<br />
und Aufklärung sind die Hauptfunktionen des Kabaretts, Unterhaltung ist<br />
ein Nebeneffekt. Die Hauptfunktion wird vor allem mit dem Auslösen von Inkongruenzen<br />
erzielt. Im thematischen Zusammenhang mit dem „NSU“ im Kabarett<br />
haben dies die Beispiele von Pispers und Rebers gezeigt.<br />
Argumente aus dem öffentlichen Raum, die häu g bei öffentlichen Debatten<br />
zur Vergangenheitsbewältigung in der BRD benutzt werden, werden von beiden<br />
Kabarettisten zitiert, um ausgehend von den unterstellten Wissenszusammenhängen<br />
und dem Wissen über die Plausibilität der Argumente, Einzeltäter in einer<br />
ausdifferenzierten Gesellschaft, der „NSU“ als Nicht-Teil der gesellschaftlichen<br />
Mitte, eben diese Wissenszusammenhänge aufzubrechen. Dieser Bruch gelingt Pispers<br />
und Rebers auf unterschiedliche Weise: Einmal mit dem angedeuteten Verweis<br />
auf die fehlgeschlagene Vergangenheitsbewältigung nach 1945 und einmal<br />
mit dem Einsatz eines sympathischen Bildes des Mörder-Trios – in beiden Fällen<br />
ist eine Aufrechterhaltung der vorherigen Thesen, des vorherigen kollektiven Wissens<br />
des Publikums, für das Publikum undenkbar, weil es zu den neuen Erkenntnissen<br />
aus dem satirischen Vortrag inkongruent wäre.<br />
Klar geworden ist, dass Kabarett Teil von Diskursen ist und diese zusätzlich<br />
kommentiert und sprachliche Auffälligkeiten, Lexik, Argumentation und den Diskurs<br />
selbst, zeitkritisch zum Zwecke der Aufklärung einordnet. Beim NSU-Diskurs<br />
fällt vor allem auf, dass die Rolle der Medienöffentlichkeit und auch jeder
Lachen gegen den Ungeist?<br />
383<br />
Einzelne kritisch dahingehend angegangen wird, welche Position er oder sie bei<br />
den Entwicklungen und der Aufarbeitung gespielt hat und noch spielt. Aber auch<br />
die Behörden, Verfassungsschutz und Polizei, werden kritisiert. Durch diese Kritik<br />
und die Benennung der teilweise historisch gebundenen Argumente kann Kabarett<br />
produktiver Teil bei der öffentlichen Auf- und Verarbeitung von Krisen sein. Vor<br />
allem implizite und explizite Sprachthematisierungen auf argumentatorischer Ebene<br />
sind dabei von Bedeutung, denn Argumente sind Bestandteile von Ideologiegebäuden<br />
und damit ideologie- und häu g auch diskursgebunden. Ideologiere exion<br />
ist immer auch Sprachreexion, Ideologiekritik ist immer auch Sprachkritik.<br />
Durch die Thematisierung und Kritik einzelner Argumente ist somit die Thematisierung<br />
und Kritik ganzer Ideologien möglich. Ein Hinterfragen, ausgelöst durch<br />
eine evozierte Inkongruenz innerhalb der Ideologiegebäude, ist somit zumindest<br />
plausibel modellierbar. Deutlich ist aber zudem auch geworden, dass der Schlüssel<br />
zum Erreichen der Kabarettfunktion immer das Wissen des Publikums ist. Die<br />
Auftritte von Pispers und Rebers hätten nicht zur gewünschten Inkongruenz geführt,<br />
wenn man die Argumente nicht hätte erkennen und einordnen können. Es<br />
reicht nicht, zu wissen, dass man die rassistischen Morde des „NSU“ ablehnen soll<br />
und dass man dies gemeinschaftlich tut und regelmäßig routiniert betont – man<br />
muss auch wissen warum. Man muss Argumente historisch einordnen können, sie<br />
analysieren und verstehen können – mit Nelson Mandela (1918-2013): „Bildung<br />
ist die mächtigste Waffe, die du verwenden kannst, um die Welt zu verändern.“<br />
Politisches Kabarett kann dabei helfen, sofern das politische Wissen vorhanden ist.
384 Frank Schilden<br />
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Kapitel 5<br />
Prävention und Intervention<br />
„Ich trete nicht als Opfer auf, ich verlange nichts, stelle keine Ansprüche als Opfer,<br />
werbe allerdings um ein besonderes Verständnis ... Ich erwarte allerdings, dass die<br />
Täterseite – und ich meine damit nicht jeden Nichtjuden – weiß, was im Namen<br />
Deutschlands geschehen ist, und das nicht vergisst. Dann fällt es den Opfern und<br />
deren Nachkommen leichter, selbst zu vergessen“<br />
(Ignatz Bubis, „Ich bin deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, 1993, S. 113).
<strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und pauschalisierende Ablehnungen<br />
Grundlagen und Möglichkeiten der Prävention<br />
Kurt Möller<br />
Wie die oben stehenden Beiträge deutlich machen, ist das <strong>Rechtsextremismus</strong>-<br />
Problem in Deutschland von einer Hartnäckigkeit und zugleich Wandlungsfähigkeit,<br />
die seine dauerhafte und stets neu zu überdenkende Bearbeitung erforderlich<br />
machen. Denken wir an die großen Bundesprogramme wie aktuell „Demokratie<br />
leben!“ oder auch seine Vorläufer bis hin zum ersten dieser Programme, dem von<br />
der damaligen Jugendministerin Angela Merkel verantworteten „Aktionsprogramm<br />
gegen Aggression und Gewalt“ (AgAG; 1992-1996), berücksichtigen wir<br />
ferner die Existenz einer Reihe von entsprechenden Programmen in den Bundesländern<br />
und stellen wir zudem auch einzelne Initiativen in den Kommunen u. a.m.<br />
in Rechnung, so kann nicht behauptet werden, dass „gegen Rechts“ nichts getan<br />
würde. Ähnliches gilt bereits seit einigen Jahren für die Beschäftigung mit Phänomenen<br />
von Pauschalablehnungen wie sie populär im Begriff der ‚Gruppenbezogenen<br />
Menschenfeindlichkeit’ zusammengefasst werden. Gleichwohl stellt sich<br />
die Frage: Warum gelingen Problemlösungen so unzureichend? Sind vorhandene<br />
Ansätze womöglich falsch ausgerichtet und müssten deshalb umgesteuert werden?<br />
Der nachfolgende Beitrag fahndet nach Antworten, indem er eine dritte Frage<br />
stellt und zu beantworten sucht: Basieren die gängigen Bearbeitungsweisen eigentlich<br />
genügend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen – und dabei speziell auf solchen,<br />
die über Gründe und Verläufe der Hinwendung von Individuen und Gruppen<br />
zu rechtsextremen Haltungen aufklären? Dazu zeichnet er zunächst Grundzüge des<br />
biograschen Aufbaus rechtsextremer Haltungen und pauschalisierender Ablehnungen<br />
nach, bevor er knapp Schlussfolgerungen für grundlegende Orientierungen<br />
skizziert, die für nachhaltig wirksame Bearbeitungen aussichtsreich erscheinen.<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_16, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
390 Kurt Möller<br />
1 Prozesse biografischen Aufbaus rechtsextremer<br />
Haltungen und pauschalisierender Ablehnungskonstruktionen<br />
(PAKOs)<br />
Der biograsche Aufbau von rechtsextremen Haltungen und anderweitigen pauschalisierenden<br />
Ablehnungen erfolgt – meist fußend auf Vorläufern in der Kindheit<br />
– im Regelfall im Verlaufe der Jugendphase. Auf sie ist daher primär zu fokussieren<br />
(vgl. detaillierter als im Folgenden möglich: Möller, 2000; Möller &<br />
Schuhmacher, 2007; Möller u. a., 2015).<br />
1.1 Spezifika pauschalisierender Ablehnungskonstruktionen<br />
bei Jugendlichen<br />
Zwei Kennzeichen sind bei pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PA-<br />
KOs) bei Jugendlichen, unabhängig von ihren Gegenständen und Adressierungen<br />
im Einzelnen, besonders auffällig:<br />
Zum ersten zeigen sich Ablehnungen bei Jugendlichen insgesamt selten ideologisch<br />
konsolidiert. Noch stärker als Erwachsene operieren sie mit stilistischen<br />
Distinktionen, (unbewussten) Aversionen, mentalitären Beständen, Ressentiments,<br />
affektiv verwurzelten Vorurteilen und Abwertungssemantiken. Dies betrifft beispielsweise<br />
auch antisemitische und fremdenfeindliche Haltungen, sogar dann,<br />
wenn diese rassistisch gewandet auftreten. „Du dreckiger Jude!“, „Kanake, Du Ratte!“<br />
und ähnliche Schimpfworte stellen unter Jugendlichen häu g vorkommende<br />
Äußerungen dar, in denen sich weniger antisemitische Ansichten oder rassistische<br />
Denksysteme nach außen kehren als unre ektierte Parolen und andere nicht oder<br />
wenig systematisierte Gefühle, Gedanken und Stimmungen des Alltagsdiskurses.<br />
Zum zweiten ist bemerkenswert: Jugendliche mit persönlicher oder nicht mehr<br />
als zwei Generationen zurückliegender familiärer Migrationsgeschichte weisen<br />
zum Teil dieselben, zum Teil aber auch andere Ablehnungskonstruktionen als sog.<br />
‚autochthone’ Jugendliche auf. Eine Binnendifferenzierung dieser Großgruppierungen<br />
lässt zudem derart bedeutsame Spezi ka und partielle Kongruenzen von<br />
Teilgruppierungen hervortreten, dass es analytisch unzulässig erscheint, weiterhin<br />
von der gängigen Kategorisierung in ‚Jugendliche mit Migrationshintergrund‘<br />
und ‚Jugendliche ohne Migrationshintergrund‘ auszugehen. Auch eine Einteilung<br />
„migrantischer Jugendlicher“ nach Staatsangehörigkeit oder Religion ist viel zu<br />
grob, um die Vielzahl an Faktoren fokussieren zu können, die die Entstehung und<br />
Entwicklung bzw. die Abstandnahme von ablehnenden Haltungen beein ussen.<br />
Beispielsweise werden ablehnende Orientierungen und Gewalt viel stärker von
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
391<br />
Genderaspekten als von Migrationsspezi ken geprägt. So sind etwa männliche<br />
Jugendliche, die hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen anhängen und sie im<br />
Muster interpersonaler Dominanz zur Geltung bringen (wollen), weitaus gewaltnäher<br />
als anders orientierte Jungen – ganz unabhängig davon, ob sie einen sog. ‚Migrationshintergrund‘<br />
haben oder nicht. Auf der anderen Seite stellt sich die Konstruktion<br />
antisemitischer Haltungen bei muslimischen Jugendlichen, insbesondere<br />
bei türkisch- und arabischstämmigen, ganz anders dar als bei nicht-muslimischen<br />
Jugendlichen, insbesondere aus deutschen Herkunftsfamilien. Erwartungsgemäß<br />
spielt für ihre politisch-soziale Orientierung der Palästina-Kon ikt eine hochgradig<br />
bedeutsame Rolle, während für die herkunftsdeutschen Jugendlichen der<br />
Nationalsozialismus und die Shoah wichtige Orientierungsmarken darstellen (vgl.<br />
auch Mansel & Spaiser, 2013).<br />
Ungeachtet solcher und weiterer wichtiger Differenzierungen lassen sich grobe<br />
Angaben zur Herstellung von Af nität zu rechtsextremen wie auch in anderer<br />
Weise pauschalisierenden ablehnenden Haltungen machen, die mehr oder minder<br />
übergreifend gelten.<br />
1.2 Muster und Stadien<br />
Es gibt nicht den einen Weg, der (zumeist junge) Menschen in die extrem rechten<br />
Orientierungs- und Szenezusammenhänge bzw. zu pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen<br />
führt. Und es gibt auch nicht einige wenige benennbare<br />
Wirkfaktoren, die eine solche Hinwen dung zwangsläug werden lassen oder auch<br />
nur nahelegen. Stattdessen existiert eine Vielgestaltig keit an Mustern, die auf ein<br />
spezisches Zusammenwirken von verschiedenen Einüssen hinweist. Diese Muster<br />
wiederum lassen typische zeitliche Abfolgen er kenn bar wer den, die sich als<br />
Stadien bzw. ‚Karrierestufen’ begreifen lassen.<br />
Insgesamt können im Af nisierungsprozess vier Muster voneinander abgegrenzt<br />
werden:<br />
• das Muster interethnischen Konkurrenzerlebens, das in einer unmittel baren,<br />
alltagsweltlich basierten, aber auch unabhängig davon in einer von Beginn an<br />
nur ab strak ten Form auftreten kann und die selbst vorgenommene natio-ethno-kulturell<br />
geprägte politische Positionierung als unausbleibliche Folge eines<br />
in subjektiver Sicht ungerecht ablaufenden (Verdrängungs-)Wettbewerbs in der<br />
(Post-)Migrationsgesellschaft deutet,
392 Kurt Möller<br />
• das Muster kultureller Hegemonie pauschalisierender Ablehnungshaltungen,<br />
also der Vorherrschaft von Auffassungen wie Rassismus, Antisemitismus,<br />
Fremdenfeindlichkeit u. a.m. im sozialen Umfeld,<br />
• das Muster der politischen Supplementierung jugendkultureller Partikularintegration,<br />
d. h. der nachträglichen politischen Auadung einer vorerst nur<br />
jugendkulturellen, stilistisch-habituellen und noch nicht unbedingt politisch<br />
verstandenen Einbindung in natio-ethnisch auf Vereindeutigung und Abgrenzung<br />
drängende Gruppen-, Community- und Szenekontexte,<br />
• das Muster gesinnungsgemeinschaftlicher Rebellion, bei dem es sich je doch weniger<br />
um ein selbstständiges Muster als um ein Be grün dungsfragment handelt.<br />
Oft treten im individuellen Fall mehrere dieser Muster gleichzeitig auf, dies allerdings<br />
in unter schiedlicher Mischung und Gewichtung. Zum Teil bauen diese<br />
Muster in der zeitlichen Ab fol ge der Afnisierung auch aufein ander auf. Sie teilen<br />
darüber hinaus bestimmte Gemeinsam keiten, die sich im fort schrei tenden Prozess<br />
der poli ti schen Af ni sierung immer deutlicher heraus kris talli sieren. Zu unterscheiden<br />
sind zudem zwei Stadien: zum einen das Stadium der Kenntnisnahme,<br />
Identi ka tion und praktischen Annäherung; zum anderen ein fortgeschrittenes<br />
Stadium des Afnitätsauf baus, das zwar noch nicht in eine konsoli dierte Haltung<br />
gemündet ist, sich aber schon deutlich vom Anfangsstadium durch Verste tigungen<br />
und Verknüpf ungen zwischen kulturellen und politischen Aspekten wie auch von<br />
einzelnen Ein stellungs segmenten unterscheidet.<br />
Bis dahin mehr oder weniger unverbun den nebeneinander stehende Motive,<br />
Gestimmt heiten, Orien tierungen und Ab sich ten werden im Rahmen neu erworbener<br />
(Cliquen-)Kontakte zunehmend ge bün delt, auf Dauer gestellt und systematisiert.<br />
Der Afni sierung wird in einem stetigen und mehr oder minder kontinuierlich<br />
verlaufenden Deutungs- und Aus hand lungsprozess mit ähnlich orien tierten<br />
Gleichaltrigen – manchmal auch mit Erwach senen aus der einschlägigen Szene<br />
– indivi dueller und sozialer Sinn ver liehen. An die Stelle bis dahin oft noch<br />
vorherr schen der allgemeiner Identi kationen tritt also zusehends die konkrete<br />
Asso ziation, also die unmittelbare per sonelle, über Verhalten und Handeln<br />
reprodu zierte und (auch daher) sinnlich erfahrene Einbindung.<br />
1.3 Sozialisationserfahrungen im Affinisierungsprozess<br />
Konstellationen der objektiven Lebenslage vermögen letztlich wenig bis gar nichts<br />
an Erklärungen für die Konstruktion pauschalisierender Ablehnungen und für Einstiege<br />
in rechtsextreme Denk-, Verhaltens- und Sozialkontexte zu liefern. Es zeigt
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
393<br />
sich vielmehr, dass es eher die Art und Weise ihrer jeweils subjektiven Wahrnehmung<br />
und Bewertung bzw. des Umgangs mit ihnen und weiteren anderen lebensrelevanten<br />
Faktoren ist, die die politische Orientierung prägt. Eine wichtige Rolle<br />
kommt dabei den konkreten Erfahrungen in zentralen So zia lisationsbereichen zu.<br />
Als erster wesentlicher Bereich kann hier der Kontext der Familie genannt<br />
werden. Vier verschiedene Szenarien lassen sich in Bezug auf sie voneinander<br />
unterscheiden: ein auf Seiten der Eltern vorhandenes relatives Desinteresse bei<br />
gleichzeitiger partieller Einstellungsüber schnei dung (1), mangelnde elter liche<br />
Durchsetzungsfähigkeit (2), Kon ikte um Nähen zu rechtsextremer oder andere<br />
Ablehnungskonstruktionen propagierender Jugendkultur bei gleichzeitiger poli tischer<br />
Toleranz (3), dauerhafte Konikte im familiären Kontext (4).<br />
Im Gesamtüberblick der verschiedenen Muster und Kontexte können einige<br />
Ähnlichkeiten und Spe zi ka fest ge halt en werden.<br />
• Gleichwohl das Familienleben als zentraler Wert begriffen wird und – zumindest<br />
in den ersten drei Kontexten – die eigene Familie oft idealisiert wird, erweisen<br />
sich die Beziehungen fak tisch oft als emotional ober ächlich, wenig<br />
ver läss lich und teilweise sogar als höchst proble ma tisch.<br />
• Mitunter agieren Eltern, häug auch Großväter, als inhaltliche Stichwortgeber. Insgesamt<br />
zeigt sich jedoch nicht durchgehend ein Kausalzusammenhang zwischen<br />
ihren Ansichten und den sich entwickelnden Einstellungen des Nachwuchses.<br />
• Auch eigenen Negativerfahrungen zum Trotz werden oft die aus den eigenen<br />
Familien bekannten und nicht immer unproblematischen Strukturen, hier vor<br />
allem eine starke Dominanz des Vaters über die Mutter und eine gewisse Härte<br />
und emotionale Leere im Umgang miteinander, in die eigene Konzep tion einer<br />
‚normalen’ Lebensführung integriert.<br />
• Insgesamt scheinen auf Seiten der Eltern nur selten gut durchdachte Strategien<br />
zu existieren, mit den Kin dern die inhaltliche Auseinandersetzung über<br />
ihren Afnitäts aufbau zu führen. Entweder herrscht ein sich unterschiedlich<br />
begründen des relativ großes Desinteresse vor oder es wird vor allem negativ<br />
sanktionierend agiert, was in der Regel von den Betroffenen als ebenso ungerecht<br />
wie hilos, auf jeden Fall aber als wirkungslos wahrgenommen wird.<br />
• In allen Mustern nden sich Jugendliche, die zudem massive Erfah rungen mit<br />
biogra phi schen Brüchen gemacht haben. Dies reicht von Um zügen von einem<br />
Elternteil zum ande ren, also der nachhaltigen Un sicher heit der Lebenssituation,<br />
über den Verlust eines Eltern teils durch Tod bis hin zu psychischen Problemen,<br />
Sucht(anfälligkeit) und der Information, adoptiert worden zu sein. Immer gingen<br />
diese Erfah rungen im Kontext mit den o. g. Erfahrungen mit identitären<br />
Erschütter ungen und/oder be ginnen den Verhaltens auffälligkeiten einher.
394 Kurt Möller<br />
• In der Af nisierung werden bei männlichen Jugendlichen bestimmte im familiären<br />
Kontext erworbene Sichtweisen eher fundiert als aufgelöst. Die Vorstellung<br />
von der Geschlechter dichotomie wird durch die Zuord nung von weiteren<br />
Merkmalseigenschaften ergänzt und vereindeutigend zugespitzt, so dass<br />
im Resul tat ein männliches Prinzip von Handeln und Durchsetzungsfähigkeit<br />
einem weib lichen Prinzip von Passivität und Schütz- sowie Hilfebedürftigkeit<br />
entgegengesetzt wird.<br />
• Für Mädchen ist hingegen eine doppelte Gefangenschaft charakteristisch.<br />
Zum einen sind sie geprägt von gesellschaftlich und familiär erworbenen<br />
Geschlechterkon ventionen, gegen die sie sich auch durch die Hinwendung zu<br />
einer betont maskulin auftretenden Ju gend kultur zur Wehr setzen wollen. Zum<br />
anderen führt sie diese emanzi pato risch gedachte Hinwendung gerade in eine<br />
Szene, in der die erleb ten Geschlechter bilder in noch stärkerer Weise vertreten<br />
werden. Die damit entstehende Form verquerer Emanzipation lässt sich vor allem<br />
im ersten, dritten und vierten Muster beobachten.<br />
Zweiter relevanter sozialer Rahmen, in dem sich erste Schritte der Af nisierung<br />
vollziehen, ist die Schule.<br />
• Vorherrschend ist ein bereits vor der Af nisierung ausgebildetes Gefühl, im<br />
schulischen Kon text nicht genügend Aufmerksamkeit und v. a. auch nicht<br />
ausreichende pädagogische Zuwen dung zu erhalten. Während von (extrem)<br />
rechts orientierten deutschen Lehrpersonen in diesem Zusammenhang, besonders<br />
stark aber im ersten Muster, vorge worfen wird, andere Gruppierungen<br />
von Schülerinnen und Schülern, nämlich vor allem jene mit Migrations hintergrund<br />
– und hier besonders die männlichen – zu bevorzugen, sehen Schülerinnen<br />
und Schüler aus Familien mit nicht-deutschen Wurzeln dies häu g<br />
genau umgekehrt.<br />
• Spezi sche Probleme bestehen allerdings nicht nur zwischen den Jugend lichen<br />
und den Lehrkräften, von denen deutlich mehr – möglicherweise sogar etwas<br />
völlig anderes – erwartet wird als die bloße Vermittlung von Lernstoff. Als<br />
problematisch erweisen sich zumindest im ersten, im dritten und im vierten<br />
Muster auch die Beziehungen zu den Mit schülerinnen und Mitschülern. Weit<br />
verbreitet ist das Empnden, ein dichtes Netz freundschaftlicher Bezie hungen<br />
zu entbehren.<br />
• Wenn auch zwischen individuellen Leistungsproblemen und der Af ni sierung<br />
durchaus Zusammenhänge bestehen, so handelt es sich hier doch nicht um ein<br />
Kausalverhältnis, zumal das zu Grunde liegende persönliche Werte modell den<br />
Leistungsaspekt und die Erfolgskultur ei gent lich anerkennt und bejaht.
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
395<br />
Den lebensweltlichen Mittelpunkt von Af nisierungsprozessen bilden auch im<br />
Abgrenzungs bemühen gegenüber den genannten Sozialisationsinstanzen freiwillige<br />
Referenz bezieh ungen, also Cliquen und andere Gesellungen von Jugendlichen.<br />
Unabhängig vom jeweilig domi nierenden Muster gibt es diesbezüglich Gemeinsamkeiten<br />
zwischen den sich af ni sie ren den Jugendlichen:<br />
• Stark verbreitet ist bis hin zur Af nisierung, zum Teil noch in ihrer Frühphase,<br />
das Gefühl, nicht über verlässliche Peer-Netzwerke zu verfügen. Wo solche<br />
Netzwerke doch existieren, herr schen häug Handlungs orientierungen vor, die<br />
sich nicht fundamental von den Hand lungs orien tierungen der (extrem rechten<br />
oder andere Ablehnungskonstruktionen propagierenden bzw. auslebenden)<br />
Szene unterscheiden und eine Hinwendung damit erleich tern.<br />
• Die Cliquen und Gruppen n den in Gewalt aus übung zur Austragung territorialer<br />
Konikte und z. T. im Alko hol konsum zentrale Vergemeinschaftungsfaktoren.<br />
Kei nes falls sind sie aber auf solche sozialen Praxen zu redu zieren,<br />
denn sie nehmen daneben auch alle anderen für Peergroups üblichen Auf gaben<br />
wahr, also vor allem eine gemeinsame Freizeit gestal tung zu gewähr leisten, die<br />
durchaus auch – vielleicht sogar in erster Linie – aus gänzlich ‚harm losen’ jugend<br />
typischen Akti vitäten bestehen kann. Dies gilt in besonderem Maße für<br />
das zweite und das dritte Muster.<br />
• Der Cliquencharakter impliziert bei aller unterschiedlichen Form, die ein Verband<br />
an nehmen kann, auch eine gewisse strukturelle Offenheit. Die Jugendlichen<br />
steigen nicht in verfestigte und hierarchisch durchstruktu rierte ‚Kameradschaften’<br />
bzw. ‚Kampfgruppen’ ein, sondern in Gruppen mit niedrigem<br />
Forma lisie rungs grad sowie entsprechend hoher Fluktuation und inhalt licher<br />
Indifferenz.<br />
• Dennoch unterscheiden sich sowohl die Gruppen als auch die ihnen an ge -<br />
hörenden Jugend lichen von vergleichbaren Cliquen anderen Hinter grunds, vor<br />
allem weil bei einem Groß teil eine der Af nisierung voran gehende Nähe zu<br />
gewalt förmigen Koniktlösungsmustern vorherrscht, die mit einer verbalen<br />
Sprachlosigkeit einhergeht und entsprechende auf Körperlichkeit basierende<br />
Kommu ni ka tions strukturen nahelegt. Dies schlägt sich auch in einer signi -<br />
kanten Über zahl männlicher Mitglieder nieder.<br />
• Kaum ausgeprägt sind Interessen nach Entfaltung von Individualität und persönlicher<br />
Unverwechselbarkeit. Angestrebt wird eher die Teilhabe an einem<br />
größeren Zusammen hang, mit dem die Generierung von Macht und Selbstwertgefühl<br />
im Kollektiv – später in der Konsolidierung dann explizit der „Masse“,<br />
des „Mobs“, der „Horde“ oder des „Rudels“ – asso ziiert wird.
396 Kurt Möller<br />
Neben diesen bereits genannten Sozialisationsbereichen spielen Erfahrungen in<br />
Partnerschaften eine eher untergeordnete Rolle. Insgesamt bestehen zwischen der<br />
Art der Af nisierung und der Form der Beziehungsführung keine engeren Zusa<br />
m m en hä nge. A l le r d i ngs nden sich quer durch alle Muster bestimmte Sichtweisen<br />
auf partnerschaftliche Bezieh ungen und geschlechtsabhängiges Rollenverhalten,<br />
die in einem engen Zusammenhang mit der politischen und kulturellen<br />
Afnisierung stehen.<br />
• Bei männlichen Jugendlichen dominieren Beziehungsmuster und -vorstellungen,<br />
die ihre Vor bilder anscheinend vor allem in den ihnen bekannten Traditionen<br />
hetero sexueller Partner schaften und in ihren eigenen familiären Strukturen<br />
nden. Die Jungen sind dabei die akti veren Beziehungsteile, die für die Artikulation<br />
und aktive Durchsetzung von Meinungen und Zielen zuständig sind,<br />
während den Mädchen eine deutlich passivere Rolle zugewiesen wird.<br />
• Diese zugewiesene Passivität reicht so weit, dass die Mädchen zwar des Öfteren<br />
als Gleich ge sinnte dargestellt, aber im Regelfall alltags weltlich aus den Szenestrukturen<br />
heraus gehal ten werden. Es wird also weniger auf Überein stimmung<br />
und Verknüpfung verschiedener Lebensbereiche gesetzt als auf deren Parzellierung:<br />
die Trennung zwischen dem Privaten, in dem Momente klassischer<br />
Zweisamkeit vorherrschen und dem Öffentlichen, in dem der Gestus des Rebellischen<br />
und vor allem auch des Männer bündischen gepegt wird.<br />
• Allerdings liegen die An fänge weib licher Af nisierung ganz offenbar nicht<br />
regel haft in Bezieh ungen mit dominanten männlichen Partnern. Entgegen einer<br />
weit ver brei teten Klischee vorstellung sind für sie sehr wohl zum Teil auch eigene<br />
Überlegungen, Vor stellung en und Zielsetzungen ausschlaggebend.<br />
Erfahrungen bzw. Nicht-Erfahrungen mit Jugend- und Sozialarbeit sind für den<br />
Afnisierungs kontext aus ver schiedenen Gründen von potentieller, zum Teil auch<br />
von ganz praktischer Be deu tung. Zum einen können Angebote Sozialer Arbeit<br />
integrierende Funktionen haben und Erfah rungen ermöglichen, die einer Af nisierung<br />
Grenzen setzen. Zum anderen können aber soziale Einrichtungen auch<br />
den Rahmen darstellen, innerhalb dessen Af ni sierungsprozesse eine Verstetigung<br />
nden.<br />
• Zumindest für das erste, dritte und vierte Afnisierungsmuster kann resümiert<br />
werden, dass die Bereitschaft zur politischen und kulturellen Af nisierung<br />
bzw. die Bereitschaft, sich einer entsprechenden Gruppe anzuschließen, vor allem<br />
Jugendliche erfasst, die nicht von Angeboten Sozialer Arbeit angesprochen<br />
werden oder bereits ange sprochen worden sind. So wie sie in anderen sozialen
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
397<br />
Kontexten kaum auf verlässliche soziale Netzwerke zurückgreifen können oder<br />
meinen zu rückgreifen zu können, sind auch sozialarbeiterische bzw. -pädagogische<br />
Angebote nicht in der Lage, sie anzu sprechen oder werden schlichtweg<br />
nicht gemacht.<br />
• Anders stellt sich das Bild dort dar, wo die Afnisierung im Kontext herrschender<br />
Hegemo nialverhältnisse statt ndet. Hier zeigt sich zwar eine zum<br />
Teil außerordentlich große indivi duelle Problembelastung der Jugend lichen, sie<br />
sind aber gerade nicht von institutionellen Hilfs ange boten alleine gelassen und<br />
fühlen sich – zumindest was Angebote der Jugend arbeit angeht – in der Regel<br />
auch nicht ausgeschlossen. Allerdings zeitigen die Angebote nicht unproblematische<br />
Wirkungen, wenn Deutungsangebote aus herrschenden Hegemonialverhältnissen<br />
gleichsam von außen in die Einrichtungen schwappen und diese von<br />
der Sozialarbeit nicht fachlich-(selbst)kritisch thematisiert werden.<br />
1.4 Personale Kompetenzen<br />
Bei allen biographischen Unterschieden und voneinander abweichenden soziali sa -<br />
to rischen Einüssen ergibt sich gerade hinsichtlich der zur Verfügung stehen den<br />
personalen Kompetenzen der Lebensbewältigung ein oft außerordentlich homogenes<br />
Bild, das bereits für die Zeit vor ihrer beginnenden Af ni sierung gültig zu<br />
sein scheint. Zusammengefasst stellt es sich wie folgt dar: Die Fähigkeit und die<br />
Bereitschaft zur Selbst-, Verhältnis- und Sachre exion sind insgesamt kaum entwickelt.<br />
Nur schwach entfaltet ist auch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.<br />
Zwar soll durch die Einnahme der Haltung des sich nunmehr gegen konkrete<br />
Gefahr oder undurch schau bare Lebensumstände Wehrenden suggeriert werden,<br />
dass ab jetzt und zukünftig für sich und andere Schutz sowie jene eindeutigen Verhältnisse<br />
organisiert werden, die als anderenorts versagt wahrgenommen werden.<br />
Aller dings handelt es sich hier eher um eine Pose, die an die Institutionen adressiert<br />
bleibt, die nach Ansicht der Jugendlichen originär für ihren Schutz zuständig sind,<br />
also vor allem Schule und Elternhaus, was auch einer Delegierung von Verantwortung<br />
gleich kommt. Auch die Hinwendung zur Ausgrenzung betreibenden, vor<br />
allem rechtsextremen Gruppe ist in diesem Sinne ein weiterer Versuch, inner halb<br />
einer schützenden hierarchischen Gemeinschaft Verant wortung abgeben zu können.<br />
Die Bereitschaft und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel sind dezitär entwickelt.<br />
Andere Stand punkte können kaum anders als kalkulatorisch wahrgenommen und<br />
nachvollzogen, zumindest nicht oder nur in Ansätzen diskursiv verhandelt werden.<br />
Empathie fehlt nicht völlig, wird aber in erster Linie Angehörigen der In-Group<br />
entgegengebracht, also Familienan gehörigen, Mitgliedern des Gruppen verbandes
398 Kurt Möller<br />
und Angehörigen des nationalen Kollektivs, dem man sich selber zurechnet. Die<br />
verbale Kon iktfähigkeit ist vor allem bei männlichen Jugendlichen deutlich unterentwickelt.<br />
Der Vorstellung, sich immer und überall verteidigen zu müssen, entspricht<br />
die Neigung, Kon ikten aus dem Weg zu gehen oder sie mit dem Einsatz<br />
personaler Gewalt lösen zu wollen. Die Akzeptanz gegenüber Gewalt ist durchgehend<br />
hoch, die praktische Anwendung bleibt jedoch eher eine Sache der (jungen)<br />
Männer, wenngleich sich auch manche Mädchen und Frauen durchaus als willens<br />
und fähig erweisen, selber Gewalt anzuwenden. Zahlreiche Jugendliche mit Abund<br />
Ausgrenzungstendenzen gegenüber zu Anderen Gemachten, kurz: Geanderten<br />
(vgl. Reuter, 2002), zeigen mehr oder weniger große Probleme mit ihrer Affektregulierung.<br />
Die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, ist grund sätzlich niedrig und<br />
wird nicht selten durch den exzessiven Konsum von Alkohol weiter gesenkt. Kaum<br />
entwickelt sind Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranz sowie Rollendistanz . Im<br />
Gegenteil geht es vor allem um Vereindeutigungen undurchschaubar erschei nender<br />
Situationen und darum, eine Rolle zu nden und einzunehmen, mit deren Hilfe<br />
individuelle Bedürfnisse nach Stärke und Gemeinschaft generiert werden können.<br />
Entsprechend leitet sich Selbstwertaufbau weniger aus erworbenen Eigenschaften<br />
und Kompetenzen der eigenen Person ab, sondern aus dem Umstand der Zugehörigkeit<br />
zu einer Gruppe oder Szene, in der die eigene Hand lungs orientierung kultiviert<br />
und die Vorstellung entwickelt werden kann, über den Ein satz von Gewalt und die<br />
Darstellung kollektiver Stärke Macht und Einuss zu erhalten.<br />
2 Fazit: Die KISSeS-Strategie –<br />
Grundlegende Orientierungen zur Bearbeitung<br />
von <strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierenden<br />
Ablehnungskonstruktionen (PAKOs)<br />
Ziehen wir eine Bilanz des oben Ausgeführten, so ist zu konstatieren: Jugendliche<br />
sind zumeist dann besonders gefährdet, zu Trägern von ablehnenden Haltungen zu<br />
werden, wenn ihre Lebensgestaltungsinteressen in Gestalt von KISSeS-Ansprüchen<br />
unabgedeckt bleiben; d. h. wenn<br />
• sie in ihrer Lebensführung gemessen an ihren Erwartungen Kontrollmängeln ausgesetzt<br />
sind – dies entweder als Kontrolldezite im Hinblick auf das Management<br />
ihrer persönlichen Geschicke und/oder – eher fraternal – des Lebens jenes Kollektivs,<br />
dem sie sich zuordnen. Oder sie erfahren Kontrollmängel als Indifferenz<br />
und Inkonsequenz der sozialen Kontrolle jener jugendlichen Lebensvollzüge, die<br />
Ablehnungspraxen darstellen;
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
399<br />
• sie Schwierigkeiten der Integration in demokratisch und gewaltfrei strukturierten<br />
Kontexten verspüren, weil sie mangelnde Zugehörigkeit, Teilhabe,<br />
Partizipationschancen und Identikationsmöglichkeiten erleben, oder weil die<br />
Integrationsmodi, die sie für sich offenstehen sehen, Integration auf undemokratische<br />
und (potenziell) gewaltförmige Weise offerieren (etwa als Nationalismus,<br />
Maskulinismus, Islamismus u.ä.m.);<br />
• ihnen sozial akzeptierte Formen sinnlichen Erlebens nicht zugänglich sind und<br />
damit genussvolle Befriedigung psycho-physischer Bedürfnisse im Alltag ausbleibt<br />
oder als unzumutbar beschränkt erlebt wird;<br />
• sie Sinnerfahrung und -stiftung nicht hinreichend außerhalb von Ablehnungskontexten<br />
erleben, etwa in individuell befriedigender und sozial nicht schädigender<br />
Weise im schulischen und beru ichen Bereich, in Bereichen der privaten<br />
Lebensplanung oder auch in religiösen und weltanschaulichen Bezügen;<br />
• Verarbeitungssymbole und Deutungsangebote für solche Erfahrungen in Gestalt<br />
von Ablehnungskonstruktionen einerseits im biogra sch aufgebauten<br />
Speicher von erfahrungsstrukturierenden Repräsentationen, also von individuell<br />
vorhandenen bildhaften Vorstellungen, Symbolen und Kodes (vgl. Moscovici,<br />
1973), bereits als Leitguren existieren und andererseits im realen oder virtuellen<br />
Sozialraum diskursiv präsent sind und dadurch Attraktivität entfalten<br />
können, dass sie in der Lage sind, sich angesichts der oben benannten Mangelerfahrungen<br />
als lebensbewältigungs- und -gestaltungsfunktional darzustellen;<br />
• Selbst- und Sozialkompetenzen aufgrund von Mängeln in den Bereichen von<br />
Kontroll-, Integrations-, Sinnlichkeits- und Sinnerfahrung nicht so weit entwickelt<br />
werden, dass sie die Erfahrungsvollzüge in einer Weise aufsuchbar,<br />
beschreibbar, deutbar, bewertbar und einordbar erscheinen lassen, die in ausreichendem<br />
Maße Resistenzen gegenüber (diskursiven Angeboten von) Ablehnungskonstruktionen<br />
aufbauen könnte.<br />
Zentrale Konsequenz für politische, zivilgesellschaftliche, pädagogische und sozialarbeiterische<br />
Strategien muss dementsprechend sein, den Herausforderungen<br />
adäquat zu begegnen, die durch die Beschränkung von KISSeS-Erfahrungen,<br />
insbesondere bei den nachwachsenden Generationen kulminieren. Zielführendes<br />
Handeln gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> und andere Formen von Menschenverachtung<br />
kann dabei nicht sein, politisch-moralisierend auf der ‚richtigen’ Seite Position<br />
zu beziehen. Es darf sich aber auch nicht darin erschöpfen, argumentativ-kommunikativ<br />
gegen pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen vorzugehen. Vielmehr<br />
gilt: Wer nachhaltig un- und antidemokratische Bestrebungen abbauen will,<br />
kommt nicht umhin, für Lebensverhältnisse und insbesondere Strukturen des Aufwachsens<br />
zu sorgen, die für alle Gesellschaftsmitglieder Plattformen für Erfah-
400 Kurt Möller<br />
rungen demokratischer Kontrolle, Integrationschancen und Sinnstiftungsmöglichkeiten<br />
zur Verfügung stellen. Diese sollten eine positive sinnliche Valenz besitzen,<br />
die Entwicklung von Repräsentationen ermöglichen, die auf demokratische und<br />
gewaltferne Weise Erfahrungen strukturierbar machen, und die Selbst- und Sozialkompetenzen<br />
befördern, mit denen individuell Handlungssicherheit bei Wahrung<br />
personeller Einzigartigkeit und Ermöglichung sozialer Anschlussfähigkeit<br />
erlebbar wird. 1<br />
1 Was sich in der hier gebotenen Abbreviatur reichlich abstrakt anhören mag, wird<br />
gegenwärtig in einem Wissenschaft-Praxis-Kooperationsprojekt umgesetzt, das an der<br />
Hochschule Esslingen gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und der<br />
Robert-Bosch-Stiftung durchgeführt wird (vgl. http://www.hs-esslingen.de/fileadmin/<br />
medien/schulung/2013_11_12/Swantje_Kubillus/Möller_Rückgrat_140710.pdf (Zugriff<br />
am 20.01.2015)).
<strong>Rechtsextremismus</strong> und pauschalisierende Ablehnungen<br />
401<br />
Literatur<br />
Mansel, J. & Spaiser, V. (2013). Ausgrenzungsdynamiken. In welchen Lebenslagen Jugendliche<br />
Fremdgruppen abwerten. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.<br />
Möller, K. (2000). Rechte Kids. Eine Langzeitstudie über Auf- und Abbau rechtsextremistischer<br />
Orientierungen bei 13-bis 15jährigen. Weinheim und München: Juventa.<br />
Möller, K., Grote, J., Nolde, K. & Schuhmacher, N. (2015). „Die kann ich nicht ab!“ – Ablehnung,<br />
Diskriminierung und Gewalt bei Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft.<br />
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />
Möller, K. & Schuhmacher, N. (2007). Rechte Glatzen. Rechtsextreme Orientierungs- und<br />
Szene zu sammen hänge – Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skinheads.<br />
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />
Moscovici, S. (1973). Foreword. In C. Herzlich (Ed.), Health and Illness: A Social Psychological<br />
Analysis (pp. IX–XIV). London: Academic Press.<br />
Reuter, J. (2002). Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des<br />
Fremden. Bielefeld: transcript.
Demokratieförderung<br />
und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention<br />
in den Bundesländern<br />
Eine vergleichende Analyse der Landesstrategien<br />
Franziska Schmidtke<br />
1 Einleitung<br />
Die Bekämpfung von rechtsextremen Einstellungen und Verhaltensweisen, bzw.<br />
demokratiegefährdenden Ideologien der Ungleichwertigkeit, hat in den letzten<br />
Jahrzehnten deutlich zugenommen. Zuvor, Anfang der 1990er Jahre, hatte die<br />
wiedervereinigte Bundesrepublik einen massiven Ausbruch ausländerfeindlicher<br />
Gewalt durchlebt. Die Bilder von Solingen, Mölln, Rostock Lichtenhagen und<br />
Hoyerswerda schrieben sich ein in das nationale Gedächtnis; sie wurden zu einem<br />
Kristallisationspunkt, der es der Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsträgern<br />
zugleich verdeutlichte: Auch in der wiedervereinigten Bundesrepublik war<br />
und ist rechtsextremes Denken und daraus motiviertes Handeln virulent. Es waren<br />
Anstöße für eine erste Phase der Auseinandersetzung. Weitere folgten – und heute<br />
nden wir eine Situation vor, in der Bund und Länder nanzielle Mittel zur Prävention<br />
von rechtsextremen Ideologien aufwenden.<br />
Zugleich bendet sich der parteiförmig organisierte <strong>Rechtsextremismus</strong> heute<br />
in einer Umbruchsituation. Die NPD ist durch Mitgliederschwund, nanzielle<br />
Einbußen und interne Streitigkeiten geschwächt. Davon pro tieren Parteien, die<br />
einen „modernisierten“ <strong>Rechtsextremismus</strong> vorantragen: Unter ihnen nden sich<br />
die populistisch agierende rechtsextreme Partei Pro NRW mit seinen Ablegern<br />
Pro Köln und Pro Deutschland, den Nachfolgern des Freien Netz Süd, der Partei<br />
Der dritte Weg und die sich mittlerweile bundesweit etablierte rechtspopulistische<br />
bzw. rechtspopulistisch beein usste Alternative für Deutschland (AfD). Zudem<br />
ist der Bewegungscharakter der rechtsextremen Szene deutlich wie nie; Autonome<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_17, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
404 Franziska Schmidtke<br />
Nationalisten, Freie Kräfte, Neue Rechte, Identitäre Bewegungen und Demonstrationsverbände<br />
mit Namen wie HoGeSa (Hoolings gegen Sala sten) und PE-<br />
GIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) erleben<br />
derzeit ein Hoch. Und auch auf Einstellungsebene lässt die Virulenz rechtsextremer<br />
Ideologien nicht nach. Etablierte Messkonventionen des Bielefelder Instituts<br />
für interdisziplinäre Konikt- und Gewaltforschung und der Mitte-Studien, sowie<br />
regionale Studien wie der Thüringen-Monitor halten ein stabiles Maß gefestigter<br />
rechtsextremer Einstellungsdimensionen fest. Auch wenn sich einzelne Dimensionen<br />
seit Mitte der 2000er Jahre rückläug entwickeln, wachsen zugleich alarmierende<br />
Werte für neue, aber anschlussfähige Dimensionen wie Antiziganismus und<br />
Islamfeindschaft an (vgl. Decker & Brähler, 2014). Vor diesem Hintergrund ist die<br />
demokratische Kultur in Deutschland nach wie vor gefährdet.<br />
Die staatliche Auseinandersetzung mit dem beschriebenen Phänomen begann<br />
1992 mit der Au age eines ersten Bundesprogramms. Darauf folgten mit einiger<br />
Verzögerung die Bundesländer, in denen das Thema aber zu unterschiedlichen<br />
Zeitpunkten virulent wurde. Die jeweiligen Programme wurden mit bis zu<br />
15 Jahre Differenz eingeführt und dementsprechend variieren auch ihre Zugänge<br />
und Strategien. 1 Trotz der damit entstandenen spannenden Vergleichsperspektive<br />
liegen bisher nur wenige Analysen einzelner Programme vor. Diese Lücke<br />
2<br />
bearbeitet die Autorin umfassend im Rahmen ihrer Dissertation. Die folgende<br />
Darstellung stellt nur einen Ausschnitt möglicher Vergleichspunkte vor. Konkret<br />
handelt es sich dabei um die Instrumente, Zuschnitte und Funktionslogiken der<br />
Landesprogramme zur <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention und Demokratieförderung.<br />
Damit liegt eine Analyse vor, die einen Überblick über den staatlichen Umgang<br />
mit Ungleichwertigkeitsideologien verschafft, die Vielfalt der staatlichen <strong>Rechtsextremismus</strong>bekämpfung<br />
kennzeichnet und ihre Tendenzen und Entwicklungen<br />
charakterisiert. Da zudem das Label Landesprogramm ein gern vergebenes ist,<br />
das aber keiner gemeinsam geteilten denitorischen Grundlage folgt, sind erhebliche<br />
Differenzierungen entlang der genannten Vergleichspunkte zu erwarten. Diese<br />
1 Das erste Landesprogramm verabschiedete Brandenburg im Jahr 1999; Schleswig-<br />
Holstein stellte dagegen das jüngste Programm 2013 vor.<br />
2 Die bisher vorliegenden Beiträge zu einzelnen Landesprogrammen sind vor allem<br />
Evaluationen, politische Berichte über die Programmumsetzung, Dokumentationen<br />
und Veröffentlichungen aus den Landesprogrammen heraus. Daneben gibt es einige<br />
Kommentare von Akteuren des Feldes und nur eine geringe Zahl von wissenschaftlichen<br />
Analysen, die sich aber auch dann nur einzelnen politischen Programmen widmen.<br />
Darüber hinaus gibt es natürlich eine breite Forschung, die sich mit Wirksamkeit<br />
und Passfähigkeit von Präventionsstrategien auseinandersetzt.
Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />
405<br />
Unterscheidungsmerkmale beinhalten Hinweise auf den qualitativen Gehalt der<br />
Programme, die die Analyse ebenfalls vorstellt.<br />
2 Datengrundlage und Vorgehen<br />
Die Grundgesamtheit der vorliegenden Expertise bilden Programme, Handlungskonzepte<br />
oder Strategien, die ihrem Selbstverständnis nach ein landesweites Vorgehen<br />
gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> bzw. Ungleichwertigkeitsideologie beinhalten<br />
und die mit ihrer Implementierung zusätzliche Landesmittel auf die Prävention<br />
von <strong>Rechtsextremismus</strong> verwenden. In Rheinland-Pfalz, Bremen, dem Saarland<br />
und Baden-Württemberg liegen derzeit weder koordinierte Programme vor, noch<br />
sind ebensolche Forderungen bereits auf der politischen Agenda angelangt. Dementsprechend<br />
sind diese Länder hier nicht erfasst. Gleichwohl soll damit keine<br />
qualitative Aussage über deren Engagement der <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention angedeutet<br />
werden. Teils bestehen in den Ländern ausdifferenzierte Einzelprojekte<br />
oder erhebliche Förderung durch den Bund. So dokumentiert beispielsweise der<br />
Bremer Senat seine Aktivitäten in unregelmäßigen Berichten über die Entwicklung<br />
von <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit und reektiert vor diesem<br />
Hintergrund die Gegenmaßnahmen. 3<br />
3 Der letzte Bericht erschien 2013 und bildete den fünften seiner Art (Senat der Freien<br />
Hansestadt Bremen, 2013).
406 Franziska Schmidtke<br />
Tabelle 1 Titel und Implementierungsjahr der Landesstrategien zur <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention (kursiv gesetzt sind Programme,<br />
die aktuell erarbeitet werden)<br />
Bundesland Titel Implementierung<br />
Brandenburg „Tolerantes Brandenburg“ – Handlungskonzept der Landesregierung gegen 1998<br />
Gewalt, <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit<br />
Berlin Berliner Landesprogramm gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, Rassismus und Antisemitismus<br />
Sachsen Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz 2005<br />
Mecklenburg-Vorpommern Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken 2006<br />
Thüringen Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit 2010<br />
Sachsen-Anhalt Landesprogramm für Demokratie, Vielfalt und Weltoffenheit 2012<br />
Bayern Bayerisches Handlungskonzept gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> 2009<br />
Schleswig-Holstein Landesprogramm zur Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>bekämpfung<br />
Hamburg Landesprogramm zur Förderung demokratischer Kultur, Vorbeugung und Bekämpfung<br />
von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
Nordrhein-Westfalen Handlungskonzept gegen <strong>Rechtsextremismus</strong> und Rassismus<br />
Niedersachsen –<br />
Hessen Landesprogramm gegen Rassismus, Antisemitismus und <strong>Rechtsextremismus</strong> –<br />
für Vielfalt und Toleranz in Hessen<br />
2002<br />
2013<br />
2013
Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />
407<br />
Als Datengrundlage dienen die jeweiligen Programme selbst, darüber hinaus aber<br />
auch Landtagsdokumentationen, Presseberichterstattung, wissenschaftliche Publikationen<br />
und Veröffentlichungen aus den Programmen heraus. Erweitert wurde<br />
diese Datengrundlage zudem durch leitfadengestützte Hintergrundinterviews mit<br />
landesspezischen Experten des Feldes. Die zugrunde liegenden Daten wurden<br />
mithilfe einer strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2000) bearbeitet.<br />
4<br />
Die im Text vorgestellten Kategorien und Unterscheidungsmerkmale basieren auf<br />
eben jenen Inhaltsanalysen.<br />
3 Inhaltliche Ausrichtung der Landesprogramme<br />
3.1 Problemdefinitionen und Zielstellungen<br />
Die Titel der Landesstrategien vereinen zunächst eine Reihe von wiederkehrenden<br />
Begrifichkeiten wie die des <strong>Rechtsextremismus</strong> und der Demokratie. Die in den<br />
Titeln zum Ausdruck kommenden Zielstellungen sollen zur Stärkung der Demokratie<br />
beitragen und dabei demokratiegefährdenden Tendenzen entgegen treten.<br />
Wie auch die oben stehende Tabelle 1 zeigt, sind die Ausrichtungen der Programme<br />
meist positiv bestimmt, sie stehen für etwas ein. Dieses Etwas wird mit Begriffen<br />
wie Demokratie, Toleranz oder Weltoffenheit überschrieben. Zugleich formulieren<br />
einige Titel auch eine negative Ausrichtung, wobei sie sich explizit gegen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> wenden.<br />
Damit lassen sich die Programme nur grob unterscheiden. Die Differenzierung<br />
gewinnt erst mit Blick auf die Operationalisierungen von Begriffen wie <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und Demokratie in den Landesprogrammen deutlich an Kontur und<br />
legt zugleich unterschiedliche Problem- und Lösungsstrategien der Länder offen.<br />
Hier treffen die Programme auf eine Begriffsdebatte, deren Untiefen auf teils<br />
jahrzehntelange wissenschaftliche Diskurse zurückgehen und deshalb einem<br />
geteilten, universellen Begriffsverständnis entgegenstehen. Gerade der Begriff<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> bedarf nicht allein für wissenschaftliche Analysen eine trennscharfe<br />
De nition, sondern auch weil er in öffentlichen Auseinandersetzungen<br />
über Ideologien der Ungleichwertigkeit nicht mehr wegzudenken ist. Eben dieser<br />
4 Die Methode nach Mayring vereint quantitative und qualitative Analysestrategien<br />
zu einer Form der Inhaltsanalyse, die flexibel auf das entsprechende Datenmaterial<br />
reagiert. Mayring schlägt drei Typen des Vorgehens vor, die je nach Forschungsziel<br />
ausgewählt werden. Dazu zählen Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung<br />
(vgl. Mayring, 2000).
408 Franziska Schmidtke<br />
Wirkmächtigkeit wohnt aber zugleich einer begrif iche Unsicherheit inne, die es<br />
zwingend notwendig werden lässt, das jeweilige Konzept hinter dem Begriff genauer<br />
darzustellen. Bevor Ausdifferenzierungen und theoretisch-konzeptionelle<br />
Bezugnahmen der Programme in den Vordergrund treten, führen die folgenden<br />
Sätze kurz in die sozialwissenschaftliche Begriffsdebatte ein, die die Unschärfe<br />
des Begriffs verdeutlicht und einordnet.<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> ist in seiner begrif ichen Genese eng an das Konzept des<br />
Extremismus gebunden, welches in den 1960er Jahre Gegenstand politikwissenschaftlicher<br />
Deutungen wurde und sich durch seine Gegnerschaft zum demokratischen<br />
Verfassungsstaat auszeichnet (vgl. Backes, 1989; Kowalsky, 1993).<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> wurde so zunächst ein politischer Begriff, der fortan in Verfassungsschutzberichten<br />
auftauchte und eben solche Bestrebungen beschrieb, die<br />
sich gegen die verfasste Demokratie richten. Ende der 1980er Jahre erschienen eine<br />
Reihe von soziologischen Begriffskritiken- und deutungen, die vor allem Ursachen<br />
des Phänomens fokussierten. Heitmeyer (1992), Friedrich (1992) und andere (etwa<br />
Jaschke, 1994; Melzer & Schubarth 1995; Pilz, 1994) griffen den Kern des Extremismuskonzepts<br />
an, da in den sozialwissenschaftlichen De nitionsvorschlägen<br />
nicht die organisatorisch aufgefangene und kanalisierte Feindlichkeit zu einem<br />
politischen System im Vordergrund stand – sondern individuelle Einstellungen<br />
im sozialen Kontext. Ein weiterer Angriffspunkt ist die dem Extremismuskonzept<br />
inhärente Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus. Bis heute ist dieser<br />
Konikt im Grunde nicht aufgelöst. Durchgesetzt hat sich aber zumindest eine<br />
dimensionale Unterscheidung, die es ermöglicht rechtsextreme Einstellungen von<br />
entsprechenden Verhaltensweisen grundsätzlich zu unterscheiden. Die zahlreichen<br />
empirischen Studien, die seit Beginn der 2000er Jahre die Verbreitung von rechtsextremen<br />
Einstellungen in der Bevölkerung verdeutlicht haben, ließen auch das<br />
Begriffsverständnis des <strong>Rechtsextremismus</strong> von seiner politikwissenschaftlich geleiteten<br />
Verengung auf organisierte Formen wie Parteien, Vereine und Bürgerinitiativen<br />
wegrücken. 5 Studien, die rechtsextreme Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft<br />
6 nachwiesen, unterstützten diese Bedeutungsverschiebungen. Während<br />
5 Dazu zählt das Projekt der Deutschen Zustände (Heitmeyer, 2002 bis 2012), welches<br />
von 2003 bis 2013 jährlich Einstellungen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit<br />
maß, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen und im zweijährlichen<br />
Modus abgefragten, sogenannte „Mitte-Studien“, sowie einige Regionalstudien<br />
wie der Thüringen-Monitor und eingeschränkt auch der Sachsen-Anhalt-Monitor.<br />
6 Wiederholt kritisiert wurde zugleich die Operationalisierung einer gesellschaftlichen<br />
Mitte. Unabhängig von diesen Unschärfen aber, zeigten die Studien einhellig wie<br />
rechtsextreme Einstellungen in allen Teilen der Bevölkerung vorhanden sind und auch<br />
aus diesem Grunde eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung darstellen.
Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />
409<br />
im Hufeinsenmodell (eine gern gewählte Visualisierung der Extremismustheorie)<br />
allein zwischen der demokratischen Mitte und den extremistischen Rändern unterschieden<br />
wird, zeigen die Ergebnisse der Einstellungsforschung deutliche Facetten<br />
auf, welche die Dualismen von Mitte vs. Rand und demokratisch vs. extremistisch<br />
aufheben. Eben für solche Messungen im Einstellungsbereich gab es wiederholte<br />
Versuche, ein einheitliches Messinstrument festzulegen und damit auch einen<br />
Konsens über den Charakter des Phänomens herzustellen (vgl. Kreis, 2007; Best &<br />
Schmidtke, 2013). Während der Konsens über eine verbindliche Messkonvention<br />
scheiterte, erweist sich doch die De nition rechtsextremer Einstellungen als eine<br />
auf Ungleichwertigkeitsvorstellungen basierende Ideologie als treffsicher und bis<br />
heute als tragfähig. Die Ideologie der Ungleichwertigkeit ist daher eine adäquate<br />
begrifiche Alternative für rechtsextreme Einstellungen, die in Fachdiskursen<br />
durchaus genutzt wird, aber in politischen und öffentlichen Debatten der Vokabel<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> nicht den Rang abläuft.<br />
Wie verorten sich nun die Landesprogramme in diesen Debatten, welche Bezüge<br />
greifen sie auf und welche Anknüpfungspunkte wählen sie? Es wurde bereits<br />
deutlich, dass die Landesprogramme vom Begriff <strong>Rechtsextremismus</strong> keinen<br />
Abstand nehmen. Darüber hinaus ndet sich aber in den Texten der Landesprogramme<br />
deutliche Differenzierung, die sich auf den Polen zwischen Vertretern<br />
des Extremismuskonzepts und Vertretern einer (vereinfacht gesagt) soziologischen<br />
Konzeption beschreiben lassen. Die nachfolgende Tabelle verzeichnet einige<br />
Merkmale die eine Verortung der Landesprogramme auf einer konzeptionell-theoretischen<br />
Ebene erleichtern.
410 Franziska Schmidtke<br />
Tabelle 2 Theoretisch-konzeptionelle Verortung der Programme<br />
Land Brandenburg Berlin Sachsen Mecklenburg-<br />
Vorpommern<br />
Thüringen Sachsen-<br />
Anhalt<br />
Bayern Schleswig-<br />
Holstein<br />
Lagebild Nein Ja Nein Ja Ja Ja Ja Ja Ja<br />
Gefährdungspotenzial<br />
Deformierung<br />
des<br />
demokratischen<br />
Gemeinwesens<br />
Ursachenbeschreibung<br />
Individualisierung,<br />
fehlende<br />
Geschichtsaufarbeitung,<br />
makrosoziale<br />
Ent wicklungen<br />
Friedliches<br />
Zusammenleben<br />
Nicht benannt<br />
Angriff<br />
auf<br />
FDGO<br />
Nicht<br />
benannt<br />
Dezite der<br />
demokratischen<br />
Kultur<br />
Angriff<br />
auf Gesellschaftsordnung<br />
Gefährdung<br />
der<br />
demokratischen<br />
Kultur,<br />
Angriff auf<br />
FDGO<br />
Gefahr für<br />
Staats- und<br />
Verfassungsordnung<br />
vielgestaltig<br />
Distanz<br />
a<br />
zur demokratischen<br />
Praxis<br />
Angriff<br />
auf<br />
FDGO<br />
Nicht<br />
benannt<br />
Nicht benannt<br />
Nicht benannt<br />
Erwähnung<br />
anderer<br />
Extre -<br />
mismen<br />
Fokus Ausdifferen-<br />
Ausdifferenzierunzierung<br />
von<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong><br />
b extremis-<br />
von Rechtsmus<br />
(GMF)<br />
Extremismus<br />
Nein Nein Nein Nein Ja Ja Nein Ja Nein<br />
Extremismus Mischtypus<br />
Extremismus<br />
c Extremismus<br />
Ausdifferenzierung<br />
von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
Hamburg<br />
Grundsätze<br />
eines<br />
toleranten<br />
und demokr.<br />
Zusammenlebens<br />
Psychologische<br />
Faktoren,<br />
Sozialisation,<br />
makrosoziale<br />
Entwicklungen<br />
Ausdifferenzierung<br />
von<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong><br />
(GMF)
Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />
411<br />
Anmerkungen zu Tabelle 2:<br />
a Einige weitere Hinweise gibt die dem Landesprogramm vorangestellte Expertise „Gefährdungen<br />
der demokratischen Kultur in Thüringen. <strong>Rechtsextremismus</strong> und politische<br />
Entfremdung“ (Edinger, 2010).<br />
b Konkret auf Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.<br />
c Das Landesprogramm wendet sich gegen alle Formen des Extremismus, differenziert<br />
anschließend aber sehr deutlich rechtsextreme Ideologiefragmente aus und stellt diese<br />
klar in den Vordergrund.<br />
Eines der wenigen eindeutig zuordenbaren Programme liefert Hamburg. Hierin<br />
ist festgeschrieben: „<strong>Rechtsextremismus</strong> ist ein von Ungleichwertigkeitsvorstellungen<br />
geprägtes Einstellungsmuster.“ (Hamburg – Stadt mit Courage, 2013, S. 7)<br />
Diametral entgegengesetzt lässt sich Bayern einordnen. Im dortigen Handlungskonzept<br />
heißt es:<br />
„Politischen Extremismus kann man als eine gesteigerte Form des Radikalismus<br />
verstehen, der fundamentale Veränderungen an unserer Gesellschaftsordnung anstrebt<br />
und dabei die Grenzen des demokratischen Rechtsstaats in Frage stellt oder<br />
überschreitet. Er bedeutet einen Angriff auf die freiheitliche demokratische Grundordnung<br />
des Grundgesetzes.” (Bayrisches Handlungskonzept gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>,<br />
2009,S. 6)<br />
Zwischen diesen Extrempunkten, die sich auf ein sozialwissenschaftliches Konzept<br />
bzw. auf das Extremismustheorem beziehen, ordnen sich alle anderen Programme<br />
ein. Sachsen-Anhalt deniert zwar ebenfalls Extremismus als einen Angriff<br />
auf dem demokratischen Verfassungsstaat, unterscheidet dabei aber zugleich<br />
zwischen Einstellungen und Verhaltensweisen: „Alle extremistischen Einstellungen<br />
und Bestrebungen richten sich gegen die Grundlage des demokratischen<br />
Verfassungsstaates und den Kernbestand des Grundgesetzes und stelle somit eine<br />
Gefahr für unsere Staats- und Verfassungsordnung dar.“ (LzpB und Netzwerk für<br />
Demokratie und Toleranz, 2012). Auch Thüringen bedient sich verschiedener Bezüge,<br />
die eine eindeutige Zuordnung zu einem Idealtypus verhindert. Im Landesprogramm<br />
für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit heißt es: „Die Gefährdung<br />
der demokratischen Kultur geht in Thüringen gegenwärtig vorrangig vom <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
aus. Dabei ist eine getrennte Betrachtung von Einstellungen und Verhalten<br />
sinnvoll.“ (TMSFG, 2012, S. 12). In weiteren Passagen nimmt das Thüringer<br />
Landesprogramm jedoch auch Bezug auf Linksextremismus und islamistischen<br />
Extremismus, die ebenso wie der <strong>Rechtsextremismus</strong> im Widerspruch zur freiheitlichen<br />
demokratischen Grundordnung (FDGO) stehen. Auch wenn die Programme<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> als eine Gefährdung der FDGO konstatieren, liegt hierin<br />
ein Hinweis auf eine Anlehnung an die Extremismustheorie zugrunde. Eine solche
412 Franziska Schmidtke<br />
Darstellung untermauert nämlich die Einschätzung, <strong>Rechtsextremismus</strong> fokussiere<br />
sich auf normabweichende Verhaltensweisen. Im Gegensatz dazu orientieren<br />
sich Länder mit einem eher sozialwissenschaftlich geprägten Begriffsverständnis<br />
auf eine Gefährdung des friedlichen, demokratischen Zusammenlebens.<br />
Besonders deutlich wird die Differenzierung in die zwei Idealtypen der konzeptionell-theoretischen<br />
Anbindung bei der Darstellung von Ursachen für die Problemlage.<br />
Wie schon angedeutet, haben die in den 1990er Jahren beginnenden<br />
soziologischen Analysen stärker auf die Ursachen und Umstände des Phänomenbereichs<br />
geblickt. Gerade Heitmeyer, der an die Zeitdiagnosen von Ulrich Beck<br />
(1996) anschloss, beschrieb Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse als<br />
wichtige Hintergrundvariablen für das Auf ackern rechtsextremer Ideologien zu<br />
Beginn der 1990er Jahre. Hier rücken makrosoziale Entwicklungen in den Vordergrund<br />
der Ursachenanalyse. In der wissenschaftlichen Debatte komplementieren<br />
zwei weitere Ursachenbündel das Verständnis über die Entstehung rechtsextremer<br />
Einstellungen und Verhaltensweisen. Psychologisch dominierte Erklärungen<br />
setzen auf Individualebene an und sozialpsychologische Einsichten ergänzen<br />
Einussfaktoren auf Mesoebene (vor allem Intergruppenbeziehungen). Ähnlich<br />
ausdifferenzierte und umfassende Ursachenbeschreibungen nden sich in solchen<br />
Programmen wieder, die dem Idealtypus der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit<br />
folgen. Darüber hinaus orientieren sich einzelne Programme auch<br />
an den Ein üssen fehlender demokratischer Praxis, die auf die Entwicklung von<br />
rechtsextremen Einstellungen und Verhaltensweisen hinwirken können. Immerhin<br />
vier Landesprogramme aber reektieren die Ursachen für ein zu begegnendes<br />
Phänomen überhaupt nicht. Denn in der Tat können diese beiden Variablen, eine<br />
Situations- und eine Entstehungsanalyse, auch als Hinweise auf die Symbol- bzw.<br />
Ernsthaftigkeit der Programme gewertet werden, schließlich können die hochgesteckten<br />
Programmziele nur durch passgenaue Gegenmaßnahmen erreicht werden,<br />
die eben solche Analysen als Grundlage benötigen.<br />
Neben der Problemde nition lassen sich die Programme durch ein weiteres<br />
Charakteristikum inhaltlich bestimmen. Die Tabelle 1, in der die Programmtitel<br />
zusammengeführt sind, verdeutlicht, dass neben der Auseinandersetzung mit dem<br />
Phänomen <strong>Rechtsextremismus</strong> auch eine starke demokratiefördernde Komponente<br />
in den Programmen verankert ist. Verbunden ist diese positive Ausrichtung<br />
zumeist noch mit Werten wie Toleranz und Weltoffenheit. Diese positiven Bestimmungen<br />
bilden eine zweite Dimension, um die Landesprogramme inhaltlich<br />
zu verorten und vergleichen zu können. Spiegelt nämlich auch das Leitbild, die<br />
Zielindikatoren und die Handlungsfelder eine starke demokratiestärkende Fokussierung<br />
wieder, ist eine Schwerpunktsetzung in der Primärprävention nur konsequent.<br />
In diesem Fällen rückt die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Rechts-
Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />
413<br />
extremismus, als demokratiegefährdende Negativschablone, in den Hintergrund,<br />
und stattdessen soll die Demokratieförderung, als Prävention für eben solche demokratiegefährdende<br />
Einstellungen im Vordergrund stehen. Besonders deutlich<br />
ist dieser Aspekt bei den Landesprogrammen von Mecklenburg-Vorpommern und<br />
Schleswig-Holstein. Hier hat man die klassische Auseinandersetzung mit <strong>Rechtsextremismus</strong>-Akteuren,<br />
die in der Förderung der Bundesprogramme stehen, überlassen<br />
und ergänzt diese durch demokratiepädagogische Präventionsinhalte, die<br />
stark auf Kinder und Jugendliche sowie Multiplikatoren und Berufsgruppen in<br />
Kontakt mit Kindern und Jugendlichen ausrichten.<br />
3.2 Verortung der Maßnahmen<br />
Die Leitbilder der Landesprogramme enthalten also unterschiedliche Konzepte<br />
über ihre Ziele und das Phänomen, gegen welchen sie sich wenden. Davon bleiben<br />
auch die Gegenmaßnahmen, zumindest in ihrem konzeptionellen Zuschnitt,<br />
so wie sie im Leitbild formuliert sind, nicht unbeeindruckt. Vielmehr leiten sie<br />
sich sachlogisch von den Problemwahrnehmungen ab. So kann etwa, wenn <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
als Angriff auf den demokratischen Verfassungsstaat deniert wird,<br />
als Gegenmaßnahme nicht allein politische Bildung eingesetzt werden, vielmehr<br />
ist dann davon auszugehen, dass vielfältige Mittel der Repression zum Einsatz<br />
kommen, die dem verhaltensbasierten Gefahrengut entgegentreten.<br />
Um hier eine Verortung vornehmen zu können, ist der Rückgriff auf die Begriffsgeschichte<br />
der Prävention hilfreich. Caplan (1964) bietet eine psychologische<br />
Differenzierung an. Er untergliedert Prävention in einem Dreischritt, der<br />
parallel zu den heutigen Begriffsverständnissen von Prävention, Intervention und<br />
Repression verläuft. Dieser grundlegenden Differenzierung folgten eine ganze<br />
Reihe weiterer feinerer Untergliederungsvorschläge, die aber für eine Zuordnung<br />
der Landesprogramme wenig geeignet sind, da die Programme nicht über die dafür<br />
notwendige Prägnanz verfügen.
414 Franziska Schmidtke<br />
Tabelle 3 Präventionsstufen nach Caplan (1964)<br />
Primäre Prävention Sekundäre Prävention Tertiäre Prävention<br />
Bedeutung gesellschaftliche<br />
Bedingungen für<br />
regelkonformes<br />
Verhalten schaffen<br />
Maßnahmen Aufklärung,<br />
Beratung, Bildung,<br />
Qualizierung<br />
Verhinderung von<br />
Normverletzungen<br />
Gegendemos, Opferhilfe,<br />
Aufarbeitung<br />
Direkte Auseinandersetzung<br />
mit dem<br />
Phänomen<br />
Gesetzeslage, Strafverfolgung<br />
Zielgruppen Alle Gefährdete Manifest Betroffene<br />
Folgen wir daher Caplans Differenzierung, lassen sich Schwerpunkte der Landesprogramme<br />
darin einordnen. Auch hier gilt es eine idealtypische Einordnung<br />
vorzunehmen, die zunächst allein auf den politischen Dokumenten aufbaut, nicht<br />
auf die Förderpraxis.<br />
Tabelle 4 verzeichnet Schwerpunkte der Gegenstrategien. Keines der Landesprogramme<br />
ist vollkommen einseitig auf eine der drei Präventionsformen fokussiert.<br />
Vielmehr nden wir vor allem übergreifende Ansätze vor, die zumindest<br />
in den grundlegenden politischen Papieren verschiedene Bereiche der Prävention<br />
abdecken. Der Bereich der Primärprävention ist dabei gerade bei den neueren Programmen<br />
bzw. Programmüberarbeitungen in den Vordergrund gerückt. Besonders<br />
im Fokus steht dabei die Fürsorge des Staates durch Demokratieförderung und<br />
-entwicklung. So ist etwa im erst 2013 implementierten Programm aus Schleswig-<br />
Holstein dem Titel nach die Ausrichtung klar gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, in seiner<br />
strukturellen Förderung unterstützt es hingegen die ächendeckende Demokratieentwicklung<br />
im Land. Auch Mecklenburg-Vorpommern hat in seiner Umsetzungsstrategie<br />
von 2008 einen deutlichen Schwerpunkt auf eben solche Themen formuliert,<br />
und ebenso nimmt das überarbeitete Brandenburger Handlungskonzept aus<br />
dem Jahr 2005 Demokratieentwicklung und die Förderung der demokratischen<br />
Kultur als ein Ziel auf.
Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />
415<br />
Tabelle 4<br />
Zentrale Gegenstrategien der Landesprogramme<br />
Land<br />
Dominierende<br />
Gegenstrategie<br />
Brandenburg Prävention Stärkung demokratischer<br />
Kultur<br />
Zielstellung Zielgruppen<br />
Berlin Prävention Stärkung u. Weiterentwicklung<br />
einer Kultur<br />
der Anerkennung, Antidiskriminierung,<br />
des<br />
Respekts und Menschenwürde<br />
Sachsen b<br />
Mecklenburg-<br />
Vorpommern<br />
Prävention,<br />
Repression<br />
Prävention<br />
Thüringen Prävention,<br />
Repression<br />
Sachsen-Anhalt Prävention,<br />
Repression<br />
Stärkung der demokratischen<br />
Kultur und der<br />
FDGO<br />
Nachhaltige Stärkung<br />
der Zivilgesellschaft<br />
Aktivierung der Zivilgesellschaft<br />
Wachsende Sensibilisierung<br />
gegenüber<br />
demokratie-feindlichen<br />
Angeboten<br />
Bayern Repression Jeder Form von Extremismus<br />
entgegentreten<br />
Schleswig-<br />
Holstein<br />
Hamburg<br />
Prävention<br />
Prävention,<br />
Intervention<br />
Stärkung der demokratischen<br />
Zivilgesellschaft<br />
d<br />
Öffentlichkeit sensibilisieren,<br />
Bildung,<br />
Institutionen stützen,<br />
Betroffene stärken<br />
Kinder & Jugendliche,<br />
Initiativen, Betroffene,<br />
Bildungseinrichtungen,<br />
Pädagogen, Zuwanderer<br />
Jugendliche, Multiplikatoren,<br />
Initiativen,<br />
Betroffene<br />
Nicht ausformuliert<br />
Alle an Demokratisierungsprozessen<br />
beteiligte<br />
Personen c<br />
Kinder, Jugendliche,<br />
Gefährdete, Täter,<br />
Initiativen, Pädagogen<br />
Jugend, Betroffene,<br />
Zugewanderte, Täter<br />
Täter, Jugendliche,<br />
Eltern, Pädagogen<br />
Kinder, Jugendliche,<br />
Lehrkräfte und Pädagogen<br />
Kinder, Jugendliche,<br />
Betroffene, Institutionen,<br />
Multiplikatoren<br />
a Das Leitziel wird konkretisiert auf: Demokratische Diskurse unterstützen, verbessertes<br />
Wissen ermöglichen, Demokratiekompetenz stärken, Minderheitenschutz und die<br />
Partizipation von Minderheiten weiterentwickeln, partizipative Alltagspraxis erlebbar<br />
machen, Interkulturalität festigen und fördern (Vgl Senatsverwaltung für Arbeit, Integration<br />
und Frauen, 2012, S. 3ff.).<br />
b Datengrundlage im Falle Sachsens ist die Förderrichtlinie des Programms „Weltoffenes<br />
Sachsen“, die Auswertung der Sachberichte zur Förderperiode 2005 (vgl. Sächsische<br />
Staatskanzlei, 2006 und der Koalitionsvertrag von 2009).<br />
c Konkret erwähnt werden: Politiker, Parteien, Kirchen, Vereine u. Verbände, Gremien<br />
der Wirtschaft, Kultur u. Wissenschaft, Bürger.<br />
d Die Aufzählung nennt zudem: Demokratie- und Toleranzerziehung, soziale Integration,<br />
interkulturelles und interreligiöses Lernen, antirassistische Bildungsarbeit, kulturelle<br />
und geschichtliche Identität sowie die Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebungen“<br />
(Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein, 2013, S. 6).
416 Franziska Schmidtke<br />
Dieser übergreifende Fokus auf Primärprävention kann weiter ausdifferenziert<br />
werden. 7 Wie schon im vorigen Kapitel angesprochen, beziehen sich die Landesprogramme<br />
gerne positiv auf eine demokratische Kultur. Deren Absicherung und<br />
Förderung können jedoch auf sehr verschiedenen Ebenen durchgesetzt werden.<br />
Eine Beratung von kommunalen Verwaltungsstellen etwa adressiert ein politisches<br />
Subsystem, das vielfach als Rahmen für die Handlung Einzelner und Gruppen<br />
wirkt und damit eine Struktur auf Makroebene darstellt. Andererseits können die<br />
Förderpraktiken aber auch auf Gruppen, wie Aktionsbündnisse, also einer Mesoebene,<br />
oder ganz grundlegend beim Individuum, und damit der Mikroebene,<br />
ansetzen. 8 Eine solche Ebenenunterscheidung parallel zum Ordnungsvorschlag<br />
nach Caplan ist hilfreich, um weitere Differenzierungen zwischen den Landesprogrammen<br />
sichtbar zu machen. Bundesländer etwa, die mit ihren Programmen<br />
zivilgesellschaftliche Gruppen aktivieren, ja sogar erst etablieren wollten, förderten<br />
dementsprechend auf einer Mesoebene. In den neuen Bundesländern stellte<br />
eben dieser Aufbau zum Beispiel vielfach zunächst eine Aufgabe der Programme<br />
dar. Brandenburg begleitete diesen Prozess intensiv durch seine Förderpraxis und<br />
initiierte etwa 1998 das Aktionsbündnis gegen Gewalt, <strong>Rechtsextremismus</strong> und<br />
Fremdenfeindlichkeit und 2002 den Landespräventionsrat. Auch in Mecklenburg-<br />
Vorpommern ist dies der Fall. Zunehmende Bedeutung gewann die Gemeinwesensberatung,<br />
also die gezielte Fortbildung, Beratung und Begleitung kommunaler<br />
Strukturen in ihrer Sensibilität für demokratische Partizipations- und Verfahrensweisen.<br />
Daneben wirken die Landesprogramme in unterschiedlichem Maße strukturbildend.<br />
So lassen sich die Programme unterscheiden nach solchen, die einige<br />
Strukturen und Träger mit einem bestimmten Aufgabenprol nanziell unterstützen<br />
und solchen, die vorrangig fortwährende Projektförderungen zur Verfügung<br />
stellen, auf die sich grundsätzlich alle Vereine, Initiativen und Institutionen im<br />
Land bewerben können. Strukturförderungen sind vor allem in Bereichen wie der<br />
Gemeinwesensberatung und der Opferberatung angesiedelt. Sie sollen landesweit<br />
oder zumindest überregional zur Verfügung stehen und stellen wichtige Säulen<br />
einer Landesstrategie dar. Dagegen widmet sich die allgemeine Projektförderung<br />
ganz breit der Umsetzung der Programmziele. Ihr nanzieller Aufwand ist zumeist<br />
begrenzt, beispielsweise stellt Thüringen auch kleinere Summen für Mikroprojekte,<br />
so genannte „Feuerwehrmittel“, zur Verfügung, die in einem Schnell-<br />
7 Entwicklungspotenzial bei der Analyse von Präventionsstrategien bemängeln auch<br />
Rot, Geseman und Aumüller in ihrer Evaluation des Berliner Programms (2010).<br />
8 Berlin formuliert in einem Handlungsfeld einen konkreten Bildungsauftrag und fokussiert<br />
damit die Individualeben.
Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />
417<br />
verfahren abgerufen werden können, um beispielsweise die Vorbereitung oder die<br />
Anfahrt zu einer Demonstration abzusichern.<br />
In dem erst 2013 verabschiedeten Hamburger Landesprogramm dominiert dagegen<br />
eindeutig die Projektförderung. 9 Die Hansestadt als urbanes Zentrum konnte<br />
bei der Aushandlung ihres Programms bereits auf gut entwickelte Strukturen<br />
zurückgreifen. Das Hamburger Beratungsnetzwerk ist zum Beispiel eine zentrale,<br />
strukturbildende, Einrichtung für den Stadtstaat und be ndet sich in Förderung<br />
der Bundesprogramme. Daher war in diesem Fall der Bedarf an weiterer Strukturbildung<br />
nicht gegeben und ndet somit auch keinen Niederschlag im Landesprogramm.<br />
Stattdessen gingen die für 2014 eingeplanten 500.000€ vollständig in<br />
die Projektförderung.<br />
Ausgeschlossen sind Projektförderungen in den Programmhaushalten von<br />
Schleswig-Holstein und Bayern. In Schleswig-Holstein ießt der vergleichbar<br />
kleine Finanzrahmen von 300.000€ jährlich allein in die Personal- und Sachmittelausstattung<br />
der Regionalzentren für Demokratiebildung. Auch Bayern sieht<br />
keine Projektmittel in seinem Handlungskonzept vor. Darüber hinaus ist aber hier,<br />
anders als in Schleswig-Holstein, auch die Förderung, die durch das Handlungskonzept<br />
angekündigt wird, ausschließlich auf staatliche Stellen und Behörden<br />
wie Polizei, Verfassungsschutz und Jugendämter ausgerichtet. Eine Förderung<br />
zivilgesellschaftlicher Initiativen ndet nicht statt. Mit dieser expliziten und ausschließlichen<br />
staatlichen Ausrichtung sticht das bayrische Handlungskonzept in<br />
der Programmlandschaft besonders hervor. Etablierte Strukturprojekte sind von<br />
dem Beispiel Bayern abgesehen zumeist in zivilgesellschaftlicher Trägerschaft,<br />
werden als weitgehend unabhängiger Partner wahrgenommen und von den Landeskoordinierungsstellen<br />
zwar betreut, aber nicht vollständig gesteuert. Beispielhaft<br />
für dieses Vorgehen ist etwa der „Berliner Ratschlag für Demokratie“ oder<br />
die Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) in<br />
Brandenburg. Zumeist stellen die Programme aber beides, also Projektmittel und<br />
Strukturförderung, bereit.<br />
4 Strukturelle Zuschnitte der Landeprogramme<br />
Um die hochgesteckten Ziele der einzelnen Strategien auch nur nahe kommen zu<br />
können und die inhaltliche Arbeit in den Vordergrund zu stellen, benötigen die<br />
Landesprogramme eine funktionierende Struktur. Ferner drücken auch einige<br />
Strukturmerkmale der Programme die Nachdrücklichkeit des politischen Willens<br />
9 Projektförderung steht weiterhin in Sachsen im Vordergrund.
418 Franziska Schmidtke<br />
aus, der in allen Papieren zum Ausdruck kommt, in der umgesetzten Struktur aber<br />
unterfüttert werden muss.<br />
Eines dieser Merkmale ist der Anspruch, dass die Landesprogramme tatsächlich<br />
Maßnahmen und Bestrebungen als politische Querschnittsaufgabe erfassen.<br />
Praktisch kann dies umgesetzt werden, indem alle Ministerien an den Programmen<br />
beteiligt sind. Wohlbekannte Instrumentarien der Ministerialbehörden sind dafür<br />
sogenannte interministerielle Arbeitsgruppen (IMAG). Darin sind Ansprech- und<br />
Kontaktpersonen verschiedener (nicht unbedingt aller) Ministerien vertreten und<br />
bringen dabei die unterschiedlichen Maßnahmen, Ansätze und Instrumentarien<br />
ihres Ressorts ein. In der Tat sind solche Arbeitsgruppen in den meisten Bundesländern<br />
implementiert. Allein Bayern, Sachsen und Schleswig-Holstein nutzen<br />
das Instrumentarium nicht. In Schleswig-Holstein ist dieser Zustand der Tatsache<br />
geschuldet, dass es sich um ein Programm handelt, das stark auf die Strukturbildung<br />
orientiert ist. Hier werden keine Mittel für Projektanträge verteilt, sodass die<br />
vergleichsweise statische Förderpraxis eine IMAG nicht unmittelbar notwendig<br />
erscheinen lässt. Zudem zählt das schleswig-holsteinische Programm das landesweite<br />
Beratungsnetzwerk zu seiner Struktur und hierin sind nicht alle, aber doch<br />
eine Reihe von Ministerien vertreten, 10 sodass auch hier die ressortspezischen<br />
Sichtweisen zu einem Teil des Landesprogramms gehören. In Sachsen ist die<br />
Struktur des Landesprogramms etwas untypisch aufgebaut. Hier entscheidet die<br />
Geschäftsstelle des Landesprogramms über die Projektförderung, allerdings unter<br />
Beteiligung der fachlich zuständigen Ressorts. Es gibt einen Koordinator des Programms.<br />
Bayern andererseits kennt eine solche Vernetzung der Ministerien nicht<br />
in seinem Handlungskonzept. Die betreuende Informationsstelle gegen Extremismus<br />
ist aus dem Fachressort des Inneren besetzt – und eine weitere begleitende<br />
Struktur ist nicht vorhanden. Von diesen Fällen abgesehen nden wir in allen Landesprogrammen<br />
eine IMAG als Teil der tragenden Struktur. Ihr Aufgabenbereich<br />
differiert hingegen und reicht von Bündelung bis hin zu Programmüberwachung<br />
und Vergabeinstanz. In einzelnen Fällen, wie Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-<br />
Vorpommern, geht aus der IMAG noch eine weitere kleine Gruppe hervor, besetzt<br />
aus Vertretern von Ministerien, die besonders involviert sind. Diese, in Sachsen-<br />
Anhalt genannte Steuerungsgruppe, besitzt eine abstimmende Funktion zwischen<br />
Programmbeirat und IMAG und in Mecklenburg-Vorpommern ist der Vergaberat<br />
für die Vergabe der Fördermittel verantwortlich. In Mecklenburg-Vorpommern<br />
kommt der IMAG ein besonders großer Aufgabenbereich zu, der von Begleitung<br />
10 Konkret sind dies: Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft, das Innenministerium,<br />
das Ministerium für Justiz, Kultur und Europa und das Ministerium für Soziales,<br />
Gesundheit, Familie und Gleichstellung des Landes Schleswig Holstein.
Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />
419<br />
der Arbeit der Regionalzentren für demokratische Kultur, über eine Stärkung und<br />
Bündelung bestehender Landesförderprogramme in diesem Feld bis hin zur Koordinierung<br />
des Mitteleinsatzes reicht.<br />
Die Zentren der Programme sind die Koordinierungsstellen, die einen Knotenpunkt<br />
in der häug zunächst unübersichtlich wirkenden Förderstruktur bilden. Sie<br />
setzen das Landesprogramm um; sie steuern und vernetzen dabei zumeist Projekte<br />
der Landesförderung als auch Projekte, die in Bundesförderung stehen. Somit ießen<br />
hier (oft) Bundes- und Landesprogramm in einer Stelle zusammen, was aus<br />
fachlicher und pragmatischer Sicht begrüßenswert ist. Allein in Bayern verläuft<br />
die Koordination der Bundes- und Landesmittel getrennt voneinander ab. Die Anbindung<br />
dieser Stellen ist unterschiedlich geregelt. Sie nden sich meist in einem<br />
Sozial- oder Bildungsministerium wieder, bzw. in einer diesen Ressorts nachgeordneten<br />
Einrichtung wie den Landeszentralen für politische Bildung. Seltener sind<br />
die Innenministerien mit der Betreuung betraut. Dabei ist die konkrete Anbindung<br />
nicht ohne Implikationen. Wiederholt wurde etwa in Brandenburg gefordert, die<br />
Koordinierung direkt an der Staatskanzlei anzubinden, um die politische Bedeutung<br />
des Programms zu unterstreichen. Hingegen hat die Anbindung auf Referatsebene<br />
keine besondere politische Ausstrahlung. Ebenfalls in Brandenburg gab es<br />
sogar – vorübergehend, im Jahr 2002 – eine Beauftragte der Landesregierung für<br />
die Umsetzung des Landesprogramms. Eine solche herausgehobene Stellung kann<br />
der Sichtbarkeit eines Programms durchaus behil ich sein. Derweil sind die Programme<br />
mit Ansiedlung an das Innenressort auch inhaltlich dem zuzuordnen; es<br />
sind die Programme, die stärker auf eine (staatliche) Auseinandersetzung mit dem<br />
vor allem gewalttätigen Phänomen vorsehen wie Bayern und Sachsen.<br />
Schließlich sind die meisten Programme noch mit einer dritten Institution ausgestattet.<br />
In einem Programmbeirat (die Bezeichnung variiert) sind Vertreter von<br />
der Zivilgesellschaft und Akteure der Projektlandschaft repräsentiert sowie politische<br />
Vertreter, Experten aus Wissenschaft und Forschung und Vertreter der Landesverwaltung,<br />
um die Umsetzung des Programms gemeinsam zu beraten. Neben<br />
der ressortübergreifenden Umsetzung durch eine IMAG können so Träger der<br />
Förderlandschaft und politische Vertreter aller Parteien zusammentreten. Vorteil<br />
einer solchen Konstruktion ist die breite Partizipation, die das Programm sogleich<br />
in besonderem Maße legitimiert und Kon ikte über die Verteilung von Fördermitteln<br />
frühzeitig unterbinden kann.
420 Franziska Schmidtke<br />
Tabelle 5<br />
Struktur der Landesprogramme<br />
Brandenburg<br />
Berlin<br />
Sachsen<br />
Mecklenburg-<br />
Vorpommern<br />
Thüringen<br />
Sachsen-Anhalt<br />
Bayern<br />
Schleswig-Holstein<br />
Hamburg<br />
a Doppelhaushalt 2013/2014.<br />
Ministerium für Bildung,<br />
Jugend und Sport<br />
Landesstelle für Gleichbehandlung<br />
– gegen Diskriminierung,<br />
Integrationsbeauftragen<br />
Landespräventionsrat – Innenministerium<br />
/ Koordinator des<br />
Programms<br />
Landeszentrale für politische<br />
Bildung – Ministerium für<br />
Bildung, Wissenschaft und<br />
Kultur<br />
Ministerium für Familie,<br />
Soziales und Gesundheit<br />
Geschäftsstelle des Netzwerks<br />
für Demokratie und Toleranz<br />
in der Landeszentrale für<br />
politische Bildung – Kultusministerium<br />
Bayrische Informationsstelle<br />
gegen Extremismus – Innenministerium<br />
Rat für Kriminalitätsverhütung<br />
Ministerium für Inneres<br />
und Bundesangelegenheiten<br />
Behörde für Arbeit, Soziales,<br />
Familie und Integration<br />
Ja Nein 1,2<br />
Ja Nein 2,5<br />
Nein Ja 3,26 a<br />
Ja Nein k.A.<br />
Ja Ja 3,7<br />
Ja Ja k.A.<br />
Nein Nein k.A.<br />
Nein Ja 0,3<br />
Ja Nein 0,5<br />
Land Koordinierung IMAG Programmbeirat<br />
Haushaltsansatz<br />
2014<br />
in Mio. €<br />
5 Fazit<br />
Zunächst die gute Nachricht: Die nun fast ächendeckende Verwendung von Landesprogrammen<br />
zur <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention und Demokratieförderung ist<br />
begrüßenswert. Sie verdeutlichen, dass ein übergreifendes Problembewusstsein<br />
und Handlungsdruck besteht. Dabei unterscheiden sich die Programme, trotz
Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />
421<br />
ähnlicher Kernelemente, in Ausrichtung, Zielstellung und struktureller Umsetzung<br />
teils erheblich. Es war Aufgabe des vorliegenden Artikels, diese herauszuarbeiten.<br />
Über die Feststellung von Unterschieden hinaus schließt sich nunmehr die Frage<br />
an, welches Vorgehen nun (sozusagen) das Angemessene, das Wirksame und<br />
das Erfolgreiche ist. Wie schon in der Einleitung bemerkt, müssen hierfür die jeweiligen<br />
Kontextfaktoren bedacht werden. In Mecklenburg-Vorpommern etwa hat<br />
sich seit dem Einzug der NPD in den Schweriner Landtag ein politischer Konsens<br />
durchgesetzt, der es impliziert, und die Dokumente lassen diesen Schluss zu, dass<br />
dortige Handlungskonzept im Landtag in seinen Grundsätzen nicht anzugreifen.<br />
Politische Debatten um die Ausrichtung, um Gleichzeitigkeit von Rechts- und<br />
Linksextremismus im Land, haben so keinen Platz im Landtag. Anders sieht es<br />
in Ländern wie Hessen aus, in der der politische Streit im Landtag geradezu zelebriert<br />
wird und als Element der regionalen politischen Kultur zu bedenken gibt.<br />
Auch lässt die verschiedene Verankerung organisierter rechtsextremer Gruppen<br />
unterschiedliche Herangehensweisen und Auseinandersetzungen mit dem Phänomen<br />
zu. So wird eine Konzeption in Schleswig-Holstein notwendigerweise anders<br />
aussehen müssen als in Brandenburg.<br />
Mit diesen einschränkenden Bemerkungen im Rücken bleibt trotzdem der Blick<br />
über den Tellerrand fruchtbar. Theoretisch-konzeptionelle Differenzierungen der<br />
Programme betreffen die Problemdenition. Dabei spiegeln die Differenzierungen<br />
wissenschaftliche Diskurse wider, die sich historisch gesehen zu großen Teilen<br />
auch entlang dieser entwickeln. Die theoretisch-konzeptionellen Unterscheidungen<br />
übertragen sich zudem auf die Auswahl der Gegenmaßnahmen. So zeigte die<br />
inhaltliche Ausrichtung der Landesprogramme durchaus einen länderübergreifenden<br />
Entwicklungsprozess, der Prävention, Intervention und Repression als sich<br />
gegenseitig ergänzende Maßnahmen fasst, sowie dabei zugleich aber repressive<br />
Programmteile zunehmend verringert und stattdessen vielfältige primärpräventive<br />
Mittel in den Vordergrund stellt. Zudem sind es verstärkt Vorgehensweisen, die<br />
auf makrosoziale Umstände gerichtet sind, also beispielsweise Gemeinwesensberatung,<br />
hervorheben.<br />
Neben der inhaltlichen Ausrichtung wurde die Binnenstruktur der Landesprogramme<br />
herangezogen, um qualitative Anforderungen an ein Landesprogramm<br />
überprüfen zu können. Zum Teil de nieren die Landesprogramme eigenständig<br />
Anforderungen, indem etwa ein multiperspektivischer Blick auf das Phänomen<br />
durch die Beteiligung mehrerer (am besten aller) Ressorts verankert ist oder indem<br />
eine dauerhafte wissenschaftliche Rückbindung im Programm eingeschrieben<br />
ist. Diese Kriterien stellen auch von außen betrachtet Qualitätsmerkmale dar,<br />
für die Auseinandersetzung mit einem vielschichtigen und sich stets im Wandel
422 Franziska Schmidtke<br />
bendlichen Phänomen. Des Weiteren ist auch die landesspezi sche Ergänzung<br />
der Bundesprogramme vorteilhaft, die durch eine gemeinsame Koordinierung von<br />
Bundes- und Landesprogrammen gesichert werden kann.
Demokratieförderung und <strong>Rechtsextremismus</strong>prävention …<br />
423<br />
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<strong>Rechtsextremismus</strong>, München.<br />
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2014). Für Toleranz und<br />
Demokratie – Präventiv gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>. Das Bundesprogramm Toleranz fördern<br />
– Kompetenz stärken, Berlin.
424 Franziska Schmidtke<br />
Bündnis 90/Die Grünen Fraktion im Sächsischen Landtag (Hrsg.) (2011). Weltoffenes<br />
Sachsen? Demokratieförderung in Sachsen zwischen Landesprogramm oder Gesinnungs-TÜV,<br />
Dresden.<br />
Christlich Demokratische Union Deutschlands Landesverband Sachsen/ Freie Demokratische<br />
Partei Landesverband Sachsen (2009). Freiheit. Verantwortung. Solidarität. Gemeinsam<br />
für ein starkes und selbstbewusstes Sachsen, Dresden.<br />
Edinger, Michael (2010). Gefährdungen der demokratischen Kultur in Thüringen. <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
und politische Entfremdung (=Expertise für das Thüringer Ministerium<br />
für Soziales, Familie und Gesundheit), Erfurt.<br />
Roth, Ronals/ Geseman, Frank/ Aumüller, Jutta (2010). Abschlussbericht zur Evaluation<br />
des Berliner Landsprogramms gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, Rassismus und Antisemitismus,<br />
Berlin.<br />
Hamburg/ Hamburg Bekennt Farbe (2013). Hamburg – Stadt mit Courage. Landesprogramm<br />
zur Förderung demokratischer Kultur, Vorbeugung und Bekämpfung von<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, Hamburg.<br />
Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein (2013). Landesprogramm zur Demokratieförderung<br />
und <strong>Rechtsextremismus</strong>bekämpfung, Kiel.<br />
Landesregierung Brandenburg (2005). „Tolerantes Brandenburg“ – für eine starke und<br />
lebendige Demokratie. Handlungskonzept der Landesregierung für eine demokratische<br />
Gesellschaft mit Zivilcourage gegen Gewalt, <strong>Rechtsextremismus</strong> und Fremdenfeindlichkeit,<br />
URL: http://www.tolerantes.brandenburg.de/media_fast/-5791/Handlungskonzept.<br />
pdf (letzter Zugriff: 10.12.2014).<br />
Landeszentrale für politische Bildung/ Netzwerk für Demokratie und Toleranz (Hrsg.)<br />
(2012). Landesprogramm für Demokratie, Vielfalt und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt,<br />
Magdeburg.<br />
Landtag Mecklenburg-Vorpommern (2008). Unterrichtung durch die Landesregierung.<br />
Landesprogramm „Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken!“ Strategie der Landesregierung<br />
zur Umsetzung des Landesprogramms (=Drucksache 5/1599), Schwerin.<br />
Sächsische Staatskanzlei (2006). Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz. Auswertung<br />
der Sachberichte zur Förderperiode 2005, Dresden.<br />
Senat der Freien Hansestadt Bremen (2013). Fünfter Bericht über <strong>Rechtsextremismus</strong> und<br />
Fremdenfeindlichkeit im Lande Bremen (2008-2012), Bremen.<br />
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales/ Der Beauftragte des Senats von<br />
Berlin für Integration und Migration (Hrsg.) (2011). Berlin schaut hin. Das Landesprogramm<br />
gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, Antisemitismus und Rassismus, Berlin.<br />
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales/ Der Beauftragte des Senats von<br />
Berlin für Integration und Migration (Hrsg.) (2012). Leitlinien des Landesprogramms<br />
„Demokratie. Vielfalt. Respekt. Gegen <strong>Rechtsextremismus</strong>, Antisemitismus und Rassismus,<br />
Berlin.<br />
Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit (Hrsg.) (2012). DenkBunt.<br />
Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit, Erfurt.
Deradikalisierung als Methode<br />
Theorie und Praxis im nationalen<br />
und internationalen Vergleich.<br />
Trends, Herausforderungen und Fortschritte.<br />
Daniel Köhler<br />
1 Einleitung<br />
„Deradikalisierung“ als Begriff wird in der deutschen wissenschaftlichen, politischen<br />
und praktischen Landschaft erst seit einigen wenigen Jahren vereinzelt<br />
verwendet. Obgleich im internationalen Bereich eine steigende Zahl von akademischen<br />
und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen und entsprechenden<br />
Programmen seit über 20 Jahren zu beobachten ist, scheint sich in Deutschland<br />
der Anschluss an die internationale Debatte nur sehr langsam zu vollziehen. Wird<br />
doch in aller Regel noch sehr verallgemeinernd von „Ausstiegsprogrammen“ oder<br />
„sozialpädagogischer Präventionsarbeit“ gesprochen, vielleicht auch, um eine mit<br />
dem Begriff ‚Deradikalisierung’ mitschwingende Verschiebung der Debatte in<br />
den Sicherheitsbereich zu vermeiden. Dennoch lässt sich leicht zeigen, dass besonders<br />
in Deutschland seit den ersten Bundesprogrammen in den 1990er Jahren eine<br />
weltweit einzigartig dynamische und pluralistische Landschaft von Trägern jener<br />
‚Ausstiegsprogramme’ mit vielfältigsten Ansätzen und Zielgruppen entstanden ist.<br />
Ein Erfahrungsschatz, der allerdings nur zu sehr geringen Anteilen wissenschaftlich<br />
oder politisch (besonders im internationalen Bereich) genutzt wurde, was<br />
sicherlich auch instabilen Finanzierungsverhältnissen und teilweise erheblichen<br />
Konkurrenzsituationen geschuldet ist. Weiterhin erscheint es verwunderlich, dass<br />
in der bundesdeutschen Praktikerlandschaft und Wissenschaft nur äußerst spärlich<br />
der Stand der internationalen Forschung und entsprechende Erfahrungen anderer<br />
(besonders europäischer) Programme aufgegriffen und diskutiert wurden. Bereits<br />
im Jahr 2008 ließ sich ein erster Höhepunkt innerhalb der internationalen Debat-<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_18, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
426 Daniel Köhler<br />
te um ‚Deradikalisierung’ beobachten, als das Time Magazine die Idee der Umkehr<br />
von Radikalisierung als eine der wichtigsten und vielversprechendsten Ideen<br />
für die Zukunft präsentierte (Ripley, 2008). Kurze Zeit später erschienen zwei<br />
der einschlägigsten Publikationen zu diesem Thema bis dato (Bjørgo & Horgan,<br />
2009; Horgan, 2009), welche immer noch nicht in deutscher Sprache verfügbar<br />
und hierzulande auch nur vereinzelt zur Kenntnis genommen worden sind. Eine<br />
Ausnahme bilden dabei die Sicherheitsbehörden, welche schon seit 2009 innerhalb<br />
des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) bundesübergreifend<br />
in der Arbeitsgruppe Deradikalisierung die aktuelle Forschung und Erfahrungen<br />
aus anderen Ländern intensiv diskutiert haben 1 . Im September 2011 startete die<br />
Europäische Kommission im Rahmen ihrer Terrorismusbekämpfungsstrategie ein<br />
europaweites Netzwerk von Praktikern, Politikern und Wissenschaftlern: das Radicalisation<br />
Awareness Network (RAN). Obwohl die Ergebnisse und die Efzienz<br />
des RAN bisher recht überschaubar geblieben sind, ist bemerkenswert, dass unter<br />
den acht Arbeitsgruppen auch eine speziell zu dem Thema ‚Deradikalisierung’<br />
eingerichtet wurde. Im Januar 2014 legte dann die damalige EU Innenkommissarin<br />
Cecilia Malmström einen 10 Punkte Plan zur Bekämpfung von Extremismus<br />
und Terrorismus in der EU vor 2 , welcher auch die Empfehlung an alle Mitgliedsstaaten<br />
enthielt, umfangreiche ‚Deradikalisierungsprogramme’ („exit strategies“)<br />
zu etablieren, was bis dahin nur in einigen wenigen EU Staaten der Fall war (z. B.<br />
Norwegen, Dänemark, Schweden, Deutschland, England). Besonders in den letzten<br />
Jahren ist europa- und weltweit eine weitaus stärkere Beschäftigung mit ‚Deradikalisierungsprogrammen’<br />
sowohl in der Wissenschaft als auch unter Politikern<br />
zu beobachten, was in direktem Zusammenhang mit dem syrisch/irakischen Bürgerkrieg<br />
und der daraus resultierenden Sicherheitsproblematik der so genannten<br />
‚Foreign Fighters’ und Rückkehrern steht.<br />
Das folgende Kapitel wird konsequenterweise einen weiteren Schritt in die<br />
Richtung darstellen, die beschriebene Lücke zwischen der deutschen und internationalen<br />
‚Deradikalisierungslandschaft’ durch eine gezielte Anbindung der deutschen<br />
Erfahrungen und Debatten an die internationalen Linien der Forschung und<br />
Politik weiter zu schließen.<br />
1 http://www.verfassungsschutz.de/print/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamistischer-terrorismus/gemeinsames-terrorismusabwehrzentrum-gtaz<br />
(letzter Zugriff: 1.<br />
Dezember 2014)<br />
2 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-14-18_en.htm (letzter Zugriff: 1. Dezember<br />
2014)
Deradikalisierung als Methode<br />
427<br />
2 Theorie<br />
Beginnend in den späten 1980er Jahren mit einem Artikel von James Aho (1988)<br />
wurden bereits schrittweise umfänglich vorhandene Erkenntnisse der Kriminologie<br />
(für einen Überblick siehe: Laub & Sampson, 2001) in Bezug auf die Beendigung<br />
krimineller Karrieren (im Bereich der ‚Desistance’-Forschung) und der Forschung<br />
zu Sekten und Jugendgangs im Rahmen politikwissenschaftlicher Ansätze<br />
zur Erforschung politischer Gewalt zusammengeführt. Obwohl die kriminologische<br />
Forschung nur begrenzt auf das Phänomen politisch oder religiös motivierter<br />
Gewalt anwendbar war und ist, ließen sich zumindest grundlegende praktische<br />
Erkenntnisse mit empirisch abgesicherter Wirksamkeit im Bereich der Senkung<br />
von Rückfallquoten und nachhaltigerer Reintegration mit großem Gewinn in der<br />
frühen Deradikalisierungsforschung einbringen (für eine detaillierte Übersicht<br />
über die Schnittmengen siehe: Koehler, 2013b, 2014a). Sogar eines der wichtigsten<br />
Konzepte der internationalen Deradikalisierungsforschung – die Unterscheidung<br />
zwischen einer psychischen/ideologischen und rein physischen Distanzierung<br />
(‚Deradicalization’ – ‚Disengagement’ 3 ) – ndet eine Parallele in der Kriminologie<br />
(zu primary und secondary desistance siehe z. B.: Maruna, Lebel, Mitchell,<br />
& Naples, 2006). Grundsätzlich also – und diese Unterscheidung ist essentiell, um<br />
zentrale Konzepte und Methoden in der Praxis und Theorie der Deradikalisierung<br />
zu verstehen – bezeichnet ‚Deradikalisierung’ den individuellen oder kollektiven<br />
kognitiven (oder: ideologischen) Wandel von einer kriminellen, ideologisch-radikalen<br />
oder extremistischen zu einer nicht kriminellen und moderaten Identität<br />
und/oder Persönlichkeit. Deradikalisierung muss dabei stark von der rein physischen<br />
Distanzierung oder Herauslösung (Disengagement) abgegrenzt werden, die<br />
den rein physischen Verhaltenswandel beschreibt und die ideologische bzw. identitäre<br />
Ebene des Prozesses außer Acht lässt (vgl. Bjørgo, 2009; Bjørgo & Horgan,<br />
2009; Bjørgo, Van Donselaar, & Grunenberg, 2009; Horgan, 2008, 2009; Noricks,<br />
2009). Dieser Unterscheidung folgend kann es möglich sein, dass Individuen zwar<br />
aus extremistischen Umfeldern herausgelöst werden (d. h. kein strafrechtlich relevantes<br />
Verhalten, keine Gruppenbezüge usw. mehr aufweisen), aber dennoch<br />
eine entsprechende radikale Ideologie vertreten bzw. diese verinnerlicht haben.<br />
Andererseits können Personen in Gruppen und Verhaltensstrukturen aktiv sein<br />
(d. h. nicht herausgelöst), aber die Ideologie bereits aufgegeben haben. Die Frage,<br />
3 Diese beiden englischen Begriffe haben bisher keine Entsprechung in der deutschen<br />
Forschung, sind aber essentiell, um die Charakteristik zentraler Konzepte und Methoden<br />
zu verstehen. Daher werden in diesem Kapitel die Begriffe Deradikalisierung und<br />
Herauslösung bzw. physische Distanzierung zur Unterscheidung verwendet.
428 Daniel Köhler<br />
inwieweit die ideologische Ebene notwendigerweise oder auch legitimiert in der<br />
praktischen Arbeit eine Rolle spielen sollte, ist dabei stark umstritten. So ist die<br />
Kritik grundsätzlich berechtigt, ob strafrechtlich irrelevante, d. h. von der Meinungsfreiheit<br />
abgedeckte, Einstellungen und Verhaltensweisen ein Gegenstand<br />
von Programmen sein sollten, welche, teilweise von staatlichen Strukturen oder<br />
mit staatlicher Finanzierung durchgeführt, deren Änderung oder Anpassung zum<br />
Ziel haben. Weiterhin ist auch die praktische Umsetzbarkeit und Nachweisbarkeit<br />
der ideologischen Wirkungsweisen von Deradikalisierungsprogrammen kritisiert<br />
worden (Horgan, 2009), was unter anderem zu dem Plädoyer geführt hat, das Konzept<br />
zugunsten der rein physischen Herauslösung komplett aufzugeben (Noricks,<br />
2009, S. 314).<br />
Nichtsdestotrotz ist die Auseinandersetzung mit dem Ideologiebegriff zentral,<br />
um die Methoden von Deradikalisierungsprogrammen beurteilen und konzeptionell<br />
einordnen zu können, da es grundlegend bei dieser Tätigkeit um die individuelle<br />
oder kollektiv begleitete Distanzierung (auf physischer und/oder psychischer<br />
Ebene) zu Milieus und Gruppen geht, welche sich durch eine bestimmte (als extremistisch<br />
oder radikal eingeordnete) Ideologie und kollektive Identität auszeichnen.<br />
Entscheidend sind dabei die destruktiven Interaktionsmechanismen zwischen<br />
solchen radikalen sozialen Bewegungen und ihren Umgebungsgesellschaften im<br />
Rahmen einer „Kontrastgesellschaft“ zu verstehen und zu erkennen (vgl. für eine<br />
detaillierte Ausführung Koehler, 2014c; Koehler, 2015), um die entsprechenden<br />
interventiven Effekte von Deradikalisierungsprogrammen als Stärkung von demokratischen<br />
und pluralistischen Diskursen und Gesellschaften zu begreifen. ‚Deradikalisierung’<br />
von Einzelpersonen und Gruppen ist damit als eine gesamtgesellschaftliche<br />
Aufgabe weit über die Einzelfallhilfe hinaus zu begreifen, welche<br />
konkrete positive Effekte im Bereich der Terrorismusbekämpfung und Stärkung<br />
der gesellschaftlichen ‚Immunkraft’ gegen menschenfeindliche und gewaltverherrlichende<br />
Bewegungen und Ideologien zeigt.<br />
Im deutschen Fachdiskurs nden sich nur wenige Veröffentlichungen zu Ausstiegs-<br />
oder Deradikalisierungsprogrammen, die auch nur ansatzweise den Stand<br />
der internationalen Debatten aufgreifen (als positive Beispiele siehe z. B.: Baer,<br />
Möller, & Wiechmann, 2014; Rieker, 2009; 2014). In älteren Diskursen wurden<br />
oftmals einzelne sozialpädagogische Konzepte (z. B. die akzeptierende Jugendarbeit)<br />
verteidigt oder kritisiert (vgl. z. B.: Buderus, 1998; Krafeld, 2001; Möller,<br />
2008). Dies allerdings oftmals ohne eine entsprechende theoretische Tiefe zum<br />
Thema Ausstieg und/oder Deradikalisierung zu erreichen. Generell wurden individuelle<br />
Ausstiegsmotive und –verläufe nur äußerst selten und mit recht geringer<br />
wissenschaftlicher Qualität in der deutschen Forschungslandschaft untersucht (siehe<br />
z. B.: de Ahna, 1981; Hafeneger, 1993; Hoffmeister & Sill, 1992; Möller, 2010a,
Deradikalisierung als Methode<br />
429<br />
2010b, 2010c; Möller & Schuhmacher, 2007; Nauditt & Wermerskirch, 2013;<br />
Rommelspacher, 2006). Im Bereich der internationalen Terrorismusforschung<br />
dagegen wurden auf Grundlage etlicher qualitativer Studien einige Faktoren mit<br />
erheblicher praktischer Relevanz in Bezug auf Deradikalisierungsprozesse und –<br />
programme festgestellt. So können zum Beispiel Veränderungen in der Gruppe,<br />
der persönlichen Präferenzen oder des sozialen Umfeldes (Reinares, 2011) individuelle<br />
Ausstiegsprozesse auslösen. Weiterhin lassen sich „schiebende“ (engl.<br />
„Push“) und „ziehende” (engl. “Pull”) Faktoren identi zieren (Aho, 1988; Bjørgo<br />
& Horgan, 2009).<br />
Generell beinhaltet das Verlassen einer radikalen Gruppe oder das Ablassen<br />
von kriminellem Verhalten eine individuelle Entscheidung, teilweise verbunden<br />
mit dem Wunsch nach Veränderung und dem Willen ein „normales Leben“ zu<br />
führen (Bjørgo & Horgan, 2009; Fink & Haerne, 2008; Horgan, 2009). Ein persönliches<br />
traumatisches Ereignis kann dabei eine kognitive Öffnung (engl. “Cognitive<br />
opening“) schaffen, was in vielen Studien als bedeutender Faktor bei der<br />
Deradikalisierung aufgezeigt wurde (ebd.). Weitere zentrale und wissenschaftlich<br />
gestützte Elemente dieses Prozesses sind (Bjørgo, et al., 2009, S. 36-40): negative<br />
soziale Sanktionen aufgrund der Gruppenmitgliedschaft, Verlust des Glaubens<br />
in die Gruppenideologie (siehe auch: Rosenau, Espach, Ortiz, & Herrera,<br />
2014, S. 284) oder Politik der Bewegung, eine Desillusionierung mit den gruppeninternen<br />
Prozessen, Verlust der Zuversicht auf Erfolg, Statusverlust innerhalb der<br />
Gruppe und Erschöpfung („schiebende Faktoren“). Alter, Karriereperspektiven<br />
und persönliche Zukunft, Familie und Verantwortung gehören dagegen zu den<br />
„ziehenden Faktoren”.<br />
Zusammengefasst spielen externe (z. B. Ereignisse, Umfeldveränderungen) und<br />
interne (z. B. Burnout, Ideologiezweifel) Faktoren üblicherweise zusammen und<br />
beeinussen bzw. bedingen sich gegenseitig. Trotz aller dieser Erkenntnisse sind<br />
die motivationalen und prozessualen Aspekte der Deradikalisierung immer noch<br />
unzureichend erforscht und die Einblicke sind bestenfalls als bruchstückartig zu<br />
bezeichnen.<br />
Da der Deradikalisierungsprozess weder statisch in eine Richtung verläuft noch<br />
unumkehrbar ist, wurden entsprechend auch einige Faktoren in Studien belegt,<br />
die den Prozess behindern oder verhindern können, bzw. dazu geeignet sind, ihn<br />
wieder umzukehren. Bjørgo (Bjørgo, et al., 2009, S. 40-42) zum Beispiel unterstreicht<br />
die Bedeutung der positiven Charakteristika der Gruppe (Freundschaften,<br />
Beziehungen, Spaß), negative Gruppensanktionen (Feme) bei Ausstieg, den<br />
Schutzverlust gegen Feinde und die eventuell drohenden Sanktionen des Strafverfolgungssystems.<br />
Zudem können auch die Perspektivlosigkeit und die Angst vor<br />
Stigmatisierung bedeutende Faktoren sein.
430 Daniel Köhler<br />
Nimmt man die hier kurz angerissenen grundlegenden Erkenntnisse der Forschung<br />
zusammen, lassen sich essentielle Kernelemente der praktischen Deradikalisierungsarbeit<br />
ableiten, welche weiter unten im Detail erläutert werden.<br />
3 Typologie von Deradikalisierungsprogrammen<br />
Weltweit haben sich in den letzten Jahrzehnten etliche und vielfältigste Programme<br />
gebildet, die sich in den Bereich ‚Deradikalisierung’ einordnen lassen. Dabei<br />
gehen moderne Deradikalisierungs- im Kern auf Demobilisierungsprogramme<br />
der 1970er und 1980er Jahre zurück, welche oftmals im Rahmen langwieriger<br />
Bürgerkriege auf bestimmte Kon iktparteien ausgelegt waren. Die Demobilisierung<br />
des „Schwarzen Septembers“ der PLO zum Beispiel beinhaltete individuelle<br />
Anreize zu Heiraten und eine Familie zu gründen (vgl. Dechesne, 2011, S. 287).<br />
In Italien versuchte ein ähnliches Programm die Auösung der „Roten Brigaden“<br />
(ebd.) zu verstetigen, sowie es auch in Nordirland als Bestandteil des ‚Good Friday<br />
Agreement’ von 1998 (Horgan & Braddock, 2010, S. 269) und in Kolumbien<br />
mit einem staatlichen Programm zur Entwaffnung und Reintegration ehemaliger<br />
FARC Mitglieder seit 1997 durchaus erfolgreich versucht wurde (ebd., S. 271).<br />
Diese Programme arbeiteten umfassend mit nanziellen Anreizen und Unterstützung<br />
bei der sozialen Reintegration. Bei späteren Programmen wurden auch ideologische<br />
oder theologische Elemente hinzugefügt, was die starke Beachtung der<br />
umfassend staatlich nanzierten und organisierten Deradikalisierungsprogramme<br />
im Nahen Osten und Süd-Ost-Asien erklärt. Sowohl in Indonesien als auch in<br />
Jemen („Religious Dialogue Committee“ ab 2002) und Saudi-Arabien (ab 2003)<br />
spielen theologische Argumentation und Deradikalisierung inhaftierter islamistischer<br />
Terroristen eine zentrale Rolle (vgl. Horgan & Braddock, 2010; Noricks,<br />
2009; Rabasa, Pettyjohn, Ghez, & Boucek, 2010). Diese Programme wurden zu<br />
Vorbildern für ähnliche Initiativen in Ägypten, Jordanien, Algerien, Tadschikistan,<br />
Malaysia, Singapur, Irak und Thailand (ebd.). Unter dem Eindruck und der<br />
(positiven) Erfahrung der ideologischen Deradikalisierung (wenn auch unter umfassender<br />
wissenschaftlicher Kritik) wurden ebenfalls staatliche Programme mit<br />
vergleichbaren Ansprüchen in Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden<br />
gegründet. Auch in Norwegen, Schweden und Deutschland wurden seit 1998 (in<br />
Deutschland ab 2000) erste Erfahrungen mit Ausstiegsprogrammen für Rechtsextremisten<br />
gesammelt. Vergleicht man die zentralen Charakteristika entsprechender<br />
Programme weltweit, so lassen sich drei Kernlinien aufzeigen, welche für eine<br />
Typologisierung essentiell sind. Die hier skizzierten Typen sind notwendig, um bestimmte<br />
strukturelle Eigenschaften (Potentiale und Grenzen, Stärken und Schwä-
Deradikalisierung als Methode<br />
431<br />
chen), sowie Wirkungsweisen besser verstehen zu können. Zudem lassen sich aus<br />
den hier eingeführten Typen auch Kriterien zur Evaluation und fallbezogenen Vernetzung<br />
ableiten. Die drei Kernlinien sind: Trägerschaft (staatlich/nicht-staatlich),<br />
Kontaktstruktur (aktiv/passiv) und Rolle der Ideologie (zentral/nebensächlich).<br />
Streng genommen können nur Programme, die eine ideologische Aufarbeitung beinhalten,<br />
auch ‚Deradikalisierungsprogramm’ genannt werden. Allerdings haben<br />
etliche Programme die ideologische Komponente ‚nachgelagert’, bzw. sich auf geringer<br />
ideologisierte Zielgruppen spezialisiert.<br />
<br />
D<br />
aktiv<br />
<br />
<br />
C<br />
<br />
E<br />
<br />
<br />
<br />
staatlich<br />
Nicht-staatlich<br />
B<br />
<br />
<br />
F<br />
G<br />
passiv<br />
A<br />
=ideologische Aufarbeitung spielt eine zentrale Rolle<br />
Abbildung 1<br />
Typologie von Deradikalisierungsprogrammen<br />
Während Typ A und B nicht-staatliche Organisationen sind, die passiv (d. h. die<br />
Ansprache und Kontaktinitiative von Ausstiegswilligen oder vermittelnden Dritten<br />
voraussetzend) arbeiten, lassen sich nur selten nicht-staatliche Träger nden, die<br />
in der Lage zur aktiv-aufsuchenden Ansprache sind (Typ C). Üblicherweise ist es<br />
aufgrund von Datenschutzrichtlinien (zumindest in westlichen Ländern) für Nichtregierungsorganisationen<br />
nur sehr schwer möglich an Namen und Adressen von<br />
aktiven Extremisten und Terroristen zu kommen. In Deutschland praktiziert lediglich<br />
ein nicht-staatlicher Träger diesen Ansatz (vgl. Glaser, Hohnstein, & Greuel,<br />
2014, S. 56). Programme vom Typ A sind dabei in Deutschland recht verbreitet<br />
und können teilweise auf langjährige Erfahrungen zurückblicken. International<br />
sind neben staatlichen Programmen in Haftanstalten Programme vom Typ B am<br />
weitesten verbreitet. Die Typen D und E sind klassischerweise umfangreiche staat-
432 Daniel Köhler<br />
liche Deradikalisierungsprogramme in Gefängnissen, wobei der Zugriff auf mögliche<br />
Teilnehmer automatisch gegeben ist. Die bereits oben genannten Programme<br />
z. B. in Saudi Arabien stützen sich dabei auf intensive theologische Diskurse,<br />
während wiederum westliche Programme (z. B. in Dänemark und Großbritannien)<br />
diese Komponente ausdrücklich nicht beinhalten, bzw. an nicht-staatliche Partner<br />
abgegeben haben. Ein deutscher Sonderfall sei hier genannt: Das Programm Big-<br />
Rex in Baden-Württemberg betreibt als staatliches Programm aktiv aufsuchende<br />
Arbeit und versucht zur Teilnahme in dem Ausstiegsprogramm zu motivieren. Ein<br />
Beispiel für Typ F wäre das Ausstiegsprogramm für Rechtsextremisten des Bundesamtes<br />
für Verfassungsschutz, welches auf die Eigeninitiative der Ausstiegswilligen<br />
setzt. Inwiefern die ideologische Aufarbeitung hier eine Rolle spielt, ist<br />
leider aufgrund der Intransparenz unbekannt. Der Typ G steht für Public Private<br />
Partnerships, wie zum Beispiel das Beratungsnetzwerk Radikalisierung des Bundesamtes<br />
für Migration und Flüchtlinge (BAMF).<br />
Begreift man nun Deradikalisierung nicht lediglich als sozialpädagogische<br />
Einzelfallhilfe, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Teilaufgabe der Extremismus-<br />
und Terrorismusbekämpfung, so ist auch eine neue Einordnung dieser<br />
Methodik notwendig.<br />
Das Netzwerk der Terrorismusbekämpfung<br />
Makrosozial Mesosozial Mikrosozial<br />
Prävention<br />
z. B. Bildung, Forschung,<br />
Jugendarbeit,<br />
Sozialarbeit<br />
z. B. Communiy Coaching,<br />
LAPs, etc.<br />
z. B. Workshops mit<br />
ehemaligen Extremisten<br />
in Schulen<br />
Repression Legislative, Exekutive,<br />
Bundesweite Sicherheitsarchitektur<br />
z. B. Gruppenverbote,<br />
Stadtteilbeamte<br />
z. B. Verhaftung, HD<br />
Intervention Gegennarrative z. B. Familienberatung z. B. Deradikalisierungsprogramme<br />
Abbildung 2<br />
Das Netzwerk der Terrorismusbekämpfung
Deradikalisierung als Methode<br />
433<br />
Obwohl Deradikalisierungs- bzw. Ausstiegsprogramme in Deutschland oftmals<br />
als „tertiäre“ oder „indizierte“ Prävention verstanden werden (z. B.: Baer, 2014,<br />
S. 59) und sich sicherlich jede sozialpädagogische Maßnahme als Intervention deuten<br />
lässt, zielt die hier vorgeschlagene Einordnung auf den gesellschaftlichen und<br />
systemischen Rahmen und sollte dementsprechend verstanden werden. Während<br />
Prävention Radikalisierungsprozesse frühzeitig verhindern soll, zielt Repression<br />
auf die Eingrenzung eines aktiven radikalen Milieus ab. Intervention dagegen<br />
beinhalten Maßnahmen, welche das aktive radikale Milieu gezielt ansprechen,<br />
um in Ergänzung zur Repression Strukturen aufzubrechen und eine individuelle<br />
oder kollektive Abkehr von der radikalen oder extremistischen Position zu<br />
ermöglichen – und dies auf vielfältigste Weise. Drei Größenordnungen (makro-,<br />
meso- und mikrosozial) lassen sich dabei identizieren. Grundsätzlich sollten die<br />
entsprechenden Methoden und Ansätze in einer partnerschaftlichen Ergänzung<br />
gedacht werden. So machen individuelle Deradikalisierungsprogramme keinerlei<br />
Sinn, wenn staatliche Strukturen Straftaten nicht entsprechend der Gesetzeslage<br />
ahnden oder sogar die gesetzliche Grundlage fehlt. Auch in der Prävention, z. B.<br />
der Schulbildung oder Ausbildung von Lehrkräften, ist ein dezidiertes Fachwissen<br />
über Radikalisierung zur frühzeitigen Erkennung notwendig, weshalb auch vielfältigste<br />
Träger, vom Staats- und Verfassungsschutz bis hin zu zivilgesellschaftlichen<br />
Initiativen, entsprechende Schulungen und Workshops anbieten.<br />
4 Praxis<br />
Die praktischen Aspekte von Deradikalisierungsarbeit umfassend zu beschreiben<br />
geht über den Rahmen dieses Kapitels hinaus. Dennoch sei kurz ein Einblick in<br />
zentrale praktische Aspekte gegeben.<br />
Vergleichsstudien zahlreicher Deradikalisierungsprogramme weltweit (allerdings<br />
überwiegend im Bereich Islamismus) haben die Bedeutung von drei<br />
praktischen Hauptsäulen hervorgehoben: die affektive, die pragmatische und die<br />
ideologische Ebene (Rabasa, et al., 2010, S. 41 ff.). Während der Abbau und die<br />
Aufarbeitung ideologischer Deutungs- und Bezugsrahmen die eigentliche Essenz<br />
von Deradikalisierungsprogrammen ausmacht, bestimmt die pragmatische Ebene<br />
die methodische Unterstützung in praktischen Lebensfragen (Sicherheit, Bildung,<br />
Beruf usw.). Die affektive Ebene wird von erfolgreichen Deradikalisierungsprogrammen<br />
durch die Stärkung emotionaler Bezugsstrukturen und Netzwerken zur<br />
Kontrastierung der radikalen affektiven Bezüge umgesetzt. In Deutschland können<br />
laut einer aktuellen Untersuchung mindestens 18 Ausstiegsprogramme mit<br />
unterschiedlichsten Reichweiten und Ansätzen identiziert werden (Glaser, et al.,
434 Daniel Köhler<br />
2014, S. 47), wovon mindestens 12 durch staatliche Träger umgesetzt werden und<br />
nur 3 bundesweit arbeiten (ebd.). Alle diese Programme erheben den Anspruch<br />
der ideologischen Aufarbeitung, obwohl sich auch erhebliche Differenzen bei der<br />
tatsächlichen Umsetzung dieser zentralen Aufgabe zeigen (ebd., S. 71). Auf der<br />
pragmatischen Ebene bedienen sich Deradikalisierungsprogramme in aller Regel<br />
bekannter und durch kriminologische Forschung gestützter Methoden der Reintegration,<br />
wobei sich auch de facto eine Schnittmenge zur internationalen Forschung<br />
und Praxis ergibt.<br />
So kann zum Beispiel ein Wohnortwechsel die Voraussetzung für eine „angemessene<br />
und sichere Unterkunft” sein (Gadd, 2006, S. 180). Gleichzeitig wird<br />
damit die eventuelle individuell notwendige „Abtrennung“ vom radikalen sozialen<br />
Umfeld erreicht (Laub & Sampson, 2001, S. 49), was in vielen kriminologischen<br />
Studien mit einem deutlich positiven Effekt auf die Rückfallquote in Verbindung<br />
gebracht werden konnte (z. B. Osborn, 1980). Arbeit, Bildung und persönliche<br />
zwischenmenschliche Beziehungen gehören ebenfalls zu den Elementen mit der<br />
am umfassendsten belegten positiven Wirkung auf die Verhaltens- und Einstellungsänderung<br />
im Bereich krimineller und radikaler Karrieren. Des Weiteren zählen<br />
die persönliche Aufarbeitung und Neubewertung der eigenen Vergangenheit<br />
(Gadd, 2006) und der Wandel individueller biographischer Erklärungsnarrative<br />
hin zu einer positiven und dynamischen Selbstwirksamkeit (Maruna, 2004) sowie<br />
die Wahrnehmung eines verdienten Neuanfangs bei der betreffenden Person zu<br />
Standardelementen in der praktischen Arbeit.<br />
Einen besonderen praktischen Aspekt stellt dabei die Sicherheitsfrage von Aussteigenden<br />
dar. Konsequenterweise ist besonders in sicherheitsrelevanten Fällen<br />
eine intensive Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren<br />
geboten. Als ein weltweit beachtetes und bisher einzigartiges Deradikalisierungsprojekt<br />
auf Basis einer Public Private Partnership mit bundesweitem Umfang<br />
sei hier das Beratungsnetzwerk Radikalisierung des BAMF genannt. Seit 2012<br />
arbeitet das BAMF eng mit vier nicht-staatlichen Partnern vor Ort in der Betreuung<br />
von Angehörigen sich radikalisierender oder bereits radikalisierter Jihadisten<br />
zusammen. Es ist dabei zu beachten, dass Familienberatung eine Sonderform<br />
von Deradikalisierung darstellt (vgl. Abbildung 2). Als Ziel der Intervention gilt<br />
hier durch das affektive (in der Regel familiäre) Umfeld einer betreffenden Person<br />
einen evtl. vorliegenden Radikalisierungsprozess zu verlangsamen, zu stoppen<br />
und den individuellen Deradikalisierungsprozess auszulösen – ein Zeitpunkt, an<br />
dem ein gesondertes Programm für die individuelle Betreuung greifen muss (vgl.<br />
dazu im Detail: Dantschke & Koehler, 2013; Koehler, 2013a, 2014b). Das BAMF<br />
Beratungsnetzwerk, welches derzeit auch auf Länderebene Pendants in enger Kooperation<br />
bildet, hat aufgrund der einzigartigen Struktur und enormen Rezeption
Deradikalisierung als Methode<br />
435<br />
in der Zielgruppe (über 1000 Anrufe und über 300 Beratungsfälle seit Beginn,<br />
vgl. Endres, 2014) weltweite Beachtung gefunden (siehe z. B.: Gielen, 2014; Ranstorp<br />
& Hyllengren, 2013; Vidino, 2014). Entscheidend ist bei diesem Netzwerk die<br />
fallbezogene enge Kooperation auf verschiedenen Ebenen (Bund und Länder) mit<br />
verschiedenen staatlichen Behörden auf Grundlage konkreter Standards und Verantwortlichkeiten<br />
(vgl. Koehler, 2014b). Im Bereich der nationalen und internationalen<br />
Deradikalisierungsforschung und –praxis ist dieser Ansatz hoch innovativ<br />
und hat weltweit die Entwicklung entsprechender Modellprojekte stimuliert. Es ist<br />
also abschließend für das noch immer selten praktizierte Konzept der engen Kooperation<br />
zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Trägern zur Sicherung von<br />
Effektivität und Efzienz zu plädieren. Allerdings scheinen dabei nicht nur große<br />
wechselseitige Vorbehalte, sondern auch fehlende Kriterien und Standards entscheidende<br />
Hindernisse darzustellen.<br />
5 Evaluation und Standards<br />
Zu den grundsätzlichen Problemen und Kritikpunkten aller Deradikalisierungsprogramme<br />
gehören die Frage nach effektiver und glaubwürdiger Evaluation der<br />
Arbeit und verwendeten Ressourcen in Bezug auf die erwünschten Effekte sowie<br />
die Etablierung von allgemeinen und umfassenden Standards, welche Vergleiche<br />
von Programmen und das Aufzeigen besonders erfolgreicher Ansätze ermöglichen.<br />
Deradikalisierungsprogramme zu evaluieren hat sich aufgrund der oben skizzierten<br />
Differenzierung zu rein physischer Distanzierung als besonders problematisch<br />
erwiesen. Jene rein physische Herauslösung aus radikalen oder extremistischen<br />
Milieus ist relativ einfach zu messen und zu evaluieren (durch nicht-straffälliges<br />
Verhalten, Messung der Rückfallquoten, Kontaktabbruch zu ehemaliger Gruppe<br />
usw.). Dagegen beinhaltet Deradikalisierung durch die implizierte kognitive<br />
Veränderung einen Prozess, welcher sich der sicheren empirischen Überprüfung<br />
entzieht. Zusätzlich ist der Zugang zu den Klienten solcher Programme aufgrund<br />
hoher Sicherheitsstandards und Datenschutzkriterien oftmals sehr schwierig.<br />
Im internationalen Diskurs wurden einige Ansätze diskutiert, allerdings ohne<br />
großächige Anwendung zu nden – z. B. die ‘Multi Attribute Utility Technology<br />
(MAUT)’ (Horgan & Braddock, 2010) oder multidimensionale, vertikale, und<br />
horizontale Methoden (Romaniuk & Fink, 2012). Im Bereich der Kriminologie<br />
wurden zwar sehr vielversprechende Ansätze der linguistischen Analyse vorgestellt<br />
(Maruna, 2001), diese in der Deradikalisierungspraxis aber noch nicht erprobt,<br />
geht es doch um die weitaus komplexere Fragestellung der Messung einer<br />
ideologisch-kognitiven Veränderung. In Konsequenz verwenden die meisten Staa-
436 Daniel Köhler<br />
ten, die über Deradikalisierungsprogramme verfügen und diese nanzieren, eher<br />
quantitative, rein numerische Kriterien der Evaluation (z. B. Anzahl der betreuten<br />
Fälle, Dauer der Betreuung, Rückfallquoten, Kosten von Personal usw.). Zivilgesellschaftliche<br />
Initiativen greifen zumeist auf einen guten Leumund der durch das<br />
Programm betreuten Personen zurück. Die Frage der Evaluation von Deradikalisierungsprogrammen<br />
ist auch aufgrund der Aktualität und starken Nachfrage nach<br />
derartigen Programmen Gegenstand verschiedener Grundlagenforschungsprojekte<br />
weltweit.<br />
Grundsätzlich sind die ersten Schritte zu einer ef zienten und effektiven Evaluation<br />
Transparenz (durch öffentlich zugängliche und qualitativ hochwertige<br />
Selbstevaluation und Nachvollziehbarkeit von Arbeitsweisen und struktureller<br />
Organisation) im Rahmen des praktisch Sinnvollen und Externalität (Evaluation<br />
durchgeführt durch unabhängige und anerkannte Experten im Feld). Die Evaluationen<br />
sollten quantitativ (z. B. Fallzahlen, Kosten des Programms, Reintegrationsfaktoren<br />
[Arbeitslosenquote nach Abschluss des Programms, Abbruchraten von Bildungsmaßnahmen<br />
etc.], Efzienz interner Strukturen) und qualitativ (z. B. Studien<br />
über Methoden, Wirksamkeit, Effektivität, interne Organisation usw. durch teilnehmende<br />
Beobachtung, Interview- und Fallstudien mit Aussteigern, Mitarbeitern etc.)<br />
sein. Diese Schritte sind allerdings nur der Anfang zu einem umfassenden Evaluationsmechanismus.<br />
Ein weiterer essentieller Schritt ist die Etablierung umfassender<br />
qualitativer Standards der Deradikalisierungsarbeit, um ein Richtmaß für die Evaluation<br />
abzuleiten. Besonders die Vereinheitlichung von De nitionen und ethischpraktischen<br />
Richtlinien ist hier zentral. Da dies zumindest unter deutschen nichtstaatlichen<br />
Praktikern in den letzten 14 Jahren weitestgehend (mit einigen wenigen<br />
Ausnahmen) – insbesondere auch von den ‚großen’ Programmen mit bundesweitem<br />
Selbstanspruch – vernachlässigt wurde, bildete sich eine stark heterogene Landschaft,<br />
welche in ihrer Pluralität zwar viele Stärken besitzt, aber auch nur schwerlich<br />
– was als eine Schwäche gesehen werden kann – die Setzung einheitlicher<br />
Standards zulässt. Auf staatlicher Seite wurde dafür mit der oben genannten ‚AG<br />
Deradikalisierung’ im GTAZ die Grundlage geschaffen. Im zivilgesellschaftlichen<br />
Bereich zeichnet sich durch die Gründung der ‚Bundesarbeitsgemeinschaft Ausstieg<br />
zum Einstieg’ (BAG) im März 2014 ein erster Versuch in diese Richtung ab.<br />
Die derzeit neun Programme umfassende BAG entstand aus einem Teil des Trägerbestandes<br />
des XENOS-Sonderprogramms „Ausstieg zum Einstieg“. Das XENOS-<br />
Sonderprogramm war mit einer Förderperiode von 2009 bis 2013 Bestandteil des<br />
Bundesprogramms „XENOS – Integration und Vielfalt“ aus Mitteln des Bundesministeriums<br />
für Arbeit und Soziales (BMAS) und des Europäischen Sozialfonds<br />
(ESF) geschaffen worden. Die Entwicklung von umfassenden Standards ist erklärtes<br />
Ziel der BAG und obwohl nicht alle relevanten zivilgesellschaftlichen Träger
Deradikalisierung als Methode<br />
437<br />
in ihr vertreten sind, ist dieser Schritt im zivilgesellschaftlichen Bereich – welcher<br />
lange von Rivalitäten und Dominanzansprüchen einzelner Programme gekennzeichnet<br />
war – doch längst überfällig. Zumindest im Bereich der Familienberatung<br />
gibt es bereits einige ausführlichere Ansätze (z. B.: Koehler, 2013a, 2014b).<br />
6 Kritik und interne Differenzen<br />
Wie bereits mehrfach angedeutet, sind sowohl Theorie als auch Praxis der Deradikalisierung<br />
vielfacher Kritik ausgesetzt gewesen. Einige noch immer gültige<br />
Kritikpunkte seien hier kurz genannt: Intransparenz in Bezug auf Arbeitsweisen,<br />
strukturelle Organisation und (Miss-)erfolge in der Arbeit wurden sehr häug gegen<br />
staatliche und nicht-staatliche Programme vorgebracht. Der oftmals nur partielle<br />
Einblick in die Arbeitsweisen und internen Richtlinien von Deradikalisierungsprogrammen<br />
hat auch deren Evaluation erheblich erschwert. Einzelne Programme, die<br />
auf eine Medienwirkung Ausgestiegener setzen, können diese methodischen Zweifel<br />
ebenfalls nicht zerstreuen. Da Transparenz (über Methoden, Finanzierungsquellen,<br />
Organisation usw.) ein grundlegender Qualitätsstandard ist, muss darauf<br />
hingewiesen werden, dass aktuell kein deutsches Programm dieser Anforderung<br />
ausreichend genügt. Meilensteine in der Herstellung von Transparenz in Bezug<br />
auf die eigenen Arbeitsweisen wurden allerdings von einem staatlichen (Buchheit,<br />
2014) und einem nicht-staatlichen Programm (Jende, 2014) gesetzt, hinter welchen<br />
insbesondere die drei großen bundesweiten Programme weit zurückliegen.<br />
Die fehlende Zusammenarbeit von staatlichen und nicht-staatlichen Programmen<br />
ist immer wieder zu recht bemängelt worden (z. B.: Glaser, et al., 2014, S. 52)<br />
und bedeutet für beide Seiten zwangsläu g erhebliche qualitative Einschnitte in<br />
der Betreuung, da vergleichende Forschung deutlich Stärken und Schwächen staatlicher<br />
und nicht-staatliche Träger bei einzelnen Aspekten der Deradikalisierungsarbeit<br />
gezeigt hat und eine arbeitsteilige Herangehensweise sinnvoll ist.<br />
Auch die Frage der Finanzierung nicht-staatlicher Programme wurde von diesen<br />
immer wieder hervorgehoben. Auf der einen Seite ist eine stabile Finanzierung<br />
nicht-staatlicher Träger eine wichtige Aufgabe verschiedener Ebenen (Bund<br />
und Länder), aber dennoch sollte nicht verkannt werden, dass nicht-staatliche Programme,<br />
welche mit ihrer Unabhängigkeit vom Staat für sich werben, sich durchaus<br />
konterkarieren, wenn sie von staatlicher Finanzierung insofern abhängig sind,<br />
dass bei Ausbleiben jener Förderung (und dies in regelmäßigen Abständen) medienwirksam<br />
mit dem Bankrott gedroht wird.<br />
Die wettbewerbsartige Situation zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen<br />
hat dabei zusätzlich zu dem Eindruck geführt, dass einzelne Projekte in medien-
438 Daniel Köhler<br />
wirksamer Öffentlichkeit Abhilfe suchen, um Alleinstellungsmerkmale gegenüber<br />
anderen Programmen zu betonen oder zu suggerieren, obwohl derartige Medienkampagnen<br />
nicht immer in strategisch sinnvoller Weise im Einklang mit den Zielen<br />
eines Deradikalisierungsprogrammes stehen (z. B. im Bereich der Glaubwürdigkeit<br />
und Zielgruppenansprache).<br />
All diese Kritikpunkte sind berechtigt und gültig und müssen im Rahmen<br />
einer stetig wachsenden Trägerlandschaft mit zunehmenden internationalen Vernetzungen<br />
methodisch gelöst werden. Die bereits angesprochenen positiven Musterbeispiele<br />
zeigen, dass Transparenz über Methoden und Struktur im Sinne der<br />
Vertrauensbildung von staatlichen und nicht-staatlichen Trägern möglich ist, ohne<br />
Kernkompetenzen zu verlieren und dabei einen konstruktiven Dialog über Ansätze<br />
zu führen.<br />
7 Ausblick<br />
Diesen kurzen Abriss über Grundzüge der aktuellen nationalen und internationalen<br />
Debatte über Deradikalisierungsprogramme zusammenfassend, lassen sich<br />
einige wichtige Trends und Herausforderungen herausstreichen. Familienberatungsprogramme<br />
mit methodischer Ausrichtung als komplementäre Deradikalisierungsprogramme<br />
haben weltweit eine hohe Aufmerksamkeit und Nachfrage<br />
seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs erlebt. Neben rein staatlichen und rein<br />
nicht-staatlichen Ansätzen stellen Public Private Partnerships, wie im BAMF Beratungsnetzwerk<br />
erprobt, eine entscheidende Innovation in Theorie und Praxis dar.<br />
Besonders im Hinblick auf die fehlende Kooperation zwischen staatlichen und<br />
nicht-staatlichen Trägern im Bereich Ausstieg aus rechtsextremen Szenen zeigt<br />
die Erfahrung aus dem Bereich Jihadismus die Notwendigkeit, aber auch Möglichkeit<br />
der efzienten Arbeitsteilung. Als großer Mangel ist die immer noch fehlende<br />
Grundlagenforschung zu Radikalisierungs- und Deradikalisierungsprozessen in<br />
Deutschland, sowie das allgemein geringe Interesse an Ausstiegsverläufen anzumerken.<br />
Besonders da in Deutschland eine weltweit einzigartige Fülle von verschiedenen<br />
langjährig erprobten Ansätzen unterschiedlichster Konstellationen<br />
existiert, ist ein Nachziehen entsprechender Forschung dringend notwendig. Erste<br />
Ansätze dazu wurden auch durch die Schaffung einer ersten unabhängigen und<br />
begutachteten Fachzeitschrift 4 und einer internationalen Forschungsinitiative aus<br />
Praktikern und Wissenschaftlern 5 zum Thema Deradikalisierung gesetzt.<br />
4 www.journal-derad.com (letzter Zugriff: 9. Februar 2015)<br />
5 www.deradikalisierung.de (letzter Zugriff: 9. Februar 2015)
Deradikalisierung als Methode<br />
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Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit<br />
der Stammtische treffen<br />
Die lokale politische Kultur als begünstigender Faktor<br />
für die Herausbildung von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
Reiner Becker<br />
Politische Einstellungen entwickeln sich nicht im luftleeren Raum: Die Herausbildung<br />
rechtsextremer Orientierungen bei Jugendlichen vollzieht sich zunächst<br />
in einem Dreieck primärer Sozialisationsinstanzen von Familie, Schule und Peergroup<br />
(Möller, 2000), in der zunehmend auch die politische Kultur im sozialen<br />
Nahraum mit ihren gesellschaftlichen Wertevorstellungen, aktuellen aber auch<br />
tradierten Einstellungsmustern gegenüber so genannten gesellschaftlich schwachen<br />
Gruppen und den mit ihr einhergehenden Gelegenheitsstrukturen für die<br />
Aktivitäten von rechtsextremen Gruppierungen als eine nachgeordnete Sozialisationsinstanz<br />
von besonderer Bedeutung ist (Becker & Palloks, 2013). Die skandierten<br />
Vorurteile und Ressentiments der wiederholt reklamierten „Mitte der Gesellschaft“<br />
an Stammtischen und in Vereinen – oder wie im Winter 2014/2015 auf<br />
vielen Straßen in deutschen Städten im Rahmen der so genannten Pegida-Demonstrationen<br />
– können rechtsextremen (jugendlichen) Akteuren die Bestätigung und<br />
ein angenommenes Mandat geben, das sie für ihre (gewaltorientierten) Aktivitäten<br />
benötigen. Ohne Blick auf die politische Kultur konkreter sozialer Nahräume lassen<br />
sich daher, so die erkenntnisleitende Perspektive dieses Beitrags, einerseits die<br />
Ursachen für <strong>Rechtsextremismus</strong> und die begünstigenden Faktoren für die Etablierung<br />
rechtsextremer Szenen nur unzureichend herausarbeiten und andererseits<br />
nur unzureichende Präventions- und Interventionsansätze konturieren.<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_19, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
444 Reiner Becker<br />
1 Politische Kultur als Teil der politischen Sozialisation<br />
Die Herausbildung und die Verfestigung von politischen Einstellungen ist ein<br />
komplexer Prozess und vollzieht sich zunächst auf der Individualebene und Mesoebene<br />
des institutionellen Lebens, dann auf der gesellschaftlichen Makroebene<br />
sowie auf Ebene der politischen Kultur.<br />
Politische Sozialisation auf der Individualebene geschieht in der Abhängigkeit<br />
von den primären Instanzen der politischen Sozialisation wie Familie, der Peergroup<br />
und der Schule aber auch den Medien. Hier gilt es zwischen manifesten<br />
Gehalten der politischen Sozialisation (z. B. welche politische Einstellungen geben<br />
Eltern an ihre Kinder weiter, welchen Bestandteil nimmt das Thema Politik<br />
und Gesellschaft in den Unterrichtscurricula an Schulen ein) und Prozessen auf<br />
einer (eher) latenten Ebene zu unterscheiden. Bezogen auf die Familie weisen Forschungsbefunde<br />
etwa auf die Bindungsqualität zwischen Eltern und Kind als einen<br />
relevanten Faktor der politischen Sozialisation hin (Hopf, Rieker, Sanden-Marcus<br />
& Schmidt, 1995) oder zeigen den Zusammenhang von Erziehungsstilen, Beziehungsqualitäten<br />
und der Qualität der manifesten politischen Sozialisation (Becker,<br />
2008). Die Sozialisationsinstanz Schule gewinnt z. B. über die Möglichkeit für<br />
Schüler und Schülerinnen an demokratischer Teilhabe oder Nichtteilhabe an Relevanz<br />
(Gänger, 2007). Die Peergroup bzw. Jugendcliquen bilden neben Familie und<br />
Schule einen weiteren lebensweltlichen Bezugspunkt für Af nisierungsprozesse<br />
und spielen insbesondere in der Abgrenzung gegenüber anderen Jugendlichen bzw.<br />
Jugendkulturen und den anderen primären Sozialisationsinstanzen eine wesentliche<br />
Rolle (Küpper & Möller, 2014, S. 37f.). In der Regel sind dabei rechtsextrem<br />
orientierte Jugendcliquen (zunächst) eher erlebnisorientiert und weniger ideologisiert<br />
und sie werden eher in ländlichen Räumen wahrgenommen (Hafeneger &<br />
Becker, 2007).<br />
Politische Sozialisation auf der interaktiven Individualebene zu betrachten, bedeutet<br />
allerdings nicht, dass es sich dabei um rein individualisierte, isolierte Prozesse<br />
handelt. Vielmehr werden sie von institutionell vermittelten Prozessen auf<br />
gesellschaftlicher Ebene beeinusst. So führt eine tatsächliche bzw. wahrgenommene<br />
relative Deprivation als Folge des ökonomischen Wandels zu höheren Anfälligkeiten<br />
für rechtsextreme Ideologien bei bestimmten Bevölkerungsgruppen<br />
(Hofstadter, 1964). Scheuch und Klingemann haben im <strong>Rechtsextremismus</strong> eine<br />
„normale Pathologie von freiheitlichen Industriegesellschaften“ gesehen (Scheuch<br />
& Klingemann, 1967, S. 13), nach der ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen<br />
Modernisierungsprozessen, Anomie (vgl. Durkheim, 1993; Merton, 1995),<br />
rigiden Handlungsweisen und der Unterstützung von rechtsextremen Parteien besteht.<br />
Erfahrungen von unterschiedlichen Formen von Desintegration als Folge des
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />
445<br />
sozialen Wandels (vgl. Heitmeyer, 1997) und der Pluralisierung bzw. Individualisierung<br />
von Lebenslagen (Beck, 1986) verweisen ebenfalls auf die Ein üsse von<br />
gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen auf die individuellen Dispositionen.<br />
Eine dritte Ebene der politischen Sozialisation stellt die politische Kultur dar.<br />
Diese bezieht sich „auf unterschiedliche politische Bewusstseinslagen, ‚Mentalitäten‘,<br />
‚typische‘ bestimmten Gruppen oder ganzen Gesellschaften zugeschriebene<br />
Denk- und Verhaltensweisen“ (Nohlen, 1998, S. 499). Dabei unterscheidet sich<br />
politische Kultur von einer allgemeinen Kultur ebenso wie von Formen des politischen<br />
Verhaltens. Sie beschreibt vielmehr Präpositionen politischen Handelns auf<br />
der Ebene von Meinungen (Beliefs), Einstellungen (Attitudes) – demnach auch Einstellungen<br />
gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen – und Werten (Values),<br />
wobei die Ebene der Werte die intensivste und beständigste darstellt. Almond und<br />
Verba (1963) sehen einen engen Zusammenhang zwischen der politischen Kultur<br />
und der Stabilität des politischen Systems: Das Beispiel der Weimarer Republik<br />
zeigt, dass ein demokratisches System sich nur dann schwer etablieren und stabilisieren<br />
kann, wenn wesentliche gesellschaftliche Eliten und Bevölkerungsgruppen<br />
ein solches System ablehnen. Dieser Aspekt verweist auf ein weiteres wesentliches<br />
Element der politischen Kultur, das der Beständigkeit. Mentalitäten, Einstellungen<br />
und Werte sind nicht (nur) abhängig von den Konjunkturen aktueller ökonomischer,<br />
politischer und gesellschaftlicher Großwetterlagen, vielmehr werden sie auf<br />
individueller und auch auf kollektiver Ebene tradiert (vgl. Becker, 2008, Rosenthal,<br />
1990, 1999; Welzer, Moller & Tschuggnall, 2003) und werden Bestandteil des<br />
kollektiven Gedächtnisses (Assmann, 1992). Politische Kultur ist also sowohl das<br />
Produkt kollektiver als auch individueller Geschichte (Pye, 1968). Dabei produzieren<br />
Gruppen kollektive Erinnerungen, indem alle Gesellschaften ein Bewusstsein<br />
von „ihren“ Vergangenheiten haben, um sich in dieser zu vergegenwärtigen<br />
(Halbwachs, 1967, 1985; Hobsbawm, 1998). Jede Generation verschafft sich somit<br />
die Erinnerungen, die sie zur Bildung ihrer Identität benötigt und es besteht „kein<br />
Vergangenheitsbild ohne Gegenwartsbezug“ (François & Schulze, 2005).<br />
2 Einstellungen und politische Kultur<br />
Seit der ersten SINUS-Studie aus dem Jahr 1981 weisen empirische Studien regelmäßig<br />
auf die Verbreitung von rechtsextremistischen Einstellungen in der (zunächst<br />
westdeutschen) Gesellschaft hin (vgl. Sinus-Institut, 1981). Solche Untersuchungen<br />
dokumentieren auch die „Qualität“ der politischen Kultur der Bundesrepublik,<br />
belegen sie doch die Einstellungen einer Mehrheitsgesellschaft gegenüber
446 Reiner Becker<br />
gesellschaftlich schwachen Gruppen über einen langen Zeitraum. Die Studien zur<br />
Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (vgl. Heitmeyer, 2002 – 2012) differenzieren<br />
z. B. abwertende Haltungen gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen<br />
in zuletzt zwölf Syndrom-Elementen und dokumentieren eindrucksvoll über<br />
einen Zeitraum von zehn Jahren die Zu- und Abnahme von Vorurteilen gegenüber<br />
den einzelnen Gruppen. Ein zentrales Ergebnis der Langzeitstudie lautet: „Unter<br />
denjenigen, die sich von Krisen bedroht fühlen, ist die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit<br />
deutlich höher, variierend nach den Umständen“ (Heitmeyer,<br />
2012, S. 26). Auch die so genannten „Mitte-Studien“ können solcherlei Verläufe<br />
dokumentieren, danach hatten 2014 5,6% der Befragten ein geschlossenes rechtsextremes<br />
Weltbild, wobei die Zahl der Befragten, die ein geschlossenes rechtsextremes<br />
Weltbild aufweisen im Vergleich zu 2002 (9,7%) gesunken ist (vgl. Decker,<br />
Kiess & Brähler, 2014). In der Bilanzierung der zehnjährigen Erhebung kommt<br />
Heitmeyer weiter zu dem Schluss, dass sich eine „rohe Bürgerlichkeit“ herausgebildet<br />
habe, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben<br />
der kapitalistischen Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Ef zienz orientiere und somit<br />
die Gleichwertigkeit von Menschen antastbar mache und einen Klassenkampf<br />
von oben inszeniere (Heitmeyer, 2012, S. 34f.). In der Leipziger „Mitte-Studie“<br />
kommen die Autoren u. a. zu dem Ergebnis, dass die starke Wirtschaft als eine<br />
„narzisstische Plombe“ wirke, sich jedoch ein „sekundärer Autoritarismus“ etabliert<br />
habe, der sich gegen solche „fremden“ gesellschaftlichen Gruppen richte, die<br />
sich nicht dem Primat der sekundären Autorität, der Ökonomie, unterwerfe (vgl.<br />
Decker et al., 2014, S. 65ff.). Solcherlei empirischen Befunde rekurrieren jedoch<br />
selten auf die Spezika der politischen Kultur oder auf die Ebene der Tradierung.<br />
Doch gerade die Abwertungen von bestimmten gesellschaftlich schwachen Gruppen<br />
beruhen z. T. auf einer langen „Tradition“. Gesellschaftliche Gruppen werden<br />
nach ethnischen, kulturellen, religiösen oder vermeintlich „biologischen“ Merkmalen<br />
voneinander unterschieden und dabei sind diese Unterscheidungen in der<br />
Regel Ausdruck und Resultat langer, z. T. jahrhundertealter politischer und kultureller<br />
Auseinandersetzungen (vgl. Rommelspacher, 2006). So stellt das Stereotyp<br />
von den Juden als den „Fremden“ bzw. den „Anderen“ ein Kategorisierungs- und<br />
Erweiterungskonzept dar, das über zwei Jahrtausende in diversen Abwandlungen<br />
erhalten geblieben ist: „Die im Laufe der Jahrhunderte zusätzlich entstandenen<br />
spezischen Stereotype bilden zusammen und miteinander verknüpft ein kognitives<br />
System von Glaubensinhalten, welches das emotionale Ressentiment gegenüber<br />
Juden mental stützt. Die Sprache archiviert Komponenten des kollektiven<br />
Bewusstseins und macht sie über ihre bedeutungstragenden Formen transparent“<br />
(Schwarz-Friesel & Reinharz, 2013, S. 105). Ein ähnlicher Tradierungsmechanismus<br />
gilt für den Rassismus oder für die Abwertung von Sinti und Roma.
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />
447<br />
3 Politische Kultur und <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
im ländlichen Raum<br />
Die bisherigen Ausführungen zur politischen Kultur beziehen sich auf eine gesamtgesellschaftspolitische<br />
Perspektive. Doch können auch Spezika einer politischen<br />
Kultur für konkrete soziale – lokale und regionale – Nahräume beschrieben<br />
werden, wie die folgenden sechs Dimensionen zeigen:<br />
1. Betrachtet man konkrete Entfaltungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume<br />
extrem rechter Organisationen und Gruppierungen im lokalen bzw. regionalen<br />
Nahraum, dann zeigen die Befunde aus der Forschung zu <strong>Rechtsextremismus</strong> als<br />
soziale Bewegung, dass die lokale politische Kultur, die konkreten Einstellungsmentalitäten<br />
und Vorurteilskulturen mitentscheidend dafür sind, ob es vor Ort<br />
eher günstige oder hinderliche Entfaltungsmöglichkeiten gibt (Klärner & Kohlstruck,<br />
2006). Eine Erklärung hierfür ndet sich u. a. in der Theorie des geplanten<br />
Verhaltens (Fishbein & Ajzen, 1975), wonach Individuen ihre Handlungen<br />
danach ausrichten, ob das Umfeld, z. B. das Gemeinwesen, diese Handlungen<br />
„aus Überzeugung“, auf Basis geteilter Werte und Überzeugungen, missbilligt<br />
oder toleriert. Hier treffen nun die abstrakten Items der Einstellungsforschung<br />
mit der Wirklichkeit der Stammtische und interaktiven Alltagsbezügen zusammen:<br />
Vorurteile gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen nden sich eher<br />
im ländlichen denn im städtischen Raum wieder. Der Af nisierungsaufbau bei<br />
rechtsextrem orientierten Jugendlichen kann dadurch begünstigt werden, wenn<br />
sie mit solcherlei Vorurteilen in ihrem sozialen Nahraum groß werden – in der<br />
Dorfschänke oder im Feuerwehrgerätehaus, in Vereinen oder in Kirmesburschenschaften.<br />
Dies kann so weit führen, dass rechtsextrem orientierte Jugendliche<br />
für ihr Verhalten ein Mandat und eine „stille“ Unterstützung in den Vorurteilskulturen<br />
der Erwachsenen ihres sozialen Nahraums annehmen.<br />
2. Weiter zeigen die Ergebnisse aus der Einstellungsforschung für die Bundesrepublik,<br />
dass rechtsextreme Einstellungen kein Ost-West- sondern eher ein Stadt-<br />
Land-Problem sind. So ist z. B. Fremdenfeindlichkeit dort höher, wo kaum Migranten<br />
leben (vgl. Decker, Kiess & Brähler, 2012). Dieser für viele irritierende<br />
Befund lässt sich mit den Annahmen der so genannten Kontakttheorie erklären,<br />
wonach der persönliche Kontakt mit „Fremden“ zur Reduktion von Vorurteilen<br />
und Feindseligkeiten beitragen kann, weil er die Haltung zum Zusammenleben<br />
der eigenen mit fremden Gruppen verändert (vgl. Asbrock et. al., 2012). Der<br />
persönliche Kontakt zu „Fremden“ kann als ein Prozess der „Deprovinzialisierung“<br />
beschrieben werden, in dem zunehmend andere kulturelle Standards<br />
und Gewohnheiten wahrgenommen und akzeptiert werden (Pettigrew, 1998).
448 Reiner Becker<br />
3. Vorliegende Forschungsbefunde zum <strong>Rechtsextremismus</strong> im ländlichen Raum<br />
weisen auf den verdichteten sozialen Konformitätsdruck in kleineren Gemeinden<br />
hin. Das Motto „Jede/r kennt jede/n“ drückt eines der Grundcharakteristika<br />
dörichen Lebens aus, die grundsätzlich engeren Beziehungsgeechte auf<br />
dem Land. Das kann Ausdruck einer spezischen Lebensqualität sein, bedeutet<br />
aber – als Kehrseite der Medaille –, dass abweichende Einstellungen und Verhaltensweisen<br />
von der örtlichen Gemeinschaft nicht akzeptiert oder gar sanktioniert<br />
werden können. Gleichzeitig droht der Bedeutungsverlust des Lokalen<br />
und der Verlust dör icher Gemeinschaftsstrukturen im Zeitalter eines anhaltenden<br />
ökonomisch-strukturellen Wandels und Krisen „auf dem Land“: Vielerorts<br />
– und dies betrifft nicht mehr nur Regionen in Ostdeutschland – ziehen<br />
junge, gut ausgebildete Bewohner und Bewohnerinnen des Ortes weg und es<br />
droht eine zunehmende Homogenisierung der lokalen Bevölkerungsstrukturen<br />
(Buchstein & Heinrich, 2010).<br />
4. Die Zivilgesellschaft gilt in der Auseinandersetzung mit einem lokalen <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
als ein Schlüssel für gelingende Interventionen. Dabei hängt das<br />
Engagement der Bevölkerung davon ab, welche dominante Problemsicht auf<br />
den <strong>Rechtsextremismus</strong> unter den zentralen Akteuren der lokalen Öffentlichkeit<br />
vorherrschend ist (Klemm, Strobl & Würtz, 2006). Zentrale Akteure vor<br />
Ort sind diejenigen, welche wichtige Knotenpunkte in einem lokalen Beziehungsgeecht<br />
darstellen; dazu gehören Bürgermeister, Pfarrer oder Vereinsvertreter.<br />
Wird von diesen zentralen Akteuren das Problem eher verharmlost,<br />
so fällt in der Regel das Engagementpotential bei der restlichen Bevölkerung<br />
geringer aus und sie werden zu „Verhinderern“ statt „Ermöglichern“; wenn die<br />
zentralen Akteure sich eine Problemlage zu eigen machen und zu Engagement<br />
ermutigen, ist der gegenteilige Effekt zu beobachten. Für die „Zivilgesellschaft“<br />
als ein eher normativ besetztes Konzept gilt zugleich, dass freiwillige<br />
Assoziationen, Vereine, Bewegungen und Verbände nicht per se demokratisch,<br />
pluralistisch und für jedermann offen sind. Vielmehr versagt eine „zivilgesellschaftliche<br />
Gegenwehr“ dann, wenn die örtliche Zivilgesellschaft mit ihren<br />
ausgeprägten Vorurteilskulturen mehr Teil des Problems denn der Lösung ist<br />
(Roth, 2004).<br />
5. Es gilt gleichwohl die Erkenntnis, wenn der soziale Zusammenhalt in der eigenen<br />
Kommune als stark und positiv eingeschätzt wird, so sinkt für den Einzelnen<br />
die Wahrscheinlichkeit für fremdenfeindliche Einstellungen (Grau & Heitmeyer,<br />
2013). Die Qualität des „sozialen Zusammenhalts“ fokussiert dabei auf<br />
die Werte- und Zielvorstellungen einer lokalen Zivilgesellschaft, auf die lokale<br />
soziale Ordnung und Kontrolle, auf die Formen der sozialen Solidarität und der<br />
Reduktion von ökonomischen Ungleichheiten, auf den Grad von sozialen Inter-
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />
449<br />
aktionen (soziale Netzwerke und soziales Kapital) sowie auf die lokale Verbundenheit<br />
und Identität (ebd., S. 62). Die Qualität des sozialen Zusammenhalts in<br />
einer Kommune ist im Rahmen von Interventions- und Präventionsstrategien<br />
somit von hoher Relevanz.<br />
6. Ein weiteres Spezi kum einer lokalen politischen Kultur betrifft die Bedeutung<br />
von tradierten, lokalen Mythen und Geschichten. Das kollektive Gedächtnis<br />
einer politischen Kultur kristallisiert sich auch in ihren Erinnerungsorten<br />
wieder (vgl. François & Schulze, 2005, S. 8). Auf deutsche Erinnerungsorte<br />
bezogen, kann dabei z. B. zwischen „Orten“ (z. B. dem Berliner Reichstag, der<br />
Berliner Mauer, der KZ-Gedenkstätte Auschwitz) und „Ereignissen“ (z. B. der<br />
Reformation, Brandts Kniefall 1972, der Gewinn der Fußball-WM 1954 usw.)<br />
unterschieden werden. Erinnerungsorte sind nicht zeitlos, sondern unterliegen<br />
ebenfalls der jeweiligen Lesart der Gegenwart und den ihr vorausgegangenen<br />
Narrativen. Gleichzeitig dienen solche Erinnerungsorte zur Vergegenwärtigung<br />
in „Raum und Zeit“. Mit Blick auf das Gemeinwesen kann dieser Aspekt<br />
bedeuten, dass lokale Mythen über den Ort, historische Bezüge und Rückvergewisserungen<br />
in Zeiten des o. g. Bedeutungsverlustes des Lokalen von tragender<br />
Bedeutung sind. Hier stellt sich wiederum die Frage, welche Geschichte(n)<br />
in der dörichen Öffentlichkeit tradiert und welche Geschichte(n) verschwiegen<br />
oder bestenfalls verschämt zu Hause am Küchentisch weitererzählt werden.<br />
4 Beratung im kommunalen Raum –<br />
ein Beispiel für Intervention und politische Kultur<br />
Die Frage nach der Bedeutung einer spezi schen lokalen politischen Kultur in<br />
der Auseinandersetzung mit <strong>Rechtsextremismus</strong> ist keine akademische Dehn- und<br />
Lockerungsübung, sondern wird dann relevant, wenn mögliche Gelingensfaktoren<br />
für erfolgreiche Interventions- und Präventionsmaßnahmen konturiert werden<br />
sollen. Mobile Beratung im Kontext von <strong>Rechtsextremismus</strong> (als ein Beispiel für<br />
Intervention) ist ein noch recht junges Feld mit zugehöriger Profession. Sie wurde<br />
1998 im Rahmen des Landesprogramms „Tolerantes Brandenburg“ erstmals<br />
erprobt und ab 2001 mit dem Bundesprogramm „CIVITAS“ des Bundesministeriums<br />
für Familie, Frauen, Senioren und Jugend (BMFSFJ) zunächst in den ostdeutschen<br />
und ab 2007 über das Programm „kompetent. für Demokratie“ auch in<br />
den westdeutschen Bundesländern angeboten. Mithilfe eines Fallbeispiels aus der<br />
Praxis des beratungsNetzwerks hessen – Mobile Intervention gegen <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
sollen exemplarisch hinderliche und begünstigende Faktoren der lokalen
450 Reiner Becker<br />
politischen Kultur im Rahmen von Beratungsprozessen aufgezeigt werden<br />
einer Beratungsanfrage heißt es:<br />
1<br />
. In<br />
„Die Jugendp egerin einer Gemeinde berichtet von zahlreichen Vorkommnissen<br />
mit einem rechtsextremen Hintergrund u. a. in den selbstverwalteten Jugendräumen<br />
und auch in der Gemeinde. Die rechtsextrem orientierte Jugendclique des Ortes, mit<br />
z. T. gewaltbereiten Jugendlichen, hat Kontakt zur organisierten Szene; so fanden in<br />
den Jugendräumen gemeinsame Versammlungen statt. Die Gemeinde schloss die Jugendräume<br />
und möchte diese mit einem neuen Konzept wieder öffnen. Gleichzeitig<br />
weisen die Vorfälle auf die Verharmlosung der Problematik in Teilen der Gemeinde<br />
hin.“<br />
Ohne näher über den weiteren Verlauf der Beratung in dieser Kommune zu berichten,<br />
können für die Darstellung der Ausgangsbedingungen für Beratung vier<br />
zentrale Thesen formuliert werden, die auf eine spezi sche lokale politische Kultur<br />
verweisen.<br />
A Vorkommnisse in Kommunen werden häufig zur Standortfrage<br />
stilisiert.<br />
Die Vorkommnisse mit einem rechtsextremen Hintergrund in einer Kommune<br />
und der Umgang mit ihnen ist sicherlich kein „Gewinnerthema“. Kommunal verantwortliche<br />
Akteure wie Bürgermeister und Bürgermeisterinnen stehen in der<br />
Regel unter einem großen Handlungsdruck, wenn solcherlei Vorkommnisse, z. B.<br />
durch eine Berichterstattung in der Lokalpresse, öffentlich werden. Es zeigt sich<br />
eine große, ernstzunehmende Sorge um den Ruf der Gemeinde und eine Infragestellung<br />
des friedlichen Zusammenlebens und sozialen Zusammenhalts. In der<br />
Beratung gilt es daher, gemeinsam mit Bürgermeistern und anderen kommunalen<br />
Verantwortungsträgern zu eruieren, wie sie die politische Situation und die Stimmungslage<br />
in ihrem Ort einschätzen. Idealtypisch lassen sich hier vier Gruppen<br />
unterscheiden:<br />
1 Die Landeskoordinierungsstelle des beratungsNetzwerks hessen an der Philipps-Universität<br />
Marburg hat seit 2007 ein eigenes System zur Dokumentation und Evaluation<br />
von Beratungsprozessen entwickelt. Die Berater und Beraterinnen im Netzwerk dokumentieren<br />
hiermit nach einem standardisierten Verfahren, welches einen idealtypischen<br />
Beratungsprozess modelliert, ihre Arbeit. Dies ermöglicht eine kontinuierliche<br />
Auswertung der Beratungsprozesse nach verschiedenen Aspekten und Fragestellungen,<br />
vgl. auch Becker (2013). Das vorliegende Beispiel bezieht sich auf einen (hier<br />
anonymisierten) Beratungsfall aus dem Jahr 2008.
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />
451<br />
• Die Gruppe der „besorgten Bürger“, die darauf drängt, dass „etwas unternommen<br />
wird“;<br />
• die Gruppe der „Gleichgültigen“, die keinen Problemdruck verspürt bzw. diesen<br />
negiert;<br />
• die Gruppe der „Relativierer“, die sich in erster Linie Sorge um das Image der<br />
Gemeinde macht und daher eher auf starke Positionierungen gegen den lokalen<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> verzichten möchte;<br />
• die Gruppe der (stillen) „Sympathisanten“, welche die Positionen der lokalen<br />
Rechtsextremisten mehr oder weniger teilt und gleichzeitig darauf bedacht ist,<br />
kein unnötiges Aufsehen zu produzieren.<br />
In dieser vierten idealtypischen Gruppe nden sich vor allem die lokalen Träger<br />
von Vorurteilen gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen. In dieser Gemengelage<br />
ist es nun von entscheidender Bedeutung, welche Problemsicht die politisch<br />
und zivilgesellschaftlich kommunal verantwortlichen Akteure einnehmen. Wirkt<br />
sich die Frage der drohenden Rufschädigung des Standortes derart aus, dass eher<br />
die Positionen der Relativierer und (stillen) Sympathisanten geteilt werden, dann<br />
agieren Bürgermeister in der Regel eher passiv und problemverharmlosend; „bestenfalls“<br />
delegiert man die Problemlösung an die Verantwortlichen in der Jugendarbeit,<br />
so wie es zunächst in diesem Fallbeispiel auch geschehen ist. Der lokale<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> ist dann kein Problem mehr für die politische Kommune und<br />
soziale Gemeinschaft des Ortes, sondern wird zu einem reinen Jugendproblem.<br />
B Rechtsextrem orientierte Jugendliche fühlen sich im ländlichen Raum<br />
oftmals durch ihr Erwachsenenumfeld bestätigt.<br />
Bezogen auf einen drohenden Imageverlust erscheint es zunächst durchaus plausibel,<br />
das Problem des lokalen <strong>Rechtsextremismus</strong> zu verharmlosen und ggf. zu<br />
externalisieren, ihn nicht als einen Teil der lokalen Gesellschaft und in ihr entstanden<br />
zu verstehen. Eine solche Verdrängungsstrategie stößt dann an Grenzen, wenn<br />
(wie in dem o. g. Fallbeispiel) die rechtsextrem orientierten Jugendlichen in der<br />
besagten Gemeinde groß geworden und bekannt sind. Das Phänomen der rechten<br />
Jugendcliquen ist vor allem ein Phänomen des ländlichen Raums (vgl. Hafeneger<br />
& Becker, 2007) und oftmals werden Jugendliche in einem Erwachsenenumfeld<br />
und einer mentalen Kultur sozialisiert, die in (großen) Teilen spezi sche Vorurteilskulturen<br />
und Ressentiments ausgeprägt hat. Schlimmstenfalls nden die<br />
Jugendlichen darin eine Legitimation für ihr Handeln, sie agieren mit dem Gefühl,<br />
eine „schweigende Mehrheit“ zu repräsentieren, meinen das in die Tat umzusetzen,<br />
was sie an Stammtischen oder in Vereinsheimen hören. Eine Beratung von<br />
Kommunen setzt daher einerseits mit der Frage nach den Rahmenbedingungen
452 Reiner Becker<br />
und der aktuellen Situation der kommunalen Jugendarbeit an, wäre aber selbst<br />
schlecht beraten, wenn sie andererseits die Spezika des Gemeinwesens mit seiner<br />
politischen Kultur und ihren Tradierungen außer Acht lassen würde. Auch in dem<br />
exemplarischen Fall wurde zunächst nach neuen Konzepten für die Jugendarbeit<br />
gefragt; die zunehmende Eskalation vor Ort (verstärktes Auftreten von rechtsextremen<br />
Aktivisten, eine Zunahme von gewalttätigen Vorfällen) führte jedoch dazu,<br />
dass die Lösungskompetenz nicht in der Jugendarbeit alleine gesehen wurde. Vielmehr<br />
wurden zwei weitere Beratungen nachgefragt (von der örtlichen Feuerwehr<br />
und einem Sportverein), denn viele der rechtsextrem orientierten Jugendlichen<br />
nahmen nach wie vor am Vereinsgeschehen der Kommune teil.<br />
C Die besonderen Beziehungsgeflechte, insbesondere im ländlichen<br />
Raum, sind eine Herausforderung für die Beratung.<br />
Die spezischen Beziehungsgeechte vor Ort in einem Beratungsdesign zu ignorieren,<br />
bedeutet in der Regel, dass die Arbeit erfolglos sein wird. Oftmals ist es<br />
Ziel der Beratung im kommunalen Raum, die Bürger und Bürgerinnen des Ortes<br />
für die Thematik zu sensibilisieren und für ein eigenes Engagement, etwa in Form<br />
eines Bündnisses oder eines „runden Tisches“ zu aktivieren. Hinderlich können<br />
enge Beziehungsge echte dann sein, wenn der von den Individuen (wahrgenommene)<br />
Konformitätsdruck groß und in großen Teilen der örtlichen Bevölkerung die<br />
Problemsicht gering ist. Hinderlich für ein Engagement kann auch sein, wenn persönliche<br />
Beziehungen zu den Familien der rechtsextrem orientierten Jugendlichen<br />
bestehen und eine scheinbar klare und öffentliche „Freund-Feind-Positionierung“<br />
nicht möglich ist – gerät man in diesem Kontext mit den Nachbarn in Konikt, ist<br />
es nicht nur ein politischer, sondern zugleich ein persönlicher Kon ikt im Nahbereich<br />
der Nachbarschaft (Palloks & Steil, 2008, S. 35). So hinderlich die engen<br />
Beziehungsgeechte als Ausdruck des sozialen Zusammenhalts im Beratungsprozess<br />
sein können, so nützlich können sie auch sein, wenn sich deutungsmächtige<br />
Akteure des Ortes als relevante Knoten im kommunalen Beziehungsge echt für<br />
ein bürgerschaftliches Engagement stark machen, Position beziehen und anderen<br />
Menschen des Ortes „ein gutes Vorbild“ sind. Solche relevanten Akteure zu identizieren,<br />
gehört zum kleinen Einmaleins der Mobilen Beratung in Kommunen.<br />
Im o. g. Fallbeispiel gelang es dem Beratungsteam, mithilfe wichtiger Akteure des<br />
Ortes ein breites Bürgerbündnis zu initiieren.<br />
D Aktuelle Beratungsfälle in Kommunen beruhen oftmals auf zurückliegenden<br />
Vorkommnissen und tradierten Vorurteilskulturen.<br />
Vielerorts zeigt die Beratungspraxis, dass aktuellen Vorkommnissen mit einem<br />
rechtsextremen Hintergrund, etwa das Aufkommen rechtsextrem orientierter Ju-
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />
453<br />
gendcliquen im lokalen Raum, Vorkommnisse vorausgehen, die mitunter schon<br />
Jahre zurückliegen können. So zeigt die Replikationsstudie zu rechten Jugendcliquen<br />
in Hessen aus dem Jahr 2007 (Hafeneger & Becker, 2007), dass in einigen<br />
Orten schon fünf Jahre zuvor, zum Zeitpunkt einer ersten hessenweiten Erhebung,<br />
von solchen Jugendcliquen berichtet wurde (vgl. Hafeneger, Jansen, Niebling,<br />
Claus & Wolf, 2002). In einigen aktuellen Beratungsfällen zeigt sich weiterhin,<br />
dass die einstigen Jugendlichen, die Mitglied solcher Cliquen waren, heute als Erwachsene<br />
ein nach außen bürgerliches Leben führen, sie aber gleichzeitig für die<br />
aus dem Ort stammenden rechtsextrem orientierten Jugendlichen einen wichtigen<br />
Anlaufpunkt darstellen. Eine bisher nicht untersuchte Frage lautet, ob sich die<br />
Konjunkturen eines lokalen <strong>Rechtsextremismus</strong> erklären lassen und wieso einige<br />
Orte – wenn auch in großen zeitlichen Abständen – immer wieder mit solcherlei<br />
Vorkommnissen konfrontiert sind. Eine mögliche Antwort ndet sich in der näheren<br />
Betrachtung der Ergebnisse eines spezi schen Präventionsprojektes, welches<br />
auf den Aspekt der politischen Kultur im ländlichen Raum zielte.<br />
5 Spurensuche nach „vergessenen Geschichten“ –<br />
ein Beispiel für Prävention und politische Kultur<br />
Die Bandbreite von schulischen und außerschulischen Angeboten zur Prävention<br />
von <strong>Rechtsextremismus</strong> ist von vielfältigen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen<br />
geprägt (vgl. Rieker, 2009) 2 . Sie richtet sich aber in den meisten Konzeptionen an<br />
die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen, kaum aber an Erwachsene, die, wirft<br />
man den Blick auf die Ergebnisse der meisten Einstellungsstudien, im Vergleich zu<br />
Jugendlichen größere Vorurteile gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen<br />
zeigen. An dieser Stelle kann von einem Ansatz der historisch-politischen Bildung<br />
berichtet werden, das Projekt „Die vergessenen Geschichten Oberschelds“ 3 ,<br />
2 Rieker (2009) führt die folgenden Angebote auf: Angebote auf Ebene einer primären<br />
Prävention richten sich an Kinder und Jugendliche ohne Affinität zu <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />
Dies sind Angebote der frühen Prävention, des interkulturellen Lernens oder der<br />
politischen Bildung. Auf Ebene der sekundären Prävention sind Angebote zu differenzieren,<br />
die sich an rechtsextrem gefährdete oder rechtsextrem orientierte Jugendliche<br />
richten; auf Ebene der tertiären Prävention finden sich Angebote zum Ausstieg aus<br />
dem <strong>Rechtsextremismus</strong> und Angebote für die Arbeit mit Eltern und Angehörigen von<br />
Rechtsextremisten wieder.<br />
3 Gefördert wurde das Projekt durch den Lokalen Aktionsplan (LAP) Wetzlar/Lahn-<br />
Dill im Rahmen des Bundesprogramms „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“;<br />
Informationen zum LAP unter www.toleranz-wz-ldk.de. Das Projekt lief von Januar
454 Reiner Becker<br />
welches sowohl auf jüngere als auch ältere Einwohner eines Dorfes fokussierte<br />
und in dessen Mittelpunkt die Frage stand, warum im kollektiven Gedächtnis des<br />
Ortes die Zeit des Nationalsozialismus keine Rolle spielt. Methodisch orientierte<br />
sich dieses Projekt an pädagogischen Ansätzen aus den 1980er Jahren, in denen<br />
nach dem Motto, „Grabe, wo Du stehst“, (Lindqvist, 1989) die konkreten Lebensorte<br />
von Jugendlichen und Erwachsenen der Ausgangspunkt für die historischpolitische<br />
Bildung darstellte und Lebensorte als Lernorte der lokalen-historischen<br />
Spurensicherung betrachtet wurden (Lecke, 1983).<br />
Der heute etwas über 2000 Einwohner zählende Ort in Mittelhessen ist historisch<br />
stark verwurzelt mit dem Eisenerzbergbau. Bis heute prägen die Erzählungen<br />
über die Zeit der Gruben und des Hochofens am Rande des Ortes das kollektive<br />
Gedächtnis des Dorfes. Daneben existierten jedoch Geschichten und Bilder, die<br />
keinen Eingang in die öffentlichen Erzählungen des Dorfes gefunden haben: Es<br />
sind Erzählungen vom z. T. dramatischen Wandel des Dorebens und vom drohenden<br />
Niedergang des Bergbaus Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre, von der<br />
wachsenden Bedeutung der NSDAP im Ort und von deren großen Wahlerfolgen<br />
schon vor der letzten demokratischen Wahl im März 1933. Völlig unbekannt – zumindest<br />
in der breiten lokalen Öffentlichkeit – war die Bedeutung von Zwangsarbeit<br />
im Ort; Hunderte von Menschen aus sechs Nationen leisteten am Hochofen<br />
und in den Gruben um Oberscheld ab Anfang der 1940er Jahre Zwangsarbeit.<br />
In dem Projekt „Die vergessenen Geschichten Oberschelds“ hat der „Jugend-<br />
Arbeits-Kreis Oberscheld“ (JAKOb e.V.), ein Träger der Offenen Jugendarbeit,<br />
gemeinsam mit einer Gruppe von Jugendlichen versucht, einen Teil dieser „vergessenen<br />
Geschichten“ zu bergen und einen Bezug zu Fremdenfeindlichkeit und<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> heute herzustellen, zumal der Ort in der Vergangenheit immer<br />
wieder Ausgangspunkt für die Herausbildung rechtsextrem orientierter Jugendcliquen<br />
oder Ort von Vorkommnissen mit einem rechtsextremen Hintergrund war.<br />
Dies war auch 2001 der Anlass für ehrenamtlich Engagierte des Dorfes, eine offene<br />
Jugendarbeit für den Ort zu entwickeln und bis heute anzubieten (vgl. Born<br />
& Reuter, 2013) 4 .<br />
Gemeinsam mit neun Jugendlichen sichtete ein Projektteam Dokumente im<br />
International Tracing Service (ITS) Bad Arolsen und im Hessischen Hauptstaatsarchiv,<br />
Wiesbaden, zur Dorfgeschichte. Weiterhin wurden historische Zeitungsartikel<br />
ausgewertet und Fotos aus dieser Zeit gesammelt. Ein wesentlicher Bestand-<br />
2013 bis März 2014. Weitere Informationen zu JAKOb e.V. siehe www.projekt-jakob.<br />
de.<br />
4 Der Autor ist Gründungsmitglied des Vereins und hat das Projekt „Die vergessenen<br />
Geschichten Oberschelds“ wissenschaftlich begleitet.
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />
455<br />
teil des Projekts waren Leitfadeninterviews mit neun Senioren und Seniorinnen<br />
des Ortes – Angehörige der so genannten „Generation Hitler-Jugend“ -, die von<br />
den Jugendlichen gemeinsam mit einer pädagogischen Betreuerin durchgeführt<br />
wurden. Die Leitfadeninterviews und die Dokumente aus den Archiven wurden in<br />
einem weiteren Schritt wissenschaftlich ausgewertet, in Textform gebracht und in<br />
einer knapp 120-seitigen Broschüre veröffentlicht (vgl. JAKOb e.V., 2013).<br />
Neben der „Freilegung“ der lokalen Geschichte der Zwangsarbeit konnten<br />
in relativ kurzer Zeit weitere Geschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus<br />
durch die Sichtung der Dokumente und der Auswertung der Interviews geborgen<br />
werden: über die Macht der NSDAP-Ortsgruppe, über so genannte „Sektenprozesse“<br />
(so ein Titel der heimischen Dill-Zeitung), über Zwangssterilisierungen<br />
und Euthanasie, über Verurteilung und Inhaftierung von jungen Menschen wegen<br />
„Kameradendiebstahls“, über die Inhaftierung von Dorfbewohnern wegen des falschen<br />
Parteibuches, über die Hinrichtung eines jungen Mannes wegen „Desertion“<br />
oder über die tragische Liebesgeschichte einer jungen Dorfbewohnerin und eines<br />
jungen Tschechen, die mit dessen Tod in einem Konzentrationslager „wegen verbotenem<br />
Geschlechtsverkehrs“ tragisch endete. Das Projekt schloss (vorläug) mit<br />
der Präsentation der Ergebnisse und einem „Erzähl-Café“ ab, an dem über 200<br />
Menschen aus dem Dorf und aus Nachbarorten teilgenommen haben.<br />
Ohne an dieser Stelle weiter auf die Ergebnisse des Projektes einzugehen, lassen<br />
sich einige bemerkenswerte Aspekte bezüglich der politischen Kultur im ländlichen<br />
Raum und ihrer Bedeutung für lokale Anfälligkeiten für <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
herausarbeiten:<br />
1. Trotz aller medialen Konjunkturen in der Aufarbeitung des so genannten Dritten<br />
Reiches, trotz aller zahlreichen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen<br />
Veröffentlichungen zum Thema Nationalsozialismus verdeutlicht<br />
dieses Projekt, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus dort ins Stocken<br />
gerät und nach wie vor lokale Blockaden und Schweigespiralen vorzu nden<br />
sind, wo das Erkenntnisinteresse dem konkreten sozialen Nahraum gilt. Ein<br />
ständiger Begleiter für alle Projektbeteiligten war von Anfang an die Frage, wie<br />
„das Dorf“ auf die Ergebnisse reagieren würde. Ängste und Befürchtungen,<br />
dass der Verein Schaden erleiden könne, weil die mehr oder weniger verdrängte<br />
Dorfgeschichte nunmehr zum Thema wird oder ob gar die Jugendlichen oder<br />
die Mitglieder des Projektteams als „Nestbeschmutzer“ gesehen werden, waren<br />
während der gesamten Projektphase wiederholt Gegenstand von zahlreichen<br />
Diskussionen. Auch wenn alle lokalen NS-Größen namentlich bekannt sind,<br />
bestand die Befürchtung, dass deren Angehörige sich an den Pranger gestellt<br />
fühlen könnten.
456 Reiner Becker<br />
2. Natürlich kann kein kausaler Zusammenhang zwischen einem früh ausgeprägten<br />
lokalen Nationalsozialismus und einem wiederkehrenden lokalen <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
am Beispiel eines einzigen Ortes gezeigt werden. Allerdings zeigt<br />
sich in den o. g. Ängsten und Befürchtungen innerhalb des Projektteams und<br />
dem damit verbundenen stetig drohenden Scheitern des Projekts ein spezi -<br />
scher Konformitätsdruck: Wie auch bei den Beratungen von Kommunen nach<br />
aktuellen rechtsextremistischen Vorkommnissen sind es auch hier die lokalen<br />
Beziehungsgeechte, die Engagement hemmen oder gar unmöglich machen.<br />
Die Bedeutung dieser Beziehungsge echte zeigt sich so stark, dass selbst 70<br />
Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine offene Thematisierung des lokalen<br />
Nationalsozialismus auf große Hindernisse stößt.<br />
3. Viele der Geschichten, die der jüngeren Generation bisher unbekannt waren,<br />
sind den „Alten“ bekannt: So konnten alle Interviewpartner mal mehr, mal<br />
weniger detailliert über die Zwangsarbeit im Ort berichten. Weiterhin fällt<br />
auf, dass in den Erinnerungen der Interviewpartner das Treiben der NSDAP-<br />
Ortsgruppe deutlich weniger Raum einnimmt als etwa die Erinnerungen an<br />
Kindheit, an die Kriegszeit oder auch an die Opfer der Oberschelder Nationalsozialisten.<br />
Sehr vorsichtig deuten einige nur Geschichten über alltägliche<br />
Drangsalierungen, Verfolgung bis hin zu gewalttätigen Vorkommnissen an,<br />
sprechen keine Namen „der Täter“ aus, berichten aber gleichzeitig, dass sich<br />
nach dem Krieg für alle NS-Ortsgrößen jemand gefunden habe, der sie in ihren<br />
Entnazizierungsverfahren entlastet habe. Dies hängt mit einem der markantesten<br />
Ergebnisse der Interviewauswertung zusammen: Im Rückblick auf diese<br />
Zeit, trotz der zuvor geschilderten Geschichten von Schikanen, Ausgrenzungen<br />
bis hin zum Totschlag, pegt die Generation der Interviewpartner scheinbar bis<br />
heute ein Bild von ihrem Dorf, in dem alle immer zusammengehalten haben<br />
und die „Gemeinschaft“ immer funktionierte: Kein Zweifel, keine kritische<br />
Reexion, eher selten ein getrübter Blick auf eine verpasste und verschenkte<br />
Jugend, die von der NSDAP und ihren Gliederungen auch in Oberscheld durch<br />
und durch organisiert war. Es scheint, dass diesen Kindern und Jugendlichen<br />
der „Generation Hitler-Jugend“ nach dem Krieg von ihren Eltern das Tabu<br />
auferlegt worden sei, das Ideal der Dorfgemeinschaft zu wahren und nicht in<br />
Verruf zu bringen, auch auf Kosten derer, die in ihrem Ort viel bitteres Leid<br />
erfahren haben. Hier scheint sich auf Ebene einer Dorfgemeinschaft ein Mechanismus<br />
zu zeigen, der für die Tradierung von NS-Erlebnissen innerhalb von<br />
Familien herausgearbeitet wurde:
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />
457<br />
„Je umfassender das Wissen über Kriegsverbrechen, Verfolgung und Vernichtung<br />
ist, desto stärker fordern die familiären Loyalitätsverp ichtungen, Geschichten zu<br />
entwickeln, die beides zu vereinbaren erlauben – die Verbrechen »der Nazis« oder<br />
»der Deutschen« und die moralische Integrität der Eltern oder Großeltern“ (Welzer<br />
et al., 2003, S. 53).<br />
Übertragen auf das Gemeinwesen ndet sich in den Interviews zum Projekt ebenfalls<br />
eine solche Form der kollektiven Abspaltung: Trotz aller Offenheit gegenüber<br />
den Jugendlichen bezüglich der Schilderung vom Leid vieler Menschen im Dorf<br />
und vom Treiben der lokalen NS-Schergen kommt stellvertretend ein Interviewpartner<br />
bei der Frage nach der Stimmung im Dorf in der Zeit des Nationalsozialismus<br />
zum Ergebnis: „Die Oberschelder haben zusammengehalten“ (JAKOb e.V.,<br />
2013, S. 44).<br />
6 Fazit und Ausblick<br />
Die diskutierten theoretischen Ansätze und die empirischen Befunde zur Bedeutung<br />
der lokalen politischen Kultur für die Ursachenbeschreibung von <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
verdeutlichen aus einer Wissenschaft-Praxis-Perspektive, dass Sozialraumanalysen<br />
mit einem gründlichen Blick auf die lokalen Einstellungen,<br />
Mentalitäten und Werte notwendig sind, um das Phänomen <strong>Rechtsextremismus</strong><br />
zu verstehen und um adäquate Konzepte zur Prävention und Intervention zu entwickeln.<br />
Dabei gilt nicht nur der Blick auf die lokale politische Kultur mit ihren aktuellen<br />
Einstellungen und Mentalitäten, sondern auch erstens auf ihre möglichen tradierten<br />
kollektiven (lokalen) Geschichten, die eher verschwiegen werden und zweitens<br />
auf Vorurteilskulturen, wie z. B. Antisemitismus, die einer langen Tradierung<br />
unterliegen. Solcherlei Tradierungslinien im Zusammenhang mit aktuellen Formen<br />
des <strong>Rechtsextremismus</strong> systematisch in Analysen zu berücksichtigen, stellen<br />
einen bisher blinden Fleck in der Einstellungsforschung dar. Der tiefe, detaillierte<br />
Blick auf die Binnenstruktur und die politische Kultur eines Gemeinwesens offenbart<br />
eine Komplexität, welche mit den Methoden der Einstellungsforschung kaum<br />
zu erfassen ist. Treffen die abstrakten Items auf die Wirklichkeit der Stammtische,<br />
lassen sich zwar einzelne Indikatoren messen, die Gründe, in welcher Qualität<br />
ein Gemeinwesen auf lokale rechtsextreme Vorkommnisse reagiert bzw. reagieren<br />
könnte, lassen sich hieraus kaum ableiten. Eine tiefere Analyse der lokalen Ausgangsbedingungen<br />
ist dann vonnöten, wenn Maßnahmen der Prävention oder der<br />
Intervention die Menschen im Gemeinwesen miteinbeziehen und sich nicht „nur“
458 Reiner Becker<br />
auf die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen fokussieren soll. Die sensible Thematisierung<br />
lokaler Vorurteilskulturen und die Frage nach den jeweiligen „vergessenen<br />
Geschichten“, die Relevanz der lokalen Beziehungsge echte, die Angst der<br />
Menschen vor der Zerrüttung des sozialen Zusammenhalts – all dies sind Faktoren<br />
für das Gelingen oder Scheitern von Beratung oder Präventionsarbeit.<br />
Schließlich besteht, so zumindest ein vorläu ger Befund, kein kausaler Zusammenhang<br />
zwischen spezi schen Formen und „Auswüchsen“ eines einstigen<br />
lokalen Nationalsozialismus und aktuellen Formen eines lokalen <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />
Die Zusammenschau der Beratungspraxis im kommunalen Raum und der<br />
Ergebnisse des hier skizzierten Modellprojekts zeigen allerdings, dass in beiden<br />
Bereichen ein lokaler Konformitätsdruck mit großer Wirkungsmacht zu konstatieren<br />
ist. Denn sowohl das öffentliche Schweigen über Vorfälle, die 70 Jahre zurückliegen,<br />
als auch das öffentliche Schweigen über aktuelle Vorfälle mit einem<br />
rechtsextremen Hintergrund hängen damit zusammen, so die These, dass das Bild<br />
der (Dorf)Gemeinschaft nicht getrübt werden darf. Lokale Schweigekartelle und<br />
-spiralen über die „vergessenen Geschichten“ können dann die Auseinandersetzung<br />
mit aktuellen lokalen Vorkommnissen hinsichtlich der Frage erschweren, ob<br />
und in welcher Form die lokale, tradierte politische Kultur mit ihren jeweiligen<br />
Vorurteilskulturen die aktuelle Herausbildung von <strong>Rechtsextremismus</strong> vor Ort begünstigt<br />
oder verhindert. Eine Implementierung von Maßnahmen der Prävention<br />
bzw. Intervention gelingt daher nur unter ausreichender Berücksichtigung der engen<br />
Beziehungsgeechte vor Ort (vgl. Hafeneger & Becker, 2012).
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen<br />
459<br />
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Demokratiepädagogik<br />
als präventionswirksame Idee<br />
Wolfgang Beutel, Kurt Edler, Mario Förster und Hermann Veith<br />
Der nachfolgende Beitrag eröffnet vier verschiedene Perspektiven auf die Demokratiepädagogik<br />
als präventionswirksame Idee: Vor dem Hintergrund wiederkehrender<br />
Eruptionen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit werden mit Blick<br />
auf gesellschaftliche Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit zunächst einige<br />
zentrale demokratiepädagogische Zielsetzungen und Ansatzpunkte erläutert (1.).<br />
Danach wird mit sozialisationstheoretischen Argumenten begründet, warum die<br />
Befähigung zur Übernahme der Bürgerrolle in der Demokratie an institutionalisierte<br />
Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme in den Bildungseinrichtungen<br />
gebunden ist (2.). Eine dritte Perspektive entfaltet Erfahrungen und Ergebnisse<br />
des jugend- und schulbezogenen Wettbewerbs „Förderprogramm Demokratisch<br />
Handeln“ (3.). Ein anschließender vierter Blick gilt der aktuellen Arbeit des Jenaer<br />
Kompetenzzentrums <strong>Rechtsextremismus</strong>, dessen Aufgabe es ist, universitäre Projekte,<br />
Praxisprogramme und Forschungen zur Prävention gegen Rechts systematisch<br />
zu erfassen, zu koordinieren und fachöffentlich darzustellen (4.). Alle vier<br />
Perspektiven bündeln miteinander seit langem verwobene Diskurse, Forschungs-,<br />
Beratungs- und Entwicklungsansätze aus unseren Arbeitsbereichen, die wir mit<br />
einer knappen Bilanz aufeinander beziehen (5).<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_20, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
464 Wolfgang Beutel et al.<br />
1 Demokratiepädagogik<br />
Demokratiepädagogik ist ein Begriff, der eine breite konzeptuelle, aber auch<br />
schulentwicklungspraktische und lernbezogene Strategie beschreibt, die in der<br />
Pädagogik von Wissenschaft und Praxis re ektiert, konkretisiert und etabliert<br />
werden soll. Grundlegend ist die Annahme, dass die Erfahrung von Anerkennung<br />
und Mitwirkung – also die demokratisch-partizipative Integration in das Gemeinwesen<br />
– aller Bürgerinnen und Bürger von möglichst früh an die beste Prävention<br />
gegen die Herausbildung vormoderner oder gar radikaler politischer Identitäten ist.<br />
Ausgehend von den sozialpolitischen Erschütterungen, die durch die menschenverachtenden<br />
Übergriffe auf Asylsuchende in den frühen 1990er Jahre ausgelöst<br />
wurden (a), sollen grundlegende Ziele des demokratiepädagogischen Reformansatzes<br />
skizziert (b) und aktuelle Herausforderungen (c) beschrieben werden.<br />
(a) Anfänge: An der Wiege der Demokratiepädagogik steht in den frühen 1990er<br />
Jahren eine Serie erschreckender Ereignisse. Nach dem Aufweichen der bis dahin<br />
vorherrschenden Ost-West-Blockkonfrontation brachen im Inneren des wiedervereinigten<br />
Deutschlands – für viele unerwartet – individuelle Haltungen durch, die<br />
in ihrer archaischen Gewalttätigkeit die demokratische Gesellschaft verunsicherten<br />
und herausforderten. Ein rechtsextremer Mob, der nicht vom Staat befohlen<br />
war, kam „aus der Mitte“ der Gesellschaft zum Vorschein und tobte sich aus. In<br />
Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen eskalierte der offenbare<br />
Hass gegen Asylsuchende in Mord- und Brandanschlägen. Die Zivilgesellschaft<br />
war gefordert. Zum Überdenken der alten theoretischen Erklärungsansätze blieb<br />
kaum Zeit, obwohl der deutlich vernehmbare Applaus aus dem bürgerlichen Lager<br />
auch in dieser Hinsicht hätte nachdenklich stimmen müssen.<br />
In Reaktion auf das fortwirkende Wiedererstarken der Menschenfeindlichkeit<br />
wurde unter anderem auch das BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“<br />
(Edelstein & Fauser, 2001) aufgelegt. Die Akteure entwickelten sehr schnell und<br />
mit großer Energie Handreichungen und Materialien zu einer Demokratisierung<br />
von Schule und Unterricht. Aber die Laufzeit bis 2007 war zu kurz, um nachhaltige<br />
schulsystemische Veränderungen zu erzielen. Nur einzelne Bundesländer<br />
ermöglichten Anschlüsse. So blieb vieles auf halber Strecke stehen und nach Ansicht<br />
der Projektpartner auch zentrale Fragen unbearbeitet. So kam erstens die<br />
DDR-Geschichte nicht vor. Zweitens fehlte die Dimension der Interkulturalität.<br />
Und drittens gab es fast keine politischen Analysen des <strong>Rechtsextremismus</strong>.<br />
Die Demokratiepädagogik, die durch das Geschehen der Wende in ihrer Resonanz<br />
und Entwicklung beschleunigt wurde, verstand sich als präventiv gehaltvoll<br />
in dem Sinne, dass sie – in kritischer Abgrenzung zu einer offensichtlich nicht<br />
hinreichend efzienten politischen Bildung in der Schule – dem, was wir im wei-
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />
465<br />
testen Wortsinne unter Demokratie verstehen, durch eine wirksame pädagogische<br />
Lern- und Erfahrungswelt den Rücken stärken wollte. Zugleich verstand sie sich –<br />
politisch gesehen – selbst auch als eine Erzeugerin demokratischer Praxis und<br />
demokratischer Strukturen. Ihre politische Normativität wirkte jedoch bisweilen<br />
so überbordend, das sich in den Wissenschaftlerkreisen der Politik und ihrer Didaktik<br />
eine Art protestantischer Allergie dagegen entfaltete, deren Symptome allerdings<br />
mittlerweile deutlich abklingen.<br />
(b) Ziele: Aus der Perspektive der damaligen Akteure ging es darum, einer<br />
tiefer greifenden Schädigung der Demokratie entgegen zu wirken. Dazu erschien<br />
die Reform einer Schule, die sich formal als demokratisch erklärt, es aber in Wirklichkeit<br />
nicht ist, unerlässlich. Jede neue junge Generation soll, aus der Sicht der<br />
Demokratiepädagogik, das Recht und die Möglichkeit haben, sich diejenigen<br />
Kompetenzen anzueignen, die die Demokratinnen und Demokraten von morgen<br />
benötigen. Das ist eine universelle, frühe Prävention, die nicht darauf wartet, bis<br />
das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Schule, in der sie sich abspielt, muss<br />
sich – so das Credo z. B. der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik<br />
(Edler, 2012) – als Lern- und Lebensort gestalten, an dem Demokratie erfahrbar<br />
wird. Die Hindernisse für eine solche umfassend demokratische Schule liegen, so<br />
die damalige, aber auch die heutige Sichtweise, im Schulsystem, von dessen stabiler<br />
und weitergehenden praktischen Wirkung weiterhin auszugehen ist. Schule,<br />
wie sie strukturell etabliert ist, wird sich aktuell grundlegend kaum verändern<br />
lassen. Sie ist für demokratiewirksame Präventionsarbeit eine gegebene Voraussetzung.<br />
Die Konsequenz daraus ist, auf eine Pädagogik mit reformerischem Mut<br />
und systemischer Intelligenz sowie eine Bildungspolitik zu setzen, die die Krusten<br />
eines antiquierten Schulverständnisses und eines institutionalistischen Demokratiebegriffs<br />
wenigstens immer wieder in Frage stellt. Bei diesem Bemühen ist die<br />
Demokratiepädagogik in den letzten Jahren tatsächlich ein gutes Stück vorangekommen,<br />
und sie hat dabei starke Akteure als Partner gewonnen. Die Aufgabe<br />
bleibt für lange Zeit bestehen!<br />
(c) Neue Kon ikte: Aber dennoch gilt auch: Die Zeiten ändern sich. Die Globalisierung<br />
kultureller und religiöser Konikte ist im Klassenzimmer angekommen.<br />
Alte Welterklärungen greifen nicht mehr. Wo sie dennoch trotzig weiter vorgetragen<br />
werden, wirken sie verharmlosend. Wir sind verunsichert. Ein Beispiel dafür<br />
zeigt sich darin, dass Kinder und Jugendliche nun bisweilen als Akteure von<br />
Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit auftreten, womit wir nie gerechnet<br />
hätten. So sagt eine Schülerin einer fassungslosen Lehrerin ins Gesicht: „Ich brauche<br />
keine Freiheit. Ich habe meinen Glauben.“ Schülerinnen und Schüler teilen<br />
ihre Klasse in Muslime und Christen ein, sie ordnen ihnen eine unterschiedliche<br />
Wertigkeit zu. Ungleichwertigkeitsvorstellungen, bekanntlich immer ein Spezi -
466 Wolfgang Beutel et al.<br />
kum totalitärer Ideologien, machen sich in ganz neuen Formen breit. Damit einher<br />
gehen bei radikalisierten Schülergruppen die beredt vorgetragene Ablehnung von<br />
Demokratie als politischer Ordnung und Lebensform sowie die Rechtfertigung<br />
von Terror und Massenmord. Ein Zwölfjähriger beispielsweise wirbt auf seiner<br />
Facebookseite für den Islamistischen Staat (IS).<br />
Was wir derzeit in den Metropolen beobachten, stellt die Demokratiepädagogik<br />
vor ganz neue Herausforderungen. Schulgemeinschaften geraten in Aufruhr. Ein<br />
sich religiös wähnendes Mobbing greift um sich. Die Abwehrreaktionen lassen<br />
nicht auf sich warten. Der innere Frieden der Schule steht auf dem Spiel, und die<br />
Hilosigkeit staatlicher Instanzen ist offenkundig, zumal die Auseinandersetzung<br />
bereits manche Grundschulen erfasst. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung<br />
steht die Demokratiepädagogik vor einer neuen Herausforderung. Sie muss ihren<br />
blinden Fleck bezüglich der innergesellschaftlichen Widerspruchsentwicklung<br />
überwinden und präventive, aber auch interventive Konzepte zur Abwehr von<br />
Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit entwickeln – darin liegt eine ihrer<br />
zentralen Zukunftsaufgaben.<br />
2 Demokratiekompetenz, Sozialisationsforschung<br />
und Demokratiepädagogik<br />
Gerade weil die Schule von allen Heranwachsenden besucht wird, bietet sie die<br />
beste Lernumgebung zur Einübung in demokratische Praktiken. Allerdings zeigt<br />
sich, dass hier in den Bildungseinrichtungen selbst noch erhebliche Lernbedarfe<br />
bestehen. Denn wenn sich Jugendliche aus religiösen Erwägungen selbstbewusst<br />
gegen demokratische Lebensformen aussprechen, ist das auch ein Indiz dafür, dass<br />
die Internalisierung demokratischer Grundwerte durch politische Bildung alleine<br />
keineswegs gesichert wird (a). Demokratie-Lernen erfordert vielmehr ein institutionelles<br />
Curriculum, das von Anfang an (b) auf Gelegenheiten zur Teilhabe und<br />
Mitwirkung setzt (c) und damit Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bietet,<br />
aktiv „Demokratiekompetenz“ (d) zu entwickeln.<br />
(a) Grenzen der Mündigkeit: Im Fall der Schülerin, die aus Glaubensgründen demokratische<br />
Lebensformen ablehnt, stellt sich die Frage, ob man ihr aufgrund ihrer<br />
religiösen Überzeugung die „Mündigkeit“ absprechen darf. Immerhin artikuliert<br />
sie selbstbewusst ihren eigenen Willen, indem sie auf Wertvorstellungen einer Religionsgemeinschaft<br />
verweist, an denen sie sich moralisch-praktisch orientiert – und<br />
sie agiert auch nicht menschenfeindlich, da sie Andersgläubige weder diskriminiert<br />
noch zur Gewalt gegen diese aufruft. Herausfordernd ist jedoch, dass sie sich in<br />
ihrer Glaubensüberzeugung so entschieden auch vom westlichen „democratic way
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />
467<br />
of living“ distanziert. Allem Anschein nach hat sie sich im Laufe ihrer biogra-<br />
schen Entwicklung ein politisch folgenreiches Urteil über eine Gesellschaft gebildet,<br />
der es nicht gelungen ist, ihr im schulischen Bildungsprozess die Unterschiede<br />
zwischen Religion und Politik hinreichend erfahr- und begreifbar zu machen. Das<br />
Verhalten der Schülerin pauschal als „unmündig“ zu bewerten, würde jedoch bedeuten,<br />
ihre Glaubensüberzeugungen zu verletzen, mit der Folge, dass sie sich in<br />
ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Demokratie bestätigt ndet.<br />
Was sich an dem Beispiel zeigt, ist ein allgegenwärtiges alltagsweltliches Dilemma,<br />
das uns mit unseren eigenen kategorialen Interpretationsschemata konfrontiert.<br />
Ganz offenbar reicht der moderne Begriff der „Mündigkeit“ nicht mehr<br />
hin, um eines der zentralen moralisch-politischen Bildungsziele unserer Gegenwart<br />
zu kennzeichnen. Er zieht nämlich Grenzen, die historisch mit Prozessen der<br />
Rationalisierung und Säkularisierung verbunden waren und er bindet den Vernunftgebrauch<br />
an ein aufgeklärtes, in abendländischen Traditionszusammenhängen<br />
stehendes Subjekt. In globalisierten Einwanderungsgesellschaften mit konkurrierenden<br />
soziokulturellen Wertorientierungen und Narrativen leben jedoch<br />
viele Subjekte neben- und miteinander und die Moderne bildet längst nicht mehr<br />
den für alle tragenden lebensweltlichen Hintergrund. Zwischen solcherart unterschiedlichen<br />
Menschen kann Verständigung nur gelingen, wenn wahrgenommene<br />
Differenzen des Glaubens, der Herkunft oder der Kultur akzeptiert und Freiheitsrechte<br />
gegenseitig anerkannt werden. Denn demokratische Gesellschaften sind auf<br />
die Mitwirkung aller ihrer Mitglieder angewiesen – und zwar unabhängig von<br />
besonderen sozialen Zugehörigkeiten oder dem Säkularisierungsgrad einer Religionsgemeinschaft.<br />
Entscheidend ist vielmehr, dass die Einzelnen in der Lage<br />
sind, Angelegenheiten, die ihr Zusammenleben betreffen, in gewaltlosen, verlässlichen,<br />
verbindlichen und Unterschiede anerkennenden Formen gemeinsam zu regeln.<br />
Das Ziel politischer Bildung heißt darum „Demokratiekompetenz“, ein Ziel,<br />
das die Schülerin im beschriebenen Fall zum Schrecken der Lehrperson augenscheinlich<br />
nicht erreicht hat.<br />
Man kann dafür sicherlich auch außerschulische Gründe geltend machen.<br />
Gleichzeitig aber sollte man sich daran erinnern, dass in den großen, in Deutschland<br />
durchgeführten Jugendstudien seit den 1990er Jahren wiederkehrend darauf<br />
hingewiesen wurde, dass die nachwachsenden Jugendgenerationen ein erkennbar<br />
geringes Interesse an politischen Fragen haben, wenngleich die Demokratie als<br />
Staatsform mehrheitlich befürwortet wird (Deutsche Shell, 2002). Gerademal ein<br />
Drittel der 15- bis 17-Jährigen nimmt am politischen Geschehen bewusst Anteil.<br />
Auch diese Befunde stimmen nachdenklich, weil sie aus einer anderen Perspektive<br />
ebenfalls die Frage aufwerfen, wie nachhaltig der „democratic way of living“ überhaupt<br />
in den jugendlichen Lebenspraktiken verankert ist. Demokratiekompetenz
468 Wolfgang Beutel et al.<br />
jedenfalls sieht anders aus als eine unbestimmte Politik- und Parteienverdrossenheit<br />
(Deutsche Shell 2010) – und sie lässt sich schon gar nicht auf das Zugeständnis<br />
reduzieren, dass die Demokratie als Staatsform durchaus legitimationswürdig ist.<br />
Sie zeigt sich vielmehr in der Bereitschaft, im eigenen Handeln stetig und wahrnehmbar<br />
Verantwortung auch für andere zu übernehmen.<br />
(b) Demokratielernen von Anfang an: Der Einwand, dass demokratische Beteiligung<br />
ein gewisses Maß an „Reife“ voraussetzt und Kinder noch nicht verstehen<br />
können, warum es sinnvoll ist, Angelegenheiten, die ihr gemeinsames Zusammenleben<br />
betreffen, mit Hilfe demokratischer Verfahren zu regeln, dient häug nur zur<br />
Legitimation nicht partizipatorisch angelegter pädagogischer Arrangements – als<br />
ob ein allzu früher Kontakt mit demokratischen Prozeduren entwicklungsgefährdend<br />
sei. Im Vorschul- oder Grundschulalter, so das Argument, könne man noch<br />
nicht begreifen, wie Demokratie als eine staatliche Herrschaftsform funktioniert.<br />
Zudem würde es die sozialmoralische Kompetenz von Kindern überfordern, wenn<br />
sie die Folgen getroffener Entscheidungen abschätzen oder ihre Entscheidungsgründe<br />
im Licht verallgemeinerbarer Prinzipien rechtfertigen müssten. Im Übrigen<br />
werde jeder Versuch, mit Kindern politische Bildung zu betreiben, maximal<br />
ein soziales, nie aber ein politisches Lernen erzeugen, denn „letztlich bleibt der<br />
Unterricht (in der Grundschule, Anm. d. Autoren) sogar da, wo er explizit den Anspruch<br />
auf politisches Lernen oder Demokratie-Lernen erhebt, soziales Lernen“<br />
(Massing, 2007, S. 25). Die ersten beiden Argumente sind stark, das dritte ist der<br />
wissenschaftspropädeutischen Tradition fachlicher politischer Bildung geschuldet<br />
und pädagogisch letztlich so nicht haltbar, dennoch aber in der Praxis der Lehrerbildung<br />
nach wie vor sehr wirksam.<br />
Aber sind die Argumente, dass Schülerinnen und Schüler in den Vor- und<br />
Grundschulen weder ein demokratisches Bewusstsein haben können noch „mündig“<br />
sind, tatsächlich so stark, um die Ablehnung demokratischer Formen in Kindertagesstätten<br />
und Grundschulen zu rechtfertigen? Die Erfahrungen in Einrichtungen,<br />
die sich dezidiert als kinderdemokratische Lernorte verstehen, weisen in<br />
eine andere Richtung (Fauser, Prenzel & Schratz, 2007). Tatsächlich lernen die<br />
Kinder, sich frühzeitig miteinander über ihre Wünsche und Vorstellungen zu verständigen.<br />
Zwar gelingt diese Kommunikation nicht immer reibungsfrei, so dass<br />
pädagogische Hilfestellungen erforderlich sind. Aber zumindest funktioniert die<br />
Interessen- und Perspektivenkoordination in der sozialen Handlungspraxis schon<br />
so gut, dass die egozentrischen Befangenheiten im Denken der Kinder den Verständigungsprozess<br />
nicht unmöglich machen. Sie stören ihn zwar hier und da, aber<br />
letztlich sind es genau diese sozialen Irritationen und die damit verbundenen emotionalen<br />
Dissonanzen, die die soziale und kognitive Entwicklung der einzelnen<br />
innerhalb der Lerngruppe vorantreiben.
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />
469<br />
In der sozialkognitiven Sozialisationsforschung ist dieses Phänomen seit langem<br />
bekannt. Überall dort, wo Kinder herausgefordert werden, in eigener Verantwortung<br />
ihre Angelegenheiten zu regeln, entwickeln sie ihre eigenen Normen und<br />
Umgangsformen. Die Regeln, die dabei entstehen, sind keineswegs beliebig. Wenn<br />
die Kinder nämlich längerfristiger miteinander auskommen, spielen, kooperieren<br />
und kommunizieren wollen, dann müssen sich ihre gegenseitigen Abmachungen<br />
in ihrer konkreten Interaktionspraxis auch bewähren (Krappmann, 1994). Dort<br />
wo dies nicht der Fall ist, kommt es zu Kon ikten – und das kommt durchaus<br />
häuger vor, weil es den Jüngeren schwer fällt, Absprachen auf Gegenseitigkeit zu<br />
prüfen. In Anlehnung an Lawrence Kohlberg lässt sich sagen, dass ihr kindliches<br />
Regelverständnis noch nicht konventionell stabilisiert ist (Kohlberg, 1996). Die<br />
pädagogische Aufgabe besteht in diesen Fällen darin, die Störung im Verständigungsprozess<br />
zu bearbeiten und die Kinder darin zu unterstützen, Lösungen zu<br />
nden, die für alle verträglich sind. Es spricht nichts dagegen, damit so früh wie<br />
möglich zu beginnen.<br />
(c) Institutionalisierte Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme: Lerngruppen,<br />
die über längere Zeiträume miteinander verträglich auskommen müssen,<br />
protieren davon, wenn die sich entwickelnden sozialkognitiven und moralischen<br />
Fähigkeiten auch institutionell abgesichert sind und die Kinder die Formen kennen,<br />
die ihre Einbeziehung stärken und ihre Mitbeteiligung fördern. Mit anderen<br />
Worten: Je früher Kinder in Kindertagesstätten und Grundschulen in demokratische<br />
Praktiken hinein sozialisiert werden, desto selbstverständlicher und normaler<br />
erscheinen ihnen demokratische Lebensformen. Wie das funktioniert, lässt sich<br />
anhand vielfältiger Beispiele aus der Schulpraxis erläutern: Im morgendlichen Gesprächskreis,<br />
der Keimzelle des „kommunikativen Handelns“ (Habermas, 1981),<br />
lernen die Kinder, dass man, wenn man selbst gehört und ernst genommen werden<br />
will, sich gegenseitig zuhören, aber auch Argumente vortragen muss, um Fragen<br />
zu klären, die auch die Gruppe beschäftigen. Auf dem Gesprächskreis bauen<br />
die unterschiedlichen Formen und Foren der demokratischen Mitbestimmungen<br />
auf. Klassen- und Kinderräte sind dabei mehr und anderes als lediglich formale<br />
Gremien der Schülermitbeteiligung. Wo sie etabliert sind, haben die Kinder die<br />
Möglichkeit, gleichberechtigt Sachverhalte zu klären, die sie selbst, ihr Zusammenleben<br />
und ihre Zusammenarbeit in Schule und Unterricht betreffen. Das setzt<br />
aber voraus:<br />
1. dass das Recht eines jeden Kindes in der Lerngruppe gesichert ist, als vollwertiges<br />
Subjekt einen Platz zu haben und als Mitglied der Gemeinschaft unabhängig<br />
von den besonderen Merkmalen seiner Person anerkannt zu werden.<br />
Wir sprechen hier in einem umfassenden Sinn von „Inklusion“;
470 Wolfgang Beutel et al.<br />
2. dass alle Mitglieder dauerhaft – ob als Personen oder Repräsentanten in Ämtern<br />
– die Chance zur gleichberechtigten Mitwirkung und Mitbestimmung bei<br />
der Gestaltung ihres Zusammenlebens und der Koordination ihres Handelns<br />
haben müssen. Wir sprechen hier von „Partizipation“;<br />
3. dass alle thematisch anfallenden Angelegenheiten transparent und nachvollziehbar<br />
zur Diskussion gestellt werden müssen. Täuschungsversuche sind dabei<br />
untersagt. Wir sprechen hier von „Transparenz“;<br />
4. dass konkurrierende Interessen im Rahmen der selbst gegebenen Ordnung thematisiert,<br />
debattiert und abgewogen werden, um Beschlüsse vorzubereiten und<br />
Entscheidungen durchzusetzen. Der sozialphilosophisch inspirierte Begriff<br />
hierfür ist „Deliberation“;<br />
5. dass die Gruppenmitglieder die Möglichkeit haben, sich selbst zu fragen, ob die<br />
Normen, die sie ihren Entscheidungen zugrunde legen, auch richtig sind. Der<br />
Begriff hierfür ist „Legitimität“;<br />
6. dass alle Beteiligten immer wieder überprüfen, ob die eigenen Arbeitsformen<br />
und die beschlossenen Maßnahmen auch tatsächlich zielführend und ef zient<br />
sind.<br />
Die genaue Einhaltung dieser pädagogischen Grundsätze, die gleichzeitig als<br />
demokratisches Regelwerk dienen – sie rekurrieren im Übrigen auch auf die im<br />
„Magdeburger Manifest“ (2007) dargelegten Grundlagen demokratiepädagogischer<br />
Reexion und Praxisentwicklung –, berechtigt die Beteiligten zur Erwartung,<br />
dass die getroffenen Absprachen und Abmachungen verbindlich gelten.<br />
Während die formalisierte Praxis der Verständigung elementare demokratische<br />
Grundprinzipien erfahrbar werden lässt, erzeugt die Verpichtung, sich an die getroffenen<br />
Beschlüsse zu halten, nach und nach die moralisch-praktischen Grundlagen<br />
für ein demokratisches Wertbewusstsein – und dieses Wertbewusstsein ist<br />
deutlich früher vorhanden als die entsprechende Reexionsform, auf die sich auch<br />
der klassische Begriff der „Mündigkeit“ stützt.<br />
(d) Demokratiekompetenz: Demokratische Praktiken unterstützen die Entwicklung<br />
grundlegender sozialer und moralischer Kompetenzen (z. B. Empathie und<br />
Perspektivenübernahme, Toleranz und Koniktregulation). Der Kompetenzbegriff<br />
wird in der jüngeren Bildungsdiskussion zur Bezeichnung von Fähigkeitspotenzialen<br />
gebraucht, die erforderlich sind, um bereichsspezi sch unterscheidbare<br />
Anforderungen und Probleme mit Aussicht auf Erfolg zu bearbeiten. Demokratiekompetenz<br />
realisiert und bewährt sich folglich nicht im Wissen über demokratische<br />
Institutionen, Prozesse und Ziele, sondern in der Praxis der Verständigung.<br />
Diese Praxis stellt den Einzelnen vor genaue Anforderungen, deren Erfüllung den<br />
Bestand und die Erneuerung demokratischer Verhältnisse gewährleisten. Diese
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />
471<br />
Anforderungen gelten sowohl für die kleinen Demokraten und Demokratinnen in<br />
den Bildungseinrichtungen als auch für die großen in den gewählten öffentlichen<br />
Gremien.<br />
Die Kompetenzen, die die Kinder und Jugendlichen erwerben, wenn sie in der<br />
sozialen Alltagspraxis beständig mit demokratisch zu lösenden Handlungsproblemen<br />
oder Systemerfordernissen konfrontiert werden, lassen sich konkretisieren.<br />
Zunächst lernen sie, das rationale Potenzial einer politischen Ordnung zu nutzen,<br />
die institutionell auf die öffentliche und gemeinsame Regelung gesellschaftlicher<br />
Angelegenheiten abgestimmt ist, um bei Interessen- und Zielkon ikten zwischen<br />
Gruppen oder Personen zu praktisch verbindlichen Entscheidungen und Abmachungen<br />
zu kommen. Die dazu erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten bilden<br />
den Kern der Demokratiekompetenz (Beutel, Buhl, Fauser & Veith, 2009; Veith,<br />
2010). In der Praxis heißt das, die Schülerinnen und Schüler, aber auch schon die<br />
Kinder in den Kindertagesstätten sind dabei zu lernen,<br />
1. dass Zugehörigkeit (Inklusion) ein Grundrecht ist und Wertschätzung für andere<br />
von jedem Einzelnen Toleranz erfordert;<br />
2. dass es in der Gemeinschaft auf jeden ankommt und durch partizipative Einbindung<br />
über Kooperation das Bewusstsein individueller und gemeinschaftlicher<br />
Verantwortung wächst;<br />
3. dass es wichtig ist, um Sachverhalte zu verstehen und Interessenlagen zu bewerten,<br />
sich im klassischen Sinn der politischen Bildung zu informieren, d. h.<br />
sich Wissen und Methoden anzueignen, die es ermöglichen, über Fragen der<br />
Regelung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu urteilen;<br />
4. dass es notwendig ist, nicht nur soziale Perspektiven zu übernehmen und zu<br />
koordinieren, um zwischen den Interessen Einzelner und dem Gemeinwohl<br />
abzuwägen, sondern auch verständigungsorientiert zu kommunizieren. Nur so<br />
lassen sich verbindliche, für alle Beteiligten akzeptable Entscheidungen herbeiführen.<br />
5. dass das gemeinschaftliche Leben stabilisiert wird, wenn die Beteiligten in stetiger<br />
Anwendung diskursiver Praktiken überprüfen, ob die Prämissen des eigenen<br />
Handelns demokratischen Ansprüchen genügen. Man entwickelt dadurch<br />
persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit;<br />
6. dass es Mühen erspart, wenn man sich vergewissert, ob die eingesetzten Methoden<br />
noch zielführend sind bzw. der Aufwand im Verhältnis zu den eingesetzten<br />
Mitteln steht. Mit der Fähigkeit zur sachbezogenen und fachgerechten Bewertung<br />
von Handlungsfolgen wird eine besondere Form der Evaluationskompetenz<br />
benötigt, die zur Überprüfung auch des eigenen Handelns unerlässlich ist.
472 Wolfgang Beutel et al.<br />
Die Wertschätzung der Demokratie erweist sich nicht primär im Reden über politische<br />
Sachverhalte, sondern in der unmittelbaren Praxis einer inklusiv und partizipatorisch<br />
angelegten, auf Transparenz und Abwägung gegründeten und nach<br />
Legitimitäts- und Efzienzkriterien selbstüberprüfbaren Handlungspraxis.<br />
3 Das Förderprogramm Demokratisch Handeln<br />
Der Wettbewerb Demokratisch Handeln will auf einer solchen sozialisatorischen und<br />
lerntheoretisch begründbaren Basis demokratisches Engagement, demokratische Haltung<br />
und demokratische Kultur in Schule und Jugendarbeit stärken. Er versucht, dieses<br />
Konzept in Schulen und Jugendeinrichtungen zu entdecken, mit den Akteuren reexiv<br />
zu bearbeiten, weiterzuentwickeln und zu multiplizieren. Das praktische Ziel dabei<br />
ist: Gemeinsam mit anderen sollen Fragen und Probleme des Gemeinwohls sichtbar<br />
gemacht und bearbeitet und so ein Korridor zu politischer Verantwortung geöffnet<br />
werden. Lernen soll sich mit Handeln verbinden. Leistungen für die Demokratie und<br />
das Gemeinwesen sollen fachlich thematisiert, gefördert und öffentlich anerkannt<br />
werden. Der Wettbewerb wird seit 1989 jährlich für alle allgemeinbildenden Schulen<br />
in Deutschland ausgeschrieben. Entscheidend ist aber nicht der Wettbewerb als Selbstzweck,<br />
sondern vielmehr die mit ihm verbundenen programmatischen, schulentwicklungsbezogenen<br />
und förderungswirksamen Aspekte und Instrumente in Blick auf die<br />
beteiligten Akteure – Lehrkräfte ebenso wie Schülerinnen und Schüler – sowie in<br />
Blick auf die Schule insgesamt (Beutel & Fauser, 2013).<br />
Die Genese dieses Wettbewerbs und Förderprogramms entspringt dem langjährigen<br />
Engagement von Hildegard Hamm-Brücher für eine Verbesserung der<br />
politischen Bildung und für eine Stabilisierung und bürgerschaftliche Weiterentwicklung<br />
der Demokratie in Deutschland (Hamm-Brücher, 2001). Dieses Ziel<br />
hatte in den 1980er-Jahren angesichts der bereits seinerzeit anwachsenden „Politikverdrossenheit“<br />
an Gewicht gewonnen. Hinzu kam Ende der 1980er Jahre die<br />
Neugründung und Etablierung der Partei der „Republikaner“, die nationalistisches<br />
und ausländerfeindliches Gedankengut vertrat und bei Wählerinnen und Wählern,<br />
vor allem auch bei Jugendlichen, in dieser Zeit Erfolg fand. Die Sorge um Anziehungskraft<br />
und Ein uss von rechtsextremen – nationalistischen, rassistischen,<br />
antisemitischen – Gruppierungen in der Politik und besonders bei Heranwachsenden,<br />
ist so gesehen ein beständiges Motiv für dieses schulnahe pädagogische<br />
Programm. Damit verbindet sich zugleich die Absicht, einer solchen Entwicklung<br />
durch eine lebendige und von den Bürgerinnen und Bürgern getragene Demokratie<br />
entgegenzutreten, für deren Aktualität und Lebendigkeit ein schul- und jugendnahes<br />
Erfahrungslernen einen ganz zentralen Ankerpunkt bildet.
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />
473<br />
Am Wettbewerb und seinen Programmelementen teilnehmen können Schülerinnen<br />
und Schüler als einzelne, in Gruppen oder zusammen mit Lehrpersonen<br />
aller Schularten und Schulstufen, auch mit Eltern und mit Jugendarbeitern. Von<br />
einer Fachjury werden bundesweit jährlich etwa 50 Projekte zur Teilnahme an<br />
der „Lernstatt Demokratie“ ausgewählt. Dort können sie ihre Ergebnisse präsentieren<br />
und gemeinsam mit anderen Teilnehmern und Experten an Themen und<br />
Formen demokratischen Engagements arbeiten. Bereits seit 1995 wird das Förderprogramm<br />
durch eine „Regionale Beratung“ – aktive fachliche Partnerinnen und<br />
Partner auf Ebene der Bundesländer – ergänzt. Besondere Bedeutung erreicht die<br />
Regionalberatung, weil sie ein Netzwerk für lokale und landesbezogene Veranstaltungen<br />
mit Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften – über den Kreis der<br />
bundesbezogen 50 ausgewählten Projekte hinaus – bereitstellt. Das erweitert den<br />
Wirkungsradius und verbreitert damit die Präventionsidee des Programms. Ein<br />
weiterer Aspekt der Förderung und Unterstützung liegt in der fachlichen und kriterienbasierten<br />
Publizistik über herausragende und innovative Projekte: Für viele<br />
Schulen, Bildungseinrichtungen und ihre Akteure bedeutet eine solche fachöffentliche<br />
Darstellung – in pädagogischen Zeitschriften ebenso wie in der lokalen und<br />
überregionalen Presse – eine wichtige Anerkennung.<br />
Das „Förderprogramm Demokratisch Handeln“ und seine Ergebnissen haben<br />
in der jüngeren Diskussion um Schulentwicklung durch nicht-staatliche Programme<br />
zunächst starke Kritik erfahren, vor allem in der grundlegenden fachdidaktischen<br />
Debatte um „Demokratiepädagogik oder Politische Bildung“ (zuletzt: Goll,<br />
2011), letztlich aber doch vielfach Beachtung gefunden, exemplarisch sichtbar im<br />
Zusammenhang mit der Ausformulierung von Qualitätskriterien im Rahmen des<br />
Deutschen Schulpreises (Fauser, Prenzel & Schratz, 2007), der infolgedessen eine<br />
starke demokratiepädagogische Grundierung in sich trägt. Nachfolgend sollen einige<br />
Wirkungsaspekte des Programms angesprochen werden.<br />
a. Schularten: Seit 1990 sind bei dem Wettbewerb in bislang 24 Ausschreibungen<br />
5046 Projekte eingereicht worden. Beteiligt haben sich Gruppen aller Schularten<br />
und Schulformen und aus allen Bundesländern. In den Projekten werden pädagogisch<br />
und politisch wichtige Themen in übertragbaren und wirksamen Formen<br />
des Lernens bearbeitet. Die Themen sind: Demokratie in der Schule; Gewalt; das<br />
Zusammenleben und der Umgang mit Minderheiten; Umwelt und Umweltschutz;<br />
Auseinandersetzung mit der Geschichte, besonders der NS-Geschichte sowie das<br />
Handeln in der kommunalen Öffentlichkeit und Politik. Mit über 1100 Schulen<br />
und Projektgruppen ist bei der Lernstatt Demokratie und zahlreichen anderen Veranstaltungen<br />
zusammengearbeitet worden. Mit Blick auf die Schularten zeigt sich,
474 Wolfgang Beutel et al.<br />
• dass bei den Gymnasien viele Projekte aus der Sekundarstufe II stammen, dass<br />
also vor allem in der Sekundarstufe II des Gymnasiums Formen der tätigen<br />
Auseinandersetzung mit Politik den herkömmlichen Politikunterricht ergänzen;<br />
• dass die meisten uns von Gymnasien vorgelegten Projekte nicht unmittelbar<br />
mit dem Fachunterricht „Politik“ zu tun haben, sondern aus anderen Fachbereichen<br />
stammen und vielfach fächerübergreifenden oder außerunterrichtlichen<br />
Charakter haben;<br />
• dass umgekehrt die als „gesellschaftswissenschaftlich“ bezeichneten Fächer, in<br />
denen Fragen des Lebens und Zusammenlebens erörtert oder eine ästhetischszenische<br />
Auseinandersetzung damit gesucht werden, stärker vertreten sind als<br />
der klassische Politikunterricht;<br />
• dass der Anteil der Projekte aus Grundschulen von Anbeginn des Programms<br />
höher ausgefallen ist, als dies beim Programmstart erwartet worden war;<br />
• dass Förder- und Sonderschulen sichtbar beteiligt sind. Hier sind zudem vielfältige<br />
Formen der Kooperation mit umliegenden Sekundarschulen und auch<br />
Gymnasien zu beobachten.<br />
b. Demokratiepädagogik und Schulentwicklung: Das Förderprogramm Demokratisch<br />
Handeln belegt, dass es in der Praxis vielfältige Ansätze demokratischen<br />
Handelns gibt. Wir wissen demgegenüber allerdings auch, dass dieser Sachverhalt<br />
zu wenig Gegenstand systematischer und professionell relevanter Kommunikation<br />
und Reexion wird. Für die Qualität und Entwicklung der Schule und des Lehrerhandelns<br />
ist aber nicht nur wichtig, was in Schulen tatsächlich geschieht, sondern<br />
auch, ob und wie dies dargestellt, fachlich zum Thema gemacht und weitervermittelt<br />
und damit professionell verfügbar wird. Hier bietet das Förderprogramm durch<br />
seine überregionale Anlage, die sich in der regionalen Beratung und Begleitung<br />
mit länderspezisch differenzierenden Angeboten zur Multiplikation und Fortbildung<br />
verbindet sowie durch die Integration zivilgesellschaftlicher und staatlicher<br />
Ressourcen einen Kontext, der zugleich evaluativ und unterstützend ist.<br />
c. Projektpädagogik und Politik: Die Projekte sind einerseits „politiknah“.<br />
Denn viele der Projekte sind auf den Ebenen des Unterrichts, des Schullebens und<br />
der über die Schule hinausreichenden Aktivitäten im klassisch modernen, aufklärerischen<br />
Sinne politisch gehaltvoll. Sie fordern den Streit über Ziele, die Verständigung<br />
über unterschiedliche Interessen und Strategien, den Verzicht auf unvertretbaren<br />
Eigennutz. Sie pegen das eigene Handeln und die Verantwortung dafür,<br />
sie bewegen sich im öffentlichen Raum und erzeugen selbst Öffentlichkeit. Die<br />
Projekte sind zugleich aber auch „politikfern“ (Beutel & Fauser, 1995), weil sie das<br />
politische System – seine Konikte, Ereignisse, seine Protagonisten und Vertreter
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />
475<br />
sowie die politischen Parteien selbst – quantitativ gesehen eher selten zum Thema<br />
machen und weil die Verfahren der Willensbildung und Entscheidung, die in<br />
der Schulverfassung im Kleinen die Verfahren der Politik im Großen nachbilden<br />
sollen, eher in geringem Maße als Feld demokratischen Engagements auftauchen.<br />
Insgesamt gesehen hilft das Förderprogramm seit Beginn seiner Arbeit dazu,<br />
Aspekte und Wirkungsbedingungen demokratiepädagogischer Intervention in<br />
Schule – hier liegt schon rein quantitativ zweifelsohne der Programmschwerpunkt<br />
– und jugendpädagogischen Einrichtungen und Kontexten sichtbar zu machen.<br />
Dabei hat sich seit Ende der 1990er-Jahre durch eine verstärkte fachliche<br />
Auswertung und publizistische Darstellung sowohl der „Best-Practice“ des Programms,<br />
als auch der in dieser pädagogischen Praxis sichtbar werdenden strukturellen<br />
Bedingungen und Kriterien für demokratiepädagogische Schulentwicklung<br />
die Wahrnehmung dieser Seite des Lernens in institutionellen Kontexten erheblich<br />
stärken lassen und entscheidend zur Ausformulierung der Demokratiepädagogik<br />
als pädagogischer Entwicklungstatsache und Gestaltungsaufgabe beigetragen.<br />
Es ist schon bei seiner Begründung sichtbar geworden, dass der Zusammenhang<br />
zwischen Gewaltprävention, <strong>Rechtsextremismus</strong>, Fremdenfeindlichkeit und antidemokratischer<br />
Haltung einerseits sowie demokratischer Erfahrung und Verantwortung<br />
andererseits ein Konstitutivum des Programms ist. Dabei ist klar, dass es<br />
bislang keine evidenzbasierte Form des Nachweises einer solchen programmspezischen<br />
Wirkung gibt. Gleichwohl unterstützt „Demokratisch Handeln“ aktuelle<br />
Arbeiten zur Messung der Verstehenstiefe von Demokratielernen<br />
1 systematisch<br />
und die an der Programmdurchführung beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen<br />
gehen davon aus, in dieser Richtung in absehbarer Zeit Fortschritte und damit eine<br />
Stärkung der Demokratiepädagogik als präventionswirksamer Idee erreichen zu<br />
können<br />
4 Thüringer Aktionsplan Demokratiebildung<br />
Zu dem vorweg ausgeführten fügt sich seit 2012 der Blick auf Aktivitäten und<br />
das Netzwerk des NSU. Bislang stehen in der öffentlichen Diskussion einerseits<br />
die strafrechtlich relevanten Fragen und anderseits die Versäumnisse der Sicherheitsbehörden<br />
im Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine weitergehende Diskussion<br />
1 Derzeit arbeiten Mario Förster und Michaela Weiß an der Stärkung der Messgenauigkeit<br />
eines Fragebogeninstruments zum „Demokratieverstehen“ im Rahmen ihrer Qualifikationsarbeiten<br />
an der Universität Göttingen. Die dabei gewählten Lernsituationen<br />
oder „Vignetten“ sind von „Best-Practice“-Projekten des Förderprogramms inspiriert.
476 Wolfgang Beutel et al.<br />
möglicher Konsequenzen und Antworten auf die Frage nach der Verantwortung<br />
des Einzelnen sind nicht erkennbar. Scheinbar haben „wir“ noch nichts aus dieser<br />
jüngeren massiven rechtsorientierten und gewalttätigen Struktur gelernt. Die Notwendigkeit<br />
einer intensiven Suche nach Antworten, wie man die Herausforderungen<br />
einer sich stetig verändernden Gesellschaft in unsicheren Zeiten vermittelt<br />
und Heterogenität nicht nur als Aufgabe erkennt, sondern vor allem als Chance<br />
begreift, ist für die Demokratiepädagogik offensichtlich. Überdeutlich wird dies<br />
aktuell in der Auseinandersetzung mit den zahlreichen PEGIDA-Demonstrationen<br />
in Deutschland, welche im Herbst 2014 begannen und deren Teilnehmende scheinbar<br />
vor allem durch zahlreiche diffuse Ängste mobilisiert werden.<br />
Der Zustand der Demokratie kann sich daher nicht nur an der Höhe der Wahlbeteiligung<br />
und der praktischen Resonanz ihres institutionellen Gefüges widerspiegeln:<br />
Dies greift zu kurz und beschreibt unser gemeinsames Wertesystem nur<br />
unzureichend. Aufgrund der besonderen – auch lokal spezi schen – Verantwortung<br />
bei der Aufarbeitung des NSU-Komplexes wird daher im Kompetenzzentrum<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> der Friedrich-Schiller-Universität Jena an einem Aktionsplan<br />
Demokratiebildung gearbeitet. Für die Ausbildung demokratischer Einstellungen<br />
und Werthaltungen ist es notwendig, die Möglichkeiten und Grenzen von Lerngelegenheiten<br />
und Bildungsangeboten in den Blick zu nehmen und diese – soweit<br />
möglich – auf ihre Präventionschancen zu überprüfen. Zwar kann nicht erwartetet<br />
werden, dass bei der Bildung und Erziehung durch Institutionen wie den Kindergärten,<br />
Schulen und Hochschulen sich gewissermaßen nebenbei und von Natur aus<br />
alle demokratie- und menschenrechtsfeindliche Einstellungen beheben lassen. Es<br />
bleibt aber unbestritten, dass diese immer noch die umfassendsten Interventionszugänge<br />
gegen die Herausbildung von Vorurteilen und Intoleranz darstellen. Neben<br />
Bildungsinhalten ist für die Beurteilung einer wirksamen Demokratieerziehung<br />
das Handeln des professionellen pädagogischen Personals in den Blick zu nehmen.<br />
Hier liegen Beratungs- und Entwicklungsaufgaben. Der Umgang mit Vielfalt und<br />
deren Anerkennung ist für professionelle Akteure in pädagogischen Arbeitsfeldern<br />
eine grundlegende Kompetenz ihres beruichen Wirkens, die erlernt und vor<br />
allem verinnerlicht werden muss. Doch ergibt sich diese nachweislich nicht allein<br />
durch die beruiche Qualikation (Bischoff, König & Zimmermann, 2013).<br />
Mit dem Aktionsplan Demokratiebildung wird in Thüringen versucht, sich<br />
adäquaten Antworten zu nähern, wie Bildung für Demokratie gestärkt werden<br />
kann. Einmalig ist dabei der Ansatz, dass sich der Vorschlag nicht auf einzelne<br />
Bildungsbereiche beschränkt, sondern „von der vorschulischen Erziehung bis<br />
zum Hochschulstudium“ eine umfassende Perspektive einnehmen wird. Bereits<br />
vorhandene Initiativen, Strukturen und Projekte in Thüringen sollen dabei systematisch<br />
aufgegriffen und einbezogen werden. Ein Schwerpunkt des Aktionsplans
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />
477<br />
ist zunächst die Lehrerbildung in allen ihren drei Phasen. Parallel zur Arbeit am<br />
Aktionsplan Demokratiebildung wurde im Wintersemester 2014/15 unter dem Titel<br />
„Angegriffene Demokratie – Befunde und Gegenmittel“ eine interdisziplinäre<br />
Ringvorlesung begonnen, die als fakultatives Angebot für Studierende aller Fachrichtungen<br />
gedacht ist und ebenso Lehrpersonen ansprechen soll, da sie durch das<br />
Thüringer Lehrerfortbildungsinstitut als Fortbildung anerkannt ist. Die Veranstaltungsreihe<br />
wird im Sommersemester 2015 und Wintersemester 2015/16 fortgesetzt<br />
werden. Als ein weiteres Element des Aktionsplans ist für den Oktober 2015 eine<br />
Fachtagung in Jena geplant.<br />
5 Resümee<br />
Ausgehend von der Annahme, dass die Entwicklung von demokratischen Haltungen<br />
und Kompetenzen auch in gefestigten Demokratien nicht selbstläu g erfolgt,<br />
lässt sich der Anspruch der Demokratiepädagogik dahingehend zusammenfassen,<br />
dass es in allen Bildungseinrichtungen darum gehen muss, Kinder und Jugendliche<br />
frühzeitig in die Verantwortung für die Gestaltung ihres gemeinsamen Zusammenlebens<br />
zu bringen. Die damit verbundenen Koordinationsaufgaben schaffen<br />
Reexionsanlässe, die pädagogisch zur Einübung in demokratische Praktiken genutzt<br />
werden sollten. Indem man lernt, Differenzen in wertschätzenden, informierten,<br />
abwägenden und verständigungsorientierten Diskussionsprozessen zu klären,<br />
um Lösungen zu nden und Entscheidungen vorzubereiten, die man treffen und<br />
danach verbindlich einhalten muss, begreift man den Sinn und Wert von demokratischen<br />
Prozeduren und Institutionen nachhaltiger, insbesondere dann, wenn der<br />
fachpolitische Unterricht auf diesen Erfahrungen aufbauen kann. Es gibt keinen<br />
Grund, warum es in öffentlichen Bildungseinrichtungen nicht möglich sein soll,<br />
in diesem Sinn pädagogische Bezüge von Anfang an demokratisch zu gestalten.<br />
Praxiswirksame Initiativen wie das Förderprogramm Demokratisch Handeln und<br />
der Aktionsplan Demokratiebildung tragen dazu bei, die zahlreichen diesbezüglichen<br />
Aktivitäten zu bündeln und zu systematisieren, um sie in der Beratung und<br />
Begleitung von Schule und Schulentwicklung zu nutzen, aber auch um sie öffentlichkeitswirksam<br />
zu präsentieren. In der Summe ergibt sich damit ein differenziertes<br />
Bild von demokratiepädagogischer Grundlagenforschung, damit korrespondierender<br />
Praxisprogramme und Öffentlichkeitsarbeit, deren gemeinsamer Fokus die<br />
Idee präventionswirksamer Konzeptentwicklung bildet.
478 Wolfgang Beutel et al.<br />
Literatur<br />
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werden kann. Opladen: Leske + Budrich.<br />
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Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee<br />
479<br />
li.hamburg.de/contentblob/3137664/data/pdf-merkmalskatalog-demokratiepaedagogischer-schulen-2013.pdf<br />
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In D. Richter (Hrsg.), Politische Bildung von Anfang an (S. 18-35). Schwalbach/Ts.:<br />
Wochenschau-Verlag.<br />
Veith, H. (2010): Das Konzept der Demokratiekompetenz. In: D. Lange & G. Himmelmann<br />
(Hrsg.): Demokratiedidaktik: Impulse für die politische Bildung (S. 142-156). Wiesbaden:<br />
VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
Eine Studie zu den Erfahrungen<br />
von Betroffenen rechter Gewalt 1<br />
Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
1 Einleitung<br />
Jahrelang wurden Angehörige der Opfer der vom „Nationalsozialistischen Untergrund“<br />
Getöteten verdächtigt, an kriminellen Machenschaften beteiligt oder gar<br />
für die Tötung der eigenen Familienmitglieder verantwortlich zu sein. Trotz deutlicher<br />
Hinweise und Appelle an die Polizei, dass die Täter und/oder Täterinnen im<br />
rechtsextremen Milieu zu suchen seien, erwiesen sich die Ermittlungsbehörden<br />
sprichwörtlich als auf dem rechten Auge blind. Das Versagen der Behörden, stellte<br />
Eva Högl, die Obfrau der SPD im Untersuchungsausschuss des Bundestages<br />
fest, beruhe zum großen Teil auf „routinierten, oftmals rassistisch geprägten Verdachts-<br />
und Vorurteilsstrukturen in der Polizei“ (Carstens, 2013). Der Zentralrat<br />
der Muslime in Deutschland kritisierte „Vorurteilsstrukturen bei den Behörden<br />
gegenüber bestimmten Minderheiten und Gruppen, die dem strukturellen Rassismus<br />
in Deutschland Vorschub leisteten“ (Carstens, 2013) – Polizeivertreter und<br />
-vertreterinnen reagierten empört auf die Vorwürfe.<br />
Fest steht, dass die Angehörigen durch Polizeiermittlungen wegen zu Unrecht<br />
vermuteter krimineller bzw. maöser Verbindungen nach ihren tragischen Verlusten<br />
ein zweites Mal schwer geschädigt und in ihrem Vertrauen in den Rechtsstaat<br />
auf die Probe gestellt wurden. Diese nochmalige Opferwerdung wird in den Sozialwissenschaften<br />
als Sekundäre Viktimisierung bezeichnet, „bei der der Betroffene<br />
durch eine unangemessene Reaktion seitens seines sozialen Nahraums und<br />
1 Ausführlicher dargestellt ist diese Studie in Quent, Geschke und Peinelt (2014).<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_21, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
482 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
der Instanzen sozialer Kontrolle verletzt wird“ (Kie & Lamnek, 1986, S. 239).<br />
Gerade behördenvermittelte Erfahrungen sekundärer Viktimisierung können bei<br />
den Opfern zu einem massiven Vertrauensverlust in die Institutionen des demokratischen<br />
Rechtsstaates führen. Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt<br />
wiesen in einer gemeinsamen Erklärung anlässlich des zweiten Jahrestages der<br />
Selbstenttarnung des NSU darauf hin, dass noch immer „viele Betroffene mit Polizeibeamten<br />
und Staatsanwaltschaften konfrontiert [sind], die rassistische Motive<br />
ignorieren oder verharmlosen oder den Betroffenen eine Mitverantwortung für<br />
die Angriffe zuschreiben“ (ezra, LOBBI e.V., Mobile Beratung für Opfer rechter<br />
Gewalt [Sachsen-Anhalt], ReachOut Berlin, Opferperspektive Brandenburg e.V. &<br />
Opferberatung für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt der RAA Sachsen<br />
e.V., 2013). Von derartigen Schilderungen berichten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen<br />
der Opferberatungsprojekte in zahlreichen Fällen. Quantitative Untersuchungen<br />
und Statistiken darüber, welche Wahrnehmungen und Erfahrungen Opfer<br />
rechter Gewalt bei ihren Kontakten mit der Polizei machen, existieren bisher nicht.<br />
An diesem Dezit setzte die vorliegende Untersuchung 2 an, indem sie versuchte,<br />
die folgenden Forschungsfragen empirisch zu beantworten:<br />
1. Wie nehmen Betroffene das polizeiliche Handeln in der Tatsituation und im<br />
Zuge der Aufarbeitung des Vorfalles wahr?<br />
2. Erfahren Opfer rechter Gewalt die Polizei als hilfreich bei der Aufarbeitung<br />
ihrer Viktimisierung?<br />
3. Handelt es sich bei wahrgenommenem Fehlverhalten durch die Polizei um Einzelfälle<br />
oder systematische Effekte?<br />
Zunächst werden im Folgenden einige theoretische Überlegungen angestellt über<br />
die Folgen der Viktimisierung durch rechte Gewalt für die Betroffenen und ihre<br />
sozialen Kollektive sowie die Konsequenzen für eine offene Gesellschaft. Danach<br />
werden ausgewählte empirische Befunde einer Befragung von Opfern rechter Gewalt<br />
dargestellt.<br />
2 Die Studie wurde mit finanzieller Unterstützung durch das Thüringer Landesprogramm<br />
für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit realisiert.
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
483<br />
2 Theoretischer Hintergrund<br />
2.1 Opfererfahrungen, Diskriminierung, Gewalt<br />
Dass Menschen dazu tendieren, Opfererfahrungen auszublenden und sich mit dem<br />
Schicksal von Gewaltopfern nicht näher befassen wollen, ist in der menschlichen<br />
Psyche verankert: Psychologen und Psychologinnen weisen auf die Neigung hin,<br />
die Existenz von Opfern möglichst zu verdrängen oder bei ihnen eine Mitschuld<br />
zu vermuten, um nicht an die eigene Schwäche erinnert zu werden oder Schuldgefühle<br />
in sich selbst zu erwecken (Mitscherlich: zitiert in Bolick, 2010). Abgewehrt<br />
wird zudem die Infragestellung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen gegenüber<br />
sozialen Minderheiten. Denn die Opfer rechter Gewalt unterliegen meist über<br />
die Ausübung einer rechtsextremistischen oder rassistisch motivierten Gewalttat<br />
hinaus „der Durchsetzung eines länger andauernden Machtverhältnisses, das auch<br />
nach dem Übergriff durch die Androhung weiterer Gewaltausübung aufrechterhalten<br />
wird. […] Opfer rechtsextremistischer Macht haben in der Regel unter einer<br />
lang währenden Unterordnung ihrer Person unter einen Täter bzw. eine Tätergruppe<br />
zu leiden.“ (Böttger, Lobermeier & Plachta, 2014, S. 42) Erscheinungsformen<br />
dieser andauernden Unterordnung reichen von Gewalt als „direktester Form<br />
von Macht“ (Popitz, 1992, S. 46), über strukturelle Schädigungen bis zu anderen,<br />
strafrechtlich häu g nicht relevanten Formen der „negativen Diskriminierung“<br />
(Castel, 2009). Diese negative Diskriminierung macht aus „eine[r] Differenz eine<br />
Dezienz, die für ihren Träger zu einem unaustilgbaren Makel wird. Negativ diskriminiert<br />
zu werden heißt, aufgrund einer Eigenart abgestempelt zu werden, die<br />
man sich nicht ausgesucht hat, die aber für die anderen zum Stigma wird. Eine<br />
entstandene Alterität wird zum Faktor der Ausgrenzung.“ (Castel, 2009, S. 14).<br />
Gegner und Gegnerinnen werden als Kollektive (beispielsweise die ‚Ausländer‘,<br />
die ‚Jüdinnen und Juden‘, die ‚Reichen‘ …) identi ziert. Die von den Tätern und<br />
Täterinnen als Opfer denierten Individuen sind in ihrer als homogen fremd konstruierten<br />
Gruppe in aller Regel beliebig austauschbar und für ihre Viktimisierung<br />
nicht persönlich verantwortlich. Die (von den Tätern und Täterinnen angenommene)<br />
Gruppenzugehörigkeit der Betroffenen ist Anlass für deren Gewalterfahrung<br />
(Köbberling, 2010, S. 189). Die durch die Gewalt transportierte Botschaft richtet<br />
sich nicht nur an das angegriffene Individuum, sondern an die gesamte Gruppe,<br />
zu der es gezählt wird: Die Gewalt wirkt sich daher auf die gesamte Gemeinschaft<br />
aus („kollektive Viktimisierung“) (Köbberling, 2010, S. 189) und intendiert die<br />
Einschüchterung der gesamten Gruppe (Finke, 2010, S. 207).
484 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
2.2 Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit<br />
als Legitimation für rechte Gewalt<br />
Nicht nur rechte Gewalttäter und -täterinnen sind gruppenbezogen menschenfeindlich<br />
eingestellt. 2014 stimmen über 50 Prozent der deutschen Bevölkerung<br />
abwertenden Aussagen gegenüber Sinti und Roma zu; bis zu 3/4 der Bevölkerung<br />
werten Asylbewerber und Asylbewerberinnen ab (Decker, Kiess & Brähler, 2014,<br />
S. 50). Den in der Gesellschaft vorhandenen Ungleichwertigkeitsvorstellungen<br />
liegt die generelle Ideologie zugrunde, „dass Ungleichwertigkeit von Gruppen die<br />
Gesellschaft bestimmt und dies auch gut so [ist]“ (Groß, Zick & Krause, 2012,<br />
S. 12). Diese Hierarchisierung der sozialen Gruppen in der Gesellschaft dient<br />
Tätern und Täterinnen schließlich „als Legitimation von […] massiver Anwendung<br />
von Gewalt“ (Heitmeyer, 2003, S. 19). Dass menschenfeindliche Denkweisen<br />
von Teilen der Gesellschaft geteilt werden, „begründet umgekehrt für die Betroffenen<br />
die Angst vor erneuter Viktimisierung. In der Regel trifft rechte Gewalt<br />
Menschen, die vielfältiger Diskriminierung unterworfen sind, und denen in der<br />
Gesellschaft subalterne, d. h. untergeordnete Positionen zugewiesen werden. Oft<br />
werden MigrantInnen mehrfach Opfer von Gewalt. Sehr oft haben sie schon zuvor<br />
eine Vielzahl von Abwertungen wie Beleidigungen und Herabwürdigungen<br />
erfahren.“ (Köbberling, 2010, S. 190). Rechte Gewalt wird daher auch diskutiert<br />
als „unerwünschte Zuspitzung und Radikalisierung von Einstellungen […], die in<br />
der ‚Mitte der Gesellschaft‘ verankert sind, und durchaus als akzeptable Elemente<br />
demokratischer Positionen gelten“ (John zitiert in: Köbberling, 2010, S. 190). Dabei<br />
ist diese negative Diskriminierung, wie Castel (2009, S. 11) ausführt, für die<br />
Demokratie nicht deshalb problematisch, „weil es keine Chancengleichheit gibt,<br />
sondern weil diese ganz im Gegenteil durchaus möglich und auch rechtlich garantiert<br />
ist. Diskriminierung ist skandalös, weil sie eine Verweigerung von Rechten<br />
ist, von verfassungsmäßigen Rechten.“<br />
2.3 Primäre, sekundäre und tertiäre Viktimisierung<br />
Viktimisierung bezeichnet den Prozess des Zum-Opfer-Werdens. Dieser Prozess<br />
besteht aus „Interaktionen von Täter, Opfer und anderen [Nicht-]Akteuren und<br />
ist durch unterschiedliche Dispositionen und Tatfolgen gekennzeichnet“ (Bolick,<br />
2010, S. 39). Mit Pfeiffer und Strobl ist dann von einer Viktimisierung zu sprechen,<br />
„wenn eine durch Konvention oder Recht legitimierte normative Erwartung enttäuscht<br />
und das dieser Enttäuschung zugrunde liegende Ereignis auf die soziale<br />
Umwelt bezogen wird“ (zitiert in: Böttger et al., 2014, S. 31 f.). Eine Opfererfahrung
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
485<br />
wäre dem folgend zum Beispiel auch die Erfahrung eines türkischen Jugendlichen,<br />
der im Gegensatz zu seinen deutschen Klassenkameraden keinen Ausbildungsplatz<br />
bekommt, obwohl er einen gleich guten oder sogar besseren Schulabschluss<br />
hat. In dem Beispiel wird die allgemein geteilte normative Erwartung des Prinzips<br />
der Chancengleichheit verletzt. Für den polizeilichen und juristischen Handlungsrahmen<br />
sind dagegen Strafrechtsnormen bindend (Böttger et al., 2014, S. 31 f.).<br />
Bei der Viktimisierung werden drei Stufen unterschieden, die aber nicht<br />
zwangsläug aufeinanderfolgen müssen (Kie & Lamnek, 1986, S. 167): Primäre<br />
Viktimisierung umfasst die eigentliche Opferwerdung, also die Schädigung einer<br />
oder mehrerer Personen durch einen oder mehrere Täter und Täterinnen. Ausgelöst<br />
und beein usst wird diese Phase durch verschiedene Situationsmerkmale,<br />
Opfereigenschaften, Opferverhalten, die Art der Täter-Opfer-Beziehungen und Tätereigenschaften<br />
(Kie & Lamnek, 1986, S. 170).<br />
Sekundäre Viktimisierung ist eine Verschärfung der primären und entsteht<br />
durch Fehlreaktionen des sozialen Nahraums von Betroffenen (Freunde und<br />
Freundinnen, Bekannte, Familienangehörige) und/oder Instanzen der formellen<br />
Sozialkontrolle (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte) nach der primären Opferwerdung<br />
(Kie & Lamnek, 1986, S. 239). Sie entsteht also nicht unmittelbar aus<br />
der Tat, „sondern [wird] durch Akteure produziert […], welche mit dem Opfer der<br />
Straftat irgendeinen Umgang haben (und zwar im Hinblick auf dessen primäre<br />
Viktimisierung)“ (Kölbel & Bork, 2012, S. 39). Die primäre Viktimisierung wird<br />
dadurch verstärkt, die Betroffenen fühlen sich, als ob sie noch einmal zum Opfer<br />
geworden sind. Dabei umfasst der Begriff sowohl den Vorgang der Einwirkung<br />
der Akteure als auch die Folgen dieser Einwirkung (Kölbel & Bork, 2012). Neben<br />
den genannten können auch die Täter und Täterinnen und deren Angehörige, die<br />
Öffentlichkeit, insbesondere die Medien, und die Verteidigung der Täter und Täterinnen<br />
im Gerichtsverfahren die sekundäre Viktimisierung positiv oder negativ<br />
beeinussen bzw. verhindern oder hervorrufen (Kie & Lamnek, 1986, S. 239).<br />
Die dritte Stufe ist die tertiäre Viktimisierung, die zu einer Verfestigung der<br />
Opferidentität und damit zu einem veränderten Selbstbild führt.<br />
2.4 Reaktionen von Ermittlungsbehörden<br />
Die Polizei ist häu g der erste Kontakt für Betroffene nach einer Tat. Sie wird<br />
vom Opfer selbst oder von Zeugen und Zeuginnen verständigt und trifft in diesem<br />
Fall zum Teil noch am Tatort auf die Kon iktparteien. Die Geschädigten erwarten<br />
dabei von der Polizei, dass sie als Opfer ernst genommen werden, Gehör und<br />
Beachtung nden und konkrete Hilfe erfahren (Haupt, Weber & Bürner, 2003,
486 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
S. 60). Ein Problem besteht dabei in den unterschiedlichen Betrachtungs- und Herangehensweisen<br />
von Polizei und Betroffenen. Für Letztere ist klar, dass sie das<br />
Opfer der Tat sind. Die Polizei hingegen muss zunächst versuchen, die Situation<br />
unabhängig zu beurteilen. Zu ihrem Auftrag gehört es, vor Ort Be- und Entlastendes<br />
zusammenzutragen. Weiterhin zählen für sie derartige Situationen eher zum<br />
Berufsalltag, während die Betroffenen mit einem einschneidenden Erlebnis konfrontiert<br />
sind (Bolick, 2010, S. 44). Weiterer Kontakt mit der Polizei ergibt sich für<br />
die Betroffenen bei eventuellen Zeugenaussagen oder der Erstattung einer Anzeige.<br />
Das geschieht meist kurze Zeit nach der Tat auf der zuständigen Dienststelle.<br />
Sekundäre Viktimisierung kann im Umgang mit der Polizei ebenso wie im<br />
sozialen Umfeld aus Bagatellisierungen, unsensiblem Verhalten und Mitschuldvorwürfen<br />
resultieren. Ein sensibles, verständnisvolles Vorgehen ist auch unter<br />
Beibehaltung von Distanz und Sachlichkeit möglich, ebenso das Ansprechen<br />
von Widersprüchlichkeiten, ohne eine Vorwurfshaltung einzunehmen (Fröhlich-<br />
Weber, 2008, S. 75). Das ist vor allem im Umgang mit traumatisierten Personen<br />
wichtig, denen es mitunter schwerfällt, über das Erlebte zu sprechen, oder die sich<br />
(partiell) nicht mehr an den Vorfall erinnern (Rothkegel, 2013, S. 268). Besondere<br />
Schwierigkeiten können sich durch Sprach- und Kulturbarrieren bei Opfern rassistischer<br />
Gewalt ergeben (Haupt et al., 2003, S. 61; Bolick, 2010, S. 44). Ein erhöhtes<br />
Risiko sekundärer Viktimisierung besteht im Falle von fahrlässigem oder absichtlichem<br />
Fehlverhalten der Polizei, in Form von stigmatisierendem oder beleidigendem<br />
Verhalten gegenüber den Opfern, oder wenn Einzelpersonen oder Gruppen<br />
(vermeintlich) aus dem Polizeialltag bekannt sind und als polizeifeindlich gelten<br />
oder bereits als Täter oder Täterinnen in Erscheinung traten und ihnen deswegen<br />
der Opferstatus versagt wird (Bolick, 2010, S. 45). Viktimologen empfahlen daher<br />
bereits 1986, „gerade solche Vertreter der formellen sozialen Kontrolle mehr als<br />
bisher mit der Problematik der sekundären Viktimisierung vertraut zu machen,<br />
die erfahrungsgemäß im Rahmen ihrer Alltagsroutine weniger mit den Opfern<br />
schwerwiegender Straftaten zu tun haben“(Kie & Lamnek, 1986, S. 252f).<br />
2.5 Folgen von Gewalterfahrungen<br />
Obwohl die Tatmotive bei rechter Gewalt in der Weltanschauung der Täter oder<br />
Täterinnen zu suchen sind und Betroffene für ihr Leiden in Folge der Viktimisierung<br />
nicht verantwortlich sind, tendieren Gewaltopfer dazu, auf der Suche nach<br />
Erklärungen und Ursachen nach Schuld in der eigenen Person zu suchen. Gerade<br />
die scheinbare Irrationalität rechter Gewalt lässt Betroffene umso rastloser nach<br />
Gründen der Gewalterfahrung fragen. Dabei hängt es entscheidend von der Art
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
487<br />
und Weise des Umganges durch Erstkontakte (oft die Polizei) und das nahe soziale<br />
Umfeld (zum Beispiel Familie, Freunde und Freundinnen, Kollegen und<br />
Kolleginnen) sowie von der Verfügbarkeit professioneller Unterstützung ab, wie<br />
das Gewaltopfer die eigene Viktimisierung interpretiert und verarbeitet: Ob dem<br />
Opfer die Schuld oder eine Mitschuld an einer Gewalterfahrung vermittelt wird,<br />
hat Einuss auf sein Selbstbild und Verhalten nach der Tat. Weil weltanschauliche<br />
Tatmotive oft wenig greifbar sind, besteht die Gefahr, Eskalationsgründe im Verhalten<br />
der Opfer zu suchen. Die Gefahr sekundärer und tertiärer Viktimisierung<br />
bei Opfern rechter Gewalt ist daher besonders groß. Dies erfordert vom sozialen<br />
Umfeld und den fallrelevanten Akteuren ein hohes Maß an Sensibilität. Für die<br />
Beratungspraxis für Opfer rechter Gewalt steht dieser Aspekt im Vordergrund:<br />
Betroffene werden „nicht aufgrund individueller Faktoren, sondern wegen ihrer<br />
Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen, kulturellen, sozialen oder politischen<br />
Gruppen Opfer von gruppenbezogener Gewalt“ (Thüringer Hilfsdienst für Opfer<br />
rechter Gewalt, 2009, S. 16). Weiterhin werden Betroffene zumeist unverhofft zum<br />
Opfer. Das heißt, der Tat gehen keine Provokationen seitens des Opfers voraus,<br />
sie geschieht nicht aufgrund persönlicher Differenzen oder Interessenkon ikte,<br />
sondern basiert auf Ungleichwertigkeitsvorstellungen aufseiten der Täter und Täterinnen.
488 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
Abbildung 1 Prozessmodell nicht begleiteter rechtsmotivierter Viktimisierung<br />
Das heuristische Prozessmodell in Abbildung 1 verdeutlicht die Folgen nicht begleiteter<br />
Viktimisierung von schwachen Gruppen in der Gesellschaft. Mit der primären<br />
Viktimisierung – der Opferwerdung einer Person, einer Gruppe oder Organisation<br />
durch einen oder mehrere Täter (Kie & Lamnek, 1986, S. 170) – wird das<br />
Opfer direkt geschädigt. Zudem können sekundäre und tertiäre Viktimisierungen<br />
eintreten. Mit der Tat wird zudem eine Botschaft der Einschüchterung an diejenige<br />
soziale Gruppe kommuniziert, welcher der oder die Betroffene durch die Täter<br />
oder Täterinnen zugerechnet wird (beispielsweise Asylsuchende, Punks …). Gesellschaftlich<br />
werden die Gleichwertigkeit der Menschen sowie ihr universelles<br />
Recht auf Unversehrtheit infrage gestellt.<br />
Zusätzlich sind auch die Reaktionen der von der Gewalttat provozierten Akteure<br />
entscheidend: Wie geht der oder die Betroffene mit der Viktimisierung um? Wie<br />
nimmt die durch die Tat viktimiserte Gruppe den Angriff auf? Wie reagiert die<br />
Gesellschaft auf die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte von Individuen? Art<br />
und Weise des Umganges können die individuellen, kollektiven und sozialen Negativfolgen<br />
der Gewalttat im Weiteren abschwächen oder verstärken. Entsteht bei<br />
dem oder der Betroffenen und dessen sozialer Gruppe der Eindruck, allein gelassen<br />
zu werden und mit der Tat unter der schwebenden Drohung der Wiederholung
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
489<br />
selbst fertig werden zu müssen, kann dies dazu führen, dass das Vertrauen in die<br />
Gesellschaft schwindet und Betroffene Möglichkeiten zum Selbstschutz suchen,<br />
beispielsweise indem sie sich bewaffnen. Eine Eskalation von Konfrontationsgewalt<br />
aufgrund mangelnder Opferunterstützung als Ausdruck der „Mängel in der<br />
staatlichen <strong>Rechtsextremismus</strong>bekämpfung“ (Roth, 2010, S. 29) ist eine mögliche<br />
Folge. Durch versagte Unterstützung oder die Erfahrung negativer Diskriminierung<br />
im Nachtatsbereich kann ein Keil zwischen Opfer, deren soziale Gruppe und<br />
die Gesellschaft getrieben werden, indem Differenzen betont und Machtgefälle<br />
verfestigt werden. Wird dies durch potenzielle Täter und Täterinnen entsprechend<br />
wahrgenommen, fühlen diese sich in der Selbstwahrnehmung als Vollzieher der<br />
Mehrheitsmeinung bestätigt und im ärgsten Fall zu (weiteren) Taten motiviert.<br />
Unterbrochen werden können dieser Kreislauf und das Leiden der auf diese Weise<br />
Ausgegrenzten durch die Aufhebung des Machtverhältnisses zwischen jenen,<br />
die sich aufgrund ihrer (vermeintlichen) Machtposition zur Abwertung, Unterdrückung<br />
und Schikane berechtigt und befähigt sehen und jenen, die nicht als gleichwertig<br />
anerkannt werden. Es wird hier die These vertreten, dass je stärker die<br />
soziale Unterstützung und Solidarität ist, welche die Betroffenen erfahren und je<br />
entschiedener rechte Gewalt geächtet wird, desto effektiver können negative Folgen<br />
vermieden und das Ausmaß rechter Gewalt langfristig reduziert werden.<br />
2.6 Wirkungsweisen der Opferunterstützung<br />
Abbildung 2 zeigt als idealtypisches Modell Wirkungsweisen der Opferunterstützung<br />
bei rechter Gewalt in der Gesellschaft. Erfahren viktimisierte Individuen<br />
und Kollektive unmittelbar nach der primären Opfer-Werdung gelungene Unterstützung<br />
durch Behörden, ihr soziales Umfeld und ggf. professionelle Beratungsdienste,<br />
kann es gelingen, darauf aufbauende Viktimisierungsstufen zu vermeiden.
490 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
Abbildung 2<br />
Idealtypisches Prozessmodell rechtsmotivierter Viktimisierung mit Opferberatung<br />
Betroffenen wird dann – neben der Einschüchterung durch den Täter bzw. die<br />
Täterin – auch vermittelt, nicht verantwortlich für die Viktimisierung zu sein und<br />
Folgen nicht allein tragen zu müssen. Die soziale Ächtung der Tat und ihrer weltanschaulichen<br />
Motive stärkt die Betroffenen, ihre soziale Integration und delegitimiert<br />
die Gewalt der Täter und Täterinnen. Den Gewaltopfern fällt es auf diese<br />
Weise leichter, die Tat zu verarbeiten, ohne dass eine Distanz zur Gesellschaft<br />
entsteht. Durch die öffentliche Vertretung der Opferinteressen können zudem verdrängte<br />
Ungleichwertigkeitszuschreibungen und Ungleichbehandlungen mit dem<br />
Ziel problematisiert werden, schwache Gruppen gesellschaftlich gleichzustellen.<br />
Mit der sozialen Macht von abgewerteten Gruppen steigt für potenzielle Gewalttäter<br />
und -täterinnen das Risiko, während ihre subjektive Überlegenheit und die<br />
imaginierte Legitimität der Diskriminierung schwacher Gruppen abnehmen. In<br />
der gesellschaftlichen Debatte, der behördlichen Praxis und bei der Konzeption<br />
von Maßnahmen zur Prävention von rechter Gewalt und der Unterstützung von<br />
Betroffenen ist daher von herausragender Wichtigkeit, die Viktimisierungsfolgen<br />
für die Betroffenen zu minimieren, deren Wahrnehmungen ernst zu nehmen sowie<br />
die Bedeutung der Tat für das Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft zu
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
491<br />
thematisieren: Denn rechte Gewalt vermittelt „sowohl dem Opfer als auch dessen<br />
Gruppe, dass sie nicht willkommen sind, dass sie kein Recht auf volle Partizipation<br />
am Leben in der Gesellschaft haben sollen“ (OSCE/ODIHR, 2008, zitiert in:<br />
Finke, 2010, S. 207).<br />
3 Untersuchungsdesign und -methode<br />
3.1 Datenerhebung<br />
Die Daten der vorliegenden Studie wurden mithilfe von standardisierten Telefoninterviews<br />
erhoben, welche vom Frühling bis Frühsommer 2014 geführt wurden.<br />
Die Interviewer und Interviewerinnen waren ausführlich geschulte, auf Honorarbasis<br />
entlohnte Studierende der Sozialwissenschaften mit thematischem Interesse<br />
am Arbeitsfeld. Die Telefoninterviews dauerten im Durchschnitt 35 Minuten<br />
(20 bis 75 Minuten) und die Erfassung der Daten verlief computergestützt. Die<br />
Antworten der Befragten wurden anschließend mittels des Statistik-Software-Programms<br />
SPSS 21.0 analysiert.<br />
3.2 Aufbau des Fragebogens<br />
Der Fragebogen umfasste insgesamt 131 Fragen, von denen im Folgenden nur ein<br />
Teil genauer betrachtet wird. Unter anderem wurden Wahrnehmungen des polizeilichen<br />
Handelns in und direkt nach der Tatsituation erfragt. Als Antwortformate<br />
wurde je nach Frage oder Aussage meist der Grad der Zustimmung auf einer 5-stu-<br />
gen Skala mit „stimme völlig zu“ „stimme eher zu“, „teils/teils“, „lehne eher<br />
ab“ und „lehne völlig ab“ vorgegeben, zusätzlich gab es die Option „weiß nicht“<br />
3<br />
und die Möglichkeit, gar nicht zu antworten. Abschließend wurden im Fragebogen<br />
einige soziodemograsche Daten (zum Beispiel Alter, Staatsangehörigkeit,<br />
Migrationsstatus) erhoben.<br />
3 In den entsprechenden folgenden Textabschnitten sind die gestellten Fragen bzw. Aussagen<br />
jeweils ausformuliert und »kursiv« dargestellt.
492 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
3.3 Akquise der Stichprobe<br />
Der Zugang zu den Interviewpartnern und -partnerinnen erfolgte über die Thüringer<br />
Opferberatungsstelle ezra 4 . Ursprünglich wurden 107 Betroffene, Zeugen<br />
und Zeuginnen telefonisch kontaktiert. Darunter gab es 5 Personen, die auch nach<br />
mehrmaligen Versuchen telefonisch nicht erreicht werden konnten. In insgesamt<br />
8 Fällen wären die Interviews nicht in deutscher Sprache möglich gewesen, wobei<br />
die Übersetzung des Interviewinstrumentes im Rahmen der Untersuchung nicht<br />
zu nanzieren war. Zudem gab es mehrere Personen, die aus verschiedenen persönlichen<br />
Gründen nicht zur Teilnahme an der Studie bereit waren. So nannten die<br />
Befragten unter anderem, dass sie befürchteten, durch die Befragung wieder an<br />
die traumatischen Erlebnisse erinnert zu werden; sie gaben an, aktuell zu vielen<br />
psychischen Belastungen unterworfen zu sein; dass sie keine Zeit hätten oder sie<br />
waren in Einzelfällen bereits ins Herkunftsland zurückgezogen, wie über Dritte<br />
(Freunde oder Freundinnen der Betroffenen oder Kooperationspartner von ezra)<br />
zu erfahren war. Insgesamt bilden N=44 vollständige Interviews die Grundlage<br />
der folgenden statistischen Auswertungen.<br />
3.4 Beschreibung der Stichprobe<br />
Von den 44 Befragten waren 33 Personen männlich (das entspricht 75% der Stichprobe)<br />
und 11 Personen weiblich (25%). Das Alter der Befragten lag zwischen 15<br />
und 60 Jahren mit einem Mittelwert bei 33 Jahren (wobei von einer Person keine<br />
Angaben vorlagen). Die meisten Betroffenen waren zwischen 22 und 28 Jahre alt.<br />
41 der Befragten (also 93%) hatten die deutsche Staatsangehörigkeit, 3 weitere gaben<br />
russische, türkische oder sudanesische Staatsangehörigkeit an. Auf die Frage<br />
„Sind Sie oder Ihre Eltern (oder Großeltern) im Ausland geboren?“ antworteten<br />
10 der Befragten mit „ja“ (23%), 34 Personen mit „nein“ (77%). Die Frage nach<br />
der „derzeitigen beru ichen Situation“ ergab 22 „Angestellte“ (50%), 7 „Arbeiter/Arbeiterinnen“<br />
(16%), 6 „Arbeitslose“ (14%), 5 „Studierende“ (11%) sowie 1<br />
„Auszubildende“, 1 „Freiberu er“, 1 „Schüler“ und 1 „Unternehmer“.<br />
4 ezra (www.ezra.de) ist die mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer<br />
Gewalt in Thüringen. Beraten, begleitet und unterstützt werden von ezra<br />
Menschen, die aus Motiven gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit angegriffen<br />
werden – also deshalb, weil die Täter und Täterinnen sie einer von ihnen abgelehnten<br />
Personengruppe zuordnen.
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
493<br />
4 Ergebnisse<br />
4.1 Wahrnehmungen der Polizei in der Tatsituation<br />
Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie dargestellt. Zunächst widmen wir<br />
uns der Frage, wie Betroffene das polizeiliche Handeln unmittelbar nach den rechten<br />
Gewalttaten erfahren und bewerten. Die entsprechenden Fragen beschäftigten<br />
sich mit der subjektiven Sicht der Betroffenen auf die Arbeit der Polizei während<br />
und direkt nach dem Vorfall. Diese Fragen wurden nur jenen 32 Personen gestellt,<br />
die vorher angegeben hatten, gleichzeitig mit der Polizei in der Tatsituation gewesen<br />
zu sein. Zusammenfassend sind die Ergebnisse in Abbildung 3 dargestellt,<br />
danach werden sie im Einzelnen detaillierter vorgestellt.<br />
"IchfühltemichvonderPolizeivorOrt<br />
alsBetroffenerernstgenommen."<br />
25<br />
16<br />
9<br />
25<br />
22<br />
3<br />
"DiePolizeitbeamtenhörtenmirkaum<br />
zu."<br />
9<br />
19<br />
9<br />
19<br />
37<br />
6<br />
"DerPolizeiwarklar,dassichder/die<br />
BetroffenederGewalttatwar."<br />
25<br />
25<br />
3<br />
16<br />
19<br />
6<br />
6<br />
"InsgesamthabendiePolizistenmich<br />
anständigbehandelt."<br />
19<br />
34<br />
16<br />
12<br />
12<br />
6<br />
"DiePolizeibeamtengingenohne<br />
Vorurteileaufmichzu."<br />
16<br />
25<br />
12<br />
12<br />
22<br />
9<br />
3<br />
"AllesinAllemerfülltendiePolizisten<br />
ihrePflicht,vorOrtBelastendesund<br />
EntlastendesfüreineTatbeteiligungzu<br />
finden."<br />
22<br />
31<br />
3<br />
19<br />
16<br />
6<br />
3<br />
0 20 40 60 80 100<br />
stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe<br />
Abbildung 3 Wahrnehmungen der Polizei in der Tatsituation (N=32) in Prozent 5<br />
5 Durch Rundungsfehler ergeben die Prozentsummen auch in den folgenden Abbildungen<br />
manchmal 99 % oder 101 %.
494 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
Die Aussage „Ich fühlte mich von der Polizei vor Ort als Betroffener ernst genommen.“<br />
wurde von 13 Personen (41%) zustimmend, von 3 Personen (9%) mit<br />
„teils/teils“ und von 15 Personen (47%) ablehnend beantwortet. Das heißt, weniger<br />
als die Hälfte der befragten Personen fühlte sich nach dem Vorfall von den am<br />
Einsatzort aktiven Polizisten und Polizistinnen ernst genommen.<br />
Die Aussage „Die Polizeibeamten hörten mir kaum zu.“ beantworteten 9 Personen<br />
(28%) mit Zustimmung, 3 Personen (9%) mit „teils/teils“ und 18 Personen<br />
(56%) mit Ablehnung. Somit ist über ein Drittel der Befragten der Meinung, dass<br />
die Polizeibeamten und -beamtinnen ihnen kaum zugehört haben.<br />
Der Aussage „Der Polizei war klar, dass ich der/die Betroffene der Gewalttat<br />
war.“ stimmten 16 Personen (50%) zu, 1 Person antwortete mit „teils/teils“ und<br />
11 Personen (34%) lehnten sie ab. Folglich hatte die Hälfte der befragten Personen<br />
kurz nach der Tat nicht das Gefühl, dass die Polizei vor Ort sie als Betroffene der<br />
Gewalttat betrachtete.<br />
Die Aussage „Insgesamt haben die Polizisten mich anständig behandelt.“<br />
wurde von 17 Personen (53%) mit Zustimmung, von 5 Personen (16%) mit „teils/<br />
teils“ und von 8 Personen (25%) mit Ablehnung beantwortet. Dementsprechend<br />
fühlte sich ein Viertel der Befragten durch die Polizei nicht anständig behandelt.<br />
Die nächste Aussage „Die Polizeibeamten gingen ohne Vorurteile auf mich<br />
zu.“ wurde von 13 Personen (41%) mit Zustimmung, von 4 Personen (12%) mit<br />
„teils/teils“, und von 11 Personen (34%) mit Ablehnung beantwortet, wobei 3 Personen<br />
(9%) „weiß nicht“ angaben. Mehr als die Hälfte der Befragten hatte demnach<br />
teilweise oder vollständig das Gefühl, mit Vorurteilen seitens der Polizeibeamten<br />
und -beamtinnen konfrontiert zu sein.<br />
Die Aussage „ Alles in allem erfüllten die Polizisten ihre P icht, vor Ort Belastendes<br />
und Entlastendes für eine Tatbeteiligung zu nden.“ wurde von 17 Personen<br />
(53%) mit Zustimmung, von 1 Person mit „ teils/teils“, und von 11 Personen<br />
(34%) mit Ablehnung beantwortet, wobei 2 Personen (6%) „ weiß nicht“ angaben.<br />
Folglich war die Mehrzahl der Betroffenen der Meinung, die Polizei hat vor Ort<br />
ihre Picht erfüllt, während ein Drittel dem widersprach.<br />
Insgesamt zeigt sich, dass ungefähr jeder Zweite sich in der Tatsituation durch<br />
die Polizei nicht ernst genommen fühlte und nicht das Gefühl hatte, die Polizei behandle<br />
ihn als Betroffenen der Gewalttat. Jeder Vierte fühlte sich durch die Polizei<br />
nicht anständig behandelt und jeder Zweite sah sich mit Vorurteilen seitens der<br />
Polizeibeamtinnen und -beamten konfrontiert. Zudem teilte jeder Dritte nicht die<br />
Ansicht, die Polizisten und Polizistinnen hätten vor Ort ihre Picht erfüllt, Be- und<br />
Entlastendes für eine Tatbeteiligung zu nden.<br />
Zwei weitere Fragen beschäftigten sich mit Wahrnehmungen der Betroffenen<br />
bzgl. der Anerkennung des politischen Tatmotivs durch die Polizei. Diese Er-
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
495<br />
gebnisse sind zusammenfassend in Abbildung 4 dargestellt und werden nun im<br />
Einzelnen kurz beschrieben. Die Aussage „Den Polizisten war wichtig, den politischen<br />
Hintergrund der Tat aufzuklären.“ wurde von 9 Personen (28%) zustimmend,<br />
von 3 Personen (9%) mit „teils/teils“, und von 18 Personen (56%) ablehnend<br />
beantwortet. Das heißt, nur weniger als ein Drittel war der Meinung, die Polizei sei<br />
am politischen Hintergrund der Tat interessiert gewesen.<br />
Diese Sichtweise bestätigen auch die Reaktionen der Befragten auf die Aussage<br />
„Die Polizeibeamten ignorierten das politische Motiv der Tat.“. 18 Personen<br />
(56%) wählten hier zustimmende Antworten, 12 Personen (38%) ablehnende. Folglich<br />
fand diese Aussage die Zustimmung von mehr als der Hälfte der Befragten.<br />
Zusammenfassend muss also diesbezüglich konstatiert werden, dass mehr als die<br />
Hälfte der Befragten bezweifelte, dass die Polizeibeamten und -beamtinnen in der<br />
Tatsituation wirklich an der Aufklärung der politischen Tathintergründe interessiert<br />
waren.<br />
"DenPolizistenwarwichtig,<br />
denpolitischenHintergrund<br />
derTataufzuklären."<br />
16<br />
12 9<br />
12<br />
44<br />
6<br />
"DiePolizeibeamten<br />
ignoriertendaspolitische<br />
MotivderTat."<br />
40<br />
16<br />
19<br />
19<br />
6<br />
0 20 40 60 80 100<br />
stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe<br />
<br />
Abbildung 4 Einschätzung der Befragten bezüglich der Anerkennung des politischen<br />
Motivs der Tat durch die Polizei (N=32) in Prozent<br />
4.2 Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei<br />
in der Tatsituation<br />
Wahrnehmungen sekundärer Viktimisierung wurden durch weitere 5 Fragen an<br />
jene 32 Personen erfasst, die gleichzeitig mit der Polizei in der Tatsituation waren.<br />
Die Ergebnisse sind zusammenfassend in der folgenden Abbildung 5 dargestellt<br />
und werden anschließend genauer beschrieben.
496 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
"VorOrthabenmichdie<br />
Polizistenbehandelt,alsseiich<br />
dereigentlicheTäter."<br />
12<br />
9<br />
22<br />
53<br />
3<br />
"IchfühltemichvonderPolizei<br />
behandeltwieeinMensch<br />
zweiterKlasse."<br />
31<br />
3<br />
6<br />
19<br />
37<br />
3<br />
"DiePolizistenzeigten<br />
SympathienfürdieTäter."<br />
3<br />
6<br />
3<br />
19<br />
56<br />
12<br />
"IchfühltemichvonderPolizeiin<br />
meinemMenschenrechten<br />
verletzt."<br />
19<br />
6<br />
16<br />
56<br />
3<br />
"DurchVorwürfederPolizisten<br />
fühlteichmicherneut<br />
geschädigt."<br />
16<br />
12<br />
3 3<br />
62<br />
3<br />
0 20 40 60 80 100<br />
stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe<br />
Abbildung 5<br />
Wahrnehmungen der Polizei in der Tatsituation (N=32) in Prozent<br />
Auf die Aussage „Vor Ort haben mich die Polizisten behandelt, als sei ich der<br />
eigentliche Täter.“ reagierten 7 Personen (22%) mit Zustimmung und 24 Personen<br />
(75%) mit Ablehnung. Diese Befunde zeigen, dass über ein Fünftel der Befragten<br />
sich durch die Polizei als Täter und Täterin und nicht als Opfer einer Straftat behandelt<br />
fühlte.<br />
Die Aussage „Ich fühlte mich von der Polizei behandelt wie ein Mensch zweiter<br />
Klasse.“ beantworteten 11 Personen (34%) zustimmend, 2 Personen (6%) mit<br />
„teils/teils“ und 18 Personen (56%) ablehnend. Insofern hatte über ein Drittel der<br />
Befragten das Gefühl einer zweitklassigen Behandlung.<br />
Die Aussage „Die Polizisten zeigten Sympathien für die Täter.“ wurde von 3<br />
Personen (9%) mit Zustimmung, von 1 Person mit „teils/teils“ und von 24 Personen<br />
(75%) mit Ablehnung beantwortet. Somit hatten 4 Personen, also 12% der<br />
Stichprobe, den mehr oder weniger starken Eindruck, die Täter bzw. Täterinnen<br />
hätten Sympathien seitens der Polizei genossen.<br />
Auf die Aussage „Ich fühlte mich von der Polizei in meinen Menschenrechten<br />
verletzt.“ reagierten 8 Personen (25%) zustimmend und 23 Personen (72%) ablehnend.<br />
Folglich berichtete ein Viertel der Befragten hier von dem Gefühl, in der<br />
Tatsituation durch die Polizei in ihren Menschenrechten verletzt worden zu sein.<br />
Die Aussage „Durch Vorwürfe der Polizisten fühlte ich mich erneut geschädigt.“<br />
wurde von 9 Personen (28%) mit Zustimmung, von 1 Person mit „teils/<br />
teils“, von 21 Personen (66%) mit Ablehnung beantwortet. Somit fühlten sich 10
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
497<br />
Personen, also knapp ein Drittel der Befragten, durch Vorwürfe der Polizisten oder<br />
Polizistinnen erneut geschädigt. Insgesamt zeigen diese Ergebnisse, dass sich zwischen<br />
12% und 34% der Befragten durch verschiedene Aspekte des Verhaltens der<br />
Polizeibeamten und -beamtinnen in der Tatsituation erneut viktimisiert fühlten.<br />
4.3 Wahrnehmung der Polizei im Nachtatsbereich<br />
Anschließend wurden vier weitere Fragen zu Wahrnehmungen der Polizeibeamten<br />
und -beamtinnen im Nachtatsbereich, also bei Zeugenaussagen nach dem ursprünglichen<br />
Vorfall, gestellt. Die Fragen und Antworten der 39 Personen, die<br />
solche Zeugenaussagen gemacht haben, sind zusammenfassend in Abbildung 6<br />
dargestellt und werden im Folgenden detailliert betrachtet.<br />
"IchfühlemichdurchdasAuftretenvon<br />
Polizisteneingeschüchtert."<br />
8<br />
18<br />
5<br />
18<br />
51<br />
"IchfühlemichvonderPolizeiungerecht<br />
behandelt."<br />
8<br />
18<br />
21<br />
26<br />
28<br />
"IchhattedenEindruck,diePolizisten<br />
wolltensichnichtmitdenMotivendes<br />
Vorfallsauseinandersetzen."<br />
38<br />
21<br />
15<br />
21<br />
5<br />
"DiePolizistenhabenmirnahegelegt,<br />
niemandenvondemVorfallzuerzählen."<br />
3 3<br />
13<br />
82<br />
"Polizistenhabenmirvorgeworfen,<br />
selberSchuldfürdieEskalationder<br />
Situationgewesenzusein."<br />
5<br />
13<br />
3<br />
15<br />
64<br />
0 20 40 60 80 100<br />
stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe<br />
Abbildung 6 Wahrnehmungen der Polizei im Nachtatsbereich (N=39) in Prozent<br />
<br />
Die Aussage „Ich fühlte mich durch das Auftreten von Polizisten eingeschüchtert.“<br />
wurde von 10 Personen (26%) bejaht, 2 Personen (5%) wählten die Antwortmöglichkeit<br />
„teils/teils“ und 27 Personen (69%) haben dies abgelehnt. Demnach<br />
fühlte sich ein Drittel der Befragten durch das Auftreten der Polizeibeamten und<br />
-beamtinnen eingeschüchtert.<br />
Auf die Aussage „Ich fühle mich von der Polizei ungerecht behandelt.“ wurde<br />
von 10 Personen (26%) mit Zustimmung, von 8 Personen (21%) mit „ teils/teils“
498 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
und von 21 Personen (54%) mit Ablehnung reagiert. Insgesamt fühlte sich somit<br />
fast die Hälfte der Befragten im Nachtatsbereich durch die Polizei ungerecht behandelt.<br />
Um zu erfahren, wie die wahrgenommene Bereitschaft der Polizei war, die<br />
rechten Motive der Tat auch im Nachtatsbereich zu erfassen, wurde diese erneut<br />
abgefragt. Auf die Aussage „Ich hatte den Eindruck, die Polizisten wollten sich<br />
nicht mit den Motiven des Vorfalls auseinandersetzen.“ reagierten 23 Personen<br />
(59%) mit Zustimmung, 14 Personen (36%) mit Ablehnung und 2 Personen (5%)<br />
gaben „weiß nicht“ an. So hatten also fast zwei Drittel der Befragten auch im<br />
Nachtatsbereich den Eindruck, eine Auseinandersetzung mit den Tatmotiven sei<br />
für die Polizisten und Polizistinnen nicht von Interesse.<br />
Der Aussage „Die Polizisten haben mir nahegelegt, niemanden von dem Vorfall<br />
zu erzählen.“ stimmten 2 Personen (5%) zu, 37 Personen (95%) lehnten diese<br />
ab. Somit gibt es hier immerhin 2 dokumentierte Fälle, in denen die Polizei empfahl,<br />
den Vorgang geheim zu halten.<br />
Auf die Aussage „Polizisten haben mir vorgeworfen, selber schuld für die<br />
Eskalation der Situation gewesen zu sein.“ reagierten 7 Personen (18%) mit Zustimmung,<br />
1 Person mit „teils/teils“ und 31 Personen (79%) mit Ablehnung. Somit<br />
berichtete ungefähr ein Fünftel der Befragten, von der Polizei mehr oder weniger<br />
stark als Verantwortliche für die Eskalation betrachtet worden zu sein.<br />
Durch die Erfahrung von Gewalt und anschließender sekundärer Viktimisierung<br />
können sich die Einstellungs- und Verhaltensweisen der Betroffenen stark<br />
verändern, ihr Vertrauen in die Institutionen der Demokratie kann leiden.<br />
4.4 Folgen für das Vertrauen in die Institutionen<br />
Oben wurde bereits auf die Folgen nicht verarbeiteter primärer und sekundärer<br />
Viktimisierung für die Betroffenen und auch allgemeiner für den Zusammenhalt<br />
der Gesellschaft hingewiesen. Mittels drei verschiedener Fragen wurde das<br />
Vertrauen in die Bundesregierung, die Gerichte und die Polizei eruiert (siehe Abbildung<br />
7). Auf die Frage „Ich lese Ihnen jetzt eine Reihe von öffentlichen Einrichtungen<br />
vor. Sagen Sie mir bitte bei jeder, ob Sie ihr voll und ganz vertrauen,<br />
weitgehend, teilweise, eher nicht oder gar nicht vertrauen. Wie ist das mit der<br />
Bundesregierung?“ reagierten 15 Personen (34%) mit mangelndem Vertrauen, 19<br />
Personen (43%) mit „teilweise“ vorhandenem Vertrauen und 10 Personen (23%)<br />
vertrauensvoll. Die entsprechende Frage zu „… den Gerichten?“ führte bei 7 Personen<br />
(16%) zur Angabe von Vertrauensmangel, bei 17 Personen (39%) war das<br />
Vertrauen „teilweise“ gegeben und 20 Personen (45%) vertrauten den Gerichten.
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
499<br />
Die analoge Frage in Bezug zu „… der Polizei?“ ergab bei 17 Personen (39%)<br />
einen Mangel an Vertrauen, bei 18 Personen (41%) war das Vertrauen „teilweise“<br />
gegeben, während nur 8 Personen (18%) der Polizei ihr Vertrauen aussprachen.<br />
Insgesamt zeigt sich somit, dass fast die Hälfte der Befragten den Gerichten traute,<br />
aber nur ein Fünftel der Bundesregierung und etwas weniger als ein Fünftel der<br />
Polizei.<br />
"Wieistdasmit<br />
derBundesregierung?"<br />
2<br />
21<br />
43<br />
21<br />
14<br />
"…denGerichten?"<br />
11<br />
34<br />
39<br />
9<br />
7<br />
"…derPolizei?"<br />
7<br />
11<br />
41<br />
16<br />
23<br />
2<br />
0 20 40 60 80 100<br />
stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe<br />
<br />
Abbildung 7<br />
Antworten auf Fragen zum Vertrauen in verschiedene Institutionen (N=44)<br />
in Prozent<br />
Im repräsentativen Thüringen Monitor wird regelmäßig das Institutionenvertrauen<br />
der Thüringer Bevölkerung gemessen. Das entsprechende Item ist identisch mit<br />
dem in der vorliegenden Befragung der Betroffenen rechter Gewalt (Best, Dwars,<br />
Saalheiser & Salomo, 2013, Tabelle A17). Stellt man die Werte des durchschnittlichen<br />
Vertrauens der Thüringer Bevölkerung in die Polizei jenen gegenüber, die<br />
als Opfer rechter Gewalt Erfahrungen mit der Polizei im Freistaat machten, zeigt<br />
sich eine erhebliche Differenz (siehe Abbildung 8). Während 64% der Thüringer<br />
und Thüringerinnen (N=1.012) der Polizei weitgehend oder voll und ganz vertrauen<br />
und weitere 24% der Polizei zumindest teilweise vertrauen, sind es unter den<br />
Betroffenen rechter Gewalt (N=44) nur 18% mit Vertrauen und 41% mit teilweise<br />
vorhandenem Vertrauen. Fast ein Viertel der Befragten hat gar kein Vertrauen,<br />
weitere 16% nur ein geringes. Diese hohe Differenz signalisiert bei Opfern rechter<br />
Gewalt einen besorgniserregenden Vertrauensverlust in die Polizei.
500 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
Prozent<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
41 42<br />
23<br />
24<br />
22<br />
16<br />
11<br />
7<br />
4 5<br />
3 2<br />
garnicht ehernicht teilweise weitgehend vollundganz k.A./weißnicht<br />
ThüringenMonitor2013<br />
OpferrechterGewalt2014<br />
Abbildung 8 Vertrauen in die Polizei bei Opfern rechter Gewalt (N=44) und im repräsentativen<br />
„Thüringen Monitor“ (N=1012) im Vergleich (in Prozent)<br />
<br />
5 Methodenreflexion und Ausblick<br />
für zukünftige Forschung<br />
Mit dieser Studie wurden erstmals in Deutschland quantitativ die Wahrnehmungen<br />
und Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei erhoben. Die<br />
Betroffenen haben ihre Wahrnehmungen in Thüringen gemacht, dennoch ist davon<br />
auszugehen, dass die dargestellten Erfahrungen in dieser oder ähnlicher Form<br />
auch in anderen Bundesländern zu beobachten sind.<br />
5.1 Methodenreflexion<br />
Natürlich hat die Methode dieser Untersuchung – so wie jedes andere Verfahren<br />
auch – ihre Nachteile und Schwächen. Diese sind einerseits in der Stichprobe der<br />
Befragten und andererseits in der ausgewählten Methode begründet.<br />
Nicht alle bei ezra in den letzten Jahren beratenen Opfer konnten erreicht und<br />
befragt werden (siehe oben). Und „inwieweit jene Opfer, die sich zu einer Mitarbeit<br />
bereitnden, für die Gesamtheit der Opfer repräsentativ sind, ist ungeklärt“ (Kie<br />
& Lamnek, 1986, S. 39). Insbesondere durch die Gewalttat stark traumatisierte<br />
Personen sind vermutlich weniger bereit, an solchen Befragungen teilzunehmen,<br />
da sie eine Retraumatisierung befürchten könnten.<br />
Viele Beratungsnehmer und -nehmerinnen von ezra konnten zudem aufgrund<br />
sprachlicher Barrieren nicht befragt werden. In Fällen, bei denen nicht davon aus-
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
501<br />
gegangen werden konnte, dass alle Items des Fragebogens richtig verstanden werden<br />
könnten, unterblieb von vornherein eine Kontaktaufnahme. Somit fand eine<br />
Vielzahl von Fällen insbesondere mit rassistischen Tatmotiven keinen Eingang in<br />
die Befragung, weil die zur Befragung notwendige professionelle Übersetzung des<br />
Fragebogens in verschiedene Sprachen und das Hinzuziehen von Dolmetschern<br />
und Dolmetscherinnen bzw. fremdsprachigen Interviewenden das enge Budget<br />
des Projektes weit überstiegen hätte. Insbesondere rassistisch-diskriminierte Menschen<br />
kommen daher hier gewissermaßen „zu kurz“, obwohl ihre Erfahrungen<br />
und Wahrnehmungen aus verschiedenen Gründen besonders aufschlussreich erscheinen.<br />
Insofern handelt es sich hier explizit nicht um eine repräsentative Stichprobe<br />
der von ezra in den letzten Jahren beratenen Menschen. Es besteht weiterer<br />
Forschungsbedarf.<br />
Zudem hat auch die Gültigkeit der Aussagen der Befragten ihre Grenzen. Insgesamt<br />
werden zwar Ergebnisse von Opferbefragungen für zuverlässiger gehalten<br />
als die von Täterbefragungen. Sie sind dennoch nicht frei von (systematischen)<br />
Verzerrungen: „Da die erfahrene Viktimisierung ein belastendes Erlebnis ist,<br />
dürfte eine Tendenz bestehen, die gesamte Tat oder doch einige ihrer Begleitumstände,<br />
zu verdrängen oder zu beschönigen“ (Kie & Lamnek, 1986, S. 39). Die<br />
Gültigkeit von Opferbefragungen ist vor allem deshalb eingeschränkt, da Vergangenes<br />
erfragt wird und der oder die Interviewte die Fragen als bedrohlich emp-<br />
nden kann. Aufgrund der besonderen Situation und Belastungen der Befragten<br />
kann es zu systematischen Verzerrungen der Erinnerungen an die Tatsituation<br />
kommen. Auch Rationalisierungen, Schuldzuweisungen und Entschuldigungsbestrebungen<br />
spielen eine Rolle und beein ussen die Objektivität der erhobenen<br />
Daten.<br />
Dennoch haben wir uns bei der Gestaltung des Fragebogens für sehr harte<br />
Items entschieden, also für solche Aussagen, die sehr eindeutig und von den Befragten<br />
leicht zu verstehen sind. Die Tendenz zur Beschönigung wie die Härte der<br />
Aussagen, die ein hohes Maß an Zustimmung bei den Befragten benötigen, sind<br />
bei der Interpretation der Daten zu beachten, denn sie führen insgesamt eher zu<br />
einer Unterschätzung der Problemlage.<br />
6 Zusammenfassung<br />
Die vorliegende Studie konnte die anfangs gestellten Fragen mit empirischen Antworten<br />
versehen. Deutlich wird aber auch der hohe Bedarf, diesen Bereich künftig<br />
weiter zu erforschen. Mit der Untersuchung werden erste, empirisch untersetzte<br />
Befunde vorgelegt für a) ein besseres Verständnis der Situation von Betroffenen
502 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
rechter Gewalt und b) die Aufdeckung struktureller Probleme im Umgang der<br />
Polizei damit. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie zusammenfassend<br />
dargestellt und auf die Ausgangsfragen bezogen.<br />
Das polizeiliche Handeln in der Tatsituation ist aus Sicht der Befragten sehr<br />
problematisch. So fühlte sich ungefähr jeder Zweite in der Tatsituation durch die<br />
Polizei nicht ernst genommen und hatte nicht das Gefühl, die Polizei behandle sie<br />
oder ihn als die Betroffenen der Gewalttat. Jeder Vierte fühlte sich durch die Polizei<br />
nicht anständig behandelt und jeder Zweite sah sich mit Vorurteilen konfrontiert.<br />
Zudem war jeder Dritte nicht der Ansicht, die Polizisten und Polizistinnen<br />
hätten vor Ort Ihre P icht erfüllt, Be- und Entlastendes für eine Tatbeteiligung<br />
zu nden. Bis zu einem Drittel der Befragten fühlte sich in der Tatsituation durch<br />
verschiedene andere Aspekte des Verhaltens der Polizeibeamten und -beamtinnen<br />
erneut viktimisiert, zum Beispiel als Täter bzw. Täterin (statt als Opfer) oder<br />
als Mensch zweiter Klasse behandelt oder in ihren oder seinen Menschenrechten<br />
verletzt. Mehr als die Hälfte der Befragten bezweifelte zudem, dass die Polizei<br />
in der Tatsituation wirklich an der Aufklärung der politischen Tathintergründe<br />
interessiert war.<br />
Auch im Nachtatsbereich wurde die Arbeit der Polizei häu g kritisiert. Ein<br />
Drittel der Befragten fühlte sich durch das Auftreten der Polizisten und Polizistinnen<br />
eingeschüchtert, fast die Hälfte ungerecht behandelt und auch hier entstand<br />
in mehr als der Hälfte der Fälle der Eindruck, die Polizei wolle sich nicht mit den<br />
Motiven des Vorfalls auseinandersetzen. Zudem berichtete ungefähr ein Fünftel<br />
der Befragten, von der Polizei als Verantwortliche für die Eskalation betrachtet<br />
worden zu sein.<br />
Bei der Aufarbeitung ihrer Viktimisierung wurde die Polizei von den Befragten<br />
nicht als hilfreich wahrgenommen, stattdessen erfuhren die Betroffenen eine<br />
sekundäre Viktimisierung, zum Beispiel indem sie durch die Polizei wie Täter<br />
bzw. Täterinnen behandelt oder für die Eskalation selbst verantwortlich gemacht<br />
wurden, oder weil es scheinbar kein Interesse seitens der Polizei gab, rechte Motive<br />
der Tat aufzuklären.<br />
Die Befunde zeigen, dass es sich bei den meisten der geschilderten Probleme<br />
nicht um Einzelfälle handelte, sondern es waren mehrere oder viele Personen davon<br />
betroffen. Es ist ein Verdienst dieser Studie, dies durch die standardisierte<br />
Befragung von 44 betroffenen Personen empirisch erfasst zu haben.
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?<br />
503<br />
7 Resümee<br />
Mit der Enttarnung des rechtsterroristischen NSU und der gesellschaftspolitischen,<br />
öffentlichen und juristischen Aufarbeitung der Faktoren, die zu der über ein Jahrzehnt<br />
hinweg nicht erkannten rechtsextremen Mord- und Raubserie geführt haben,<br />
hat die Debatte um rechte Gewalt und die Rolle der Ermittlungsbehörden an Fahrt<br />
gewonnen. Parlamentarische Untersuchungsgremien im Bund und in mehreren<br />
Bundesländern haben ausführliche Dokumentationen, Problembeschreibungen und<br />
Empfehlungen für Reformen des Sicherheitsapparates vorgelegt – mit dem Ziel, die<br />
Effektivität der Verfassungsschutzämter und der Polizei zu verbessern und somit<br />
die Kontrollfähigkeit über Täter und Täterinnen zu erhöhen. Während in anderen<br />
westlichen Staaten unabhängige Kommissionen, Medien, Zivilgesellschaft und<br />
Wissenschaft die Debatte über polizeilichen Rassismus zu den Ursachen führen,<br />
werden hierzulande die strukturellen und inneren Gründe polizeilichen Fehlverhaltens<br />
noch immer in erschreckendem Maße bagatellisiert, ignoriert oder als „Einzelfälle“<br />
abgetan. Die Perspektive der davon betroffenen Personen und Gruppen<br />
nimmt – trotz der aufrüttelnden Erfahrungsberichte und Erkenntnisse im Zusammenhang<br />
mit den Ermittlungen zur NSU-Mordserie – keine zentrale Rolle ein. Die<br />
nun vorliegende Studie leistet Pionierarbeit in der Darstellung davon, wie sich Betroffene<br />
rechter Gewalt fühlen und welche Erfahrungen sie mit der Polizei machen.<br />
Auf den vorherigen Seiten ist eines evident geworden: Negative Erfahrungen derjenigen,<br />
die als Opfer rechter Gewalt Hilfe suchen, sind keine Einzelfälle.<br />
8 Ausblick für die Forschung<br />
Die vorliegende Pilotstudie zeigt die Potenziale für die Erforschung der Erfahrungen<br />
der von Diskriminierung und Gewalt Betroffenen, indem sie denen, die häu-<br />
g nicht gehört werden, durch empirische Forschung eine Stimme gibt. Künftige<br />
Forschungen sollten auf die Dynamiken der Viktimisierung fokussieren sowie die<br />
Genese von Ungleichwertigkeitsvorstellungen aufhellen. So könnten bisher kaum<br />
genutzte Werkzeuge und Zugänge für die Präventions- und Interventionspraxis<br />
(weiter-)entwickelt werden. Für die Forschung sind interessante Befunde über das<br />
Mit- und Gegeneinander sozialer Gruppen in der Gesellschaft zu erwarten. Tiefer<br />
gehende Untersuchungen müssten größere, überregionale Stichproben von durch<br />
rechte Gewalt betroffenen Personen erheben. Dazu ist eine enge Zusammenarbeit<br />
mit den Opferberatungen und (migrantischen) Selbstorganisationen nötig. Zu berücksichtigen<br />
sind dabei auch die besonderen Herausforderungen bei der Befragung<br />
von nicht deutschsprachigen Menschen und die daraus folgende Notwendigkeit,<br />
kohärente Messinstrumente in unterschiedlichen Sprachen zu entwickeln.
504 Daniel Geschke und Matthias Quent<br />
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505<br />
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Westfälisches Dampfboot.<br />
Thüringer Hilfsdienst für Opfer rechter Gewalt (THO) (2009). Thüringer Tatorte: rechtsextreme<br />
Gewalt in Thüringen; Informationen und Handlungsmöglichkeiten. Jena.
Autorenverzeichnis<br />
Becker, Reiner, Dr.; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps Universität<br />
Marburg und Leiter des Demokratiezentrums im beratungsNetzwerk hessen.<br />
Best, Heinrich, Prof. em. Dr.; Institut für Soziologie und Vorsitzender des Kompetenzzentrums<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> der Friedrich-Schiller-Universität Jena.<br />
Beutel, Wolfgang, Dr. phil., Mitbegründer und Geschäftsführer des Förderprogramms<br />
„Demokratisch Handeln“ und Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft<br />
für Demokratiepädagogik.<br />
Edler, Kurt, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik<br />
und Leiter des Referats Gesellschaft am Landesinstitut für Lehrerbildung und<br />
Schulentwicklung in Hamburg.<br />
Feldmann, Dorina; Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische<br />
Studien (Universität Potsdam) im Forschungsprojekt „Überprüfung<br />
umstrittener Altfälle ‚Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg‘“.<br />
Frindte, Wolfgang, Prof. Dr.; Leiter der Abteilung Kommunikationspsychologie<br />
am Institut für Kommunikationswissenschaft und Mitglied im Direktorium des<br />
Kompetenzzentrums <strong>Rechtsextremismus</strong> der Friedrich-Schiller-Universität Jena.<br />
W. Frindte et al. (Hrsg.), <strong>Rechtsextremismus</strong> und „Nationalsozialistischer Untergrund“, <strong>Edition</strong><br />
<strong>Rechtsextremismus</strong>, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
508 Autorenverzeichnis<br />
Förster, Mario, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kompetenzzentrum<br />
<strong>Rechtsextremismus</strong> an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Lehrbeauftragter<br />
im Arbeitsbereich Pädagogische Sozialisationsforschung am Institut für<br />
Erziehungswissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen.<br />
Gäde, Maria,Dr.; akademische Mitarbeiterin im Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft<br />
der Humboldt-Universität zu Berlin.<br />
Geschke, Daniel, Dr.; wissenschaftlicher Mitarbeiter der Servicestelle LehreLernen<br />
der Friedrich-Schiller-Universität Jena.<br />
Grumke, Thomas, Prof. Dr.; Politikwissenschaftler und Soziologe an der Fachhochschule<br />
für öffentliche Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen, Studienort<br />
Gelsenkirchen, im Fachbereich Polizeivollzugsdienst.<br />
Haußecker, Nicole, Dr.; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für<br />
Kommunikationspsychologie am Institut für Kommunikationswissenschaft der<br />
Friedrich-Schiller-Universität Jena.<br />
Heerdegen, Stefan, Diplom Sozialpädagoge (FH), Mitarbeiter der Mobilen Beratung<br />
in Thüringen (MOBIT).<br />
Kahane, Anetta, Journalistin; Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung.<br />
Knoppe, Franz, Dipl. Verwaltungswissenschaftler; Gründer & Koordinator der<br />
Künstlergruppe Grass Lifter<br />
Köhler, Daniel, M.A.; M.P.S.; studierte Religionswissenschaft, Politikwissenschaft<br />
und Betriebswirtschaftslehre an der Princeton University USA und der<br />
Freien Universität Berlin. Im Jahr 2014 gründete er das German Institute on Radicalization<br />
and De-radicalization Studies (GIRDS) und leitet es seitdem.<br />
Kopke, Christoph, Dr.; Dipl.-Politikwissenschaftler, Lehrbeauftragter an der<br />
Universität Potsdam und an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin,<br />
Projektmitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische<br />
Studien der Universität Potsdam im Forschungsprojekt „Überprüfung umstrittener<br />
Altfälle ‚Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg‘“.
Autorenverzeichnis<br />
509<br />
Laabs, Dirk, Journalist und Filmemacher; 2014 gemeinsam mit Stefan Aust Veröffentlichung<br />
des Buches „Heimatschutz – der Staat und die Mordserie des NSU“.<br />
Möller, Kurt, Prof. Dr.; Professor für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit,<br />
Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pege, Hochschule Esslingen.<br />
Quent, Matthias, M.A.; Doktorand am Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- und<br />
Wirtschaftssoziologie des Instituts für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität<br />
Jena.<br />
Salzborn, Samuel, Prof. Dr.; Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften<br />
am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen.<br />
Schellenberg, Britta, Dr.; Senior Researcher am Centrum für Angewandte Politikforschung<br />
und Lehrbeauftragte am Geschwister-Scholl Institut für Politikwissenschaft<br />
der Ludwig-Maximilians Universität München.<br />
Schilden, Frank, M.A.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprachund<br />
Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen.<br />
Schmidtke, Franziska, M.A.; wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin<br />
des Kompetenzzentrum <strong>Rechtsextremismus</strong> an der Friedrich-Schiller-Universität<br />
Jena.<br />
Schultz, Gebhard, Dipl.-Politikwissenschaftler; Projektmitarbeiter am Moses<br />
Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam<br />
im Forschungsprojekt „Überprüfung umstrittener Altfälle ‚Opfer rechtsextremer<br />
und rassistischer Gewalt in Brandenburg‘“.<br />
Veith, Hermann, Prof. Dr., Leiter des Arbeitsbereichs Pädagogische Sozialisationsforschung<br />
am Institut für Erziehungswissenschaft und Projektleiter im Projekt<br />
„Demokratiekompetenz und Demokratieverstehen“ der der Georg-August-<br />
Universität Göttingen.<br />
Würstl, Heike, M.A.; Soziologin und Mitarbeiterin der Stabsstelle für Extremismusprävention<br />
der Landespolizeidirektion Erfurt.