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SPECTRUM #6/2015

Dernier numéro de l'année Spécial Santé Psychologique des Etudiants !

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DOSSIER<br />

Ohne Sicht aufs Leben<br />

Wie ist es, wenn dich das Leben aus der Universität reisst? Wenn du nicht mehr<br />

in der Vorlesung, sondern in der geschlossenen Abteilung der Psychia trie auf<br />

das Vergehen von Minuten wartest? Dieser Text ist von einer Stu den tin ge -<br />

schrieben, die während des Studiums an den Rand des Lebens geführt wurde.<br />

Es gibt viele schöne Orte auf dieser<br />

Welt. Einer davon liegt auf einer<br />

kleinen Anhöhe mit wunderbarer<br />

Sicht auf den Zugersee. Und doch ist<br />

dieser Ort speziell. Er ist gedacht für<br />

Menschen mit psychischen Beschwer -<br />

den. Er ist eine Irrenanstalt. Wer den Ort<br />

besucht, ist froh, nicht hier bleiben zu<br />

müssen. Patienten dagegen sind froh,<br />

müs sen sie ihn nicht verlassen. Er bietet<br />

Sicherheit und Schutz. Hätten nicht alle,<br />

die hier sind, ein psychisches Leiden,<br />

man könnte den Ort mit einem Hotel<br />

verwechseln.<br />

Sehr viel meiner Zeit verbringe ich<br />

schla fend, manchmal sitzen wir zusammen,<br />

trinken Kaffee und sprechen über<br />

Probleme. Zwischendurch dreht jemand<br />

durch. Stösst das Mobiliar um, schreit<br />

und klopft an alles, an das man klopfen<br />

kann. Danach wartet jedoch nur selten<br />

die Isolationszelle. Zum Schutz vor sich<br />

selbst und zum Schutz der anderen. Und<br />

manchmal höre ich von Verschwörungs -<br />

theorien. Auch wird mir gerne mal das<br />

Essen geklaut, grundsätzliche Hygiene-<br />

Regeln werden missachtet und wir gehen<br />

uns auf die Nerven. Eigentlich gar nicht<br />

so anders als ein normales WG-Leben.<br />

Foto: Wikimedia Commons<br />

Ein Mix aus allen Schichten der<br />

Gesellschaft<br />

Ohne je etwas mit einer psychiatrischen<br />

Klinik zu tun gehabt zu haben, kann man<br />

sich kaum vorstellen, was für Personen<br />

hier sind. Hier ist eine ehemals Drogen -<br />

süchtige, die jetzt ein Baby erwartet und<br />

hofft, ihr Leben wieder in den Griff zu<br />

kriegen. Ein anderer ist komplett vom<br />

Leben abgedriftet, hat nie etwas Schlim -<br />

mes gemacht, aber in unserer Gesell -<br />

schaft auch nichts auf die Reihe gekriegt.<br />

Dann ist hier die junge Mutter, die nach<br />

der Geburt ihres Kindes nicht mit ihrem<br />

neuen Alltag zurecht kam. Ihrem Kind<br />

zuliebe kämpft sie für das Leben. Ein<br />

junges Mädchen hört Stimmen, die ihr<br />

sagen, ihr Essen sei vergiftet, und verweigert<br />

dieses deshalb. Und dann gibt es<br />

mich, die jeglichen Sinn im Leben verloren<br />

und schwere Depressionen hat.<br />

Es mag durchaus eine Irrenanstalt sein,<br />

und doch gibt es hier nicht mehr Irre als<br />

irgendwo sonst. In der Klinik erweitere<br />

ich meinen persönlichen Horizont ex -<br />

trem. Denn sind wir ehrlich, an der Uni<br />

treffen wir uns fast ausschliesslich mit<br />

anderen Studierenden auf ein Bier und<br />

bleiben gerne unter uns. Apropos Bier.<br />

Alkohol ist natürlich nicht erlaubt. Nur,<br />

wer braucht schon Alkohol, wenn man<br />

Drogen auf Rezept bekommt? Und die<br />

nehme ich dann doch lieber mit Sicht auf<br />

den Zugersee.<br />

Die Zeit, Zeit zu haben<br />

Es gibt etwas in der Klinik, das man<br />

sonst nirgends in unserer Gesellschaft<br />

findet, und das ist Zeit. Zeit für sich selber.<br />

Diese Zeit anzunehmen, ist erst einmal<br />

schwierig. Vor allem, weil mein<br />

Kalender von Terminüberschneidungen<br />

strotzt. Als ich mich dazu entschieden<br />

habe, meinem Leben ein Ende zu setzen,<br />

dies jedoch missglückte und ich statt -<br />

dessen mit der Diagnose schwer depressiv<br />

zur Sicht auf den Zugersee gezwungen<br />

wurde, da wollte ich keine Zeit, sondern<br />

sehnte mich nach nichts mehr als<br />

dem Tod. Mittlerweile stört mich die<br />

viele Zeit gar nicht mehr. Ich habe sie zu<br />

schätzten gelernt. Trotzdem möchte ich<br />

noch immer nicht leben. Aber wenn man<br />

so viel Zeit hat, kann man auch nicht<br />

ständig an Negatives denken. Ich lenke<br />

mich ab mit Lesen, Puzzle machen,<br />

Gestalten, Fernsehen (etwas, das ich seit<br />

Netflix nicht mehr gemacht habe) und<br />

ich schreibe. Viel Zeit zur Verfügung zu<br />

haben, ist ein Luxus. Ein Luxus, der psychisch<br />

kranken Menschen gewährt wird.<br />

Schade, nimmt man sich im Alltag nicht<br />

diese Zeit, sondern muss erst in eine<br />

Klinik, um davon Gebrauch zu machen.<br />

Von aussen mag es schrecklich klingen,<br />

den ganzen Tag eingeschlossen zu sein.<br />

Nicht im Zimmer, aber auf der Station.<br />

Manchmal darf ich auf einen begleiteten<br />

Spaziergang. Speziell schön ist es<br />

abends, wenn die Sonne untergeht. Dann<br />

keimt in mir auch wieder die Hoffnung<br />

auf ein Leben nach der Klink auf. Aus<br />

jedem Fenster habe ich den Blick auf die<br />

Wellen des Zugersees. Ich kann träumen.<br />

Vom Leben, das draussen auf mich<br />

wartet, mich momentan aber einfach in<br />

Ruhe lässt. Und ich sehe die Berge, die<br />

ich erklimmen muss, aber auch das kann<br />

ich langsam angehen.<br />

L’article en français ?<br />

http://blog.unifr.ch/<br />

spectrum/bilingual/<br />

6/<strong>2015</strong> DÉCEMBRE/DEZEMBER spectrum<br />

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