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SPECTRUM #6/2015

Dernier numéro de l'année Spécial Santé Psychologique des Etudiants !

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DIE ANDERE<br />

Vom befreienden Gefühl, verrückt zu sein<br />

„Was werden wohl die anderen denken?“ Dieser Gedanke beeinflusst beinahe<br />

täglich unser Verhalten in der Öffentlichkeit. Doch was geschieht, wenn die<br />

durch Anwesenheit anderer Personen entstehende Hemmschwelle für einen<br />

Tag überwunden wird? Ein Selbstexperiment und Plädoyer für mehr Spass im<br />

Alltag. CAROLE MARTY<br />

Wer kennt das nicht? Beflügelt<br />

von einer erfreulichen Neuig -<br />

keit möchte man am liebsten<br />

wie verrückt herumschreien und fröhlich<br />

umherhüpfen. Gedacht – und dann doch<br />

nicht getan. Denn die Gewiss heit, beo -<br />

bachtet zu werden, bremst oft unseren<br />

Enthusiasmus. Schliesslich wollen wir<br />

nicht als verrückt gelten. Auch ich kenne<br />

dieses Problem. Doch im Rahmen eines<br />

Experimentes beschloss ich, der Angst<br />

vor der Reaktion der Mitmenschen einen<br />

Tag lang den Kampf anzusagen.<br />

Dass dieser Selbstversuch kein Zucker -<br />

schlecken ist, verraten mir meine vor<br />

Nervosität feuchten Hände, welche un -<br />

kontrolliert auf die Tür des zum Bersten<br />

vollen Trams klopfen. Einen Rückzieher<br />

erlaube ich mir dennoch nicht und<br />

beginne lauthals I dreamed a dream aus<br />

Les Misérables zu singen. Der Song text<br />

passt irgendwie zu der seltsamen<br />

Träumerin, die nun die Strassenbahn zu<br />

ihrer Bühne macht. Die Mitfahrenden<br />

drehen sich erstaunt zu mir um. Ein paar<br />

Teenager beginnen verstohlen zu ki -<br />

chern. Ein Herr mittleren Alters schaut<br />

genervt von seiner Zeitung auf. Einige<br />

Passagiere scheinen mich mit ihren<br />

abschätzigen Blicken zu fragen, was<br />

eigentlich mein Problem sei. Die<br />

Reaktionen fallen allerdings nicht nur<br />

negativ aus. Einige Zuhörer nicken mir<br />

mit einem freundlichen Lächeln zu.<br />

Andere lauschen beinahe ehrfürchtig<br />

meinem Gesangsauftritt. Als ich meinen<br />

Song beendet habe, herrscht ein<br />

seltsames Schweigen. Die der<br />

kleinen Show einlage negativ<br />

gesinnten Leute sehen mich<br />

ein letztes Mal entgeistert an<br />

und widmen sich dann den<br />

wichtigeren Angele gen -<br />

heiten: Die Klatschseite von<br />

Pendlerzeitungen und ande -<br />

res warten. Einige Passagiere<br />

hin ge gen loben mich für<br />

meinen Mut und das gefühlvolle<br />

Lied, welches ihnen die<br />

Fahrt verschö nert habe.<br />

Aus dem Tram ausgestiegen, bin ich<br />

stolz darauf, den ersten Teil des<br />

Versuches überstanden zu haben. Die<br />

wahre Mutprobe folgt allerdings noch.<br />

Denn während ich seit Jahren in meiner<br />

Freizeit singe, habe ich mit Tanzen gar<br />

nichts am Hut. Als Tanzen kann das, was<br />

ich vor einer kleinen Boutique mit<br />

meinem Körper anstelle, dann auch nicht<br />

wirklich bezeichnet werden. Vielmehr<br />

rudere ich unkontrolliert mit meinen<br />

Armen und trete von einem Bein auf das<br />

andere, während ich mir einen Lachanfall<br />

nicht verkneifen kann. Auch die Zu -<br />

schauer dieser Performance sind sicht -<br />

lich amüsiert. Einige wenden sich aller -<br />

dings entsetzt von diesem seltsamen,<br />

leicht lächerlich anmutenden Spektakel<br />

ab. Nach einer gefühlten Ewigkeit beende<br />

ich meinen Tanz und nehme den Zug<br />

heim nach Freiburg. Diesmal sitze ich<br />

allerdings in gewohnt sittlicher Manier<br />

brav und still<br />

auf meinem Sitz.<br />

Dabei fühle ich mich fast ein wenig langweilig.<br />

Erleichterung über das überstandene<br />

Experiment macht sich in mir breit. Ich<br />

bereue den Selbstversuch nicht. Selbst<br />

wenn einige Verhaltensweisen in der<br />

Öffentlichkeit mit bösen Blicken bestraft<br />

werden, so wirkt es befreiend, sich für<br />

einmal den Normen zu entziehen.<br />

Zudem reagieren auch sehr viele Men -<br />

schen positiv auf ein wenig Verrücktheit<br />

in der Öffentlichkeit. Ich rate euch also,<br />

es auch einmal zu versuchen. Zu verlieren<br />

habt ihr höchstens euren Ruf.<br />

Aber wenn dieser nur darin besteht, nie<br />

aus dem Rahmen zu fallen, könnt ihr<br />

sicherlich darauf verzichten.<br />

6/<strong>2015</strong> DÉCEMBRE/DEZEMBER spectrum<br />

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