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FC50_Woelfe

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AUSGABE 50 9. Dezember 2023 € 5,20 EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER 2023 COVER /// INFOGRAPHIC<br />

Die Jagd auf<br />

den Kanzler<br />

Friedrich Merz über<br />

Neuwahlen, Ehrgeiz und<br />

Machtanspruch<br />

Die Jagd auf<br />

den Wolf<br />

Wie viel Wildnis<br />

verträgt der<br />

moderne Mensch?<br />

1,36 Mio.<br />

Boomer wurden<br />

allein 1964 geboren.<br />

Insgesamt zählen<br />

24 Millionen Deutsche<br />

zur größten Generation<br />

aller Zeiten<br />

RENTE? SPÄTER!<br />

Fit, pflichtbewusst und unverzichtbar? Warum so viele<br />

Babyboomer weiterarbeiten wollen


WISSEN<br />

NATUR<br />

Jäger<br />

und<br />

Gejagter<br />

Nirgendwo breitet sich<br />

der Wolf so schnell und so<br />

stark aus wie in Deutschland.<br />

Nun erlauben es die Politiker,<br />

das Raubtier abzuschießen,<br />

gelegentlich zumindest<br />

TEXT VON KURT-MARTIN MAYER<br />

Foto: plainpicture<br />

Spitzenprädator<br />

So nennen Biologen ein Tier<br />

ganz oben auf der Nahrungspyramide.<br />

Den Menschen<br />

greifen Wölfe selten an.<br />

Weltweit wird jährlich eine<br />

zweistellige Zahl von Todesfällen<br />

registriert. Seit der<br />

Wiederansiedlung gab es<br />

kein Opfer aus Deutschland<br />

Kaum haben die beiden Fremden, die<br />

FOCUS-Fotografin und der Reporter, den<br />

Stall betreten, zucken die Schafe zusammen.<br />

Mit aufgerissenen Augen suchen sie<br />

blitzschnell für sich und ihr Junges Schutz<br />

in den Kojen. Es bedarf nicht viel Fantasie,<br />

um sich die Massenpanik in der Herde<br />

draußen auf der Weide vorzustellen,<br />

wenn ein Raubtier auftaucht.<br />

Im Stall hält Wendelin Schmücker<br />

am Tag unseres Besuchs ein paar wenige<br />

Mutterschafe und ihre Lämmer. Den<br />

größten Teil seines Bestandes, rund 600<br />

Tiere, bekommen wir nach einer halbstündigen<br />

Autofahrt in den benach-<br />

64 FOCUS 50/2023 FOCUS 50/2023 65


WISSEN<br />

NATUR<br />

barten Landkreis Lüneburg zu Gesicht.<br />

Der Deal mit dem Besitzer der Weide<br />

hat lange Tradition. Der Landwirt lässt<br />

die Schafe grasen, denn er erhält eine<br />

gepflegte, gesunde Grünfläche. „Und<br />

ich“, so Schmücker, „bekomme das notwendige<br />

Futter.“<br />

Dreimal kam das Raubtier in die Herde<br />

Verehrt und verfolgt:<br />

Tierarten, die Konflikte<br />

auslösen<br />

BIBER Vor 60 Jahren begann<br />

man ihn wieder anzusiedeln.<br />

Nicht nur als Holzfäller<br />

machen sich Biber auch<br />

unbeliebt. Im Allgäu unterhöhlten<br />

die Nagetiere jüngst<br />

einen Bahndamm. Der Zugverkehr<br />

ruhte tagelang.<br />

„Lässt man<br />

den Wolf<br />

weiter<br />

gewähren,<br />

gibt es in<br />

absehbarer<br />

Zeit keine<br />

Weidehaltung<br />

mehr“<br />

Schützer<br />

seiner Tiere<br />

Wanderschäfer<br />

Wendelin<br />

Schmücker aus<br />

Winsen an der Luhe<br />

lebt vom Lammfleischverkauf<br />

ROTMILAN Manche Taubenzüchter und Geflügelhalter<br />

hassen Greifvögel. Ende April entdeckte man im Landkreis<br />

Peine die Kadaver eines Rotmilans und eines<br />

Seeadlers. Sie hatten ausgelegte Giftköder gefressen.<br />

Schmücker, 47, ist Wanderschäfer. Er<br />

zieht mit seiner Herde überallhin, wo<br />

er mit dem Grundbesitzer handelseinig<br />

geworden ist, und lebt vor allem vom Verkauf<br />

des Lammfleischs. Wenige Dutzend<br />

Unternehmer arbeiten noch so wie er,<br />

der sein Gewerbe auf einer 300-jährigen<br />

Familiengeschichte aufbaut. Insgesamt<br />

dürfte es in Deutschland 950 Berufsschäfer<br />

geben, Tendenz fallend. Damit<br />

das nicht so weitergeht, engagiert sich<br />

Schmücker als Vorsitzender des „Fördervereins<br />

der Deutschen Schafhaltung“.<br />

Folgt man seiner Internetseite, hat der<br />

Verein drei Gegner: Wölfe sowie Experten<br />

und Politiker, die meinen, dass in<br />

Deutschland noch immer nicht genug<br />

Wölfe lebten.<br />

„Der Wolf war von Anfang an ein Problem,<br />

schon als er sich wieder anzusiedeln<br />

begann“, sagt Schmücker. Bei bisher<br />

drei Angriffen auf seine Herden hat<br />

er gut 40 Schafe verloren. Die staatlichen<br />

Entschädigungen hätten den Verlust bei<br />

Weitem nicht gedeckt, rechnet er vor.<br />

Über Jahrhunderte war der Wolf gefürchtet<br />

und wurde gejagt. Seit etwa 1850<br />

galt er in Deutschland als ausgerottet.<br />

Nur mehr in Märchen kam er vor. Doch<br />

der Räuber kehrte zurück. Schmückers<br />

Malaise lässt sich auf das Jahr 2000 datieren.<br />

Damals bekam ein zugewandertes<br />

Paar in der sächsischen Oberlausitz<br />

Nachwuchs. Seitdem breiten sich Wölfe<br />

vor allem im Osten und Norden Deutschlands<br />

aus. Jüngsten Statistiken zufolge<br />

leben mittlerweile 184 Rudel im Land,<br />

wohl mehr als 1300 Tiere. Die Zahl der<br />

registrierten Nutztierrisse durch Wölfe<br />

ist 2022 auf einen Rekordwert von 4400<br />

gestiegen.<br />

Lange schien es, als bliebe die Forderung<br />

nach einem schärferen Vorgehen<br />

gegen den Wolf ungehört. Kürzlich<br />

reagierten die zuständigen Politiker<br />

aber doch. Die Umweltminister der Länder<br />

einigten sich vergangene Woche einstimmig<br />

auf einen Vorschlag von Bundesumweltministerin<br />

Steffi Lemke (Grüne).<br />

Die Neuregelung erlaubt die „Entnahme“<br />

einzelner Exemplare auch ohne eindeutiges<br />

Täterprofil. Hat ein Wolf einen<br />

Schutzzaun überwunden und Weide tiere<br />

gerissen, soll es bis zu 21 Tage danach<br />

erlaubt sein, ihn zu töten – oder aber<br />

einen unschuldigen Artgenossen. Denn<br />

es reicht, wenn sich ein Tier in dieser<br />

Frist bis auf einen Kilometer dem Tatort<br />

nähert. Die Pflicht zu einem vorherigen<br />

FISCHOTTER<br />

Teichwirte hatten die<br />

Staatsregierung bedrängt.<br />

Im August gab<br />

Bayern Fischotter zum<br />

Abschuss frei. Doch der<br />

Verwaltungsgerichtshof<br />

entschied im Sinne eines<br />

Eilantrags von Umweltschützern.<br />

Vorerst<br />

dürfen die Otter nicht<br />

getötet werden.<br />

Fotos: Charlotte Schreiber für FOCUS-Magazin, Amt für Jagd und Fischerei Graubünden, Shutterstock, ddp<br />

Die 1927-<br />

Kilometer-<br />

Wanderung<br />

von „M237“<br />

Wie ausdauernd Jungwölfe<br />

ein Revier suchen, bewies<br />

ein Rüde mit der Kennung<br />

„M237“. Im Juni 2022 per<br />

Funkhalsband in der Schweiz<br />

registriert, wanderte er<br />

1927 Kilometer gen Osten<br />

(u. die Route, r. ein Bild aus<br />

einer Fotofalle). Nahe der<br />

ungarisch- slowakischen<br />

Grenze wurde „M237“ im<br />

März 2023 erschossen.<br />

Bern<br />

SCHWEIZ<br />

Innsbruck<br />

ÖSTERREICH<br />

DNA-Abgleich entfällt. Genaueres sollen<br />

die Länder regeln, am besten noch<br />

vor Beginn der Weidesaison im Frühjahr.<br />

Umweltminister von den Grünen wie<br />

Axel Vogel aus Brandenburg betonten<br />

nach dem Beschluss, dass Wölfe als<br />

streng geschützte Art auch in Zukunft<br />

nicht „willkürlich“ abgeschossen werden<br />

dürften. Den großen Interessensvertretungen<br />

der Bauern und der Jäger<br />

sowie einigen Forstwirten hingegen gingen<br />

die Vorschläge nicht weit genug. Der<br />

LUCHS Im Schwarzwald ist jetzt zur Bestandserhaltung<br />

ein Luchsweibchen ausgewildert worden. Im Süden<br />

Österreichs fand man den Kadaver einer Artgefährtin.<br />

Ein Wilderer hatte sie erschossen.<br />

Wien<br />

Graz<br />

100 km<br />

Budapest<br />

UNGARN<br />

Deutsche Jagdverband etwa sah in ihnen<br />

ein „schlichtes Rissreaktionsmanagement“<br />

anstelle des notwendigen regionalen<br />

„Bestandsmanagements“.<br />

Schäfer Schmücker hatte vor einigen<br />

Monaten einen Waffenschein zwecks<br />

Wolfsabwehr beantragt, war aber damit<br />

vor Gericht gescheitert. Er sagt: „Der<br />

Wolf gehört ins Bundesjagdrecht.“ Es<br />

müsse Schluss sein mit dem besonderen<br />

Schutz. Jäger sollten Wölfe ähnlich<br />

wie Rehe oder Feldhasen zu bestimmten<br />

Saison zeiten töten<br />

dürfen. Außerhalb dieser<br />

Zeiten wären sie<br />

zu schonen. Für ganz<br />

Deutschland genüge<br />

ein Wolfsbestand von<br />

250 Exemplaren, schätzt<br />

Schmücker. Auch diese<br />

Zahl bedeute einen<br />

„guten Erhaltungszustand“,<br />

wie ihn sich die<br />

EU in ihrer Flora-Fauna-<br />

Habitat-Richtlinie für<br />

den Wolf wünscht. Ginge<br />

hingegen alles so<br />

weiter wie jetzt, „gibt es<br />

Quelle: AJF Graubünden<br />

Opfer mit Prominenz Im September<br />

2022 riss ein Wolf das<br />

Familienpony von EU-Kommissionspräsidentin<br />

Ursula von der<br />

Leyen. Er ist als „GW950m“ bekannt.<br />

Vor Gericht wird gestritten,<br />

ob er abgeschossen werden darf<br />

in absehbarer Zeit in Deutschland keine<br />

Weidehaltung mehr“, so Schmücker.<br />

Jeder Wolf benötige eben drei bis vier<br />

Kilogramm Fleisch pro Tag. In manchen<br />

Regionen hätten Wölfe die Wildbestände<br />

bereits so stark dezimiert, dass sie immer<br />

häufiger Weidetiere attackierten.<br />

Überall in Europa versucht man trotz<br />

des strengen Schutzes, den die EU dem<br />

Wolf gewährt, sein Vordringen zu stoppen.<br />

Schweden will gemeinsam mit<br />

Norwegen die Zahl der Wölfe durch<br />

Abschüsse bei etwa 300 halten. Schweden<br />

hat dabei eine Einwohnerdichte von<br />

nur 26 Menschen pro Quadratkilometer,<br />

Deutschland von 236. In Frankreich<br />

dringen Regierungspolitiker darauf, den<br />

Schutzstatus zu lockern. In Österreich<br />

ging die Zahl der gerissenen Nutztiere<br />

zuletzt leicht zurück, nachdem einige<br />

Bundesländer die Abschussquoten erhöht<br />

hatten. Bei der EU kamen sie rechtlich<br />

damit offenbar durch. Und die Schweiz<br />

hat soeben beschlossen, ihren Wolfsbestand<br />

um bis zu 60 Prozent zu reduzieren.<br />

Sterben häufiger auch Kälber?<br />

Dennoch ist hierzulande für Fachleute wie<br />

Thomas Norgall vom Bund für Umwelt<br />

und Naturschutz Deutschland (BUND)<br />

weiterhin viel Platz für Isegrim. „Es gibt<br />

große Lebensräume in Deutschland, die<br />

für zuwandernde Wölfe geeignet sind,<br />

etwa in Bayern, Baden-Württemberg,<br />

in Hessen bis ins Saarland und in Teilen<br />

Nordrhein-Westfalens“, zählt Norgall auf.<br />

Das wären rund 40 Prozent der Gesamtfläche<br />

der Bundesrepublik. Muss die<br />

Wolfspopulation also um Tausende weitere<br />

wachsen, bis der strenge Schutz<br />

auf gehoben werden darf? Die Zahl<br />

der „potenziellen Wolfsterritorien“ in<br />

Deutschland soll sich laut einer viel<br />

zitierten Studie auf 700 bis 1400 belaufen.<br />

Die meisten Rudel<br />

leben derzeit in den<br />

Bundesländern Brandenburg,<br />

Niedersachsen<br />

und Sachsen – möglicherweise<br />

würde deren<br />

Bestand im Falle eines<br />

Weiter-so derartig wachsen,<br />

dass die Wölfe sich<br />

neue Beute suchen<br />

müssten und etwa verstärkt<br />

Kälber oder Pferde<br />

überfielen.<br />

Derartige Ängste versucht<br />

die Gegenseite<br />

unter Hinweis auf die<br />

66 FOCUS 50/2023 FOCUS 50/2023 67


WISSEN<br />

NATUR<br />

„Die Debatte<br />

über<br />

den Wolf<br />

wird in<br />

Deutschland<br />

oft<br />

emotional<br />

geführt“<br />

Fortschritte Ministerin<br />

Steffi Lemke<br />

(hier in Anklam)<br />

begrüßt den Beschluss,<br />

„Wölfe<br />

nach Rissen auf<br />

Weidetiere schnell<br />

und unkompliziert<br />

abzuschießen“<br />

Verhaltensforschung zu dämpfen. Die<br />

Argumentationslinie wolfsfreundlicher<br />

Experten lässt sich so zusammenfassen:<br />

Hat ein Rudel ein Territorium besetzt,<br />

lässt es keine weiteren Tiere mehr zu.<br />

Abschüsse hingegen können die Struktur<br />

destabilisieren. Fehlt dem Rudel der Leitwolf,<br />

weil er etwa einem Jäger zum Opfer<br />

gefallen ist, tendiert der Rest zu einer Art<br />

Rowdytum. Es wächst die Gefahr, dass die<br />

übrig gebliebenen Rudelmitglieder intensiver<br />

auf Weidetiere losgehen. Norgall<br />

vom BUND: „Wer wahllos<br />

irgendwelche Wölfe<br />

abschießt, beschädigt<br />

die Sozialstruktur der<br />

Tiere.“<br />

Wie viel nützen Zäune?<br />

Als zentrales Element einer<br />

Konfliktlösung stellen<br />

Regierungspolitiker,<br />

Natur- und Umweltschützer<br />

die sogenannten<br />

Herdenschutzmaßnahmen<br />

dar. Man ziehe<br />

elektrisch geladene Zäune<br />

um die Weide, und<br />

Falle gegen die Wolfsplage<br />

Zur Ausrottung trugen im 18. Jahrhundert<br />

mit Reisig zugedeckte<br />

Gruben bei, in deren Mitte ein Köder<br />

lag. Sprang der Wolf nach dem<br />

Fleisch, fiel er in die Vertiefung<br />

schon lasse der Angreifer von seiner anvisierten<br />

Beute ab, lautet die Erwartung.<br />

Die Bundesländer fördern eifrig Elektrozäune,<br />

wenn sich auch die Richtlinien<br />

dafür in vielen Details voneinander unterscheiden.<br />

Über die langfristige Wirksamkeit dieser<br />

Art von Herdenschutz sind die Meinungen<br />

geteilt. Immer wieder überspringt<br />

ein Wolf einen der bis zu 120 Zentimeter<br />

hohen Zäune oder untergräbt ihn.<br />

Zuverlässigee Zahlen existieren nicht,<br />

aber selbst Wolfsfreunde<br />

schätzen, dass jedes<br />

zweite bis vierte gerissene<br />

Tier in irgendeiner<br />

Form geschützt auf der<br />

Weide stand. Absolute<br />

Sicherheit bieten die<br />

Zäune also nicht.<br />

Ein zweiter Rat lautet,<br />

Herdenschutzhunde<br />

einzusetzen. Derartige<br />

Hunde gehören<br />

einigen wenigen Rassen<br />

an und sind speziell<br />

ausgebildet. Sie können<br />

bis zu 3500 Euro kosten<br />

plus 2500 Euro für den jährlichen Unterhalt.<br />

Auch für sie gibt es Zuschüsse aus<br />

öffentlichen Töpfen, die aber meist nicht<br />

alles abdecken.<br />

Fragt man Schäfer Schmücker nach<br />

seiner Meinung zu den Herdenschutzmaßnahmen,<br />

bekommt man betriebswirtschaftliche<br />

Argumente zu hören.<br />

Augenscheinlich lassen sich die Elektrozäune<br />

leicht umstecken, doch für<br />

einen Wanderschäfer kann der Aufwand<br />

beträchtlich sein. Die Förderung<br />

lehnt Schmücker ab. Es seien Vorschriften<br />

damit verbunden, denen er sich als<br />

Geschäftsmann nicht unterwerfen wolle.<br />

Die teuren Herdenschutzhunde wiederum<br />

könnten Unheil anrichten, wenn sie etwa<br />

vorbeiradelnde Ausflügler angingen.<br />

Es gibt zwei von Wölfen aufgesuchte<br />

Geländetypen in Deutschland, in denen<br />

der Herdenschutz komplizierter ist als<br />

anderswo. Der eine sind Deiche. Auf ihnen<br />

sind grasende Schafe besonders beliebt,<br />

denn sie verfestigen den Boden und dienen<br />

so dem Hochwasserschutz. Wegen<br />

der Gezeiten und der Geländeneigung<br />

müssen Zäune dort aber oft höher, länger<br />

und stärker sein. Auch sind Konflikte<br />

zwischen Schutzhunden und Touristen<br />

am Deich nicht unwahrscheinlich.<br />

In Niedersachsen haben Organisationen<br />

wie der Naturschutzbund das Problem<br />

erkannt. Sie schicken Berater zu<br />

den Haltern, die versuchen, die richtige<br />

Anti-Wolf-Strategie zu finden. Auch auf<br />

Almen sind Nutztiere schwerer abzuschirmen.<br />

Nicht zuletzt deshalb hat Bayern in<br />

einer umstrittenen Landesverordnung die<br />

Wolfsjagd bereits im Frühjahr erleichtert.<br />

Städter sind die größeren Wolfsfreunde<br />

Fotos: Stefan Sauer/dpa<br />

Quellen: Civey, Savanta, DBBW, BfN<br />

Faktenreport: Rückkehr eines Räubers<br />

Erfolg für den Artenschutz: Der „gute Erhaltungszustand“, den die EU durch<br />

strenge Jagdverbote erreichen will, ist in vielen Regionen Realität<br />

Wolfsvorkommen<br />

in Deutschland<br />

2022/2023<br />

Totfunde von<br />

Wölfen 2023<br />

Düsseldorf<br />

Saarbrücken<br />

Wiesbaden<br />

Mainz<br />

Wolf als Opfer<br />

Selten wird eine<br />

„Entnahme“ genehmigt.<br />

Häufiger übt<br />

jemand Selbstjustiz<br />

Bremen<br />

Stuttgart<br />

Kiel<br />

Hannover<br />

10x10 km-Raster<br />

Hamburg<br />

Magdeburg<br />

Erfurt<br />

Schwerin<br />

116<br />

13<br />

8<br />

5<br />

Potsdam<br />

Dresden<br />

Berlin<br />

Todesursache und Anzahl<br />

Verkehrsunfall<br />

natürlicher Tod<br />

illegale Tötung<br />

genehmigte Entnahme*<br />

unklar/noch offen<br />

12<br />

*im Rahmen des<br />

Wolfsmanagements<br />

Nachweis<br />

mit Reproduktion<br />

67 %<br />

der deutschen Landbewohner<br />

geben an,<br />

dass Wölfe und andere<br />

Beutegreifer grundsätzlich<br />

eine Daseinsberechtigung<br />

haben<br />

Anzahl der Wolfsrudel<br />

in Deutschland<br />

Wilder Norden<br />

Ein Grund für die<br />

Verteilung: Viele<br />

Tiere wanderten<br />

aus Polen zu<br />

1<br />

2004/<br />

2005<br />

sehr/eher positiv<br />

weiß nicht, k. A.<br />

2014/<br />

2015<br />

51 13<br />

2<br />

32<br />

Wolfsverursachte<br />

Nutztierschäden<br />

in Deutschland<br />

unentschieden<br />

34<br />

Anzahl der getöten<br />

oder verletzten<br />

Tiere<br />

Anzahl der<br />

Übergriffe<br />

184<br />

2022/<br />

2023<br />

Eroberer Die Zahl steigt stärker<br />

als anderswo in Europa. Einem<br />

Rudel gehören etwa acht Tiere an<br />

Wie bewerten Sie es, dass<br />

Wölfe als freilebende Tiere nach<br />

Deutschland zurückkehren?<br />

in Prozent, gerundet<br />

eher/sehr<br />

negativ<br />

Sympathien Es wurde auch nach<br />

Bären gefragt. Deren Rückkehr fänden<br />

nur 48 Prozent gut<br />

4000<br />

3000<br />

2000<br />

1000<br />

0<br />

2000 05 10 15 2022<br />

Blutweide Zu etwa 90 Prozent<br />

waren Schafe und Ziegen betroffen.<br />

Rest: Gatterwild und Rinder<br />

Die Debatte über den Wolf laufe „oft emotional“,<br />

beklagte Ministerin Lemke nach<br />

der Umweltministerkonferenz. Das verwundert<br />

nicht, denn viele Berichte und<br />

Bilder von Rissen lassen an einen regelrechten<br />

Killerinstinkt denken. In einer<br />

Septembernacht etwa schlüpfte ein<br />

Räubertrio in das Gehege eines Gutshofs<br />

in der Uckermark. Die Wölfe töteten<br />

24 Damhirsche, Kälber und Muttertiere.<br />

Aber nur ein Opfer fraßen sie. Waren die<br />

Tiere in einer Art Blutrausch? Experten<br />

erklären das Verhalten eher als instinktiven<br />

Versuch, eine Art Vorrat für das Rudel<br />

anzulegen. Dennoch sind die Fotos derartiger<br />

Massaker nicht nur für die Besitzer<br />

schwer zu ertragen.<br />

Emotionen können auch wach werden,<br />

wenn es um Fragen des globalen Artenschutzes<br />

geht. An dieser Stelle punkten<br />

die Naturschützer. „Wir befinden uns mitten<br />

in einer weltweiten Biodiversitätskrise“,<br />

sagt Moritz Klose, Wildtierexperte<br />

beim World Wide Fund for Nature (WWF)<br />

Deutschland in Berlin. Wenn die reichen<br />

Länder Europas von den armen Afrikas<br />

fordern, ihre Elefanten und andere große<br />

Tierarten zu schützen, sei es nicht zu viel<br />

verlangt, den Aufwand für den Wolf und<br />

wohl auch für Bär, Biber, Fischotter und<br />

so weiter auf sich zu nehmen.<br />

Meinungsumfragen zeigen jedenfalls<br />

zwar nicht überwältigende, aber deutliche<br />

Mehrheiten für ein Lebensrecht des<br />

Wolfs in Deutschland. Im August ergab<br />

eine Civey-Umfrage unter 10 000 Menschen,<br />

dass die Bewohner Hamburgs,<br />

Berlins und Bremens die wolfsfreundlichsten<br />

sind. Jene in Thüringen, Sachsen<br />

und Mecklenburg-Vorpommern zeigten<br />

sich am skeptischsten. In diese Richtung<br />

tendierten auch die Wähler konservativer<br />

und rechter Parteien eher als die Anhänger<br />

von SPD und Grünen.<br />

Fitnesstrainer für das Wild<br />

Manche Fachleute gestehen dem Wolf<br />

sogar eine günstige Wirkung auf die<br />

Artenvielfalt zu. Kurt Kotrschal, Mitbegründer<br />

des Wolfsforschungszentrums<br />

WSC in der Nähe von Wien, meinte in<br />

einem Interview, Wölfe hielten „Wildbestände<br />

gesünder als menschliche Jäger<br />

das könnten“. Fleischfressende Beutegreifer,<br />

wie Fachleute sie nennen, tragen nach<br />

Ansicht vieler Biologen dazu bei, die Fitness<br />

eines Ökosystems zu erhöhen. Weil<br />

ihnen vermehrt die schwächsten Individuen<br />

einer Population zum Opfer fielen,<br />

nähmen sie eine Selektion im positiven<br />

Sinn vor.<br />

Das sehen viele Jäger anders. Und es<br />

trifft wohl nur dort zu, wo man zumindest<br />

ansatzweise von Wildnis sprechen<br />

kann. Tiere im Gehege und Vieh auf der<br />

Weide werden nicht herausgefordert, sondern<br />

sind Wölfen ausgeliefert. Aber auch<br />

die Opfer, die Schafe, Ziegen und andere<br />

erbringen ökologische Leistungen, indem<br />

sie auf ihren Weiden Lebensraum für<br />

Insekten und einige Vogelarten schaffen.<br />

Vor mehr als 19 000 Jahren soll jener<br />

Prozess begonnen haben, der zur Domestikation<br />

des Wolfs führte und den Hund<br />

hervorbrachte. Es schien schon, als würde<br />

Bellos Stammvater endgültig aus Westeuropa<br />

verschwinden. Jetzt ist er wieder<br />

da und hält, wenn man es zulässt, oft zu<br />

wenig Distanz. 7<br />

68 FOCUS 50/2023 FOCUS 50/2023 69

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