Komplement und Verstaerker Amplifier and Compliment
ISBN 978-3-86859-578-9 https://www.jovis.de/de/buecher/product/komplement-und-verstaerker.html
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Vor einigen Jahren hat die Stiftung Zukunft Berlin ein Manifest<br />
unter dem Motto Kultur <strong>und</strong> Stadtentwicklung 2 vorgelegt. Darin<br />
beschwören die fast 70 namhaften Unterzeichner das W<strong>und</strong>erkraut<br />
Kultur mit einer Euphorie, als wären sie Cheerleader beim<br />
American Football. Kultur, hieß es da, sei „das Neue, das Innovative“<br />
schlechthin <strong>und</strong> das „größte Potenzial der Stadt“. Nun, wer<br />
sich ex post den Zustrom an Künstlern, Kreativen <strong>und</strong> Touristen<br />
nach Berlin, den Boom der Kulturorte <strong>und</strong> -szenen in der Stadt seit<br />
1989 anschaut, wird dem Plädoyer für eine Kultur der Stadt kaum<br />
widersprechen können. Und dennoch – das ist ein Bef<strong>und</strong> von gestern,<br />
<strong>und</strong> Berlin steht nicht als Pars pro Toto für alle Städte.<br />
Es geht um Gr<strong>und</strong>sätzlicheres, als dem darbenden Kreativvölkchen<br />
bezahlbare Mieten <strong>und</strong> freie Räume zu sichern – was<br />
freilich für sich genommen ein Signal an die Immobilienbranche<br />
wäre, der die Politik zu Zwecken einkömmlicher Stadtentwicklung<br />
lange Zeit das Feld überlassen hat. Die Idee, Kultur für <strong>and</strong>ere<br />
Zwecke als die autonomer ästhetischer Formbildung einzusetzen,<br />
ist indes nicht unproblematisch. Zumal sich dahinter auch das<br />
bildungsbürgerliche Konzept einer Kunst nach Immanuel Kants<br />
„interesselosem Wohlgefallen“ 3 verbirgt. Doch während die einen<br />
für Joint Ventures von Kultur <strong>und</strong> Ökonomie, für die Verbindung<br />
zur Produktion werben, geht es <strong>and</strong>eren um ein Forschen <strong>und</strong><br />
Gestalten jenseits urbanistischer Nützlichkeitseffekte. Braucht es<br />
nicht eine städtische Avantgarde, die auf die Chance zum Experiment<br />
insistiert, das auch ein Risiko des Scheiterns impliziert?<br />
Wie auch immer: Es ist wichtig, dass darüber breit diskutiert wird.<br />
Diesem Anspruch folgt das vorliegende Buch. Es weitet den Blick.<br />
Künstlerische Praxis <strong>und</strong> Kultur müssen als unverzichtbarer Teil<br />
einer Stadt verst<strong>and</strong>en werden – <strong>und</strong> nicht als Gegner.<br />
1 Aufgr<strong>und</strong> der behördlichen Sprachregelung wurde in diesem Text das generische Maskulinum<br />
verwendet.<br />
2 Dieses Manifest wurde Anfang September 2011 auf einem hearing im Berliner Radialsystem der<br />
Öffentlichkeit vorgestellt, ist heute jedoch als Dokument auf der Website der Stiftung Zukunft<br />
Berlin nicht mehr verfügbar.<br />
3 Ottfried Höffe (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft. Berlin 2008.<br />
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