Document 1 Meine Stimme zählt Die Sache mit Jelko und Marc war nicht lustig. Noch immer zittern mir die Beine, wenn ich daran denke. Wie sich herausstellt, war Melanie nicht die Einzige, die von den beiden in den letzten Wochen angegangen wurde. Nachdem wir uns geschlossen hinter Melanie stellen und sie sich dank unserer Hilfe traut, endlich der verblüfften Tuszynski in der Klassensprecherstunde davon zu erzählen, kommen immer mehr Storys ans Licht. „Das kann doch nicht sein, dass die die gesamte Schule drangsalieren und keiner tut was!“, sagt Friederike, die eigentlich immer eine Meinung hat und sie auch kundtut. „Und, was soll ich eurer Meinung nach machen?“ fragt Streber Anton mit seiner sanften Stimme. „Mein Vorschlagt wäre, die zu ignorieren. Was soll's, die hören auch wieder auf“. Er ist unser erster Klassensprecher. Warum der gewählt wurde, weiß kein Mensch. Die einzige Erklärung: von uns anderen hatte niemand Bock, ständig auf irgendwelche Schülerversammlungen zu latschen, Klassenkasse zu organisieren und den Lehrern das Klassenbuch hinterherzuschleppen. „Was schlägst du vor, Sina?“ fragt Frau Tuszynski mich jetzt. Jetzt oder nie. Ich atme tief durch, stehe auf und dann höre ich mich sagen: „Als Erstes müssen wir die Schulleitung über die Vorfälle informieren. Dann müssen alle Klassensprecher in ihren Klassen nachfragen, welche Schüler noch von den beiden belästigt wurden und wie. Und dann müssen wir dafür sorgen, dass sie so etwas nie wieder tun.“ Genau!“-“Sina hat recht!“- „Richtig, unbedingt!“ In der Klasse rufen die Stimmen meiner Mitschüler durcheinander. „Noch viel wichtiger aber“, füge ich mit lauter Stimme hinzu, um die anderen zu übertönen, „ist, dass wir uns in Zukunft für eine gewaltfreie Schule engagieren.“ Der tosende Beifall, der daraufhin losbricht, löst ein gewisses Obama-Gefühl in mir aus. Ich finde es dann nur konsequent, dass Friederike mich aus einem Impuls heraus für die neue Klassensprecherin erklärt und alle zustimmend applaudieren, Anton scheint noch nicht mal beleidigt zu sein deswegen. Schließlich bringe ich alle nötigen Voraussetzungen dafür mit und inzwischen bin ich mir sicher : Es wird mir riesig Spaß machen, mich für Gerechtigkeit und gegen Gewalt an unserer Schule stark zu machen. Die Tuszynski murmelt stirngerunzelt etwas von wegen rechtmäßiger und demokratischer Abstimmung. Dann ändert sie aber ohne weitere Kommentare den Eintrag im Klassenbuch, weil es offensichtlich ist, dass meine Wahl zur ersten Klassensprecherin absolut einstimmig ist. Nach Ilona Einwohlt, Die Schule und ich (2010) 46
Document 2 Wie eine Klassensprecherin / ein Klassensprecher sein soll Rheinland-Pfalz Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur 47