FOCUS_19_2022_Vorschau
You also want an ePaper? Increase the reach of your titles
YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.
KULTUR<br />
Bekanntlich ist die La -<br />
ge ernst. Pandemie,<br />
Krieg, Klimakatastrophe,<br />
Populismus, Ar -<br />
tensterben, Inflation,<br />
Reizüberflutung, Polschmelze,<br />
Faschismus,<br />
Hunger, Verschwendung, Angriff<br />
auf die Weltordnung, Demokratien in<br />
Gefahr. Wer soll da noch den Überblick<br />
behalten? Entweder kann man sich nicht<br />
entscheiden, welchem Problem man sich<br />
zuerst widmen soll, oder man versucht,<br />
das jeweilige Hauptärgernis so gut es<br />
geht zu verdrängen, bis sich dann schon<br />
wieder das nächste in den Vordergrund<br />
schiebt.<br />
Die Menschheit hat die perfekten<br />
Bedingungen für ihren eigenen Untergang<br />
geschaffen und informiert sich nun<br />
wie zum Dank rund um die Uhr über<br />
den beklagenswerten Stand der Dinge<br />
selbst. An Ruhe ist bei bestem Willen<br />
nicht zu denken. „Die Pillen helfen mir<br />
nicht mehr / Im Zeitalter der Angst“,<br />
erklären Arcade Fire gleich im ersten<br />
Titel des neuen Albums „WE“. Aber die<br />
Hoffnung stirbt zuletzt: „Ich muss mich<br />
von dem Geist befreien /<br />
Von der Angst, die in mir<br />
steckt.“ Guter Plan. Nur<br />
wie soll das gehen?<br />
Wer wir sind<br />
Seit ihrem ersten Album<br />
„Funeral“ von 2004 zeigt<br />
die kanadische Band eine<br />
Neigung zu schweren Themen<br />
aller Art. Von der Liebe<br />
unter den Bedingungen<br />
der Apokalypse auf ihrem<br />
Debüt über Amerika im<br />
Zangengriff von Kapitalismus<br />
und Religion („Neon<br />
Bible“), dem Grauen der<br />
Vorstädte („The Suburbs“)<br />
sowie der Entfremdung<br />
(„Reflektor“) hin zu Fake<br />
News, sozialen Medien<br />
und Promikultur auf „Everything<br />
Now“. Dabei wurde aus der<br />
Indieband von einst binnen kürzester<br />
Zeit eine der größten Rockbands ihrer<br />
Generation: mit Chart-Erfolgen, Musikpreisen<br />
und ausverkauften Stadien in<br />
aller Welt.<br />
Auf „WE“, die deutsche Übersetzung<br />
„Wir“ legt es nahe, geht es offenbar um<br />
uns, doch wer ist dieses „WE“ genau? Es<br />
sind die Menschen im Allgemeinen, aber<br />
Vom Strand … Um Entfremdung zu visualisieren, hat die Band seit dem „Reflektor“-Album Pappmaché-Köpfe dabei<br />
… zum Bad in der Menge Win Butler beim Auftritt im Londoner KOKO vergangene Woche<br />
auch die Band an sich wie im Besonderen,<br />
vor allem das Ehepaar Win Butler<br />
und Régine Chassagne, die kreativen<br />
Köpfe, die sich auf etlichen Liedern<br />
gegenseitig ihrer Liebe versichern, in<br />
guten wie in schlechten Zeiten. Es mag<br />
in dem Zusammenhang ein schöner<br />
Zufall sein, dass auch Madonnas zweite<br />
Regiearbeit den Titel „W. E.“ trug und<br />
von der „Romanze des Jahrhunderts“<br />
erzählte, nämlich von Eduard<br />
VIII., der <strong>19</strong>36 knapp<br />
ein Jahr lang der König<br />
von England war und dann<br />
abdankte, um Wallis Simpson<br />
zu heiraten, die Liebe<br />
seines Lebens.<br />
Tatsächlich spielte bei<br />
der Titelwahl vielmehr<br />
die Autobiografie „WE“<br />
von Charles Lindbergh aus<br />
dem Jahr <strong>19</strong>27 eine Rolle<br />
(deutscher Titel: „Wir zwei:<br />
Im Flugzeug über den<br />
Atlantik“), aus der Butlers<br />
Großmutter dem kleinen<br />
Win vor dem Schlafen -<br />
gehen gerne vorlas. Thema<br />
des Werks: Lindberghs<br />
Beziehung zu seinem<br />
Flugzeug, was sich verallgemeinert<br />
als Verhältnis von Mensch<br />
und Maschine auf dem Album als Motiv<br />
wiederfindet, wobei der Schwerpunkt<br />
allerdings auf dem Smartphone liegt.<br />
Was wir machen<br />
Das passt wiederum gut zu dem Science-<br />
Fiction-Roman „Wir“ des russischen<br />
Schriftstellers Jewgeni Samjatin aus<br />
den <strong>19</strong>20er Jahren, dem die traurige<br />
Fotos: Jf Lalonde, Getty Images<br />
86 <strong>FOCUS</strong> <strong>19</strong>/<strong>2022</strong>