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Montag, 11.7.1994<br />
28. Kalenderwoche, 5. Jahrgang<br />
Wie unsere Sparkassenzinsen zu politischer Macht und Abhängigkeit verhelfen<br />
„Die Stadt- und Kreissparkasse, das<br />
habt Ihr falsch berichtet, steht nicht im<br />
Eigentum der Stadt Darmstadt, auch<br />
nicht teilweise“, meinte ein Leser aus<br />
Kreisen der Grünen. Doch er liegt<br />
falsch, denn die Stadt Darmstadt teilt<br />
sich mit dem Landkreis Darmstadt-Dieburg<br />
in eine sogenannte Gewährsträgerschaft.<br />
Was wiederum nichts anderes<br />
bedeutet, als daß sich Stadt- und Landkreis<br />
das Eigentum der Bank teilen.<br />
Nach dem Hessischen Sparkassengesetz<br />
können die Gemeinden „neue Sparkassen<br />
errichten“ (§1) und „haben die Aufgabe,<br />
als dem gemeinen Nutzen dienende<br />
Wirtschaftsunternehmen geld- und<br />
kreditwirtschaftliche Leistungen zu<br />
erbringen“ (§2). Nur so wird auch verständlich,<br />
weshalb die Stadt in ihrem<br />
Haushalt Gewinne aus der Sparkasse<br />
verbucht, die grundsätzlich nur Eignern<br />
zustehen; die Sparkasse kann den<br />
Jahresüberschuß an den Gewährsträger<br />
abführen (§16). Kurzum: Die Stadt<br />
macht mit diesem Bankhaus gute<br />
Geschäfte und finanziert ihren Filz. Wie<br />
solches Geldverschenken nicht nur in<br />
(für die Partei) guter Absicht vor sich<br />
geht, sondern zum Druckmittel auch für<br />
die Beseitigung politischer Gegner wird,<br />
zeigt der folgende Bericht.<br />
Geld für Arbeitnehmer<br />
Wo in Frankfurt beispielsweise riesige<br />
Glas-Stahl-Bauten in den Himmel ragen<br />
und dokumentieren, daß heutzutage in<br />
unserem Land mit dem Geldverleih<br />
sicherste und höchste Gewinne erzielt<br />
werden, und in Darmstadt das mollermaßige<br />
Sparkassengebäude am Luisenplatz<br />
die erste Adresse am Ort mit Glas<br />
und Stahl verschandelt, mag die Politik<br />
nicht beiseite stehen und mischt im<br />
lukrativen Zinseinnehmen mit. Als<br />
„Eigenbetriebe“ oder „Versorgungsunternehmen“<br />
werden im Behördendeutsch<br />
solche Unternehmen der öffentlichen<br />
Hand bezeich<strong>net</strong>. Wer nicht das<br />
Gesetz kennt, das hinter einem solchen<br />
Bankhaus steht, merkt nichts davon, daß<br />
unsere PolitikerInnen die eigentlichen<br />
Verantwortlichen sind, denn die Bank<br />
bietet uns keine besonders günstigen<br />
Zinssätze, steht Schuldnern keineswegs<br />
hilfreich beiseite, kurz, es ist eine Bank<br />
wie jede andere, obwohl „den Sparkassen<br />
… die Befriedigung des örtlichen<br />
Kreditbedarfs unter besonderer Berücksichtigung<br />
der Arbeitnehmer, des Mittelstandes,<br />
der gewerblichen Wirtschaft<br />
…“ (§2) obliegt. Diese Aufgabe nahm<br />
die Stadt- u. Kreissparkasse zumindest<br />
in Bezug auf Wohnraum-Spekulanten<br />
sehr ernst.<br />
Zugriff der Politiker<br />
Doch es gibt Unterschiede zu anderen<br />
Geldverleihern: In dem Aufsichtsrat finden<br />
sich die Namen unserer Politiker<br />
Sie lesen<br />
3 Jahrmarkt der Eloquenzen<br />
4 Sicherheit bei Röhm?<br />
5 Wehe dem Schwarzen,<br />
der ein neues Fahrrad hat<br />
7 „Für meine Vaterstadt“<br />
8 Der General und sein Freund<br />
9/10 Friede den Hütten…<br />
11 Parteien-Filzokratie<br />
12 Dani Dackel: Wohin denn nur?<br />
14 Täter Opfer weiblicher Reize<br />
15 Jugendstil: Utopie und Praxis<br />
17 Presse imZensur-Käfig<br />
19 ff Briefe zur ZD<br />
Fine<br />
wieder, auch auf den Personallisten und<br />
gar ein eigens für einen SPD-Politiker<br />
eingerichteter „Assistenten“-Posten ist<br />
öffentlich bekannt. In den Bilanzen tauchen<br />
Konten auf, die in anderen Bankhäusern<br />
vielleicht zwar auch bestehen,<br />
aber nicht dem Zugriff Dritter – beispielsweise<br />
Oberbürgermeistern und<br />
anderen – freigegeben sind.<br />
Zu unkontrollierter Verfügung<br />
Bei der Stadt- und Kreissparkasse trägt<br />
solch ein Konto den Namen „Jubiläumsstiftung“.<br />
Irgendwann einmal ist es mit<br />
Anteilen aus den Gewinnen des Bankhauses<br />
aufgefüllt worden und alljährlich<br />
fließt ein prozentual festgelegter Anteil<br />
des Gewinnes der Bank auf dieses Konto;<br />
1993 allein 400.000 Mark, womit der<br />
Stand heute 1,8 Millionen beträgt. Die<br />
Zinsen daraus und neue Einlagen<br />
(600.000 Mark, 130.271,17 Mark,<br />
111.055,85 Mark) laufen auf zwei weitere<br />
Konten: Eines für den Eigner Stadt<br />
Darmstadt und eines für den Eigner<br />
Landkreis.<br />
So kann Oberbürgermeister Peter Benz<br />
(SPD) in diesem Jahr über 427.296,21<br />
Mark verfügen und der Landrat über<br />
414.030,81 Mark. Diese Zahlen liegen<br />
der ZD schriftlich vor, jedoch sind alle<br />
weiteren Auskünfte gesperrt worden.<br />
Intrigen gehören zum Alltag, wie die<br />
Borniertheiten zur Kleinbürgerseele: Da<br />
kursieren tatsächlich schwarze Listen in<br />
diesem Darmstadt über die LeserInnen<br />
der ZD – wer immer diese Daten zu<br />
sammeln versucht, von der ZD geht<br />
nichts raus. Wie ehrenhaft, liebe Leser-<br />
Innen für sie, wir werden ernst genommen,<br />
sind wichtig; wer die ZD liest, ist<br />
wer. Leider kommen solche Informationen<br />
immer nur teilweise, bruchstückhaft,<br />
so können wir auch nicht melden,<br />
wer das sinnlose Unterfangen gestartet<br />
hat und mit welchem Ziel.<br />
Die Chance<br />
Das ist die Vormeldung des Chronisten,<br />
der dieses Mal drucken muß: Die Zeitung<br />
für Darmstadt ist gezwungen, ihr<br />
Erscheinen einstellen. Im März 1990<br />
erschien die ZD zum ersten Mal, vor<br />
viereinhalb Jahren. Niemand, auch nicht<br />
wir, die HerausgeberInnen, hatten dem<br />
Projekt reelle Chancen eingeräumt.<br />
Kein Bankhaus war bereit, zu finanzieren,<br />
und ob unser Geld reichen würde,<br />
die Zeitung zu etablieren, war mit<br />
großen Fragezeichen versehen. Auf<br />
mehr als 1000 Ankündigungsanschreiben<br />
an PolitikerInnen, Behörden, Parteien,<br />
Gewerkschaften und viele andere<br />
kam keine Resonanz. Jahrelang hatten<br />
DarmstädterInnen gestöhnt, eine zweite<br />
Zeitung müßte her – jetzt lag die Chance<br />
zum Greifen nahe. Doch wie allem Neuen<br />
stand auch die damals konservativ,<br />
rückschrittlich (un-)gebildete sogenannte<br />
große Gesellschaft skeptisch beiseite.<br />
Wer sind die ZeitungsmacherInnen?<br />
Wessen Interessen werden sie vertreten?<br />
Sind das Linke oder vielleicht Grüne?<br />
Mit Hilfe der Gerichte<br />
Das Abwarten zeigte sich in weiter<br />
Distanz und Informationen wurden kurzerhand<br />
vorenthalten. Erst als eine<br />
gerichtliche Anordnung der (angeblich)<br />
sozial-liberal-demokratischen Stadtregierung<br />
unter Metzger den gesetzlich<br />
vorgeschriebenen Weg wies (Herbst<br />
1991), wurde die Informationssperre<br />
gelockert. Auch in den oberen Etagen<br />
hatten die Politiker erkannt: Die Zeitung<br />
lebt länger als erwartet. Mehr als ein<br />
Jahr war dem Experiment nicht gegeben<br />
worden. Das von allen Institutionen –<br />
damals auch von Bürgerinitiativen –<br />
Einzelpreis 5,50 DM<br />
Die letzte Nummer: 73 D 11485 D<br />
Postfach 10 11 01, 64211 Darmstadt, Telefon 0 6151/71 98 96<br />
Am Hahn des goldenen Geldsegens<br />
Sparkassen-Direktor Güde verweigerte<br />
die Annahme eines Telefoninterviews<br />
und OB Benz verhängte Pressesprecher<br />
Rinnert einen Maulkorb: „Keine Stellungnahme“.<br />
Trotzdem war herauszubekommen: Die<br />
Gelder reichen nicht, für die vielen offenen<br />
Hände. Eine der Höhe nach nicht<br />
bezifferte, mindestens aber ebenso hohe<br />
Summe steht bei der städtischen Sparkasse<br />
ebenfalls für freizügig unkontrollierte<br />
Vergabe bereit, der Werbeetat. So<br />
kann Eike Ebert (SPD) beispielsweise –<br />
obwohl nicht mehr Direktor der Spaka –<br />
Werbegelder zusagen.<br />
Orden, Pokale, Geld…<br />
Eigentlich müßten die Gewinne aus dem<br />
Eigenbetrieb Sparkasse ungeschmälert<br />
in den städtischen Haushalt fließen, so<br />
will es das hessische Sparkassengesetz,<br />
nur dann könnten Kämmerer und Parlament<br />
über die Verwendung der Gelder<br />
entscheiden. Doch das ist in Darmstadt<br />
nicht so gewollt, denn ein Stiftungskonto<br />
in der Stadt- und Kreissparkasse hat<br />
den entscheidenden Vorteil: Bis auf<br />
einige wenige weiß niemand, was mit<br />
dem Geld passiert. Da ist beispielsweise<br />
„OB Benz, dessen Lieblings-, Hauptund<br />
Überhauptbeschäftigung darin<br />
besteht, die Gelder des Jubiläumsfonds<br />
mißtrauisch beäugte und belächelte<br />
Blatt hielt sich nicht nur, es gewann<br />
immer mehr AbonnentInnen – allein<br />
1991 wanderten über achthundert vom<br />
Echo ab, mehr als die Hälfte abonnierten<br />
die ZD. Grund genug, die Zeitung weiter<br />
erscheinen zu lassen. Das schmeckte<br />
weder dem SPD-Filz noch den frei- und<br />
sonstwie demokratischen Parteien, denn<br />
daß es weder ein Grünen-, noch ein<br />
sonst wie einzuordnendes Blatt war, hatten<br />
bis dahin alle politisch Tätigen<br />
erkannt.<br />
Druck auf Anzeigenkundinnen<br />
Also wurde die Zensur-Schere wieder<br />
angesetzt, trotz beständigen Hoffens:<br />
Denen muß doch endlich einmal das<br />
Geld ausgehen. Aber es kam nicht<br />
soweit. Viele kleine und mittlere Unternehmen,<br />
vor allem aber eine rapide und<br />
beständig wachsende Zahl von regelmäßigen<br />
LeserInnen durchkreuzte die<br />
parteipolitischen Hoffnungen auf ein<br />
schnelles Ende. Da setzte die SPD zum<br />
nächsten Gegenzug an: OB Metzger<br />
drohte AnzeigenkundInnen der ZD mit<br />
dem Entzug städtischer Aufträge – das<br />
hat zwar einige abgeschreckt, aber es<br />
gab noch genug AnzeigenkundInnen<br />
mit Rückgrat und die LeserInnen wurden<br />
immer mehr. Da der beständige<br />
Kampf um die tägliche Nachricht auch<br />
Machthaber zermürbt, stellte sich<br />
schleichende Gewohnheit ein – die Zensur<br />
lockerte sich. Auch alle Versuche,<br />
das Blatt würde sich einkaufen lassen,<br />
durch die Ehre persönlicher Einladungen<br />
und gelegentlich gestreuter Informationen,<br />
wurden enttäuscht, als die<br />
ersten breiteren Recherchen zeigten:<br />
Käuflich, bestechbar, korrumpierbar ist<br />
dort – außer einem Autoren – niemand.<br />
Im Sommer 93 erschien der erste<br />
zu verschenken“ – meinen Spötter; vielleicht<br />
ist ja was dran.<br />
Da bekommt mal ein Karnevalsverein<br />
eine Stiftungseinlage für einen Orden,<br />
mal ein Sportverein das Geld für den<br />
doch so prächtigen Pokal, ein andermal<br />
die Karnickelzüchter ihre Saalmiete für<br />
ihre Jahresabschlußfeier u.s.w. – eine<br />
Voraussetzung jedoch muß immer gegeben<br />
sein: Wer aus diesem Topf Geld<br />
haben will, braucht entweder das Parteibuch<br />
(SPD/FDP), muß sonst in irgendeiner<br />
Art willfährig und botsam sein, oder<br />
als künftige/r WählerIn in Betracht<br />
kommen, sonst gibt’s nichts.<br />
Das ist eine gute Einrichtung, denn<br />
frau/man stelle sich einmal vor, das Parlament<br />
müsse jedes Mal über die Bittstellereien<br />
der vielen Vereine entscheiden<br />
– nichts wirklich Wichtiges könnte<br />
mehr erledigt werden. Da unsere Oberbürgermeister<br />
sich gern als generös<br />
erweisen, darf dies auch kein Verwaltungsangestellter<br />
abarbeiten, denn dann<br />
käme ihm der Dank zu, und auch und<br />
gerade heute ist immer derjenige König,<br />
der zu vergeben, zu verschenken hat<br />
gleich ob es sein ist …<br />
☛ Fortsetzung Seite 2<br />
Intrigen und das Ende einer Zeitung<br />
Eine Stadt schweigt, weil sie nichts hören, lesen und wissen will<br />
gründlich fundierte Bericht über den<br />
Darmstädter Filz, in den Ebert, Netuschil<br />
und andere eingebunden waren.<br />
Justiz eingeschaltet<br />
Darauf hagelte es Strafanzeigen, die<br />
Justiz schaltete sich ein. Zu dieser Zeit<br />
durchaus noch wohlwollend und gesetzestreu.<br />
Die Angst unter den Genossen,<br />
die fast ausnahmslos irgendwelche Vorteile<br />
aus ihrer Parteizugehörigkeit gezogen<br />
hatten, wuchs. Die betroffenen<br />
Schmidt und Ebert reagierten mit Strafanzeigen<br />
und Zivilklagen, denn irgendwie<br />
mußte das Blatt disziplinierbar sein.<br />
Es beginnt ein ganz mieses Kapitel<br />
Darmstädter Zeitungsgeschichte: Zwischen<br />
Justiz und Politik werden Fäden<br />
geknüpft, um die ökonomische Grundlage<br />
der Zeitung für Darmstadt über Einflußnahme<br />
auf das ehemalige Geschäft<br />
(eine Spedition) des Herausgebers zu<br />
zerstören.<br />
☛ Fortsetzung Seite 3
☛ Fortsetzung von Seite 1<br />
Am Hahn des goldenen Geldsegens<br />
Darmstädter Kulturbegriff<br />
Ob es sich bei dieser Art von Generosität<br />
immer um die angestrebte Kulturförderung<br />
handelt, ist eine Frage der<br />
Auslegung: In Darmstadt jedenfalls ist<br />
der Kulturbegriff unserer Oberbürgermeister<br />
entgrenzt, ganz nach der modernen<br />
Auffassung, daß Kunst alles sei,<br />
was den Anspruch darauf erhebt. So<br />
stand einer Neufassung nichts im Weg.<br />
Kunst-/Kultur-Definition in Darmstadt<br />
lautet: Je SPD/FDP-loyaler, desto künstlerischer.<br />
Wer diese Kriterien erfüllt, ist<br />
Kulturträger und somit unbedingt förderungswürdig.<br />
Zum Ärger und Leidwesen unseres heutigen<br />
Oberbürgermeisters hatte sein<br />
Vorgänger soviel Kunst-/Kulturbeflissene<br />
in Darmstadt zu finden vermocht<br />
(„Stadt der Künste“), daß er bei Übernahme<br />
(1993) seines Ich-Gebe-Gern-<br />
An-Auserwählte-Postens zunächst leere<br />
Kassen vorfand und arbeitslos war.<br />
Doch das hat sich geändert, die<br />
Jubiläumsstiftung verfügt wieder über<br />
entsprechende Mittel und das Dankeschön-Ich-Wähl-Dich-Gern-Lächeln<br />
begeg<strong>net</strong> unserem Stadtoberhaupt auf<br />
Schritt und Tritt.<br />
Verfilztes<br />
Nun ist unser OB ohnehin nicht gerade<br />
ein Freund der Arbeit, klagen städtische<br />
Sachbearbeiter, dafür hat er sich eine<br />
Vielzahl von Referenten zugelegt, doch<br />
sie können ihm nicht die Teilnahmepflicht<br />
an Sitzungen irgendwelcher Vorstände,<br />
oder wie in diesem Fall einer<br />
Jubiläumsstiftung, abnehmen – er müßte<br />
höchstpersönlich erscheinen. Deshalb<br />
hat er diesen Posten lieber seinem<br />
Parteifreund Eike Ebert (Parteivorsitzender,<br />
Bundestagsabgeord<strong>net</strong>er, Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher,Aufsichtsratsvorsitz<br />
in der Stadt– u. Kreissparkasse<br />
u.v.a.) überlassen. Der, als ehemaliger<br />
Sparkassendirektor ohnehin besser<br />
bewandert in Finanzdingen, führt den<br />
Vorsitz über die Sympathisanten-Werbe-Stiftung.<br />
Mit ihm teilen sich ein<br />
Impressum<br />
Verleger und Herausgeber:<br />
Michael Grimm<br />
Unser Team :<br />
Uta Schmitt<br />
Eva Bredow<br />
Sanne Borghia<br />
Nicole Schneider<br />
Peter J. Hoffmann<br />
Ludwig v. Sinnen<br />
und freie AutorInnen<br />
Anzeigen:<br />
verantwortlich<br />
Heiner Schäfer<br />
Gültige Anzeigenpreisliste: Nr. 5<br />
Postanschrift:<br />
Zeitung für Darmstadt<br />
Postfach 10 11 01, 64211 Darmstadt<br />
Telefon 06151/719896<br />
Telefax 06151/719897<br />
Bankverbindungen:<br />
Volksbank Darmstadt<br />
BLZ 508 900 00, Konto 14 111301<br />
Spendenkonto:<br />
Postgiroamt Frankfurt<br />
BLZ 500 100 60, Konto 56 29 29-601<br />
Druck:<br />
Caro Druck<br />
Kasseler Straße 1a, 60486 Frankfurt<br />
Durchschnittliche Auflage:<br />
10.000<br />
Abonnement:<br />
jährlich DM 90,00 incl. 7% MWSt.<br />
Nachdruck und Vervielfältigungen sind nur mit<br />
Genehmigung des Verlages gestattet.<br />
Für namentlich gekennzeich<strong>net</strong>e Artikel oder<br />
Presseberichte von Parteien, Verbänden und<br />
Vereinen übernehmen die jeweiligen AutorInnen<br />
die presserechtliche Verantwortung. Sie sind kein<br />
Spiegel für die Meinung der Redaktion.<br />
Personenbezogene Daten werden<br />
elektronisch gespeichert, ausschließlich intern<br />
für die Verwaltung eingesetzt und nach Ende<br />
des Zeitungsbezugs umgehend gelöscht.<br />
InformantInnen bleiben gemäß gesetzlicher<br />
Grundlage auf Wunsch anonym.<br />
Text und Bild sind mit „QuarkXPress“<br />
auf Apple Macintosh gesetzt und unter Omnis 5 -<br />
Verlagverwaltung organisiert.<br />
(LeserInnen der ZD wohl bekannter)<br />
Freund, Peter Netuschil (FDP) – das löst<br />
das Rätsel, wie die Saalbaugalerie so<br />
prächtig gedeihen konnte, denn die Brüder<br />
Netuschil sind Kunstliebhaber –<br />
sowie ein in Sachen Filz weniger erfahrener<br />
Grüner (Zeitzinger) aus dem<br />
Landkreis und mehrere ohnehin abhängige<br />
Sparkassenangestellte den Job.<br />
Eigentlich hätten sie über die Vergabe<br />
der Gelder zu befinden – aber das ist ein<br />
Ding der Unmöglichkeit, denn selbstverständlich<br />
wollen bittende Parteigänger<br />
nicht ein Jahr oder länger darauf<br />
warten, bis die Gelder fließen, denn der<br />
Jubiläumsstiftungs-Beirat (so der offizielle<br />
Titel) tritt „höchstens einmal jährlich“<br />
zusammen, weiß wiederum ein<br />
ausgeschiedenes Beiratsmitglied. Deshalb<br />
werden in dem Beirat die längst<br />
vergebenen Gelder im Nachhinein abgeseg<strong>net</strong>.<br />
Wille zur Macht<br />
Auch Eike Ebert, selbst Pensionär der<br />
Sparkasse, verfügt über die Mittel dieses<br />
goldenen Topfes nach Belieben, und da<br />
wird die Sache gefährlich. Frau/man<br />
stelle sich vor: Ein Politiker mit dem<br />
ungebeugt strebsamem Willen zur<br />
Macht fördert diesen oder jenen Verein,<br />
eben solange als er ihm genehm. Wehe<br />
dem, der darauf baut und sich die Feindschaft<br />
(gar wegen einer anstehenden<br />
Wahl in den Bundestag) zuzieht, er hat<br />
nichts mehr zu erwarten. So werden die<br />
generösen Geschenke zum Bumerang,<br />
zum Druckmittel, zur gefährlichen Waffe<br />
im Machtkampf, wenn und weil eine<br />
parlamentarische Kontrolle fehlt.<br />
Noch ein Rätsel löst sich auf: Es war der<br />
unbedingte Wille einiger SPD-ler unter,<br />
hinter oder mit Ebert im Verbund, den<br />
neuen Kämmererposten mit einem<br />
getreuen Genossen zu besetzen, der wieder<br />
schweigsam den Geldverschenk-<br />
Praktiken zusehen wird. Was lag da<br />
näher, als einen dienstbeflissenen<br />
Parteifreund aus der Sparkasse zu favorisieren,<br />
der als Eidgenosse seine Loyalität<br />
bereits erwiesen hat? So kamen die<br />
Namen Wolfgang Glenz und Hans-Werner<br />
Erb für den Kämmerer-Posten ins<br />
Spiel.<br />
Unnützes Bauernopfer<br />
Wieso steht unser Geld, aus teuren Krediten<br />
stammend, unter dem Einfluß der<br />
Partei(en) und nicht des Parlamentes?<br />
Sollte wieder jemand meinen, der<br />
Bericht sei nicht objektiv genug, stelle<br />
nur Spekulation dar, so irren sie/er<br />
gewaltig: Gelegentlich ist es sinnvoll,<br />
Postenfilzerei<br />
auch der interessierten Öffentlichkeit<br />
bestimmte (detaillierte und schriftlich<br />
vorliegende) Informationen vorzuenthalten,<br />
denn die unbegrenzte Machtfülle<br />
einiger unserer sozialdemokratischer<br />
Herren könnte für weniger Machtbesessene<br />
und weniger Korrupte das Aus<br />
bedeuten – ihre Arbeit von Jahrzehnten<br />
vernichten. So zügeln wir denn im Interesse<br />
der Kultur und in dem unserer<br />
wenigen Idealisten die Neugier und beugen<br />
uns der Macht der Leute, die von<br />
uninteressierten und unüberlegten<br />
Mehrheiten immer wieder gewählt worden<br />
sind und werden. Dies schützt zwar<br />
den Drahtzieher hinter den Kulissen, der<br />
bedenkenlos und machtversessen seine<br />
Peitsche der Abhängigkeit schwingt,<br />
„die Schweinerei wird so gedeckt“<br />
(Zitat eines Informanten), doch nützen<br />
Bauernopfer niemandem – außer der allgemeinen<br />
Neugier.<br />
Nur – und auch das muß festgehalten<br />
sein: Wer sich aus einem solchen Topf<br />
bedienen läßt, statt die parlamentarische<br />
Kontrolle einzufordern, begibt sich<br />
selbst auf den gefährlichen Weg der<br />
Abhängigkeit, wird zum Helfer in<br />
Sachen Filz – selbst, wenn es noch so<br />
verführerisch ist, einfach zur Bank zu<br />
gehen, das Geld einzusacken und auf<br />
eine gute Zukunft zu hoffen.<br />
Dahinter steckt im übrigen Methode.<br />
Viele kleine Kulturgruppen müssen<br />
immer wieder, für jede Veranstaltung<br />
erneut, Gelder beantragen, bekommen<br />
dann meist weniger als beantragt und<br />
sind zu BittstellerInnen degradiert:<br />
Gleich, ob das Geld aus dem Kulturetat<br />
der Stadt kommt oder aus dem ominösen<br />
Jubiläumsfonds (interner Jargon:<br />
Reptilienfonds). Statt daß den kontinuierlich<br />
arbeitenden Gruppen ein fester<br />
Betrag im Jahr zugesagt wird, mit dem<br />
sie kalkulieren können (wie das Staatstheater<br />
mit seinem 45-Millionen-Etat)<br />
bleiben sie in der steten Abhängigkeit.<br />
Über weitere Seid-Ja-freundlich-Töpfe<br />
ähnlicher Art verfügen auch die städtischen<br />
Unternehmen HEAG und Südhessische<br />
– auch dort handelt es sich um<br />
öffentliche Gelder, mit denen freigiebig<br />
und fördernd oder zensierend umgegangen<br />
wird.<br />
Und die Moral der Geschicht?<br />
Wer am Hahn des gold’nen Geldsegens<br />
sitzt und selbstherrlich auf- und zudreht,<br />
bestimmt das Auf nach dem Ja und das<br />
Zu nach dem Nein geforderter Unterwürfigkeit<br />
– mit dem Ja von uns, solange<br />
wir immer wieder Mehrheit geben.<br />
M. Grimm<br />
Viel steht in den Tageszeitungen derzeit geschrieben über die Suche nach einem<br />
neuen Kämmerer; Ausschreibungen laufen – und doch scheint dies unendlich<br />
schwierig. Der amtierende Kämmerer Otto Blöcker (SPD) verschiebt seine Pensionierung<br />
bis zum Jahresende, obwohl ganze Stapel von Zuschriften von Bewerbern<br />
im Stadtverord<strong>net</strong>enbüro des Eike Ebert (SPD) gesammelt sind. Alle Nachfragen,<br />
was denn mit den Bewerbungen sei, bleiben unbeantwortet. Was ist das<br />
für ein Vorgehen, Posten auszuschreiben und dann die Bewerbungen ungeöff<strong>net</strong><br />
über Monate liegen zu lassen?<br />
Derweil benennt Ebert Bewerber aus eigenen Reihen, deren Namen (besser:<br />
Qualifikation) nicht nur aus Oppositionsprinzip zu öffentlichem Widerspruch<br />
führen; ein anderer SPDler sieht sich gar zum Selbstvorschlag ermutigt und blamiert<br />
sich bis auf die Knochen (daß der überhaupt noch in der Stadt bleibt); und<br />
Oberbürgermeister Peter Benz (SPD) insistiert weiter auf einem auswärtigen<br />
Kandidaten. Doch die Bewerbungsstapel sind da, bleiben weiter ungeöff<strong>net</strong> liegen.<br />
Ärger auch bei Darmstadts Grünen. Dort hat die Fraktion gleich zweimal<br />
beschlossen: Am 7.7. in der Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung soll – unabhängig<br />
von der Kämmerer-Wahl – ihre Magistratskandidatin Daniela Wagner endlich<br />
zur Stadträtin aufgestellt werden – doch obgleich der Fraktionsbeschluß mit der<br />
Koalitionsvereinbarung übereinstimmt – auch ihre Wahl wird vertagt. Zugeständnis<br />
der Spitzengrünen an die SPD, die Fraktion wird undemokratisch übergangen.<br />
Für SPD-Partei-und-Posten-Taktiker ein bravouröser Erfolg: Wagners Wahl ist<br />
weiterhin Faustpfand im Erpressungsspiel: Wenn-ihr-nicht-tut-was-wir-wollendann…<br />
In Sachen Ebert-Wahl: Wenn ihr unseren Kandidaten nicht wählt,<br />
bekommt ihr auch keine Stadträtin.<br />
Warum der unwürdige Verschiebe-Zirkus? Schon wieder Eike Ebert. Verliert er<br />
seine Bundestagswahl am 16.10. und zieht nicht wieder in den Bundestag ein<br />
(sein CDU-Gegenkandidat Storm hat gute Chancen), dann – so war jetzt zu<br />
erfahren – will der ehrgeizige Machtpolitiker selbst Kämmerer werden, weshalb<br />
der Wahltermin vorerst auf den 27.10. festgelegt wurde. Da die SPD ein festzusammengefügter,<br />
monolithischer Block von abhängigen Ja-SagerInnen ist,<br />
erfährt die Presse nichts aus der Genossenreihe und so bleibt es Spekulation, ob<br />
die oben beschriebenen Abläufe Methode von Beginn an waren – zuzutrauen ist<br />
es Ebert.<br />
Frech lancierte Spiegelfechterei? Ebert verbreitet in der Halb-Öffentlichkeit über<br />
den Echo-Schreiber Bert Hensel – so ein Informant – er wolle gern wieder Sparkassen-Direktor<br />
werden. Heute sitzt Güde auf dem Stuhl. So hält Mann sich fortwährend<br />
in öffentlicher Diskussion – ungebrochener Wille zur Macht. sb<br />
Es kam, wie erwartet: Der Grüne Politiker<br />
Jürgen Barth ist vom Darmstädter<br />
Amtsgericht unter Vorsitz von Richter<br />
Conrad Eckhard wegen „Geheimnisverrats“<br />
zu einer Geldstrafe von 7.200 Mark<br />
verurteilt worden. Als Schöffe hatte er<br />
der Verteidigung mitgeteilt, daß seine<br />
MIT-Richter hinter verschlossenen<br />
Türen vor Abschluß eines Verfahrens<br />
bereits geurteilt hatten.<br />
Der Richter, der am 27.6. über Bart zu<br />
richten hatte, wies in seiner Urteilsbegründung<br />
weit von sich: „Politische<br />
Gründe für das Verfahren lagen nicht<br />
zugrunde“. Was versteht der Richter<br />
unter „Politik“? Der berechtigte Verdacht<br />
war aufgekommen, weil der SPD-Politiker<br />
Eike Ebert am 1.6. bereits vor dem<br />
Angeklagten von dem Verhandlungstermin<br />
Kenntnis besaß und das SPD-<br />
Berichterstattungsblatt „Darmstädter<br />
Echo“ aus der Anklageschrift am 11.5.<br />
vor Eröffnung berichtet hatte. Wie dem<br />
auch sei, Eckhard begründete: „Das<br />
Gericht hält es für eine absolute<br />
Anmaßung“, wenn das Beratungsgeheimnis<br />
durchbrochen wird. Der Richter<br />
erkannte deshalb und „weil ich der<br />
Erklärung des Richters Pranz Glauben<br />
schenke“ auf die o.a. Strafe an. Das Urteil<br />
wird nicht rechtskräftig, da die Verteidiger<br />
Rechtsmittel einlegen. sb<br />
Das letzte Wort hat der Angeklagte: „Das<br />
Schöffenamt verlangt in aller erster Linie<br />
Unparteilichkeit. So habe ich auch ca. 6<br />
Jahre mein Amt angesehen und ausgeübt.<br />
In diesem hier anstehenden Prozeß …<br />
geht es um die Frage: Wer war parteilich<br />
und befangen; für wen war Parteilichkeit<br />
und Unbefangenheit oberstes Prinzip?<br />
Unbestritten und Ergebnis dieser Verhandlung<br />
ist, daß die Mitschöffin mit<br />
ihrer Äußerung, ,ich könnte den Angeklagten<br />
glatt ermorden’, gezeigt hat, daß<br />
sie befangen und in der weiteren Verhandlung<br />
nicht mehr unparteilich war.<br />
Wahr ist – vom vorsitzenden Richter<br />
Pranz aber bestritten – die Äußerung von<br />
ihm, ,nur über meine Leiche bekommen<br />
die Angeklagten Bewährung’. Diese ist<br />
in seinem Dienstzimmer gefallen und ich<br />
versichere Ihnen, daß ich erschüttert bin,<br />
daß ein Richter – wegen dieser vergleichsweise<br />
harmlosen Äußerung –<br />
Zuflucht zu einer offensichtlichen<br />
Unwahrheit nimmt und sie bestreitet.<br />
Unparteilichkeit und Unbefangenheit<br />
war bei Pranz nicht mehr gewährleistet.<br />
Von meiner Seite gibt es keine Äußerung,<br />
die Anlaß gibt, an meiner Unparteilichkeit<br />
zu zweifeln. Wenn ich verurteilt würde<br />
wegen parteilicher Äußerungen von<br />
anderen Mitgliedern der<br />
Kammer, hieße das, die Dinge auf den<br />
Kopf zu stellen. Meine Verurteilung<br />
anstelle einer Zurechtweisung der anderen<br />
Kammermitglieder, hieße die<br />
Umkehrung der Rechtslage. Was wird<br />
Ausgabe 73 11.7.1994 · Seite 2<br />
„Wo Wahrheit<br />
zur Unwahrheit wird…“<br />
Barth für schuldig befunden<br />
Richter: Keine politischen Gründe<br />
mir vorgeworfen: Zweimal das Beratungsgeheimnis<br />
verletzt zu haben. Auch<br />
hier haben sich die Vorwürfe in Luft aufgehoben.<br />
Der Vorwurf, ich hätte das<br />
Strafmaß von 26 und 38 Monaten ausgeplaudert,<br />
mußte fallengelassen werden,<br />
da der Vorsitzende Pranz ausgesagt hat,<br />
wir hätten nie definitiv über das Strafmaß<br />
gesprochen. Der zweite Vorwurf, ich hätte<br />
die Mordäußerung der Mitschöffin<br />
nach außen getragen, wird von mir so<br />
weit richtig gestellt, daß sie dies nach der<br />
Beratung, bei offener Tür und für jedermann<br />
hörbar, gesagt hat. Auch hier<br />
bekräftige ich, nie das Beratungsgeheimnis,<br />
wie es gesetzlich definiert ist, gebrochen<br />
zu haben. So sehr ich mich an dieses<br />
Prinzip gehalten habe, so sehr scheint es<br />
dem Vorsitzenden Pranz erlaubt zu sein,<br />
sich darüber hinwegzusetzen und hier in<br />
der Verhandlung Dinge aus dem Beratungszimmer<br />
nach draußen zu tragen, wie<br />
z. B. nicht über das Strafmaß gesprochen<br />
zu haben und die Mordäußerung der Mitschöffin<br />
zu bestätigen.<br />
Auch in diesem Fall bestehe ich darauf,<br />
am Beratungsgeheimnis festgehalten zu<br />
haben, während andere das nicht von sich<br />
behaupten können.<br />
Letztlich wird mir Verleumdung des Vorsitzenden<br />
Pranz vorgeworfen mit seiner<br />
Äußerung ,Nur über meine Leiche<br />
bekommen die Angeklagten eine<br />
Bewährung’. Ich bleibe dabei, diese<br />
Äußerung ist gefallen, warum soll ich sie<br />
erfinden; ich habe es nicht nötig, die<br />
Unwahrheit aufzutischen. Eine Verleumdung<br />
kann ich darin nicht erblicken. …<br />
Und lassen Sie mich noch etwas thematisieren,<br />
selbst wenn mir, der Rechtslage<br />
weniger kundig, im Recht nicht so<br />
bewandert, Fehler unterlaufen sind, so<br />
kann es nicht wahr sein, daß ich als<br />
Schöffe verurteilt werde, während<br />
Berufsrichter unzählige Male befangen<br />
und fehlerhaft frei und unbelangt bleiben.<br />
Wenn hier in diesem Prozeß ein Urteil<br />
rechtlich nicht haltbar ist, so verdichtet<br />
sich für mich der Eindruck, daß hier eine<br />
Tendenz für die Rolle des Schöffen festgelegt<br />
werden soll nach dem Motto: Der<br />
Schöffe soll zustimmen, sich im übrigen<br />
aber heraushalten!<br />
Lassen Sie es mich darum so zusammenfassen:<br />
Nach den Ereignissen und nach<br />
diesen Äußerungen konnte ich nicht<br />
schweigend zur Tagesordnung übergehen;<br />
dabei habe ich weder meine Pflicht<br />
zur Unparteilichkeit noch das Beratungsgeheimnis<br />
verletzt.<br />
Und noch eine letzte Anmerkung. Wenn<br />
es zu meiner Verurteilung kommt, bitte<br />
ich den Vorsitzenden dafür Sorge zu tragen,<br />
daß mein Schöffenamt ausläuft.<br />
Denn in einer Justiz, in der die Dinge auf<br />
den Kopf gestellt werden, wo Wahrheit<br />
zur Unwahrheit wird, habe ich nichts<br />
mehr verloren“. Jürgen Barth
☛ Fortsetzung von Seite 1<br />
Intrigen und das Ende einer Zeitung<br />
Dokumentarische Einzelheiten solcher<br />
Intrigen werden zwar nie beweisbar an<br />
das Licht der Öffentlichkeit geraten,<br />
doch die PolitikerInnen plaudern ihre<br />
Infamitäten in Andeutungen selbst aus.<br />
P.J. Netuschil: „Den werden wir fertig<br />
machen.“ E. Ebert gibt bekannt, daß er<br />
sich mit der Inhaberin des Geschäftes<br />
trifft und versucht damit, den Koalitionspartner<br />
zu beeinflussen. Wie der<br />
Täter an den Ort seiner Tat zurückkehrt,<br />
brüsten sich Politiker gern ihrer intriganten<br />
Verdienste um die Partei – eine<br />
nach vier Jahren nicht mehr kleine Zeitung,<br />
erfolgreich auf hinterhältige Art<br />
bekriegt zu haben. Solche Geschäfte<br />
hinwieder können nur erfolgreich sein<br />
unter tätiger Mithilfe willfähriger Juristen<br />
auch über gesetzliche Grenzen hinaus.<br />
Wie könnte es anders sein in einer<br />
Filzokratie? Sonst wäre sie keine.<br />
Verfressener Zeitgeist<br />
Die Einzelinformationen über Ausländerfeindlichkeiten<br />
verdichten sich 1993<br />
und 1994 immer mehr zu einem<br />
geschlossenen Bild, einer sich schrittweise<br />
an den Abgrund fremdenfeindlichen<br />
Rassismusses bewegenden Gesellschaft:<br />
Die Zeitung als Berichterstatterin<br />
gerät in den Sog des alles fressenden<br />
Zeitgeistes, der Fronten bildet und<br />
Obrigkeitshörigkeit zur Bedingung<br />
macht. Folglich wird unter der rot-grünen<br />
Koalition ab 1993 entgegen aller<br />
anderslautenden Absichtserklärungen<br />
ihres Oberbürgermeisters die Informationsvergabe<br />
immer schmaler, das Hofblatt<br />
Echo offener gefördert.<br />
Zeitgleich gewinnen die infamen Drähtezieher<br />
im finanziellen Untergrund<br />
Boden. Nicht nur, daß der Zeitung<br />
während des gesamten Erscheinungszeitraumes<br />
keine einzige Anzeige der<br />
Stadt in Auftrag gegeben wurde, was<br />
gegen Gesetz verstößt, jetzt kommen die<br />
Hintergrund-Intrigen der Parteimächtigen<br />
zum Zuge: Die Zeitung muß die<br />
ehemalige Spedition des Herausgebers<br />
teilweise mitfinanzieren und alle<br />
Rechtsmittel versagen. Das wie und wer<br />
der wechselseitigen Einflußnahmen<br />
sind wieder nicht beweisbar – es würde<br />
ohnehin nicht nützen, da die Gesetze<br />
nichts gelten.<br />
Der Mißerfolg<br />
So wird denn die Pressefreiheit<br />
stückchenweise beschnitten, verhindert,<br />
auf dem kalten Wege demontiert, liquidiert.<br />
Übrig bleibt das öffentliche Kapi-<br />
talistenlied von der Erfolglosigkeit eines<br />
zum Mißerfolg verdammten Unterfangens<br />
– eine Sprechweise, eine Wirklichkeit.<br />
Die andere: Wer seine Geschäfte zu<br />
Lasten und Kosten der öffentlichen<br />
Hand machen will, kann keine kontrollierende<br />
Presse brauchen – Namen spielen<br />
hier keine Rolle, höchstens, die<br />
wenigen derjenigen (meist Grünen), die<br />
(bislang) keine Vorteile gezogen haben.<br />
Dies wäre nichts mehr und nichts weniger<br />
als die Geschichte einer Zeitung, die<br />
allerdings mehr ist als die miese Intrigenschieberei<br />
vorteilnehmender ParteigängerInnen:<br />
Gleichzeitig mit dem Versuch,<br />
eine unliebsame Presse zu beseitigen,<br />
vollzieht sich ein fortschreitender<br />
Rechtsruck.<br />
Das saubere Einkaufsparadies<br />
In Darmstadt brennen zwar keine<br />
Flüchtlingsheime, aber hier ist es die<br />
rassistisch motivierte Mißhandlung<br />
Schwarzer durch staatliche Ordnungskräfte.<br />
Die Übergriffe häufen sich,<br />
gedeckt durch schweigende (Aufsichts-)<br />
Behörden, PolitikerInnen und die auch<br />
hierzustadt üblich neugierigen<br />
ZuschauerInnen, die sich ausschweigen<br />
über alles, was sie beobachten. Das ist<br />
heutiger Alltag begleitet von täglichem<br />
Geldverdienen und -ausgeben – was<br />
interessiert wen unserer gewählten VertreterInnen<br />
der erfrorene Obdachlose,<br />
der verletzte mit ihrer schweigenden<br />
Duldung zusammengeschlagene Flüchtling?<br />
Nicht mehr, als daß Ordnung und<br />
Sauberkeit in und auf unserem Einkaufsparadies<br />
herrschen.<br />
Der Zeit den Spiegel vorhalten<br />
So gerät die Zensur, das Intrigantentum<br />
gegen eine Zeitung, die schonungslos<br />
und deutlich der Zeit den Spiegel, der<br />
gleichgültigen Unmenschlichkeit vorhält,<br />
in einen Topf: Mit dem Rechtsruck<br />
der bürgerlichen Gesellschaft wird auch<br />
die Pressefreiheit zu Grabe getragen.<br />
Sind sich Justiz und Politik einig und<br />
kontrollieren nach Ausschalten der dritten<br />
Gewalt (Trennung von Politik und<br />
Justiz) auch die vierte, die Presse durch<br />
Mißachtung der Gesetze, dann ist das<br />
vierte Reich nicht fern – nicht, daß sich<br />
genau dasselbe wiederholen würde, nur<br />
neugierig, auf neue und andere Formen<br />
eines bürgerlichen Faschismus’ sind<br />
wir, die HerausgeberInnen der ZD, keineswegs.<br />
Der Niedergang einer freien unabhängigen<br />
Presse und Fremdenfeindlichkeit<br />
gehen Hand in Hand, die Verbindung ist<br />
ebenso banal einfach wie plausibel: Soll<br />
völkische Ordnung und rassische Sauberkeit<br />
via Polizeigewalt Einzug halten,<br />
dann müssen die Ordnungskräfte und<br />
die sie deckenden Behörden unkontrolliert,<br />
unbeobachtet von kritischer<br />
Öffentlichkeit freie Hand behalten. Was<br />
nicht gedruckt ist, was nicht bekannt<br />
wird, was in verschlossenen Amtsstuben<br />
abläuft, wenn Rechtsradikale im öffentlichen<br />
Dienst durch ihre vorgesetzten<br />
Dienstherren gedeckt werden – wo liegen<br />
dann die Unterschiede zwischen<br />
1926 bis 1933 und 1994 bis… ?<br />
Meldung: 90 jüdische Friedhöfe sind<br />
allein 1992 geschändet worden, ebenso<br />
viele wie in der Zeit von 1926 – 1930.<br />
Einen letzten Versuch hatten wir gestartet<br />
mit der Unterschriftenaktion (1455<br />
sind bis zum 7.7. eingegangen darunter<br />
keine eines Politikers) und einem breitgestreuten<br />
Rundschreiben an mehr als<br />
1000 politisch aktive DarmstädterInnen.<br />
Die wenigen Antworten sind bezeichnend.<br />
Kein Stadtverord<strong>net</strong>er, gleich<br />
welcher Partei, hat ein Solidaritätsanschreiben<br />
verfaßt, ein Oberstaatsanwalt<br />
droht gar mit Strafmitteln. Literaten,<br />
Journalisten, Galeristen – kurz die ganze<br />
bürgerliche Mitte schweigt. Künftig<br />
können sie wenigstens, was den Rechtsruck<br />
betrifft, berechtigt sagen: „Wir<br />
haben von nichts gewußt!“ Verschweigen<br />
werden sie den Zusatz: „Weil wir<br />
davon nichts wissen wollten.“<br />
Die Fraktionsvorsitzenden aller Parteien<br />
hatten wir angeschrieben, mit der Bitte,<br />
einen Antrag einzubringen, damit die<br />
ZD künftig die öffentlichen Bekanntma-<br />
Parlament: Jahrmarkt der Arroganzen und Eloquenzen<br />
Lehrer, Rechtsanwälte, Richter, Unternehmer,<br />
Beamte – unsere Stadtverord<strong>net</strong>en<br />
im Debattierklub über „Tafelsilber“,„Nettoquadratmeterverkaufsflächen“<br />
und dem, „Alle wollen dabei<br />
gewesen sein, das Wohl der Stadt vorangetrieben<br />
zu haben“ (OB Peter Benz).<br />
Vier Tage hatten wir das Erscheinen<br />
dieser Ausgabe verschoben, um über die<br />
Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung vom 7.7.<br />
berichten zu können. Gelohnt hat es sich<br />
nicht. Das einzig Interessante war wieder<br />
einmal das, was nicht gesagt wurde.<br />
Aus Sicht des „Darmstädter Echo“<br />
(6.7.): „Vor den Ferien noch einmal<br />
Schwerarbeit“.<br />
Papiertheater -Papiertiger<br />
Und was sollte da so schwer bearbeitet<br />
werden? 19 Fragen, 15 Verwaltungsvorlagen,<br />
23 Anträge der Parteien und drei<br />
große Anfragen – ein wahres Mammutprogramm,<br />
gemessen an der Menge.<br />
Bliebe die Frage nach den Inhalten. Zum<br />
ungezählt wiederholten Mal HEAG-<br />
Hallen, eine Alt-Planung (1987) des<br />
Marktplatzes und zum X-ten Mal die<br />
Eissporthallen-Peinlichkeit. Dies waren<br />
schon die Highlights, denn der „sehr<br />
verehrte Herr Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher“<br />
(Einleitungsformel für Gesprächsbeiträge),<br />
der die Arbeitsliste auf Antrag<br />
der Parteien zusammenstellt, hatte<br />
nichts Interessanteres auf die Tagesordnung<br />
zu setzen (hätte er auch nicht<br />
gewollt) als: Warum eine Wasserspielanlage<br />
nicht in Betrieb sei? (sie ist es seit<br />
5.7.); „Wann der Straßenbelag für den<br />
Heimstättenweg endlich kommt“? (ab<br />
1995). „Was gegen nächtliche Parties<br />
auf einem Schwimmbad-Parkplatz<br />
unternommen werden kann?“ (Ruf nach<br />
Polizei). „Getrenntmüllsammlung“ (der<br />
dann doch wieder zusammengekippt in<br />
der Müllverbrennung landet).<br />
„Papiertheater“. „Ausbau des Taunusplatzes“,<br />
„Ferienkarte in Schwimmbädern<br />
für Kinder“ (gratis wäre selbstverständlich)<br />
– u.s.w..<br />
Vorrang der Ästhetik<br />
Dieser Kurzausschnitt vermittelt einen<br />
Eindruck von der ach so schwer abzuarbeitenden<br />
Wichtigkeiten. Dabei gehen<br />
die wirklich brennenden und wichtigen<br />
Themen an unseren VolksvertreterInnen<br />
schlicht vorbei: Rassismus unter Darmstädter<br />
Polizisten (Dienstherr: der OB)<br />
ist kein diskussionswertes Thema. In<br />
dem hohen Haus wird über den Blick<br />
auf das Schloß gestritten – wegen<br />
geplanter Fahrgast-Überdachungen (siehe<br />
Foto-Montage), während auf dem<br />
Polizeirevier im Schloß, das worauf<br />
frau/man den gefälligen Blick wünscht,<br />
Schwarze mißhandelt werden. Der schöne<br />
Schein verschönt menschenfeindliches<br />
Sein. Das erregt niemanden, alles<br />
schweigt; Vortritt der Ästethik gegenüber<br />
der Menschlichkeit – auch bei<br />
Darmstadt’s Grünen, bei den anderen<br />
wunderts ohnehin niemanden mehr.<br />
Auch Diskussions-Veranstaltungen in<br />
(klein-)bürgerlich begrenztem Rahmen<br />
der selbsternannten „Gegner der Ausländerfeindlichkeit“<br />
des Parlamentes<br />
finden im gerade renovierten Mollerbau<br />
statt, einem schlicht-luxuriösem Bau, –<br />
hinter dem Polizisten im Oberbürgermeister-Auftrag<br />
des „Kampfes gegen<br />
Drogen- und Straßenkriminalität“ Hatz<br />
auf Schwarze machen.<br />
Bezeichnend auch die CDU-Nachfrage<br />
(Klein) nach der „Verwendungsnutzung<br />
der Ernst-Ludwig-Kaserne“, so die<br />
Amerikaner (ab 1996) abgezogen sind.<br />
Hintergrund: Da soll sich doch bitteschön<br />
die Verwaltung dafür einsetzen,<br />
daß da ja keine Asylbewerber hineinkommen.<br />
Die Verwaltung namens Grünewaldt,<br />
Stadtrat, sichert selbstverständlich<br />
eine dort Ausländer ablehnende<br />
Haltung der Stadtregierung zu, das<br />
Problem habe sich durch die sinkende<br />
Zahl der Asylbewerber aber erübrigt –<br />
welch ein Glück (für wen?).<br />
Keine Opposition<br />
Verschwiegen auch: Dem Oberbürgermeister<br />
samt Gehilfen und Beamten ist<br />
es gelungen, die einzige Opposition in<br />
dieser Stadt finanziell und gesetzeswidrig<br />
zu strangulieren – eben dieses Blatt.<br />
Jede/r Stadtverod<strong>net</strong>e/r war in Kenntnis<br />
gesetzt – doch niemand diskutierte.<br />
„Weil kein Antrag vorlag“, würden sie<br />
begründen wollen – doch, einen Antrag<br />
zu stellen, wäre Sache aller, jeder oder<br />
jedes einzelnen gewesen. Mit der Pressefreiheit<br />
haben sie es so wenig wie mit<br />
der Kritik an ihrer Geldrechnerei, ihren<br />
Zahlenspielen, ihren Spiegelfechtereien<br />
um Parkplätze, um Oberzentren, Einzelhandel<br />
etc. Kritik ist schädlich, dem<br />
Ansehen abträglich. Die Öffentlichkeit<br />
soll glauben: Dort wird viel geleistet,<br />
„verantwortungsbewußt für unsere<br />
Stadt“. In Zukunft kann die Öffentlichkeit<br />
nichts anderes mehr erfahren.<br />
Ja-Sager unter sich<br />
Die parlamentarische Opposition steckt<br />
in Darmstädter Problemen: Da die regierende<br />
rot-grüne Koalition ohnehin die<br />
Ziele einer christ- und freidemokratischen<br />
Opposition verfolgt, müssen<br />
Papiertiger her, Argumente gesucht und<br />
gefunden werden. Wie sagt der Ja-Sager<br />
den Ja-Sagern, daß er eigentlich die Rolle<br />
des Nein-Sagers spielt?<br />
Ganz einfach: Alle Themen, die Nein-<br />
Sagen hießen, die Widerpart erforderten,<br />
fallen unter den Tisch: Gähnende<br />
Langeweile.<br />
Und wie sagt der Ja-Sager (Grüne), dem<br />
Ja-Sager (SPD), daß er/sie die Methoden<br />
des Ja-Sagers (SPD) nicht schätzt?<br />
Durch Schweigen. Noch nicht einmal<br />
eine öffentliche Diskussion darüber,<br />
weshalb noch immer keine Stadträtin<br />
Daniela Wagner (Grüne) gewählt wird.<br />
Keine Diskussion auch über die hinterrücks<br />
justitiable Erledigung eines<br />
grünen Gegen-(SPD)Kandidaten (siehe<br />
Barth-Urteil).<br />
Lobenswert, doch wenig brisant, eine<br />
grüne „Erklärung zu den Eintrittspreisen<br />
des Landesmuseums für Kinder“. Die<br />
Liste aller nicht gestellten, nicht diskutierten<br />
Themen wird mit fortdauernder<br />
Koalition immer länger.<br />
„Das ist in Kommunalparlamenten nun<br />
mal so“, meint Daniela Wagner (Grüne)<br />
– muß es denn so sein? Kaum, es ist die<br />
Entscheidung aller, die da mit-machen.<br />
Teurer Spatenstich<br />
Bonmot: Fortschrittlich gesonnene<br />
Stadtverord<strong>net</strong>e diskutieren am liebsten<br />
über Baugebiete und Bauten, in der<br />
bezeichnenden Reihenfolge: 1. Rathäuser,<br />
2. Gewerbegebiete, 3. Straßenbauten,<br />
4. Wohn- und 5. Sozialwohnbauten,<br />
6. Spatenstiche – letzterer soll Anfang<br />
September für den HEAG-Umbau mit<br />
einem 50.000-Mark-Fest begangen werden.<br />
In einer angeblich so armen Stadt<br />
ein teurer Stich. Worüber die vermeintliche<br />
Opposition und die Regierungsbank<br />
ohnehin nicht diskutieren: Zwar<br />
chungen gegen Bezahlung erhält wie<br />
auch das „Echo“ und weiter erscheinen<br />
kann. Die CDU verweist auf den Klageweg<br />
(und sagt damit, daß der Anspruch<br />
gerechtfertigt ist), die FDP meint, wir<br />
sollten mehr Abonnenten werben (was<br />
soviel wie nein bedeutet), die Grünen<br />
bereiteten einen Antrag vor, der scheiterte<br />
jedoch am Einspruch des Koalitionspartners<br />
SPD, der sich gegenüber der<br />
ZD ausschwieg – weshalb es keine<br />
öffentliche Diskussion gab.<br />
Wir, das Team der Zeitung für Darmstadt,<br />
bedanken uns bei unseren AbonnentInnen<br />
und Anzeigeninserenten für<br />
die Unterstützung und ihr aufmerksam<br />
waches Interesse.<br />
Gute Nacht Darmstadt, die Redaktion<br />
gibt es eine Vorlage „Einsparungen im<br />
Haushalt“, doch daß gerade ein Zwei-<br />
Millionen-Geschenk abgelehnt wurde,<br />
vom OB, ist keiner Diskussion wert (siehe<br />
auch: „Für meine Vaterstadt – ein<br />
Millionengeschenk“).<br />
Ein Parlament ohne Opposition ist ein<br />
gediegen langweiliger Jahrmarkt der<br />
Eitelkeiten, der Arroganzen, Eloquenzen,<br />
der Aufgeblasenheiten…<br />
Eine Stadt ohne Opposition? Ein kleiner<br />
Haufen ungestört vorteilnehmender<br />
Mächtiger. Naheliegend: Wenn Ja-<br />
Sager mit Ja-Sagern über das Ja-Sagen<br />
debattieren und schließlich doch Ja<br />
sagen (auch, wenn sie es Nein nennen),<br />
bleibt immer nur das Ja. In diesem Sinne<br />
sei allen Ja-SagerInnen empfohlen,<br />
gleich ja zu sagen, dann wird die ach so<br />
„schwere Arbeit“ leicht, die StaVo kurz,<br />
so kurz wie es ihren Inhalten gebührt.<br />
M. Grimm<br />
Politischer Mord<br />
Jurema Batista, ZD-LeserInnen als<br />
Initiatorin des Kinderprojektes<br />
„Favela do Andarai“ bekannt, ist<br />
Ende Juni in Rio de Janeiro ermordet<br />
worden – getötet wurden auch drei<br />
ihrer Berater, die ebenfalls Mitglieder<br />
linksgerichteter Parteien waren.<br />
Die Stadt Darmstadt hatte ihr Projekt<br />
im Januar mit einem Scheck in Höhe<br />
von 6.400 Mark unterstützt. red.
CHRONIK<br />
23.06.94 DA GROSSFEUER IN ARHEILGEN: Ein Brand in einem<br />
Lager der Firma „Hartmann AG“ verursacht einen Schaden<br />
von 30 Millionen Mark. Giftstoffe sollen nicht freigesetzt<br />
worden sein.<br />
DA-DI BÜRGERENTSCHEID ÜBER DEPONIE? Die erste<br />
Hürde ist genommen: 1.111 Unterschriften, 800 hätten<br />
ausgereicht, für ein Bürgerbegehren gegen der Verkauf<br />
des Gemeindewalds an den Kreis zur Errichtung einer<br />
Haldendeponie.<br />
HERBERT GÜNTHER (SPD) kündigt aus gesundheitlichen<br />
Gründen seinen Rücktritt als Hessischer Innenminister<br />
für den 12.7. an. Nachfolger wird der 47 Jahre alte Gerhard<br />
Bökel, Landrat des Lahn-Dill-Kreises und Präsident<br />
des hessischen Landkreistags.<br />
OZONVERSUCH IN HEILBRONN: vier Tage lang dürfen in<br />
Heilbronn und Neckarsulm nur abgasarme Autos rollen,<br />
die Industrie muß ihre Produktion drosseln. Der badenwürttembergische<br />
Umweltminister will beweisen, daß<br />
Sommersmog-Verordnungen sinnvoll sind. Am Ende des<br />
Tests heißt es: es seien „sensationell niedrige“ Werte des<br />
krebsverursachenden Benzols gemessen worden, die<br />
Schadstoffe gingen insgesamt um 40 Prozent zurück.<br />
EINIGKEIT ÜBER VERFASSUNGSÄNDERUNGEN:„Niemand<br />
darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“,<br />
soll es im neuen Grundgesetz heißen, der Umweltschutz<br />
soll als Staatsziel hinein, das Gleichberechtigungsgebot<br />
für Frauen gestärkt werden.<br />
FRANZÖSISCHE SOLDATEN IN RUANDA: unterstützt von<br />
Fremdenlegionären. Sie haben mit ihrem offiziell<br />
bezeich<strong>net</strong>en (und von der UNO gutgeheißenen) Rettungseinsatz<br />
allerdings so lange gewartet, bis fast alle zu<br />
rettenden Menschen umgekommen waren – mehr als um<br />
Humanitäres geht es Paris wohl darum, seinen Einfluß in<br />
der Region zu retten.<br />
24.06.94 SCHIESSEREI AUF DER ZEIL: Ein 24jähriger Kosovo-Albaner<br />
erschießt in der Frankfurter Innenstadt einen Landsmann,<br />
drei Passanten werden verletzt. Er wird festgenommen.<br />
VERGIFTETES TRINKWASSER: Die EU-Landwirtschaftsminister<br />
beschließen mit einer neuen Pestizidverordnung<br />
die weitere Vergiftung des Trinkwassers – Pestizide wie<br />
Atrazin, Lindan und DDT dürfen nun ins Grundwasser<br />
gelangen. Für einzelne Gifte könnte die Belastung bis zu<br />
2.000 mal höher liegen als bisher erlaubt.<br />
25.06.94 KURDINNEN DEMONSTRIEREN: 50.000 bis 80.000 KurdInnen<br />
ziehen friedlich durch Frankfurt, um gegen die Politik<br />
der Türkei zu demonstrieren.<br />
26.06.94 LANDTAGSWAHL IN SACHSEN-ANHALT: Die CDU<br />
erreicht 34,7 %, SPD 34,1 %, FDP 3,5 %, PDS 19,6 %,<br />
Grüne 5,0%. Die SPD will mit den Grünen eine Minderheitsregierung<br />
bilden, die PDS sagt zu, den SPD-Mann<br />
Höppner zum Regierungschef zu wählen.<br />
ZEITBOMBEN IN DER UKRAINE: Mit einer Milliarde Mark<br />
will die EU einige ukrainische Atomreaktoren, z. B.<br />
Tschernobyl, stillegen und dafür neue bauen.<br />
27.06.94 DA BEITRITT ZUM RMV: Die Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung<br />
votiert einstimmig für einen Beitritt zum „Rhein-<br />
Main-Verkehrsverbund“.<br />
ABSCHIEBUNG TROTZ GERICHTSSCHUTZ: Die Stadt<br />
Kleve läßt einen zairischen Asylbewerber abschieben,<br />
obwohl das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen<br />
in Münster dies ausdrücklich untersagt<br />
hatte. Bela W. ist aidskrank.<br />
GOLFKRIEGSSYNDROM: Eineinhalb Jahre nach Ende des<br />
Golfkriegs findet eine Studie heraus, daß 32,4 % der<br />
zurückgekehrten US-amerikanischen Soldaten unter<br />
unerklärlichen Krankheitserscheinungen wie Müdigkeit,<br />
Kopfschmerzen, Gleichgewichtsverlust sowie Seh- und<br />
Atemprobleme litten. Jetzt hat das Pentagon Teile daraus<br />
veröffentlicht.<br />
28.06.94 AB 240 MIKROGRAMM OZON pro Kubikmeter Luft in drei<br />
der 33 hessischen Meßstationen will die Hessische Landesregierung<br />
diesen Sommer Ozonalarm ausrufen. Dann<br />
gilt Tempo 90 auf Autobahnen, Tempo 80 auf Landstraßen.<br />
29.06.94 BUNDESTAG VERABSCHIEDET POSTREFORM: Der SPDdominierte<br />
Bundesrat kann sie allerdings noch stoppen.<br />
30.06.94 POLIZIST ERSCHIEßT JUNGEN KURDEN: In Hannover<br />
erschießt ein Polizist aus nächster Nähe einen 16jährigen<br />
Kurden, der Plakate geklebt hatte. Offiziell heißt es, der<br />
Schuß habe sich aus Versehen gelöst, Augenzeugen wollen<br />
gesehen haben, daß es ein gezielter war.<br />
VERJÄHRUNGSFRIST BEI KINDESMIßBRAUCH: .Galt<br />
bisher eine Verjährungsfrist von zehn Jahren, kann das<br />
Opfer jetzt seinen Täter bis zum 18. Lebensjahr anklagen.<br />
Daß diese Regelung doch noch den Bundestag passiert<br />
hat, ist dem fraktionsübergreifenden Abstimmungsverhalten<br />
der Politikerinnen zu verdanken.<br />
01.07.94 ROMAN HERZOG tritt sein Amt als Bundespräsident an.<br />
03.07.94 GERHARD ZWERENZ tritt in Hessen auf Platz 1 der PDS-Liste<br />
für den Bundestag an.<br />
LI PENG BEI KANZLER KOHL: Mit allen Staatsehren wird<br />
der chinesische Ministerpräsident – verantwortlich für<br />
das militärische Niederknüppeln der chinesischen Demokratiebewegung<br />
vor fünf Jahren auf dem „Platz des<br />
Himmlischen Friedens – in Bonn begrüßt. Auf das Thema<br />
Menschenrechte werde hingewiesen, hieß es offiziell.<br />
Ergebnis seiner Reise ist: Peng kann 40 Verträge in Milliardenhöhe<br />
mit in sein Land nehmen.<br />
05.07.94 NEUES ASYLRECHT: Die Zahl der Asylsuchenden ist um 66<br />
Prozent gesunken, gestiegen ist die der Abschiebungen<br />
um mehr als das Dreifache (36.358 Fälle 1993).<br />
KEIN ASYLGRUND: Das Bundesverwaltungsgericht hebt eine<br />
Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichts auf,<br />
wonach Kosovo-Albaner asylberechtigt waren, weil sie<br />
in ihrer Heimat politisch verfolgt werden. Die Entscheidung<br />
betrifft etliche tausende Flüchtlinge, die in der Bundesrepublik<br />
Asyl beantragt haben.<br />
Die Firma Röhm GmbH plant im Südwest-Bereich<br />
ihres Firmengeländes in<br />
Darmstadt ein neues Faßlager in dem ca.<br />
370 Tonnen sehr giftige, giftige, leichtentzündliche,<br />
ätzende und brandfördernde<br />
Stoffe gelagert werden sollen.<br />
Sie hat dazu beim Regierungspräsidium<br />
einen Antrag auf Genehmigung<br />
eingereicht. Noch bis zum 13.7.94<br />
besteht für jedermann die Möglichkeit,<br />
hiergegen eine Einwendung einzulegen.<br />
In dem neuen Lager sollen Gefahrstoffe<br />
in Fässern und Gebinden von 1 m3<br />
Größe eingelagert werden. Hierzu werden<br />
Regalboxen aus Stahl aufgestellt,<br />
die nach einer Seite offen sind. In diesen<br />
Boxen sollen die Fässer in mehreren<br />
Ebenen auf Metallgitterrosten abgestellt<br />
werden. Aus den Boxen werden drei<br />
Gassen gebildet, in der sich je Seite drei<br />
Regalboxen gegenüberstehen. Eine<br />
Gruppe aus sechs derartigen Boxen soll<br />
dabei von den anderen durch eine<br />
Brandwand abgetrennt werden. Ansonsten<br />
werden die Gassen mit den Boxen<br />
an beiden Enden durch Tore verschlossen<br />
und nach oben durch transparente<br />
Kunststoffplatten abgedeckt. Die Einund<br />
Auslagerung der Gefahrstoffe soll<br />
mit normalen Gabelstaplern erfolgen.<br />
Es sollen 16 Tonnen sehr giftiger Stoffe<br />
eingelagert werden. Darunter auch<br />
Wenige Menschen weltweit werden<br />
immer reicher, immer mehr Menschen<br />
dafür immer ärmer. Wir Industrienationen<br />
leben auf Kosten der sogenannten<br />
Dritten Welt. Nur wenige Nutznießer dieser<br />
Ausbeutung tangiert dies. Aber es gibt<br />
Ausnahmen: Menschen, die für eine<br />
gerechtere Verteilung des Reichtums und<br />
Wohlstands eintreten. Wie zum Beispiel<br />
jene rund 400 Mitglieder der „Aktion<br />
Selbstbesteuerung e.V. – Friede und<br />
Gerechtigkeit für die Eine Welt“ („asb“).<br />
Sie zahlen 2 bis 3 Prozent ihres Nettoeinkommens<br />
als „freiwillige Entwicklungssteuer“<br />
zunächst an den Verein. Jedes<br />
Jahr beschließen die Mitglieder wie und<br />
wofür das Geld verwendet werden soll.<br />
Es fließt zum einen etwa hälftig in den<br />
Ländern der sogenannten Dritten Welt in<br />
Projekte, die „einen Beitrag zur Selbstbefreiung<br />
und verstärkter Unabhängigkeit<br />
leisten können“ und zum anderen werden<br />
in der Bundesrepublik Kampagnen, Kongresse,<br />
Aktionen und Veröffentlichungen<br />
finanziell unterstützt, „die auf ein verändertes<br />
Denken und Handeln der Menschen<br />
hinwirken sollen … Weil wir davon<br />
überzeugt sind, daß nationaler Egoismus,<br />
Ausländerfeindlichkeit und Rassismus im<br />
Endergebnis allen, also auch den Urhebern<br />
selbst, schadet, vertrauen wir darauf,<br />
daß ein verändertes Denken erreichbar ist,<br />
das nicht nur sehr giftige, sondern<br />
auch krebserzeugende Dimethylsulfat.<br />
Insgesamt sollen 80 Tonnen giftige<br />
Stoffe gelagert werden, die zusätzlich<br />
z.T. leichtentzündlich, reizend<br />
und/oder krebserzeugend sind.<br />
Bei den zusätzlich 270 Tonnen wassergefährdender<br />
Stoffe, die z.T. noch<br />
ätzend und reizend sind, will sich die<br />
Firma Röhm nicht genau festlegen, welche<br />
Stoffe sie eigentlich lagern will. Sie<br />
gibt nur Beispiele in einer nicht abschließenden<br />
Liste an.<br />
Die Art und Menge der eingelagerten<br />
Stoffe macht deutlich, daß ein erhebliches<br />
chemisches Gefahrenpotenial<br />
auf dem Werksgelände der Firma<br />
Röhm an der Kirschenallee vorhanden<br />
ist, das nun teilweise in dem<br />
Faßlager konzentriert wird. Auch nur<br />
eine teilweise Freisetzung der in dem<br />
Lager enthaltenen Stoffe könnte zu einer<br />
akuten Gefährdung der Menschen<br />
führen, die in der Nähe der Kirschenallee<br />
arbeiten oder gar wohnen.<br />
Eine kursorische Prüfung der Technik<br />
des Lagers zeigt, daß hier erheblich<br />
gespart wurde. Die geplante Sicherheitstechnik<br />
entspricht nicht dem<br />
Stand der Technik, der laut Gesetz<br />
eingehalten werden müßte. Bei den<br />
Regalboxen für die Lagerung der brennbaren<br />
Flüssigkeiten wurde die billigste<br />
wenn nur genügend Menschen beharrlich<br />
genug dafür arbeiten.“<br />
1993 konnten die Mitglieder insgesamt<br />
112.970,50 Mark an einzelne Projekte<br />
verteilen – so etwa 15.000 Mark an die<br />
Bauernbewegung in Guatemala, 4.800<br />
Mark zur Bildung für die Landbevölkerung<br />
in der Dominikanischen Republik<br />
oder 1.500 Mark zur „Koordination<br />
gegen Bayer-Gefahren: Kampagne gegen<br />
Repressionen in Uruguay/Brasilien“<br />
sowie 6.000 Mark Zuschuß für den Hauskauf<br />
eines Dritte-Welt-Ladens ins Losheim.<br />
Jene geförderten Projekte, so<br />
erzählt die zweite Vorsitzende und Darmstädterin<br />
Waltraud Rexroth, berichten<br />
dem Verein jährlich darüber, wie sie das<br />
Geld verwendet haben. Der Geschäftsführer<br />
der „asb“ mit seiner Drittelstelle sei<br />
der einzige, der Lohn für seine Arbeit<br />
erhält – alle anderen arbeiteten ehrenamtlich.<br />
In der Bilanz 93 ist sein Gehalt mit<br />
12.623,72 Mark ausgewiesen.<br />
Dieses Jahr feierte die „asb“ 25jähriges<br />
Jubiläum in Darmstadt, mit einer Podiumsdiskussion<br />
am 25.6. in der Kreuzkirche<br />
Darmstadt-Arheilgen. vro<br />
Wer sich für die „asb“ interessiert, kann<br />
sich an Waltraud Rexroth wenden: Soderstraße<br />
100, 64287 Darmstadt, Telefon<br />
46790.<br />
Ausgabe 73 11.7.1994 · Seite 4<br />
Sicherheit der Darmstädter<br />
ist Röhm keine Mark wert<br />
Bei einem neuen Faßlager für Gefahrstoffe<br />
soll nach dem Willen des Pharmariesen gespart werden<br />
Stromausfall bei Röhm?<br />
28.6.1994 – 0.20 Uhr: Gerade ist eines<br />
der sommerlichen Gewitter vorbei, da<br />
taucht ein merkwürdiges Geräusch auf –<br />
hört sich fast an, wie ein städtisches<br />
Straßenreinigungsfahrzeug; es hält drei<br />
bis vier Minuten an, dann kommt es<br />
wieder. Undsoweiter – mehr als eine<br />
halbe Stunde. Dann stinkt es auch schon<br />
im Bahnhofsviertel. Methylmetacrylat<br />
signalisiert die Nase, wer des Gestankes<br />
erfahren ist. Ein Blick auf das Werksgelände<br />
von Röhm bestätigt: eine riesige<br />
Abluftwolke von 100 bis 200 Metern<br />
Durchmesser schwebt über der Chemieküche.<br />
Jedes Mal, wenn das<br />
Geräusch wieder auftaucht, vergrößert<br />
sich die Wolke – und dann ist auch das<br />
Geräusch klar: So, nur leiser pfeift auch<br />
das Überdruckventil des Dampfdrucktopfes.<br />
Ein Anruf bei der Polizei führt zu der<br />
beruhigenden Auskunft: „Wir kümmern<br />
uns darum“. Irgendwer bei Röhm am<br />
Telefon meint: „Wir haben Stromaus-<br />
fall“ und die direkt benachbarte Feuerwehr<br />
gibt Auskunft: „Wir riechen<br />
nichts, wir haben eine Klimaanlage“.<br />
Und außerdem: „Was sollen wir denn<br />
machen?“<br />
Keine fünf Minuten nach dem Anruf bei<br />
Röhm ist Ruhe. Die Wolken ziehen in<br />
Richtung Waldkolonie ab. Die Überdruckventile<br />
wurden geöff<strong>net</strong> mit einsetzendem<br />
Wind, sonst hätte die Wolke<br />
über der Stadt gestanden – Zufall oder<br />
Absicht?<br />
Wir erinnern an die Serie von Chemie-<br />
Unfällen bei der Firma Hoechst im Jahr<br />
1993. Danach hatte Hessens Umweltminister<br />
Fischer (Grüne) erklärt, alle Chemiefirmen<br />
würden überprüft und sogenannte<br />
„offene Systeme“ seien nicht<br />
mehr zulässig, müßten in geschlossene<br />
umgebaut werden. Die ZD fragte mehrmals<br />
an und bat um Bekanntgabe der<br />
Prüfungstermine – das Ministerium<br />
schweig sich aus. mg<br />
Gerechtigkeit für die Eine Welt<br />
„Aktion Selbstbesteuerung“: Seit 25 Jahren<br />
gibt es Menschen, die freiwillig mehr zahlen<br />
Ausführung gewählt. Von der gleichen<br />
Herstellerfirma werden weitaus bessere<br />
Boxen angeboten, die kleiner sind und<br />
auch nach vorne durch eine feuerfeste<br />
Tür verschlossen sind. Aus derart verschlossenen<br />
Boxen können bei einem<br />
Brand Schadstoffe nur in geringem<br />
Maße nach außen dringen, was gerade in<br />
der Kirschenallee besonders wichtig<br />
wäre. Für die Lagerung der Stoffe, die<br />
unter Hitzeeinwirkung polymerisieren<br />
können (d.h. unter Energieabgabe mit<br />
sich selbst reagieren), könnten Regalboxen<br />
aus Beton statt Stahl verwendet<br />
werden. Geräte ein Teil des Lagers in<br />
Brand, so würden sich die Fässer in den<br />
benachbarten Boxen langsamer erhitzen,<br />
als bei Stahlboxen. Die zur<br />
Abdeckung der Lagergassen gewählte<br />
Kunststoffabdeckung soll zwar nicht<br />
brennbar sein, würde jedoch bei einem<br />
Brand schmelzen und herabtropfen.<br />
Die nachts immerhin sechs Mann starke<br />
Werksfeuerwehr der Fa. Röhm wird<br />
deshalb wohl keine Brandbekämpfung<br />
im Lager selbst durchführen können,<br />
wenn sie sich nicht einem Regen aus<br />
geschmolzenem Kunststoff aussetzen<br />
will. Sie wird sich wegen der Dachkonstruktion<br />
auf einen Löschangriff von<br />
außen beschränken müssen. Auch<br />
gehört es zur Eigenart von Bränden in<br />
Faßlagern, daß einzelne Fässer mit<br />
leichtentzündlichen Stoffen durch Hitzeeinwirkung<br />
explodieren und dann untzer<br />
Umständen mehrere hundert Meter<br />
durch die Luft geschleudert werden. Die<br />
immerhin doppelwandigen Kunststoffplatten,<br />
die wohl von Röhm selbst stammen<br />
dürften, werden kaum in der Lage<br />
sein, derartige Fässer zurückzuhalten.<br />
Wenn ein derartiges Lager an dieser<br />
Stelle (Nähe zur Wohnbebauung)<br />
tatsächlich erforderlich sein sollte, so<br />
muß es auch tatsächlich der besten verfügbaren<br />
Sicherheitstechnik entsprechen.<br />
Hierzu gehört grundsätzlich eine<br />
möglichst weitreichende räumliche und<br />
bauliche Trennung der Stoffe. Also die<br />
Aufstellung von kleineren und geschlossenen<br />
Regalboxen, die zusätzlich durch<br />
Betonwände voneinander getrennt und<br />
zur Straße hin abgeschirmt sind. Die<br />
verschiedenen Stoffe müssen in diesen<br />
Boxen getrennt gelagert werden. Hierbei<br />
muß nicht nur den sehr giftigen und<br />
giftigen Stoffen Beachtung geschenkt<br />
werden, sondern auch denen, die ätzend,<br />
krebserzeugend oder reizend sind, sowie<br />
den Stoffen, die polymerisieren können.<br />
So darf z.B. nicht die Möglichkeit bestehen,<br />
daß die zur Einlagerung vorgesehene<br />
Chlorbleichlauge bei einem Unfall<br />
mit Säuren in Kontakt kommen kann, da<br />
sich dann giftiges Chlorgas bildet. Sie<br />
darf ebenfalls nicht mit einem polymerisationsfähigen<br />
Stoff in Kontakt treten,<br />
da dieser dann zu reagieren beginnen<br />
könnte und die freiwerdende Wärme die<br />
Fässer möglicherweise zum explodieren<br />
bringt.<br />
Wenn Ihnen die Gefahren durch dieses<br />
neue Lager nicht gleichgültig sind,<br />
so haben Sie bis zum Mittwoch den<br />
13.7.94 Gelegenheit, eine Eingabe<br />
beim Regierungspräsidium zu<br />
machen. Eine derartige Einwendung<br />
kostet Sie nichts (außer dem Papier) und<br />
verpflichtet Sie zu nichts. Sie ermöglicht<br />
Ihnen nur die Beteiligung an dem<br />
weiteren Genehmigungsverfahren, von<br />
dem Sie bei Fristversäumung ansonsten<br />
ausgeschlossen sind. Unterlassen Sie die<br />
Einwendung, so sind spätere Rechtsmittel<br />
gegen das Lager für alle Zeit ausgeschlossen.<br />
Für den Erörterungstermin, auf dem die<br />
Einwendungen zwischen den Einwendern,<br />
der Firma Röhm und dem Regierungspräsidium<br />
diskutiert werden, wurde<br />
der 1.9.94 bestimmt. Er beginnt um 9<br />
Uhr beim Regierungspräsidium, Wilhelminenstr.<br />
1-3, Zi. 2419.<br />
Achtung: Einwendungsende ist der<br />
13.7.1994. Es gilt nicht das Datum des<br />
Poststempels, sondern die Einwendung<br />
muß bis 24 Uhr dieses Tages beim<br />
Regierungspräsidium vorliegen (Das<br />
Regierungspräsidium, Luisenplatz 2,<br />
hat einen Fristbriefkasten, in den man<br />
die Einwendung einwerfen kann).<br />
Peter Küppers, Koordinationsstelle<br />
Genehmigungsverfahren, Öko-Institut<br />
Darmstadt
Marktplatz<br />
ohne Grün?<br />
Mit alten „Ingenieurszeichnungen“ und<br />
einem Vorentwurf des Architekten Udo<br />
Nieper wartete Oberbürgermeister Peter<br />
Benz (SPD) in einer Pressekonferenz<br />
auf: Der Marktplatz soll neu gestaltet<br />
werden. Die Ingenieurspläne sind für<br />
die Straßenbahnschienen entworfen und<br />
Nieper (hat auch die Zeil gestaltet) soll<br />
den Marktplatz mit „urbanem Flair“ versehen.<br />
Doch darum gab’s schon Streit:<br />
Der Architekt hatte für Wartende eine<br />
Überdachung vorgesehen, die den Blick<br />
vom Rathaus auf das Schloß verschandelt<br />
hätte. Da sich alle Beteiligten der<br />
Pressekonferenz des Kaffeesatzes vergangener<br />
Tage (1988) darüber einig<br />
waren, dies nicht mehr so zu wollen, sollen<br />
neue Pläne (ohne Zeitvorgabe) in<br />
Auftrag gegeben werden.<br />
Stolz erwähnte Benz, daß die Planung in<br />
Angriff genommen werden könne,<br />
nachdem die Marktplatz-Tiefgarage<br />
vom Tisch sei. Einstmals von der<br />
SPD/FDP-Koalition vehement verfochten<br />
und fast realisiert, konnten die Grünen<br />
eine wachsende Autoflut bremsen:<br />
Es war unter anderem eine ihrer Bedingungen<br />
für die heutige Koalition.<br />
Nichts wird am Marktplatz passieren,<br />
wenn nicht Landesmittel für den Umbau<br />
der Straßenbahnschienen bereit gestellt<br />
werden. Tröstlich für die AnliegerInnen,<br />
Lärm, Staub und neues Pflaster lassen<br />
auf sich warten. In dem Vorentwurf des<br />
Architekten Nieper von 1988 war kein<br />
bißchen Grün, kein Baum, kein Strauch<br />
– hoffen wir auf vielleicht gewandelte<br />
Einsicht. Auf der Zeil jedenfalls gibt es<br />
Blumenkastenbäume.<br />
Die CDU begrüßt, „daß Bewegung in<br />
die Planungen kommt“, da der „Ostbereich<br />
der Innenstadt wirtschaftlich<br />
zurückgefallen ist“, begründet Dr.<br />
Rüdiger Moog. Kritik hat auch Eva Ludwig:<br />
„In der Magistratsvorlage für den<br />
Ausbau steht nichts über die Finanzierung“.<br />
Von einer Million Mark und<br />
mehr ist die Rede, „soviel kostet nur das<br />
Pflastern“. Die Christdemokraten meinen<br />
, „ein Lattengerüst sollte anstelle der<br />
sieben Meter hohen geplanten Überdachung<br />
der Haltestellen vor dem Schloß<br />
aufgebaut werden, damit man sich vorstellen<br />
kann, wie sehr das den Blick auf<br />
das Schloß stört.“ Sie wenden sich auch<br />
dagegen, „den Platz um eine Haltestelle<br />
herm zu konzipieren“ – vielleicht, weil<br />
ihnen der geplante Nahverkehrsknotenpunkt<br />
nicht schmeckt?<br />
Die Foto-Montage soll einen Eindruck<br />
von der bestehenden Planung des<br />
Marktplatzes geben. Heiner Schäfer hat<br />
nach Vorlage der Architektenpläne eine<br />
fast gleiche Überdachung gesucht<br />
gefunden und vor das Schloß montiert.<br />
sb<br />
Rechtsradikale sind<br />
keine Terroristen<br />
„Keine terroristische Vereinigung“<br />
vermochte das Bundeskriminalamt<br />
hinter den rechtsradikalen Verfassern,<br />
der Liste „Einblick“ zu erkennen.<br />
Im November 93 sorgten sie für<br />
Aufruhr nicht nur unter Linken, sondern<br />
auch im Bürgertum: Richter,<br />
Professoren, Anwälte und viele<br />
andere fanden ihre Namen, Adressen,<br />
zum Teil auch Kfz-Kennzeichen<br />
darin wieder. In der Liste soll zu<br />
Straftaten aufgefordert worden sein,<br />
weshalb die Darmstädter Staatsanwaltschaft<br />
die Ermittlungen aufgenommen<br />
hat; 35 private Strafanträge<br />
liegen vor. Eile ist geboten, denn<br />
nach Presserecht gilt die Verjährungsfrist<br />
von sechs Monaten.<br />
Von 500 Drucken beschlagnahmte<br />
das BKA 299. An die Darmstädter<br />
Staatsanwaltschaft wurde das Verfahren<br />
abgegeben, weil eine der<br />
Beteiligten (19) in Rüsselsheim<br />
wohnte. Ein Wiesbadener (26), ein<br />
Mainzer (22) und ein Verleger aus<br />
Bayern (63) werden vor Gericht<br />
gestellt wegen Aufforderung zu<br />
Straftaten, Beleidigung und versuchter<br />
Nötigung. Gegen vier weitere<br />
Beschuldigte wurden die Ermittlungen<br />
eingestellt, wegen Mangels an<br />
Beweisen. mg<br />
Wehe dem Schwarzen,<br />
der ein neues Fahrrad hat<br />
Ausgabe 73 11.7.1994 · Seite 5<br />
Wieder Übergriffe der Polizei gegen Ausländer! Wieder Schweigen in der Öffentlichkeit?<br />
Wie fremdenfeindlich ist Darmstadt?<br />
Diese Frage hatten wir in<br />
der letzten Ausgabe gestellt, jetzt<br />
wird sich die Landesregierung<br />
damit befassen.<br />
Eine Anfrage wegen des fremdenfeindlichen<br />
Vorgehens von Polizei und Justiz<br />
gegen den Ghanaer Osman Seidu * (siehe<br />
ZD Ausgaben 50, 71, 72) will die<br />
Grüne Landtagsabgeord<strong>net</strong>e Daniela<br />
Wagner im Landtag einbringen. Dies<br />
war neben einer Leserin, die wegen des<br />
Sammelns von Spenden für die Prozeßkosten<br />
Osman Seidus bei der ZD angerufen<br />
hatte, die einzige öffentliche<br />
Reaktion auf die Berichterstattung über<br />
den Prozeß gegen ein Opfer der Polizei.<br />
Finanzielle Unterstützung für Seidu hat<br />
auch Jörg Schader von der „AGAR“<br />
zugesagt.<br />
Unser Oberbürgermeister Peter Benz<br />
(SPD) ist nach dem Hessischen Gesetz<br />
für Sicherheit und Ordnung § 57 der<br />
Vorgesetzte der Polizisten; er schweigt,<br />
ebenso die Aufsichtsbehörde, vertreten<br />
durch Regierungspräsident Horst Daum<br />
(SPD), ebenso alle Parteien und PolitikerInnen.<br />
Die Beamten hatten öffentlich im Verfahren<br />
zugegeben, ihr Opfer geschlagen,<br />
als „Scheiß Neger“ beschimpft und auf<br />
den gefesselten, in einer Zelle eingesperrten<br />
Mann, einen Hund losgelassen<br />
zu haben.<br />
Frankfurter Reaktionen<br />
Nachdem in Frankfurt am 1.7. ein Ugander<br />
von Neo-Nazis zusammengeschlagen<br />
worden war, hat der dortige Oberbürgermeister<br />
Schoeler eine Belohnung<br />
von 10.000 Mark für Hinweise ausgesetzt,<br />
die zur Ergreifung der Täter<br />
führen; die Staatsanwaltschaft hat weitere<br />
5.000 Mark Belohnung bereitgestellt.<br />
In Darmstadt sind die Täter<br />
bekannt, die Staatsanwaltschaft hat die<br />
Ermittlungen gegen sie eingestellt – und<br />
alle anderen? Siehe oben.<br />
Der neue Bundespräsident Herzog in<br />
seiner Amtsrede:<br />
„Wer selbst nicht weiß, daß man<br />
lebendige Menschen nicht in Brand<br />
steckt, daß man sie nicht zusammenschlägt<br />
oder durch Städte jagt, dem<br />
muß das eben auch mit den Machtmitteln<br />
des Rechtsstaates klar<br />
gemacht werden“.<br />
Derweil mehren sich die Meldungen<br />
über Schlägereien zwischen Polizeibeamten<br />
und Ausländern. Die Meldung<br />
über den folgenden, jüngsten Fall hat die<br />
Pressestelle der Polizei selbst verbreitet.<br />
Im Wortlaut:<br />
„Polizeiaktion mit Schwierigkeiten:<br />
Beamte der Verwendungseinheit der<br />
Darmstädter Polizei führten am Dienstag<br />
(28.6.) am Luisenplatz und im<br />
Herrngarten eine Aktion zur Bekämpfung<br />
der Drogenszene und der Straßenkriminalität<br />
durch. Dabei kam es am<br />
frühen Abend zu erheblichen Schwierigkeiten,<br />
als eine Gruppe von Schwarzafrikanern<br />
die Beamten angriffen und<br />
beleidigten. Drei Männer wurden festgenommen,<br />
drei Polizisten verletzt.<br />
Begonnen hatte die spätere Auseinandersetzung<br />
gegen 19.30 Uhr, als im<br />
Herrngarten ein 25 Jahre alter Mann<br />
aus Ghana kontrolliert werden sollte,<br />
der ein neues Mountain-Bike mitführte.<br />
Da er den Beamten gegenüber eine drohende<br />
Haltung einnahm und sich gegen<br />
eine daraufhin geplante Durchsuchung<br />
(Eigensicherung) wehrte, wurde er auf<br />
den Boden gelegt und durchsucht.<br />
Dabei verletzte sich der Mann leicht an<br />
der linken Hand (Schürfwunde). Nachdem<br />
die Herkunft des Rades geklärt<br />
werden konnte und gegen den 25jährigen<br />
nichts vorlag, wurde er entlassen.<br />
Er ging zu ca. 8 Landsleuten, die kurze<br />
Zeit später die Beamten beleidigten.<br />
Einer der Ghanesen warf eine Flasche<br />
auf den Weg, worauf sich Passanten bei<br />
den Beamten beschwerten. Die Feststellung<br />
der Personalien des Werfers scheiterte<br />
zuerst. Daraufhin wurden weitere<br />
vier Beamte in den Herrngarten beordert.<br />
Als der Mann nun festgenommen<br />
werden sollte, zerbiß er eine Glasscherbe<br />
und spuckte die Splitter gegen die<br />
Beamten. Es gelang schließlich, ihn zu<br />
einem in der Schleiermacherstraße<br />
abgestellten Funkwagen zu bringen. Auf<br />
dem Weg dorthin wurden die Beamten<br />
von den Landsleuten des Festgenommenen<br />
und ihm selbst bedroht und beleidigt.<br />
Einer der Männer, er ist 27 Jahre<br />
alt, trommelte auf dem Streifenwagendach<br />
herum, brach die Antenne eines<br />
dort parkenden Pkw ab und biß einen<br />
der Polizisten kräftig in den Oberschenkel.<br />
Der ,Flaschenwerfer‘, der ,Beißer’<br />
und ein 31 Jahre alter Mann, gegen den<br />
ein Haftbefehl der Staatsanwaltschaft<br />
Osnabrück wegen Widerstandes und<br />
Betrug vorlag, wurden zum Polizeipräsidium<br />
gebracht, dort wurden die Personalien<br />
überprüft. Zwei der Festgenommenen<br />
wurden noch am Abend entlassen.<br />
Der 31jährige konnte am Mittwoch<br />
morgen nach Hause gehen, nachdem er<br />
930 Mark Geldstrafe gezahlt hatte. Die<br />
drei Kameraden werden wegen Widerstandes<br />
gegen Vollstreckungsbeamte,<br />
Körperverletzung, Sachbeschädigung<br />
und Beleidigung angezeigt. Wie sich bei<br />
der Überprüfung herausstellte, waren<br />
die Asylanträge von zwei Männern<br />
abgelehnt worden, zur Zeit haben sie<br />
eine Duldung. Der 3. Festgenommene<br />
und der kontrollierte Radfahrer haben<br />
vor kurzem deutsche Frauen geheiratet.“<br />
Werner Rühl, Polizeipressestelle<br />
Wer ein neues Fahrrad hat…<br />
Aus der Sicht der Betroffenen stellt sich<br />
der Vorgang so dar: Joseph Oppong,<br />
1968 in Ghana geboren, lebt seit zwei<br />
Jahren in der Bundesrepublik. Am 17.<br />
Juni bekam er zu seiner Hochzeit Geld<br />
geschenkt, davon kaufte sich am 25.6.<br />
das lang ersehnte Mountain-Bike.<br />
Freunde warnten ihn: „Wenn Du mit<br />
Deinem neuen Rad fährst, kriegst Du<br />
Ärger mit der Polizei“. Aus Sicherheitsgründen<br />
machte er sich eine Kopie<br />
des Kaufvertrages, um jederzeit belegen<br />
zu können, daß dies sein Fahrrad ist.<br />
Nackte Polizei-Gewalt<br />
Es dauerte tatsächlich nur drei Tage, bis<br />
er sich am 28.6. erstmals mit der Polizei<br />
konfrontiert sah. Auf dem Weg vom<br />
Luisenplatz zum Herrngarten wurde er<br />
am 28.6. (siehe Polizeimeldung oben)<br />
von einem Zivilpolizisten angehalten:<br />
„Show your passport!“ und „Who ist the<br />
owner of this bycicle?“ Bereitwillig zog<br />
Oppong seinen Pass, doch das genügte<br />
dem Beamten nicht, er wollte ihn durchsuchen,<br />
forderte ihn auf, die Hände aus<br />
den Taschen zu nehmen und fing an, ihn<br />
abzutasten. Zimperlich war der Beamte<br />
dabei nicht, trat Oppong ans Bein, drehte<br />
ihm den Arm auf den Rücken und<br />
zwang ihn in die Knie, auf das Pflaster.<br />
Zwischenzeitlich waren zwei weitere<br />
Beamte hinzugekommen und sie bearbeiteten<br />
Oppong zu dritt. Der erste<br />
kniete auf dem Kopf von Oppong, der<br />
sich im Gesicht verletzte, weil er auf<br />
dem Pflaster lag; eine anderer Beamter<br />
hielt seinen Arm im Polizeigriff<br />
auf dem Rücken. Sie zogen Oppong<br />
schließlich wieder hoch, öff<strong>net</strong>en Gürtel<br />
und Hose, zogen ihm Schuhe und<br />
Socken aus und durchsuchten seine<br />
Taschen. Dabei fiel ihnen das Portemonnaie<br />
Oppongs in die Hände mit dem<br />
Kaufbeleg für das Fahrrad.<br />
Endlich ließen sie Oppong laufen. Er hat<br />
Strafanzeige gegen die Beamten<br />
gestellt, denn er sieht sich unschuldig<br />
verfolgt und von einem Beamten in<br />
Ausübung seiner Tätigkeit verletzt.<br />
Den Vorgang hatte ein Darmstädter<br />
beobachtet und war zu mehreren<br />
Freunden Oppongs gelaufen, die mit<br />
ihm im Herrngarten verabredet waren –<br />
unter ihnen auch Osman Seidu, der gerade<br />
erst (siehe oben) wegen angeblichen<br />
Widerstands gegen die Staatsgewalt<br />
verurteilt worden war. Seidu bekam<br />
einen Schrecken, erzählt er: „Meinem<br />
Freund ist dasselbe passiert wie mir!“<br />
Sofort lief er ihm entgegen, sah, daß er<br />
Verletzungen an der Hand hatte, ging<br />
mit ihm zu den Zivilbeamten zurück und<br />
stellte sie zur Rede: „Wenn mein Freund<br />
ein Deutscher wäre, hättest Du das dann<br />
auch gemacht?“ fragte Seidu und forderte<br />
die Polizisten auf, Oppong ins Hospital<br />
zur Behandlung bringen zu lassen.<br />
Doch er erhielt – von wem ist nicht klar,<br />
da weitere Zivilbeamte plötzlich dazu<br />
gestoßen waren – die Antwort:<br />
„Go back to africa !“<br />
Seidu und sein Freund Oppong sind<br />
stolz und lassen sich nicht gern was<br />
gefallen. Seidu hatte die ZD mit seinem<br />
Prozeßbericht dabei und hielt sie den<br />
Beamten vor, doch die griffen nur<br />
danach und einer zerriß sie mit den<br />
Worten, „Das ist doch scheißegal!“<br />
Nach schlichtendem Eingreifen von<br />
Passanten (unter ihnen ein Autor der<br />
ZD, der zufällig vorbeikam) und ohne<br />
weitere Auseinandersetzungen ließen<br />
die Ghanaer die Beamten stehen und<br />
gingen zu ihren Freunden im Herrngarten<br />
(siehe Augenzeugenbericht).<br />
Glaskauen aus kalter Wut<br />
Seidu war wütend und außerordentlich<br />
aufgeregt, er nahm eine Fanta-Flasche,<br />
zerschlug sie, warf den Flaschenhals<br />
weg und kaute die Glasscherben. Glaskauen?<br />
„Das mache ich immer, wenn<br />
ich mich abregen will“, erklärt er. Die<br />
Ghanaer, auch sein Freund Oppong, versichern,<br />
daß das nichts Unübliches in<br />
Ghana ist. „Wir lecken Feuer oder essen<br />
Glas“. Das Erstaunliche dabei: Sie verletzen<br />
sich nicht, obwohl sie das Glas so<br />
lange klein kauen, bis sie es schlucken<br />
können. Genau dabei war Seidu, als die<br />
Polizisten wiederkamen – inzwischen<br />
auf acht angewachsen – und seinen Pass<br />
sehen wollten.<br />
Da Seidu einen Rucksack trug, wollte er<br />
seinen Ausweis rausholen, kam aber<br />
nicht mehr dazu, da die Polizisten ihm<br />
den Hals zudrückten und ihn auf den<br />
Boden zwangen. Die Beamten würgten<br />
ihn, bis die Zunge heraushing und „mir<br />
das Glas aus dem Mund fiel“.<br />
☛ Fortsetzung Seite 6
☛ Fortsetzung von Seite 5<br />
Wehe dem Schwarzen, der…<br />
Einer seiner Freunde, Yaw Owsu,<br />
bekam es mit der Angst zu tun und wollte<br />
Seidu helfen, den Pass aus dem Rucksack<br />
holen. Doch die Beamten nahmen<br />
auch ihn sofort in den Würgegriff und<br />
legten Handschellen an. Die Festnahme<br />
beobachteten immer mehr PassantInnen,<br />
an die fünfzig bis sechzig. Darunter<br />
ein alter Mann, der Yaw Owsu einen<br />
Zettel mit seiner Anschrift zusteckte,<br />
weil er, empört über das Vorgehen der<br />
Beamten, als Zeuge aussagen will.<br />
Kein Verhör, keine Fragen<br />
Ohne einen Grund zu nennen, brachten<br />
die Beamten drei der Ghanaer erst ins<br />
Schloßrevier und später ins Polizeipräsidium,<br />
wo sie inhaftiert wurden. Kein<br />
Verhör, keine Fragen, keine Begründung.<br />
Gegen 22.30 Uhr wurden Seidu<br />
und Yaw Owsu wieder freigelassen, dieses<br />
Mal ohne Mißhandlungen im Polizeigewahrsam.<br />
Ein dritter Ghanaer, der<br />
ebenfalls festgenommen worden war,<br />
mußte bis zum nächsten Tag in der Zelle<br />
bleiben, er hatte eine Geldstrafe nicht<br />
bezahlt.<br />
Bei dem Polizeiwagen soll einer der<br />
Ghanaer einen Polizisten gebissen<br />
haben, wer, das ist den Ghanaern nicht<br />
klar, auch nicht, ob der Biß bei der Festnahme<br />
erfolgte, ärztlich ist jedoch ein<br />
blauer Fleck des Beamten attestiert.<br />
Da gegen die drei Ghanaer wieder strafrechtlich<br />
ermittelt wird, suchen sie dringend<br />
nach weiteren ZeugInnen, die den<br />
Vorgang beobachtet haben – sonst werden<br />
womöglich wieder die Opfer verurteilt.<br />
Anrufe zur Weiterleitung nimmt<br />
die ZD unter der 719896 entgegen.<br />
Gesetzliche Verhältnismäßigkeit<br />
Die Polizei ist zwar berechtigt, die Identität<br />
von Personen festzustellen, (§16<br />
Hessisches Gesetz für Sicherheit und<br />
Ordnung), die Beamten müssen jedoch<br />
den „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“<br />
(§5) wahren; und der hat Verfassungsrang.<br />
Er wird auch bezeich<strong>net</strong> als<br />
der „Grundsatz des geringstmöglichen<br />
Einsatzes“. Das Gesetz schreibt vor,<br />
„Maßnahmen … anzuwenden, die die<br />
Allgemeinheit und den einzelnen am<br />
wenigsten beeinträchtigen. Ein durch<br />
eine solche Maßnahme zu erwartender<br />
Schaden darf nicht in offenbarem<br />
Mißverhältnis zu dem beabsichtigten<br />
Erfolg stehen“. Dies ist von Polizeibeamten,<br />
der Darmstädter Staatsanwaltschaft<br />
und dem Richter im Fall Seidu<br />
vor einem Jahr schon nicht berücksichtigt<br />
worden und führt ohne Vorwegnahme<br />
des tatsächlichen Ablaufes auch in<br />
diesem Fall wieder zu berechtigten<br />
Zweifeln an dem Vorgehen der Beamten.<br />
Da sich die Ghanaer nicht geweigert<br />
haben, ihre Ausweise vorzuzeigen,<br />
bestand nach dem Gesetz kein Grund,<br />
sie in Handschellen zu legen und in Haft<br />
zu nehmen. Woher nahm der erste Zivilpolizist<br />
die Berechtigung, Hand an<br />
Oppong zu legen, um zu überprüfen,<br />
ober er eine Waffe oder ähnliches hat, da<br />
Oppong seinen Ausweis vorgezeigt hatte?<br />
Wozu die Brutalität?<br />
„Die Polizeivollzugsbeamten haben die<br />
Voraussetzungen und Grenzen unmittelbaren<br />
Zwanges, wie sie durch Gesetz<br />
und diese Verwaltungsvorschrift<br />
bestimmt sind, genau zu beachten“,<br />
Ein Augenzeugenbericht<br />
Dienstag, der 28. Juni, ist ein heißer<br />
Tag. Unter den Linden der Allee, die<br />
den Herrngarten von Westen nach<br />
Osten quert, ist es angenehm laufen.<br />
Wir kommen aus dem „französischen“<br />
Park und gehen Richtung Frankfurter<br />
Straße. Es ist nach halb acht Uhr. In privates<br />
Gespräch vertieft, bemerken wir<br />
plötzlich zwei Schwarze, die – wohl<br />
vom Teich her kommend – über die<br />
neugepflanzte Buchenhecke springen<br />
und auf ein uns entgegenkommendes<br />
Pärchen zustürzen.<br />
Sie schreien es an, fuchteln vor den<br />
Gesichtern herum. Wir haben null<br />
Bock auf trouble und es geht uns nichts<br />
an. Aber, weil es ein ärgerliches Gefühl<br />
ist, sich einzugestehen, feige zu sein –<br />
und weil wir genug Phantasie haben,<br />
uns vorzustellen, dreißig Meter weiter<br />
wären wir, statt des Pärchens angemacht<br />
worden, gehen wir hin. Das Pärchen,<br />
er um die dreißig, sie etwas jünger,<br />
beide in Shorts wie wir, ist schrittweise<br />
auf dem Rückzug. Wir wollen<br />
wissen, was los ist. Sofort wenden sich<br />
schreibt der Hessische Minister des<br />
Innern vor (VV UZwG Pol) und bezieht<br />
sich auch ausdrücklich auf den Grundsatz<br />
der Verhältnismäßigkeit: „Vor der<br />
Anwendung unmittelbaren Zwanges ist<br />
stets zu prüfen, ob das polizeiliche Ziel<br />
auf dem Wege der Androhung von<br />
Zwangsgeld … erreicht werden kann“.<br />
Doch welches Ziel wollten die Beamten<br />
mit dem brutal gewaltsamem Vorgehen<br />
erreichen? Eine Straftat mußte nicht aufgeklärt<br />
oder einer denkbaren vorgebeugt<br />
werden – ihre Ausweise zu zeigen,<br />
waren die Ghanaer bereit.<br />
„Die Verpflichtung, Verletzten Beistand<br />
zu leisten und ärztliche Hilfe zu verschaffen<br />
… geht vor“, verord<strong>net</strong> der<br />
Innenminister und die Polizisten, statt<br />
dem verletzten Oppong zu helfen, geben<br />
ihrer Ausländerfeindlichkeit offen Ausdruck:<br />
„Go back to africa“.<br />
Schutz vor der Öffentlichkeit<br />
Der Redaktion liegen die Namen der<br />
Beamten zum Teil vor und wir hätten sie<br />
abgedruckt. Doch Oppong und Seidu<br />
wollten nicht, daß sie veröffentlicht<br />
werden, weil Oppongs Rechtsanwalt<br />
Hans Walter Mohrmann, „Nachteile<br />
durch Frontenverhärtung“ fürchtet. In<br />
Juristenkreisen wird von „Hochspielen“<br />
gesprochen, weil in der ZD die Fremdenfeindlichkeit<br />
beim Wort genannt<br />
wurde. Dort denkt man noch immer an<br />
das Aushandeln hinter den Kulissen.<br />
Doch wie sieht das aus? Oppongs Strafantrag<br />
gegen die Beamten geht zur<br />
Staatsanwaltschaft, dort wird eine Stellungnahme<br />
der beteiligten Polizisten<br />
angefordert – bislang gingen solche<br />
Verfahren mit der Einstellung der<br />
Ermittlungen aus. Bislang wurden auch<br />
keine Namen beteiligter Beamter in der<br />
Öffentlichkeit genannt, außer, sie traten<br />
als Zeugen bei Strafverfahren gegen die<br />
Schwarzen auf. Sollen deshalb keine<br />
Namen genannt werden, damit Beamteneifer<br />
möglichst ohne Öffentlichkeit<br />
durch leise Einstellung der Ermittlungen<br />
honoriert werden kann?<br />
Und wir?<br />
Ob auch dieses Mal wieder alle Partei-<br />
PolitikerInnen, der Oberbürgermeister,<br />
der Polizeipräsident, der Regierungspräsident<br />
schweigen werden? Die Staatsanwaltschaft<br />
ihre Ermittlungen einstellt<br />
und Richter aburteilen? Wie lange wollen<br />
wir uns das noch ansehen?<br />
High Noon<br />
Daß unsere PolitikerInnen schweigen,<br />
daß Behörden Akten ablegen, daß<br />
Beamte die Vorhut der Reaktion sind,<br />
daß Schwarze und andere Fremdlinge<br />
Untermenschen sind, daß Menschenrechte<br />
nur für weiße Götter gelten, daß<br />
Mitleiden nicht unsere Sache ist: Bundesrepublik<br />
Deutschland, Darmstadt<br />
heute. Ausländerfeindlichkeit hat in<br />
Darmstadt nichts mit Skins oder<br />
Glatzenträgern zu tun.<br />
Leider kann die ZD über den Prozeß und<br />
die Reaktion der Landesregierung nicht<br />
mehr berichten, auch nicht mehr über<br />
künftige fremdenfeindliche Gesetzesüberschreitungen<br />
Darmstädter Polizisten.<br />
M. Grimm<br />
* Verurteilt hat das Darmstädter Amtsgericht<br />
„Osman Seido“, tatsächlich<br />
heißt er Seidu.<br />
die beiden Farbigen uns zu. Sie sind<br />
aufgeregt und besonders der eine mit<br />
einem Stück Papier in der Hand ist<br />
wütend. Sie ringen mit Worten, gestikulieren.<br />
Wir hören etwas von „überfallen“,<br />
„auf den Boden geworfen“ und<br />
„Polizei“.<br />
Wir glauben, die Situation erkannt zu<br />
haben und bieten an, zur Notrufsäule<br />
zurückzugehen und die Polizei zu<br />
rufen. „Polizei ist da“, sagt einer der<br />
Farbigen und deutet auf das Pärchen.<br />
Richtig, der Mann hat ein Walkie-Talkie<br />
in der Hand und bestätigt auf unsere<br />
Frage, er gehöre zu einer Zivilstreife.<br />
Mittlerweile ist ein dritter Farbiger mit<br />
Fahrrad hinzugekommen. „Look“,<br />
zeigt man uns, daß der junge Mann mit<br />
dem Fahrrad an seiner Hand Verletzungen<br />
hat. Das sei die Polizei gewesen.<br />
Der Mann mit Walkie-Talkie teilt mit,<br />
es habe eine Routinekontrolle gegeben,<br />
der Farbige mit dem Fahrrad habe sich<br />
widersetzt, man habe ihn deshalb gegen<br />
seinen Widerstand durchsuchen müssen.<br />
Das Pärchen hat jetzt Verstärkung<br />
durch drei weitere Kollegen in Zivil<br />
erhalten.<br />
Ausgabe 73 11.7.1994 · Seite 6<br />
Denk-Mal Er soll wieder mehr in das öffentliche Blickfeld rücken, der Reiter vor dem Schloß. Einstmals zurückversetzt, kam<br />
seine Prächtigkeit nicht mehr zu gebührender Geltung. Dem Übel wird abgeholfen – so will es der Magistrat, so wollte es einstmals<br />
der Großherzog. Weiß wer, wer das ist, der da hoch zu Roß in Bronce thront? Großherzog Ludwig IV.<br />
Das Denkmal „zeigt den Fürsten als Kommandeur der hessischen Division im Krieg gegen Frankreich (1870/71)“ – so belehrt<br />
uns das Buch „Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland – Stadt Darmstadt“. Ursprünglich stand es auf einem mit Bäumen,<br />
Beeten und einem Treppenaufgang gestalteten kleinen Platz. sb<br />
„Nicht sparen bei den Armen<br />
– streichen bei den Reichen!“<br />
„PSAG“ über Armut in Darmstadt– Kritik an Parteien<br />
Um Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und<br />
Sozialabbau ging es am dritten Abend<br />
(22.6.) der von der „Psychosozialen<br />
Arbeitsgemeinschaft“ (PSAG) veranstalteten<br />
Diskussionsreihe zum Thema<br />
„Wachsende Armut – auch in Darmstadt?“<br />
In einer Vorankündigung hieß<br />
es, die PSAG wolle herausfinden, „welche<br />
kreativen und phantasievollen Ideen<br />
es bei den hierfür Verantwortlichen gibt,<br />
um zunehmenden sozialen Problemen<br />
mit all ihren oft beklagten Folgewirkungen<br />
angemessen zu begegnen“. Doch<br />
weder Walburga Jung (CDU), Theo<br />
Ludwig (FDP), Ulrich Pakleppa (Grüne),<br />
Harry Neß (SPD) noch Darmstadts<br />
Sozialdezernent Gerd Grünewaldt<br />
(SPD) scheinen über solche zu verfügen.<br />
Da hatte Stefan Gillich von der „Teestube<br />
– Anlaufstelle für alleinstehende<br />
Wohnungslose“ gefordert, die Stadt solle<br />
das „Selbsthilfe-Potential“ von<br />
Obdachlosen „voll ausschöpfen“, da<br />
„der jährliche Verlust von preiswertem<br />
Wohnraum 450 Wohnungen umfaßt“,<br />
sie solle „Grundstücke erwerben, sicherstellen<br />
und Konzepte entwickeln, um<br />
Wohnungslosigkeit zu vermeiden und<br />
Arbeitslosigkeit zu bekämpfen“. Gil-<br />
Allmählich erfahren wir, daß das Fahrrad<br />
Anlaß der Routinekontrolle war.<br />
Der Farbige mit dem Rad zeigt uns mit<br />
zitternden Händen eine Quittung von<br />
„Fahrrad-Brunner“ über 998 Mark. Das<br />
Papier in der Hand des einen Schwarzen<br />
ist eine „Zeitung für Darmstadt“ mit<br />
dem Artikel über den Ghanaer in der<br />
Straßenbahn. Er will, daß die Polizisten<br />
den Artikel lesen. Die wollen oder dürfen<br />
aber nicht. „Ich bin das“, brüllt er.<br />
Wir gehen wieder und wieder dazwischen,<br />
versuchen, die Afrikaner zu<br />
beruhigen und bitten die Polizisten zu<br />
gehen. Natürlich haben die keine Lust,<br />
sich beschimpfen zu lassen, aber können<br />
sie die Aufregung und Empörumg<br />
nicht verstehen? Endlich geht die Polizeigruppe<br />
betont langsam in Richtung<br />
Osten davon, die etwas beruhigten und<br />
leiser schimpfenden Farbigen am Teich<br />
entlang in Richtung Pavillon. Gedauert<br />
haben mag das eine Viertelstunde. Es<br />
ist ja gut, daß die Polizei im Herrngarten<br />
Zivilstreifen einsetzt – aber ob ich,<br />
als Weißer, mit einem neuen Fahrrad<br />
kontrolliert worden wäre?<br />
P.J.Hoffmann<br />
lichs Fazit: „Wir brauchen einen runden<br />
Tisch zur Wohnraumversorung für Einkommensschwache<br />
und normalverdienende<br />
Bevölkerungsgruppen – das heißt<br />
eine ämter- und institutionenübergreifende<br />
Ver<strong>net</strong>zung und Zusammenarbeit<br />
unter Federführung der Stadt“ – denn<br />
Armut und Wohnungslosigkeit sei<br />
immer weniger nur ein Problem der<br />
Randgruppen, sondern immer mehr<br />
erwerbslose Alleinerziehende, Kinder<br />
und Jugendliche seien davon betroffen.<br />
Zwei seiner Forderungen, ein jährlicher<br />
Armutsbericht und die Einrichtung einer<br />
zentralen Wohnungssicherungsstelle,<br />
seit Jahren (u.a. von PSAG und Teestube)<br />
eingeklagt und (von der Stadt)<br />
angekündigt – stellte Grünewaldt in<br />
nahe Aussicht. Zu den anderen Punkten<br />
schwiegen sich die PolitikerInnen aber<br />
aus.<br />
Die „Rasenmäher-Methode“<br />
„Nicht sparen bei den Armen, streichen<br />
bei den Reichen“, empfahl ein Kranichsteiner<br />
Sozialarbeiter und meinte, daß es<br />
diesmal nicht um eine „kurzfristige<br />
Sparfrist“ ginge, sondern um „ganz<br />
grundlegende gesellschaftliche Veränderungen<br />
und Umschichtungsprozesse“,<br />
die die vielzitierte „Zwei-Drittel-Gesellschaft“<br />
immer weiter vorantreiben würde.<br />
Die „Rasenmäher-Methode“, bei der<br />
bei allen etwas gespart würde, sei kein<br />
erfolgversprechendes Konzept, richtete<br />
er an die Adresse des Kämmerers. Jetzt<br />
sei vielmehr eine „grundlegende Korrektur“<br />
der Ausgaben von Nöten, klagte<br />
er eine Suche nach „effektiven und verantwortungsvollen<br />
Sparkonzepten“ ein.<br />
Verständlich, daß auch dazu die PolitikerInnen<br />
schwiegen.<br />
„Rangliste Professionalität“<br />
Harry Neß, der sich an jenem Abend<br />
vorab als Kämmerer präsentieren wollte,<br />
widersprach der „Entsolidarisierung“,<br />
vielmehr leisteten die Kommunen<br />
ein „Solidarisierungs-Projekt“ mit<br />
dem Aufbau der neuen fünf Länder, „wo<br />
wir viel Geld reinzahlen müssen“. Dies<br />
sei eine „Gefahr für die kommunale<br />
Selbstverwaltung. Wir werden Mühe<br />
haben, die Pflichtaufgaben zu lösen“.<br />
Überhaupt gebe es in Darmstadt „ja eine<br />
gute Sozialstruktur“, meinte Neß. „Wir<br />
müssen eine Politik machen, die<br />
bedarfsorientiert, nicht angebotsorientiert<br />
ist“ und „was wir der Sozialverwaltung<br />
aufbürden, werden wir auch anderen<br />
freien Trägern aufbürden müssen“.<br />
Sein Sparkonzept:„Wegstreichen von<br />
Doppelaufgaben“. Wo er streiche, würde<br />
er denn Kämmerer? Da fällt ihm zum<br />
Beispiel „Wildwasser“ ein, jene Gruppe,<br />
die sich um sexuell mißbrauchte Frauen<br />
und Mädchen kümmert, denn „da gibt es<br />
ja schon fünf andere, die dafür Geld kriegen“<br />
– da staunte das Publikum. Auf<br />
Nachfrage fielen ihm denn auch nur zwei<br />
ein, die da seien: „Pro Familia“ und<br />
„Kinderschutzbund“. Auch daß sich fünf<br />
Frauengruppen derzeit in Darmstadt<br />
gemeinsam bemühen, ein Konzept für<br />
eine „Mädchenzuflucht“ aufzustellen, ist<br />
ihm ein Dorn im Auge – da sei eine<br />
„stärkere Ver<strong>net</strong>zung“ gefordert. Er<br />
wünscht sich eine „Rangliste der Professionalität“<br />
freier Träger, nur die besten<br />
soll die Stadt unterstützen.<br />
Auch Grünewaldt ist der Ansicht, daß<br />
bei der „Mädchenzuflucht“ eine „Bündelung<br />
notwendig ist“. Die Wohnungssicherungsstelle<br />
werde „unter dem Dach<br />
der Sozialverwaltung eingerichtet“, kündigte<br />
er an und warb für sich und seine<br />
Stadt, „wir vermeiden heute schon Wohnungslosigkeit<br />
wo es geht“.<br />
„Dumme Arbeitsmarktpolitik“<br />
Die „aktive kommunale Beschäftigungspolitik“<br />
griff DGB-Chef Walter<br />
Hoffmann auf, „die muß politisch<br />
gewollt sein … doch starke politische<br />
Kräfte haben daran kein Interesse“.<br />
Bleibe dies und eine Umverteilung aus,<br />
seien „große Teile der Bevölkerung von<br />
Beschäftigung abgeschnitten – dann ist<br />
diese Gruppe weg vom Fenster“. Zur<br />
Zeit habe das Arbeitsamt Darmstadt,<br />
zuständig für den Kreis Starkenburg, 9<br />
Millionen Mark Bundesmittel für Fortund<br />
Weiterbildung zur Verfügung, die<br />
es aber nicht unterbringen könne, „weil<br />
die Träger kaputt sind“. Dies sei das<br />
„Ergebnis skandalöser Kürzungen,<br />
destruktiver und dummer Arbeitsmarktpolitik“.<br />
Auch dazu schwiegen die PolitikerInnen.<br />
„Wir brauchen eine soziale Friedensbewegung“,<br />
schlug Dekan Kimmel vor,<br />
„die Acht hat, was in der Gesellschaft<br />
geschieht“, und die das Thema Armut<br />
aus der Tabuzone holt.<br />
Allen ein menschenwürdiges Leben<br />
sicherzustellen, vor dieser Aufgabe<br />
kapitulieren die PolitikerInnen. Nicht<br />
nur in Darmstadt, aber auch hier. Offenen<br />
Auges marschiert unsere Gesellschaft<br />
so weiter in Richtung Zwei-Drittel-Gesellschaft<br />
und schließt immer<br />
mehr Menschen aus … Eva Bredow
Wer (PolitikerIn)<br />
wo (bei welchen Unternehmen<br />
der Stadt)<br />
das Sagen hat<br />
Nicht zu Ende führen konnten wir eine langfristig angelegte Recherche über die Vergütungen<br />
der Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder-Posten der städtischen Eigenbetriebe.<br />
Zwar sind uns deren Namen bekannt, doch daraus allein lassen sich keine<br />
Rückschlüsse ziehen. In Köln, wo Professor Scheuch an die gesamten Unterlagen<br />
gekommen war, hatten sich die Aufsichtsrats- und Vorstandsvorsitzenden jährliche<br />
Gehälter ab 250.000 Mark (für ein bis drei Sitzungen) bezahlen lassen, in Darmstadt<br />
soll dies angeblich nicht so sein. Da uns ein Einblick in die Buchhaltung und Bilanzen<br />
nicht möglich war, konnten wir das bis heute nicht überprüfen. Lediglich Sitzungsgelder<br />
(bei der HEAG um 300 Mark und zusätzlich einmal 4.000 Mark/Jahr)<br />
und Sitzungsgelder von 200 Mark beim Bauverein, sowie bezahlte Essen und gelegentliche<br />
Reisen, sollen einzige Entgelte sein. Daneben ist bekannt geworden, daß<br />
das Büro unseres ehemaligen Oberbürgermeisters immer wieder mit Notarverträgen<br />
von der Stadt bedacht wurde – letztmals mit der Beurkundung des 70 Millionen-Verkaufs<br />
der HEAG-Hallen, die auch sechsstellige Summen abgeworfen hat.<br />
Die Namen geben Aufschluß über die konzentrierte Machtfülle einiger Herren. Da<br />
die städtischen Töchter – wie bereits mehrfach berichtet – alle ihre Preise ständig in<br />
die Höhe treiben (u.a. durch Verwaltungs-Protzbauten) wissen wir wenigstens, wer<br />
die Verantwortung dafür mitträgt.<br />
Heag-Holding (Beteiligung Stadt, 90,04%):<br />
Aufsichtsrat:<br />
Otto Blöcker (Peter Benz als Nachfolger), Vorsitzender (SPD); Harald Fiedler,<br />
stellv. Vors.;<br />
Herman Blank, Heinz-Peter Gläser, Wolfgang Helfesrieder, Doris Pokorny-Boger;<br />
Walter Schmidt, Stv., (SPD); Hans-Jörg Stein, Stv., (SPD); Heino Swyter, Str.,<br />
(FDP); Eva Ludwig, Str‘in, (CDU); Kurt Reukauf, Waltraud Bornheimer, (Grüne).<br />
HEAG Versorgung, Strom<br />
Aufsichtsrat:<br />
Peter Benz, Vorsitzender, Oberbürgermeister, (SPD); Harald Fiedler, Stellv., N. N.<br />
(Nachfolge Sälzer, CDU), Hermann Blank, Hans-Peter Gläser, Wolfgang Helfesrieder,<br />
Matthias Hohmann, (Grüne); Alfred Jakubek, Bgm.; Roßdorf, Joachim Jüttner;<br />
Monika Lehr, Stve., (SPD); Theodor Ludwig, Stv., (FDP); Dr. Harry Neß, Stv.,<br />
(SPD).<br />
HEAG, Verkehr<br />
Aufsichtsrat:<br />
Horst Knechtel, Vorsitzender, Stv., (SPD);<br />
Harald Fiedler, Stellv.; Georg Röder, Stellv., Stv., (CDU), Ralf Arnemann, Stv.,<br />
(FDP); Rosemarie Glowinka, Stve., (SPD); Richard Lichtenstein, (Grüne); Eva Ludwig,<br />
Str‘in, (CDU); Gert Müller, Stv., (SPD); Norbert Thomas; Reinhold Trautmann;<br />
Klaus Wieland, Stv., (SPD); Manfred Bopp.<br />
Vorstand:<br />
Dr. Siegfried Bittner, Horst Blechschmidt (SPD).<br />
Bauverein AG (Beteiligung Stadt, 100%)<br />
Aufsichtsrat:<br />
Peter Benz, Vorsitzender, Oberbürgermeister, (SPD); Bernd Ellwanger, (CDU);<br />
Gerd Grünewaldt, (SPD); Hans-Werner Erb, Stv., (SPD); Dieter Hübner, Stv.<br />
(SPD); Günter Mayer, Stv., (Grüne); Hans Amend, (CDU); Dieter Balzer, Stv.,<br />
(FDP); Werner Bellinger; Werner Klinger; Peter Jung; Frau Marklowski<br />
Vorstand:<br />
Dr. Wolfgang Rösch, (CDU); Franz Volkers, Stv., (SPD); Daniela Wagner, Stve.,<br />
(Grüne).<br />
Stadt- und Kreissparkasse Darmstadt<br />
(3/5 Gewährsträgerschaft Stadt, 2/5 Landkreis Da-Di)<br />
Verwaltungsrat:<br />
Peter Benz, Vorsitzender, Oberbürgermeister, (SPD); Dr. Hans-Joachim Klein,<br />
Landrat, Stellv., (SPD); Otto Blöcker, Kämmerer, (SPD); Gert Blumenstock, (Grüne);<br />
Eike Ebert, Stv., (SPD); Peter J. Netuschil, (FDP); Bernd Hartmann, Bgm.,<br />
Ober-Ramstadt; Karin Wolff, Stv., (CDU); Gerhard Zeizinger, (Grüne); Günter<br />
Kaupmann; Petra Klink; Hartmut Meretz; Helmut Diebitsch; Renate Rothermel.<br />
Vorstand:<br />
Jürgen Güde, Vorsitzender; Johann Haberhauer; Otfried Uhl.<br />
Südhessische Gas und Wasser AG<br />
(Beteiligung Stadt, 66,45%):<br />
Aufsichtsrat:<br />
Eike Ebert, Vorsitzender Stv., (SPD);<br />
Peter Kalischer, 1. Stellv.,<br />
Horst Herbert, 2. Stellv.;<br />
Gerhard 0. Pfeffermann, 3. Stellv., Stv., (CDU);<br />
Peter Dengler; Claudia Husek; Dr. Hans-Joachim Klein, Landrat, (SPD); Horst<br />
Knechtel, Stv., (SPD); Ilse Lücker, Prof. Dr. Peter Marcus; Dr. Dierk Molter, Stv.,<br />
(FDP); Michael Siebert, Bgm., (Grüne).<br />
Sachverständige und Auskunftspersonen:<br />
Otto Blöcker, Kämmerer, (SPD); Fritz Glenz, Str., (SPD); Eva Ludwig, Str’in.,<br />
(CDU); Peter J. Netuschil, (FDP); Herbert Reißer, (CDU), Dr. Horst Seffrin; Ernst<br />
Graner.<br />
Vorstand:<br />
Heinz Kern, Vorsitzender; Rainer Gengelbach, Hans-Georg Schimpf.<br />
Die Liste ist nicht vollständig, denn es gibt noch mehr Unternehmen, in denen die<br />
Damen und Herren der Politik bestimmen, was wie zu geschehen hat. Die Liste der<br />
anderen Eigenbetriebe: Gernsheimer Hafenbetriebs GmbH (16%); HEGEMAG,<br />
Wohnungsbaugesellschaft (10,18%); Nassauisches Heim (0,53%); Nassauische<br />
Heimstätte (0,833%); Betriebsgesellschaft GmbH (100%); Deutsche Städtereklame<br />
(2%); Institut Wohnen und Umwelt (40%); Orgabo GmbH (74%); Gesellschaft für<br />
City-Entwicklung (25%).<br />
Was an weiteren Posten und Einnahmequellen bei Verbänden wie der ZAS, des<br />
RMV beispielsweise besteht, darüber liegen uns keine Informationen vor. mg<br />
Zum Ärger vieler FußgängerInnen parken (wie hier in der Goebelstraße am Hauptbahnhof)<br />
Autos auch noch so auf Gehwegen, daß daran nur schwer vorbeizukommen<br />
ist. Gerade an dieser Stelle beobachtet ein Leser seit mehr als zwei Jahren die<br />
immer gleichen Fahrzeuge, klemmte erst bittende Aufforderungen hinter die Scheibenwischer,<br />
dann die Fuße des „Bundes der Fußgänger“ und das kontinuierlich und<br />
erfolglos. Keiner schert sich daran, der Abstellplatz für die Blechkarosse geht vor.<br />
Der Leser meint, da helfen dann wohl nur Absperrungen wie Metallstäbe oder<br />
Betonklötze. Tip der Redaktion: Über die Autos drüber laufen. (sb, Foto HS)<br />
Ein Kontaktladen fehlt<br />
Sozialausschuß hört Fachleute<br />
zum Thema „Drogen in Darmstadt“<br />
Ein Jahr ist die Koalitionsvereinbarung<br />
zwischen SPD und Grünen alt. Darin ist<br />
festgeschrieben, einen Kontaktladen für<br />
Süchtige in Darmstadt einzurichten.<br />
Derzeit beschäftigt sich ein Arbeitskreis<br />
damit, ein Konzept zu erarbeiten. Als<br />
ein „Pilotprojekt: Befragung der Fachkompetenz“<br />
wollte Harry Neß (SPD) die<br />
Sozialausschuß-Sitzung am 28. 6. verstanden<br />
wissen, dem er vorsitzt. Geladen<br />
waren VertreterInnen der Drogenberatungsstelle,<br />
des Gesundheitsamtes,<br />
der Aids-Hilfe, der Suchtberatungsstelle<br />
der Caritas, des Staatlichen Schulamtes,<br />
des Stadtelternbeirates, des Drogenkommissariats<br />
und zwei Ärzte.<br />
Die Forderungen unterschieden sich nur<br />
unwesentlich voneinander: Alle stellten<br />
fest, daß in Darmstadt ein Kontaktladen<br />
dringend erforderlich ist, in dem Süchtige<br />
Spritzen und Kondome bekommen,<br />
ärztliche und juristische Betreuung, wo<br />
sie duschen und Wäsche waschen können,<br />
kurz einen Ort aufsuchen können,<br />
ohne daß sie eine Verpflichtung eingehen.<br />
Gedacht als reines Hilfsangebot:<br />
Ohne Therapie-Auflage oder der Pflicht,<br />
zu Ersatzdrogen wie Methadon oder<br />
Polamidon zu greifen.<br />
Dieser Kontaktladen, so propagiert vor<br />
allem die Aids-Hilfe, müsse auch Zimmer<br />
für aidskranke, obdachlose Süchtige<br />
bereitstellen. Im Jahr erhält die Aids-<br />
Hilfe Darmstadt 20 bis 30 Anfragen von<br />
Krankenhäusern, die obdachlose, an<br />
Aids erkrankte Drogensüchtige entlassen<br />
wollen, aber nicht wissen wohin.<br />
„Wir haben auch schon 24-Stunden-<br />
Pflege in Hotels gewährleistet“, erzählte<br />
eine Mitarbeiterin.<br />
Für Drogenabhängige (auch Alkoholiker)<br />
gibt es keine Arbeitsprojekte, keine<br />
Notschlafstellen, keine Nachsorge-<br />
Wohngemeinschaften und in Darmstadt<br />
fehlen Therapiemöglichkeiten. Einzig<br />
im Elisabethen-Stift stehen ein paar Betten<br />
zum sogenannten kalten Entzug<br />
bereit – d.h. die Patienten werden medikamentös<br />
behandelt und dann entlassen.<br />
Einzige Ausweiche ist das Krankenhaus<br />
in Heppenheim, doch dort sind drei- bis<br />
sechsmonatige Wartezeiten auf ein freies<br />
Bett in Kauf zu nehmen. Diese Zeit,<br />
so die Fachleute, ist für aussteigewillige<br />
Drogensüchtige viel zu lang.<br />
Dr. Johannes Raida ist einer der wenigen<br />
Ärzte in Darmstadt, die Heroinsüchtige<br />
mit Ersatzstoffen substituieren –<br />
200 Patienten versorgt er nach eigenen<br />
Angaben, täglich würden zwei bis drei<br />
bei ihm anrufen, die er aber ablehnen<br />
müßte. Er sprach von 800 bis 1.000<br />
Süchtigen in Darmstadt. Frankfurt habe<br />
etwa 8.000 Süchtige und biete 16 Kontaktläden<br />
an, so daß es für Darmstadt<br />
höchste Zeit wäre, wenigstens einen zu<br />
eröffnen.<br />
Sozialamtsleiterin Dr. Wilma Mohr<br />
wollte von Raida wissen, warum es in<br />
Darmstadt so schwierig sei, Ärzte zu<br />
finden, die bereit sind, zu substituieren.<br />
Seine Antwort: „Wir werden von allen<br />
Strukturen geprügelt, von Patienten,<br />
anfänglich auch von der Polizei, und<br />
ohne Rückendeckung von den Politiker-<br />
Innen“. Seine Forderung: „Alle gesellschaftlich<br />
relevanten Kräfte müssen<br />
zusammenarbeiten zum Wohle der Patienten.“<br />
Er und sein Kollege Dr. Prinz regten an,<br />
ähnlich wie in Frankfurt, einen Zusammenschluß<br />
der Ärzte in einer Ambulanz<br />
zu erreichen. Doch heute, so Prinz, sind<br />
die „Ärzte in Darmstadt wenig konsensfähig“.<br />
Er spricht davon, daß derzeit erst die<br />
Spitze des Eisberges zu sehen sei. Seine<br />
jüngste Patientin sei 14. Sie habe ihm<br />
erzählt, sie wolle nur mit Heroin aufhören,<br />
LSD, Kokain und Amphetamine<br />
aber weiter einnehmen. „Heute konsumieren<br />
die jungen Leute wahllos alle<br />
Drogen, je nach Gelegenheit und Laune.“<br />
Ein FH-Professor für Sozialpädagogik<br />
will herausgefunden haben,<br />
daß 5 Prozent der elf- bis zwanzigjährigen<br />
Kokain und Amphetamine (vor<br />
allem Speed) einnehmen.<br />
Sozialdezernent Gerd Grünewaldt<br />
(SPD) resümmierte: „Mit zwei bis drei<br />
Räumen ist es nicht getan … Die Koalitionsvereinbarung<br />
wird mit einem<br />
erheblichen finanziellen Aufwand verbunden<br />
sein.“ vro<br />
Anzeige<br />
Was bringt die<br />
neue Pflegeversicherung?<br />
Leeren Wohnraum<br />
melden<br />
Das Darmstädter Frauenbüro bittet alle<br />
BürgerInnen um aktive Unterstützung<br />
bei der Suche nach leerstehenden Häusern<br />
und Wohnungen. Wer von nicht<br />
genutzten Quadratmetern Kenntnis hat,<br />
sollte schnellstmöglich an das Frauenbüro<br />
in der Luisenstraße 12 unter der<br />
Telefonnummer 132340 Nachricht<br />
geben. red.<br />
Ausgabe 73 11.7.1994 · Seite 7<br />
„Für meine<br />
Vaterstadt“<br />
OB schlägt Millionen-<br />
Geschenk aus (wir habens ja)<br />
Jede/r in Darmstadt kennt es, das häßliche<br />
Hochhaus Ecke Heidelberger-<br />
/Eschollbrückerstraße. Manche fürchteten<br />
den Gang dorthin, war darin unter<br />
anderen doch bis zum Neubau des<br />
Finanzamtes die Steuerfahndungsstelle<br />
untergebracht. Der Eigentümer, Christian<br />
Erich Nold (Kohlen- und Heizöl-<br />
Handlung), ist bekannt und gefürchtet<br />
vor allem bei Aktionärsversammlungen<br />
in vielen Groß-Unternehmen der<br />
Bundesrepublik (Siemens, BMW,<br />
BASF, um nur einige zu nennen), gilt<br />
er doch als streitbarer Mann, wenn es<br />
um die Interessen von Kleinaktionären<br />
geht.<br />
Sein Hochhaus will Nold schon lange<br />
veräußern, doch bislang fand sich kein<br />
Interessent. Vor einem Jahr ist die<br />
Steuerfahndung ausgezogen und der<br />
Bau steht leer.<br />
Normalerweise würde dies die Öffentlichkeit<br />
nicht interessieren, doch Nold<br />
brachte einen interessanten Vorschlag<br />
ein: Er hat der Stadt offeriert, ihre<br />
Ämter aus der Luisenstraße (wg<br />
HEAG-Hallen Baubeginn im September)<br />
für zwei Jahre kostenlos unterzubringen,<br />
wollte darüber hinaus eine<br />
Stiftung gründen, die einen vermögensrechtlichen<br />
Übertrag des Hochhauses<br />
zum Inhalt haben sollte – auf<br />
deutsch: Ein Geschenk.<br />
Die Behörden sahen sich das Hochhaus<br />
an und was jahrelang unbeanstandet<br />
genutzt wurde und noch wird, hatte auf<br />
einmal brandschutzbedingte Mängel.<br />
Eine Liste der Bauaufsicht wurde Nold<br />
mit der Aufforderung zugestellt, die<br />
Mängel beseitigen zu lassen und sein<br />
großzügiges Geschenk zeitgleich abgelehnt.<br />
Das öffentliche Lamentieren der<br />
Politiker über leere Kassen steht in<br />
krassem Widerspruch, denn hier geht<br />
es um Millionen. Warum lehnen sie ein<br />
solches Angebot ab?<br />
Die Zeit war zu kurz, um zu recherchieren,<br />
ob und wer welche Interesse verfolgt.<br />
Es wäre beispielsweise denkbar,<br />
daß der Vermieter der Havelstraße 16,<br />
wo ein Teil der Ämter gegen Miete<br />
untergebracht wird, irgendwem irgendetwas<br />
versprochen hat – doch das ist<br />
nur Spekulation.<br />
Auch persönliche Gründe wechselseitiger<br />
Ablehnungen könnten im Spiel<br />
sein. Nold kann Ebert nicht ab – „der<br />
hat mal einen meiner Schecks platzen<br />
lassen“ und nimmt auch kein Blatt vor<br />
den Mund, wenn es um den Ärger geht,<br />
der ihm seitens der Behörden bereitet<br />
wird. Ob es mal Friedhofsgebühren<br />
sind, um die er streitet, weil sein Familiengrab<br />
unter Denkmalschutz gestellt<br />
und für ihn nicht nutzbar ist oder ob es<br />
Bauanträge für seine Anwesen in der<br />
Landgraf-Philipps-Anlage sind –<br />
„immer nur Ärger mit den Behörden“<br />
(Nold). Doch das will er nicht: „Ich<br />
möchte im guten Einvernehmen<br />
leben“, erklärt er und will die Vergangenheit<br />
zudecken: „Das ist meine<br />
Vaterstadt“.<br />
Nold ein Wohltäter für die Stadt? Eine<br />
Gegenleistung fordert er dafür von der<br />
Stadt, im Sinne friedlicher Übereinkunft:<br />
„Daß sie dafür sorgen, daß ich<br />
nicht mehr mit sog. Auflagen Ihrer<br />
städt. Bauverwaltung, die m. E. fast<br />
hundertprozentig entweder schildbürgerstreichhaften<br />
oder gar schikanösen<br />
Charakter beinhalten, belastet werde“.<br />
Auch darüber diskutierten die Stadtverord<strong>net</strong>en<br />
am 7.7. nicht; die Verwaltung<br />
behält sich solche Entscheidungen<br />
vor – mit welchem Recht? Nold wurde<br />
stattdessen im „Echo“, dem SPD-<br />
Sprachrohr, angegriffen: Das Hochhaus<br />
sei mit Asbest belastet. „Das ist<br />
eine Verleumdung, eine geschäftsschädigende<br />
Äußerung. Mein Anwalt ist<br />
beauftragt, dagegen vorzugehen“, kündigt<br />
Nold an. Kommentar des Echo-<br />
Lokalchefs Staat: „Von dem würde ich<br />
keinen Knopf geschenkt nehmen“.<br />
Nold sieht sich öffentlich verleumdet<br />
und verunglimpft, und da im Zusammenhang<br />
mit seinem Haus auch<br />
Begriffe wie verlottert und ähnliches<br />
fielen, stellt er Überlegungen an, das<br />
Haus zu verschönern: „Ein Hundertwasser<br />
müßte es bemalen“, sinniert er<br />
laut und sucht nach weiteren Ideen. mg
Der General (Seubert)<br />
wälte beklagen, daß ihnen die Informationen<br />
fehlen. Somit liegt es an der Bevölkerung,<br />
ob sie auch weiterhin die Täter deckt<br />
oder ihnen endlich das schmutzige Handwerk<br />
legt.<br />
Ein Polizist protokolliert nichts<br />
Im Februar und März zählten wir mehr als<br />
40 Anrufe, die bestätigten, die Täter sitzen<br />
sehr wohl in der Stadt und den umliegenden<br />
Gemeinden. Wann immer wir jedoch<br />
Genaueres wissen wollten, wie Vor- und<br />
Nachnamen, Straße u.s.w., herrschte<br />
Schweigen. Nur Jugendliche waren bereit,<br />
mehr zu erzählen, denn sie kennen die<br />
Rechtsradikalen, die es laut Seubert und<br />
seiner besseren Gesellschaft nicht gibt:<br />
Wen wunderts, sitzt doch im Parlament die<br />
Mutter eines der Rädelsführer, ein anderer<br />
rechtsorientierter Verwandter ist gar Stadtverord<strong>net</strong>er<br />
und ein dritter in der Stadtverwaltung<br />
beschäftigt (die Namen sind der<br />
Redaktion und den Behörden bekannt).<br />
Das Rätsel, warum von der Polizei in Groß-<br />
Bieberau nichts gegen die allgemein<br />
bekannten Rechtsradikalen unternommen<br />
wurde, löste sich sehr schnell: Der ermittelnde<br />
Polizist, Mitglied eines Roßdörfer<br />
Schäferhundevereins, dem der Ruf vorausgeht,<br />
rechte Mitglieder zu sammeln, versäumte,<br />
Protokolle über seine Vernehmungen<br />
zu führen.<br />
Eine heiße Spur<br />
Das hatte mehrerlei Folgen: Der Polizei war<br />
der Tip für eine heiße Spur gegeben worden.<br />
In dem Nachbarort Reinheim, in der<br />
Wilhelmstraße – war dem Beamten mitgeteilt<br />
worden – seien in einem Keller, neben<br />
Orden aus der NS-Zeit und Hitlerbildern,<br />
auch nicht registrierte Schußwaffen zu finden.<br />
Nicht nur, daß in den Polizei-Akten<br />
kein Vermerk darüber steht, wurde die<br />
und sein<br />
Freund (Schieck)<br />
Groß-Bieberaus Bürgermeister und Polizei wollen keine Kenntnis<br />
über Rechtsradikale haben –<br />
Filz: Kommunalaufsicht bestätigt Gesetzesbruch<br />
Die Freunde Werner Seubert (der General) und sein Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher Anton Weiher (beide CDU) kennen<br />
keine Hemmungen, wenn es darum geht, ihre Geschäfte in die eigenen Taschen vor dem Parlament zu verbergen.<br />
Weiher nutzt sein Amt, um parlamentarische Initiativen abzublocken, das wundert nicht, denn seiner Familie konnte<br />
er ein billiges Grundstück , noch dazu in bester Lage und in Nähe seines Generals, zuschanzen. Alle Proteste der<br />
Stadtverord<strong>net</strong>en prallten an ihm ab, Falschauskünfte waren an der Tagesordnung. Der andere Freund des Generals,<br />
„Echo“-Redakteur Schieck, sorgt für Verunglimpfung der Stadtverord<strong>net</strong>en und führt der Öffentlichkeit (siehe<br />
Bild) die heile Welt vor, liegt ihm doch an Sympathie-Werbung. Das Foto ist dem „Echo“ entnommen, um auch<br />
einen bildhaften Eindruck von der PR-Berichterstattung zu geben. mg<br />
Viel Aufsehen hatte unsere Berichterstattung<br />
im Januar und Februar über CDU-<br />
Filz und Rechtsextremismus in der Odenwaldgemeinde<br />
Groß-Bieberau erregt. Im<br />
Zuge der Recherchen wegen mehrfacher<br />
Mordversuche, Schüsse auf Container und<br />
Schulen, in denen Flüchtlinge untergebracht<br />
waren, stießen wir auf die vorteilnehmenden<br />
Geschäfte des CDU-Bürgermeisters<br />
Werner Seubert und konnten folgenlos<br />
(ohne Gegendarstellungs- oder<br />
Widerrufbegehren, auch ohne Strafanzeigen)<br />
berichten, daß und wie der „General“ ,<br />
so sein Spitzname, in die eigene Tasche<br />
wirtschaftete – bis hin zum Griff in die<br />
Gemeindekasse.<br />
Noch mehr Mordanschläge<br />
Dieses Recherche-Ergebnis war aber mehr<br />
Nebenprodukt, denn wir wollten eigentlich<br />
wissen, wieso können in dem 4.000-Seelen-Nest<br />
immer wieder und ungehindert<br />
Anschläge auf Flüchtlinge ausgeführt werden<br />
– eigentlich müßte doch jede/r in der<br />
Stadt wissen, wer hinter den Anschlägen<br />
steckt. Im Zuge der Recherchen stießen wir<br />
darauf, daß nicht etwa nur auf die Container,<br />
in denen Flüchtlinge eingepfercht sind,<br />
geschossen worden war (31.8.92), sondern<br />
im Sommer des Jahres zuvor bereits<br />
zweimal auf Schulen, einmal knapp an dem<br />
Kopf einer Jugoslawin vorbei – beim Treffen<br />
eines Asylarbeitskreises mehrerer Frauen,<br />
die sich um die Flüchtlinge kümmern.<br />
Der oder die Täter mußten Orts- und Zeitkenntnisse<br />
besitzen. Bürgermeister Seubert<br />
hingegen behauptete immer wieder,<br />
die Täter stammten nicht aus seiner<br />
Gemeinde. Dort Ansässige wußten wiederum<br />
anderes. Die Darmstädter Staatsanwaltschaft<br />
hat erklärt, Anklage wegen Mordversuches<br />
zu erheben, sowie eindeutige Hinweise<br />
auf die Täter eingehen. Die Staatsan-<br />
Schülerin, die die Informationen gegeben<br />
hatte, in der Folge bedroht, verprügelt und<br />
massiv eingeschüchtert – heute sagt sie<br />
nichts mehr. Woher wußten die Rechten<br />
von ihrer Aussage?<br />
Sieg-Heil-Gebrüll<br />
Die Angst grassiert überall, die meisten, vor<br />
allem Jüngeren, trauen sich nicht, etwas zu<br />
sagen. InformantInnen möchten namentlich<br />
nicht in Erscheinung treten, weil sie<br />
wohl berechtigt fürchten, selbst Opfer der<br />
rechten Gewalttäter zu werden – ihr Vertrauen<br />
in die Polizei ist erschüttert. Daran<br />
ändern auch regelmäßige Patrouillen der<br />
Ordnungshüter nichts, die auf Anweisung<br />
der Darmstädter Staatsanwaltschaft beobachten<br />
sollen. Die Rechten stören sich nicht<br />
daran: Am 1. Mai ziehen in Rodau das<br />
Horst-Wessel-Lied singende Rechte durch<br />
den Ort, Sieg-Heil-Geschrei gehört auch<br />
dazu. Selbstverständlich weiß niemand der<br />
400 EinwohnerInnen etwas darüber und<br />
Bürgermeister Seubert, so er gefragt würde,<br />
hätte nur die Antwort parat: Die sind<br />
nicht aus unserer Stadt. Sein „Echo“-<br />
Freund Schieck meldet solche Vorkommnisse<br />
nicht.<br />
Die bürgerliche Mitte<br />
„Das ist doch nur von der Presse hoch<br />
gespielt“, begeg<strong>net</strong>en viele, vor allem Ältere,<br />
den Berichten der ZD über die rechten<br />
Aktivitäten, verkennend, daß wir lediglich<br />
berichteten, was sich abspielt. Wo verläuft<br />
die Grenze zwischen Bequemlichkeit,<br />
Untätigkeit und Sympathie? Nicht nur, daß<br />
die Zahl der rechtsextremen Anschläge<br />
immer mehr zunimmt, läßt sich auch der<br />
Nachweis führen: die Täter finden Deckung<br />
und Unterstützung in der sogenannten bürgerlichen<br />
Mitte. Rechtes Gedankengut<br />
zeugt rechtsextreme Täter, sie sind keine<br />
Außenseiter, sie sind Kinder und haben<br />
Eltern, die eine „saubere und ordentliche“<br />
Stadt haben wollen, hinter ihrem privaten<br />
Vermögen her sind und die Saat für rechte<br />
Gewalt legen. Dabei handelt es sich jedoch<br />
keineswegs um eine breite Mehrheit, im<br />
Gegenteil: Die rechtsextremen Jugendlichen<br />
lassen sich ebenso wie die vorteilnehmenden<br />
PolitikerInnen noch an den Fingern<br />
abzählen – acht sind uns namentlich von<br />
mehreren InformantInnen genannt worden<br />
(auch die Behörden sind informiert). Es<br />
werden Verbindungen zwischen den<br />
rechtsradikalen Aktivitäten in Groß-Bieberau<br />
und Seeheim-Jugenheim, wo auch<br />
schon mehrere Anschläge zu verzeichnen<br />
waren, hergestellt – nicht von der Polizei,<br />
von Jugendlichen – auch nicht von „Echo“-<br />
Redakteur Schieck: Er recherchiert nicht<br />
und verschweigt, schreibend wird er dann<br />
tätig, wenn es gilt, für seinen Freund Seubert<br />
in der Öffentlichkeit eine Lanze zu brechen.<br />
NSDAP-Parteibuch unter 100<br />
Namen von Älteren, Rechts-Aktiven, werden<br />
nicht genannt, lediglich, daß sich der<br />
ehemalige Inhaber der Brauerei Schönberger<br />
öffentlich damit rühmte, ein NSDAP-<br />
Parteibuch unter der Nummer 100 gehabt<br />
zu haben. Über alle anderen breitet sich das<br />
Schweigen aus. Interessant dabei ist, daß<br />
General Seubert beste Beziehungen zu dem<br />
Erben pflegt, der durch seines, des Generals<br />
Gnaden, enorme Gelder einsparen darf,<br />
weil er trotz hoher Belastung der Abwässer<br />
keine höheren Gebühren (sogenannte<br />
Schwerverschmutzer-Abgabe) zu entrichten<br />
braucht – von mehreren Hunderttausend<br />
Mark ist die Rede – das zu überprüfen,<br />
ist jedoch Sache der Kontrollbehörden.<br />
Bereits 1991 hatte die Kommunalaufsicht<br />
die Begünstigung festgestellt und die<br />
Gemeinde aufgefordert, künftig für Überprüfung<br />
und korrekte Abrechnung zu sorgen<br />
– doch geändert hat sich nichts. Beste<br />
Freundschaft soll „Echo“-Redakteur<br />
Schieck und Seubert verbinden: Der Schreiber<br />
wider bessere Er- und ohne Kenntnis<br />
der Groß-Bieberauer Vorgänge und Reserveoffizier<br />
Seubert treffen sich zu privatem<br />
Austausch des öfteren, was viele parteiische<br />
Falschberichte des „Echo“ plausibel<br />
macht. Die Tatsache, daß auch Chefredakteur<br />
Roland Hof („Echo“) Reserveoffizier<br />
ist, könnte auf weitere Verbindungslinien<br />
schließen lassen.<br />
Viele InformantInnen<br />
Nachdem wir die Verbindung zwischen den<br />
vorteilnehmenden Politikern und den Rechten<br />
angedeutet hatten, war vielen im Ort ein<br />
Licht aufgegangen – sie stellten selbst<br />
immer neue Verbindungen her. Die Informationen<br />
wurden schließlich so dicht, daß<br />
wir längst nicht mehr über alles berichten<br />
können. Während noch die Politiker über<br />
eine „Rufmordkampagne“ lamentierten<br />
(vom „Echo“ öffentlich unterstützt), riefen<br />
Ärzte, Juristen, Professoren, Architekten,<br />
städtische Bedienstete und Parteimitglieder<br />
aller Fraktionen (außer der CDU) an, gaben<br />
ihre Beobachtungen und Kenntnisse weiter.<br />
Das Bild über die Rechte setzte sich wie ein<br />
Puzzlespiel Stück für Stück immer weiter<br />
zusammen – doch damit war es schlagartig<br />
vorbei, als Bürgermeister Seubert nach<br />
einem Kur-Aufenthalt im April zurückkam.<br />
Gleich, bei wem wir anriefen, niemand wollte<br />
überhaupt noch irgendetwas wissen. Vor<br />
allem die SPDler schwiegen, zugesagte<br />
Auskünfte wurden nicht mehr erteilt, nachdem<br />
Seubert öffentlich Andeutungen darüber<br />
gemacht hatte, daß ein SPD-Mitglied<br />
selber Vorteile aus den Grundstücksschiebereien<br />
gezogen hätte – etwas scheint daran<br />
zu sein, wie das Schweigen zeigt.<br />
Kommunal-Aufsicht:<br />
Gesetzesverstoß<br />
Da mit der ZD-Berichterstattung Steine ins<br />
Rollen gekommen waren, ließ Seubert<br />
sogar einen (beschränkten) Akteneinsichtsausschuß<br />
am 21.3. zu, doch nur, um seinen<br />
Freund Schieck im „Echo“ hernach verbreiten<br />
zu lassen, „Der Bürgermeister ist …<br />
entlastet“. Den Stadtverord<strong>net</strong>en untersagte<br />
Seubert, Notizen zu machen, denn die<br />
Bewerberlisten für die Grundstücke – Filz-<br />
Zentrale in dem Nest – lagen auch vor und<br />
hätten genauere Beweise erbringen können.<br />
Ebenso verhinderte der General ein<br />
Protokoll.<br />
Nach vielen Anfragen bei der Kommunalaufsicht<br />
im Landratsamt und einer förmlichen<br />
Beschwerde am 25.3.94 unter Berufung<br />
auf die ZD-Berichte, ging am 21.6.<br />
endlich eine Antwort ein: Bei der Grundstücksvergabe<br />
und den parlamentarischen<br />
Entscheidungen im Baugebiet Ober-Ramstädter-Weg<br />
(in dem Seubert selbst gebaut<br />
hat) stellt die Behörde fest, ist gegen die<br />
Hessische Gemeindeordnung verstoßen<br />
worden – Schieck enthält dies seiner Leserschaft<br />
wieder vor. Darin wird bestätigt,<br />
worüber in der ZD Ausgabe 62 berichtet<br />
worden war: Der General hatte selbstherrlich<br />
zu seinen eigenen Gunsten (und nicht<br />
nur er, auch seine CDU-Magistratsmitglieder)<br />
mitentschieden. Da die Kommunalaufsicht<br />
den General lediglich „bittet“, künftig<br />
„der Beachtung des“ Gesetzes „die notwendige<br />
Aufmerksamkeit zu widmen“, ist jetzt<br />
die nächste Behörde mit dem Vorgang<br />
befaßt, der Regierungspräsident nach Auskunft<br />
des Pressesprechers Ohl.<br />
Für Seubert und seine Parteifreunde<br />
bestimmen neue Schiebegeschäfte den Alltag,<br />
das hat er von seinem Vorbild Franz-<br />
Josef-Strauß gelernt, dessen Bild sein<br />
Arbeitszimmer schmückt, und es geht wie<br />
immer um Grundstücke, Grundstückspreise<br />
und Bauaufträge (von und für Freunde).<br />
Währenddessen werden die rechten Täter<br />
immer dreister. Von der Polizei stammte<br />
eine Meldung, die merkwürdigerweise später<br />
nicht mehr bestätigt und jede weitere<br />
Auskunft verweigert wurde.<br />
Mißglücktes Lynchen<br />
„Der Strick war schon geknüpft und die<br />
Schlinge um den Baum gelegt“, begann der<br />
Polizeibericht, „ein Mann auf der Flucht,<br />
zahlreiche Bürger hinter ihm her, schließlich<br />
Rettung durch die Polizei.“ Dieses<br />
Szenario stammt nicht aus einem Film.<br />
Drehbuch war die Realität – in Groß-Bieberau.<br />
Am 27.4. bemerkte eine Frau, wie ein<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 8<br />
Streifenwagen der Polizei durch die Weinbergstraße<br />
fuhr und sich gleichzeitig ein<br />
Mann hinter einem Papiercontainer versteckte.<br />
Als die Streife außer Sicht war, kam<br />
er wieder hervor, schaute sich ängstlich<br />
nach allen Seiten um und lief schnell weg.<br />
Dies berichtete sie der Polizei, die mit zwei<br />
Streifenwagen den Unbekannten suchten<br />
und ihn aufgrund der Beschreibung auch<br />
schnell fand. „Es stellte sich Überraschendes<br />
heraus“, berichtet die Polizei. Der<br />
Mann, 25 Jahre alt, aus Rodau „war auf der<br />
Flucht vor zahlreichen aufgebrachten Bürgern,<br />
von denen er annahm, daß sie ihn lynchen<br />
wollten. Die Schlinge war bereits an<br />
einen Baum geknüpft“ – „Nach Wild-West-<br />
Manier“ kommentierte der Polizeisprecher.<br />
Wütende Menge<br />
Nach den ersten Recherchen der Polizei<br />
hatte sich der Verfolgte als Versicherungsvertreter<br />
ausgegeben und zahlreiche Bürger<br />
mit Verträgen zu prellen versucht – so die<br />
Auskunft der Lynch-Wütigen. Außerdem<br />
habe er in betrügerischer Absicht auf fremde<br />
Namen Waren auf Rechnung bestellt.<br />
„Zu seinem Schutz wurde der 25jährige<br />
zunächst einmal zur Polizeistation<br />
gebracht. Nach einiger Zeit konnte er dann<br />
seines Weges gehen, was ihm offensichtlich<br />
schwer fiel, da er panische Angst vor<br />
seinen Mitbürgern hatte. Minuten später<br />
erschien dann auch wieder die wütende<br />
Menge. Der Polizei gelang es, die aufgebrachten<br />
Leute zu beruhigen und zur<br />
Besonnenheit zu ermahnen. Die Ermittlungen<br />
sind noch nicht abgeschlossen“, endet<br />
die Polizeimeldung. Danach war nur noch<br />
zu erfahren, es ist keine Strafanzeige eingegangen<br />
von jemandem, der betrogen worden<br />
ist. In Groß-Bieberau wollte niemand<br />
mehr etwas von einem Lynchversuch<br />
gehört haben und die Polizei dementierte<br />
die eigene Meldung. Allerdings bestätigte<br />
die Frau, von der die Polizei informiert worden<br />
war, den Hergang, schränkte aber ein:<br />
„Spielen sie das ja nicht so hoch, es ist<br />
doch eigentlich gar nichts passiert“. Eine<br />
ältere Groß-Bieberauerin meinte gar: „Bei<br />
uns ist es noch nicht so lange her, mit der<br />
Lynchjustiz“ – genaueres mochte sie nicht<br />
erzählen. Wer bei dem Lynchtrupp dabei<br />
war, mal war von 8, mal von 30 Beteiligten<br />
die Rede – darüber schweigen sich alle aus,<br />
Namen fallen selbstverständlich auch nicht.<br />
Der General regiert<br />
Mit harter Hand regiert Seubert, gerade<br />
gegenüber Frauen legt er obwohl wie er<br />
selbst ironisch anmerkte, er die Frauenbeauftragte<br />
sei, ein chauvinistisches und<br />
rücksichtsloses Verhalten an den Tag. Dies<br />
nicht nur im Parlament, wo verdeckte und<br />
offene Diskriminierungen an der Tagesordnung<br />
sind, auch außerhalb. Da haben sich<br />
zwei Frauen, eine 20 Jahre und eine andere<br />
15 Jahre in einer Privatinitiative um behinderte<br />
Kinder gekümmert. Heute gibt es keine<br />
Behinderten und die Frauen hatten sich<br />
als ErzieherInnen Freundschaften erworben,<br />
nicht nur bei Eltern, auch bei den von<br />
ihnen betreuten Kindern. Eine neue Erzieherin<br />
wurde von Seubert bestellt, warum,<br />
weiß niemand zu sagen. Das führte zum<br />
Aufruhr der Eltern in der Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung<br />
(20.6.), da sie die zwei Frauen<br />
weiter behalten wollen. Seubert schützt<br />
Formalien vor und will nicht nachgeben. Die<br />
Öffentlichkeit glaubt er wieder einmal hinter<br />
sich, da Schieck obrigkeitstreu Wirklichkeiten<br />
verändert. Das bringt die Eltern derart<br />
auf die Palme, daß sie beschlossen haben:<br />
Sie melden ihre Kinder bei der Gemeinde<br />
ab, gründen einen eigenen Verein und<br />
beschäftigen die zwei Frauen selbst weiter.<br />
Der Ärger über Seubert-Adlatus Schieck<br />
sitzt derart tief, daß alle 20 beschlossen<br />
haben, das „Echo“ abzubestellen. Obwohl<br />
gelegentlich bis selten „Echo“-Autor Jörs<br />
das Bild zurechtrückt – dieses Mal hatte er<br />
wohl nicht rechtzeitig genug geschrieben.<br />
Das Fernsehen kommt<br />
Nebenbei: Einen kleinen Erfolg hatte die<br />
Berichterstattung über die Rechtsaktivitäten<br />
zu verzeichnen: Ein Arzt, der mehrfach<br />
bedroht worden war und bei dem es auch<br />
schon gebrannt hatte (ZD Ausgabe 64),<br />
wird seitdem in Ruhe gelassen und er nahm<br />
Solidaritätsbekundungen der Einwohner<br />
seines neuen in der Nähe liegenden Wohnortes<br />
Steinau entgegen.<br />
Die Berichterstattung der ZD über Groß-<br />
Bieberau hat bundesweit Aufsehen erregt<br />
und ein Fernsehsender plant derzeit, im<br />
Herbst einen Film über die Vorgänge zu<br />
senden.<br />
M. Grimm
Im<br />
Jahre 1834 siehet<br />
es aus, als würde<br />
die Bibel Lügen<br />
gestraft. Es sieht<br />
aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker<br />
am fünften Tage und die Fürsten<br />
und Vornehmen am sechsten gemacht, und<br />
als hätte der Herr zu diesen gesagt: „Herrschet<br />
über alles Getier, das auf Erden<br />
kriecht“, und hätte die Bauern und Bürger<br />
zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen<br />
ist ein langer Sonntag: Sie wohnen<br />
in schönen Häusern, sie tragen zierliche<br />
Kleider, sie haben feiste Gesichter und<br />
reden eine eigne Sprache; das Volk aber<br />
liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker.<br />
Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme<br />
aber geht hinter ihm und dem Pflug<br />
und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er<br />
nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln.<br />
Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag;<br />
Fremde verzehren seine Äcker vor seinen<br />
Augen, sein Leib ist seine Schwiele,<br />
sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische<br />
des Vornehmen.<br />
Im Großherzogtum Hessen sind 718.373<br />
Einwohner, die geben an den Staat jährlich<br />
an 6.363.436 Gulden, als<br />
1. Direkte Steuern.......2.128.131 Fl.<br />
2. Indirekte Steuern ....2.478.264 „<br />
3. Domänen ................ 1.547.394 „<br />
4. Regalien .................... 46.938 „<br />
5. Geldstrafen ..................98.511 „<br />
6. Verschiedene Quellen ....64.198 „<br />
6.363.436 Fl.<br />
Dies Geld ist der Blutzehnte, der von dem<br />
Leib des Volkes genommen wird. An die<br />
700.000 Menschen schwitzen, stöhnen und<br />
hungern dafür. Im Namen des Staates wird<br />
es erpreßt, die Presser berufen sich auf die<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 9<br />
Friede den Hütten!<br />
Regierung, und die Regierung sagt, das sei<br />
nötig, die Ordnung im Staat zu erhalten.<br />
Was ist denn nun das für gewaltiges Ding:<br />
der Staat? Wohnt eine Anzahl Menschen in<br />
einem Land, und es sind Verordnungen<br />
oder Gesetze vorhanden, nach denen jeder<br />
sich richten muß, so sagt man, sie bilden<br />
einen Staat. Der Staat also sind alle; die<br />
Order im Staate sind die Gesetze, durch<br />
welche das Wohl aller gesichert wird und<br />
die aus dem Wohl aller hervorgehen sollen.<br />
– Seht nun, was man in dem Großherzogtum<br />
aus dem Staat gemacht hat; seht, was<br />
es heißt: die Ordnung im Staate erhalten!<br />
700.000 Menschen bezahlen dafür 6 Millionen,<br />
das heißt sie werden zu Ackergäulen<br />
und Pflugstieren gemacht, damit sie in Ordnung<br />
leben. In Ordnung leben heißt hungern<br />
und geschunden werden. Wer sind<br />
denn die, welche diese Ordnung gemacht<br />
haben und die wachen, diese Ordnung zu<br />
erhalten? Das ist die Großherzogliche<br />
Regierung. Die Regierung wird gebildet von<br />
dem Großherzog und seinen obersten<br />
Beamten. Die andern Beamten sind Männer,<br />
die von der Regierung berufen werden,<br />
um jene Ordnung in Kraft zu erhalten. Ihre<br />
Anzahl ist Legion: Staatsräte und Regierungsräte,<br />
Landräte und Kreisräte, geistliche<br />
Räte und Schulräte, Finanzräte und<br />
Forsträte usw. mit allem ihrem Heer von<br />
Sekretären usw. Das Volk ist ihre Herde, sie<br />
sind seine Hirten, Melker und Schinder; sie<br />
haben die Häute der Bauern an, der Raub<br />
der Armen ist in ihrem Hause; die Tränen<br />
der Witwen und Waisen sind das Schmalz<br />
auf ihren Gesichtern; sie herrschen frei und<br />
ermahnen das Volk zur Knechtschaft. Ihnen<br />
gebt ihr 6.000.000 Fl. Abgaben; sie haben<br />
dafür die Mühe, euch zu regieren; das heißt<br />
sich von euch füttern zu lassen und euch<br />
eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben.<br />
Sehet, was die Ernte eures Schweißes<br />
ist!<br />
Für das Ministerium des Innern und der<br />
Dieses Blatt soll dem hessischen<br />
Lande die Wahrheit melden,<br />
aber wer die Wahrheit sagt,<br />
wird gehenkt; ja sogar der,<br />
welcher die Wahrheit liest,<br />
wird durch meineidige Richter<br />
vielleicht gestraft. Darum haben die,<br />
welchen dies Blatt zukommt,<br />
folgendes zu beachten:<br />
1. Sie müssen das Blatt sorgfältig<br />
außer Ihres Hauses vor der Polizei<br />
verwahren;<br />
2. sie dürfen es nur an treue<br />
Freunde mitteilen;<br />
3. denen, welche sie nicht trauen<br />
wie sich selbst, dürfen sie es nur<br />
heimlich hinlegen;<br />
4. würde das Blatt dennoch bei<br />
einem gefunden, der es gelesen hat,<br />
so muß er gestehen, daß er es eben<br />
dem Kreisrat habe bringen wollen;<br />
5. wer das Blatt nicht gelesen hat,<br />
wenn man es bei ihm findet, der ist<br />
natürlich ohne Schuld.<br />
Darmstadt, im Juli 1834.<br />
Gerechtigkeitspflege werden bezahlt<br />
1.110.607 Gulden. Dafür habt ihr einen<br />
Wust von Gesetzen, zusammengehäuft aus<br />
willkürlichen Verordnungen aller Jahrhunderte,<br />
meist geschrieben in einer fremden<br />
Sprache. Der Unsinn aller vorigen Geschlechter<br />
hat sich darin auf euch ererbt,<br />
der Druck, unter dem sie erlagen, sich auf<br />
euch fortgewälzt. Das Gesetz ist das Eigentum<br />
einer unbedeutenden Klasse von Vornehmen<br />
und Gelehrten, die sich durch ihr<br />
eignes Machwerk die Herrschaft zuspricht.<br />
Diese Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch<br />
in Ordnung zu halten, damit man euch<br />
bequemer schinde; sie spricht nach Gesetzen,<br />
die ihr nicht versteht, nach Grundsätzen,<br />
von denen ihr nichts wißt, Urteile, von<br />
denen ihr nichts begreift. Unbestechlich ist<br />
sie, weil sie sich gerade teuer genug bezahlen<br />
läßt, um keine Bestechung zu brauchen.<br />
Aber die meisten ihrer Diener sind der Regierung<br />
mit Haut und Haar verkauft, Ihre<br />
Ruhestühle stehen auf einem Geldhaufen<br />
von 461.373 Gulden (so viel betragen die<br />
Ausgaben für die Gerichtshöfe und die Kriminalkosten).<br />
Die Fräcke, Stöcke und Säbel<br />
ihrer unverletzlichen Diener sind mit dem<br />
Silber von 197.502 Gulden beschlagen (so<br />
viel kostet die Polizei überhaupt, die Gendarmerie<br />
usw.). Die Justiz ist in Deutschland<br />
seit Jahrhunderten die Hure der deutschen<br />
Fürsten. Jeden Schritt zu ihr müßt ihr<br />
mit Silber pflastern, und mit Armut und<br />
Erniedrigung erkauft ihr ihre Sprüche.<br />
Denkt an das Stempelpapier, denkt an euer<br />
Bücken in den Amtsstuben und euer<br />
Wachestehen vor denselben. Denkt an die<br />
Sporteln für Schreiber und Gerichtsdiener.<br />
Ihr dürft euern Nachbar verklagen, der euch<br />
eine Kartoffel stiehlt; aber klagt einmal über<br />
den Diebstahl, der von Staats wegen unter<br />
dem Namen von Abgabe und Steuern jeden<br />
Tag an eurem Eigentum begangen wird,<br />
damit eine Legion unnützer Beamter sich<br />
von eurem Schweiße mästen; klagt einmal,<br />
daß ihr der Willkür einiger Fettwänste überlassen<br />
seid und daß diese Willkür Gesetz<br />
heißt, klagt, daß ihr die Ackergäule des<br />
Staates seid, klagt über eure verlorne Menschenrechte:<br />
Wo sind die Gerichtshöfe, die<br />
eure Klage annehmen, wo die Richter, die<br />
Recht sprächen? – Die Ketten eurer Vogelsberger<br />
Mitbürger, die man nach Rockenburg<br />
schleppte, werden euch Antwort<br />
geben.<br />
Und will endlich ein Richter oder ein andrer<br />
Beamte von den wenigen, welchen das<br />
Recht und das gemeine Wohl lieber ist als<br />
ihr Bauch und der Mammon, ein Volksrat<br />
und kein Volksschinder sein, so wird er von<br />
den obersten Räten des Fürsten selber<br />
geschunden.<br />
Für das Ministerium<br />
der Finanzen 1.551.502 Fl.<br />
Damit werden die Finanzräte, Obereinnehmer,<br />
Steuerboten, die Untererheber besoldet.<br />
Dafür wird der Ertrag eurer Äcker<br />
berech<strong>net</strong> und eure Köpfe gezählt. Der<br />
Boden unter euren Füßen, der Bissen zwischen<br />
euren Zähnen ist besteuert. Dafür sitzen<br />
die Herren in Fräcken beisammen, und<br />
das Volk steht nackt und gebückt vor ihnen;<br />
sie legen die Hände an seine Lenden und<br />
Schultern und rechnen aus, wie viel es noch<br />
tragen kann, und wenn sie barmherzig sind,<br />
so geschieht es nur, wie man ein Vieh<br />
schont, das man nicht so sehr angreifen<br />
will.<br />
Für das Militär wird bezahlt<br />
914.820 Gulden.<br />
Dafür kriegen eure Söhne einen bunten<br />
Rock auf den Leib, ein Gewehr oder eine<br />
Trommel auf die Schulter und dürfen jeden<br />
Herbst einmal blind schießen und erzählen,<br />
wie die Herren vom Hof und die ungeratenen<br />
Buben vom Adel allen Kindern ehrlicher<br />
Leute vorgehen und mit ihnen in den breiten<br />
Straßen der Städte herumziehen mit<br />
Trommeln und Trompeten. Für jene<br />
900.000 Gulden müssen eure Söhne den<br />
Tyrannen schwören und Wache halten an<br />
ihren Palästen. Mit ihren Trommeln übertäuben<br />
sie eure Seufzer, mit ihren Kolben<br />
zerschmettern sie euch den Schädel, wenn<br />
ihr zu denken wagt, daß ihr freie Menschen<br />
seid. Sie sind die gesetzlichen Mörder, welche<br />
die gesetzlichen Räuber schützen;<br />
denkt an Södel! Eure Brüder, eure Kinder<br />
waren dort Bruder- und Vatermörder.<br />
Für die Pension<br />
480.000 Gulden.<br />
Dafür werden die Beamten aufs Polster<br />
gelegt, wenn sie eine gewisse Zeit dem<br />
Staate treu gedient haben, das heißt wenn<br />
sie eifrige Handlanger bei der regelmäßig<br />
eingerichteten Schinderei gewesen, die<br />
man Ordnung und Gesetz heißt.<br />
Für das Staatsministerium und den Staatsrat<br />
174.600 Gulden. Die größten Schurken<br />
stehen wohl jetzt allerwärts in Deutschland<br />
den Fürsten am nächsten, wenigstens im<br />
Großherzogtum. Kommt ja ein ehrlicher<br />
Mann in einen Staatsrat, so wird er ausgestoßen.<br />
Könnte aber auch ein ehrlicher<br />
Mann jetzo Minister sein oder bleiben, so<br />
wäre er, wie die Sachen stehn in Deutschland,<br />
nur eine Drahtpuppe, an der die fürstliche<br />
Puppe zieht; und an dem fürstlichen<br />
Popanz zieht wieder ein Kammerdiener<br />
oder ein Kutscher oder seine Frau und ihr<br />
Günstling oder sein Halbbruder – oder alle<br />
zusammen.<br />
In Deutschland steht es jetzt, wie der Prophet<br />
Micha schreibt, Kap. 7, V. 3 und 4:<br />
„Die Gewaltigen raten nach ihrem Mutwillen,<br />
Schaden zu tun, und drehen es, wie sie<br />
es wollen. Der Beste unter ihnen ist wie ein<br />
Dorn, und der Redlichste wie eine Hecke.“<br />
Ihr müßt die Dörner und Hecken teuer<br />
bezahlen; denn ihr müßt ferner für das<br />
großherzogliche Haus und den Hofstaat<br />
827.772 Gulden bezahlen.<br />
Die Anstalten, die Leute, von denen ich bis<br />
jetzt gesprochen, sind nur Werkzeuge, sind<br />
nur Diener. Sie tun nichts in ihrem Namen,<br />
unter der Ernennung zu ihrem Amt steht ein<br />
L., das bedeutet Ludwig von Gottes Gnaden,<br />
und sie sprechen mit Ehrfurcht: „Im<br />
Namen des Großherzogs.“ Dies ist ihr Feldgeschrei,<br />
wenn sie euer Gerät versteigern,<br />
euer Vieh wegtreiben, euch in den Kerker<br />
werfen. Im Namen des Großherzogs sagen<br />
sie, und der Mensch, den sie so nennen,<br />
heißt: unverletzlich, heilig, souverän,<br />
Königliche Hoheit. Aber tretet zu dem Menschenkinde<br />
und blickt durch seinen Fürstenmantel.<br />
Es ißt, wenn es hungert, und<br />
schläft, wenn sein Auge dunkel wird. Sehet,<br />
es kroch so nackt und weich in die Welt wie<br />
ihr und wird so hart und steif hinausgetragen<br />
wie ihr, und doch hat es seinen Fuß auf<br />
eurem Nacken, hat 700.000 Menschen an<br />
seinem Pflug, hat Minister, die verantwortlich<br />
sind für das, was es tut, hat Gewalt über<br />
euer Eigentum durch die Steuern, die es<br />
ausschreibt, über euer Leben durch die<br />
Gesetze, die es macht, es hat adlige Herrn<br />
und Damen um sich, die man Hofstaat<br />
heißt, und seine göttliche Gewalt vererbt<br />
sich auf seine Kinder mit Weibern, welche<br />
aus ebenso übermenschlichen Geschlechtern<br />
sind .<br />
Wehe über euch Götzendiener! – Ihr seid<br />
wie die Heiden, die das Krokodil anbeten;<br />
von dem sie zerrissen werden. Ihr setzt ihm<br />
eine Krone auf, aber es ist eine Dornenkrone,<br />
die ihr euch selbst in den Kopf drückt;<br />
ihr gebt ihm ein Zepter in die Hand, aber es<br />
ist eine Rute, womit ihr gezüchtigt werdet!<br />
ihr setzt ihn auf euern Thron, aber es ist ein<br />
Marterstuhl für euch und eure Kinder. Der<br />
Fürst ist der Kopf des Blutegels, der über<br />
euch hinkriecht, die Minister sind seine<br />
Zähne, und die Beamten sein Schwanz. Die<br />
hungrigen Mägen aller vornehmen Herren,<br />
denen er die hohe Stellen verteilt, sind<br />
Schröpfköpfe, die er dem Lande setzt. Das<br />
L., was unter seinen Verordnungen steht,<br />
ist das Malzeichen des Tieres, das die Götzendiener<br />
unserer Zeit anbeten. Der Fürstenmantel<br />
ist der Teppich, auf dem sich<br />
die Herren und Damen vom Adel und Hofe<br />
in ihrer Geilheit übereinander wälzen – mit<br />
Orden und Bändern decken sie ihre<br />
Geschwüre, und mit kostbaren Gewändern<br />
bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber. Die<br />
Töchter des Volks sind ihre Mägde und<br />
Huren, die Söhne des Volks ihre Lakaien<br />
und Soldaten. Geht einmal nach Darmstadt<br />
und seht, wie die Herren sich für euer Geld<br />
dort lustig machen, und erzählt dann euern<br />
hungernden Weibern und Kindern, daß ihr<br />
Brot an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen<br />
sei, erzählt ihnen von den schö-<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 10<br />
Krieg den Palästen!<br />
nen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt,<br />
und von den zierlichen Bändern, die aus<br />
den Schwielen ihrer Hände geschnitten<br />
sind, erzählt von den stattlichen Häusern,<br />
die aus den Knochen des Volks gebaut sind;<br />
und dann kriecht in eure rauchigen Hütten<br />
und bückt euch auf euren steinichten<br />
Äckern, damit eure Kinder auch einmal hingehen<br />
können, wenn ein Erbprinz mit einer<br />
Erbprinzessin für einen andern Erbprinzen<br />
Rat schaffen will, und durch die geöff<strong>net</strong>en<br />
Glastüren das Tischtuch sehen, wovon die<br />
Herren speisen, und die Lampen riechen,<br />
aus denen man mit dem Fett der Bauern<br />
illuminiert.<br />
Das alles duldet ihr, weil euch Schurken<br />
sagen, diese Regierung sei von Gott. Diese<br />
Regierung ist nicht von Gott, sondern vom<br />
Vater der Lügen. Diese deutschen Fürsten<br />
sind keine rechtmäßige Obrigkeit, sondern<br />
die rechtmäßige Obrigkeit, den deutschen<br />
Kaiser, der vormals vom Volke frei gewählt<br />
wurde, haben sie seit Jahrhunderten verachtet<br />
und endlich gar verraten. Aus Verrat<br />
und Meineid, und nicht aus der Wahl des<br />
Volkes, ist die Gewalt der deutschen Fürsten<br />
hervorgegangen, und darum ist ihr<br />
Wesen und Tun von Gott verflucht; ihre<br />
Weisheit ist Trug, ihre Gerechtigkeit ist<br />
Schinderei. Sie zertreten das Land und<br />
schlagen die Person des Elenden. Ihr lästert<br />
Gott, wenn ihr einen dieser Fürsten einen<br />
Gesalbten des Herrn nennt, das heißt Gott<br />
habe die Teufel gesalbt und zu Fürsten über<br />
die deutsche Erde gesetzt. Deutschland,<br />
unser liebes Vaterland, haben die Fürsten<br />
zerrissen, den Kaiser, den unsere freien<br />
Voreltern wählten, haben diese Fürsten verraten,<br />
und nun fordern diese Verräter und<br />
Menschenquäler Treue von euch! – Doch<br />
das Reich der Finsternis neiget sich zum<br />
Ende. Über ein kleines, und Deutschland,<br />
das jetzt die Fürsten schinden, wird als ein<br />
Freistaat mit einer vom Volk gewählten<br />
Obrigkeit wieder auferstehn. Die Heilige<br />
Schrift sagt: „Gebet dem Kaiser, was des<br />
Kaisers ist.“ Was ist aber dieser Fürst, der<br />
Verräter? – Das Teil von Judas!<br />
Für die Landstände<br />
16.000 Gulden.<br />
Im Jahr 1789 war das Volk in Frankreich<br />
müde, länger die Schindmähre seines<br />
Königs zu sein. Es erhob sich und berief<br />
Männer, denen es vertraute, und die Männer<br />
traten zusammen und sagten, ein König<br />
sei ein Mensch wie ein anderer auch, er sei<br />
nur der erste Diener im Staat, er müsse sich<br />
vor dem Volk verantworten, und wenn er<br />
sein Amt schlecht verwalte, könne er zur<br />
Strafe gezogen werden. Dann erklärten sie<br />
die Rechte des Menschen: „Keiner erbt vor<br />
dem andern mit der Geburt ein Recht oder<br />
einen Titel, keiner erwirbt mit dem Eigentum<br />
ein Recht vor dem andern. Die höchste<br />
Gewalt ist in dem Willen aller oder der<br />
Mehrzahl. Dieser Wille ist das Gesetz, er tut<br />
sich kund durch die Landstände oder die<br />
Vertreter des Volks, sie werden von allen<br />
gewählt, und jeder kann gewählt werden;<br />
diese Gewählten sprechen den Willen ihrer<br />
Wähler aus, und so entspricht der Wille der<br />
Mehrzahl unter ihnen dem Willen der Mehrzahl<br />
unter dem Volke; der König hat nur für<br />
die Ausübung der von ihnen erlassenen<br />
Gesetze zu sorgen.“ Der König schwor, dieser<br />
Verfassung treu zu sein; er wurde aber<br />
meineidig an dem Volke, und das Volk richtete<br />
ihn, wie es einem Verräter geziemt.<br />
Dann schafften die Franzosen die erbliche<br />
Königswürde ab und wählten frei eine neue<br />
Obrigkeit, wozu jedes Volk nach der Vernunft<br />
und der Heiligen Schrift das Recht<br />
hat. Die Männer, die über die Vollziehung<br />
der Gesetze wachen sollten, wurden von<br />
der Versammlung der Volksvertreter<br />
ernannt, sie bildeten die neue Obrigkeit. Sie<br />
waren Regierung und Gesetzgeber, vom<br />
Volk gewählt, und Frankreich war ein Freistaat.<br />
Die übrigen Könige aber entsetzten sich vor<br />
der Gewalt des französischen Volkes; sie<br />
dachten, sie könnten alle über der ersten<br />
Königsleiche den Hals brechen und ihre<br />
mißhandelten Untertanen möchten bei dem<br />
Freiheitsruf der Franken erwachen. Mit<br />
gewaltigem Kriegsgerät und riesigem Zeug<br />
stürzten sie von allen Seiten auf Frankreich,<br />
und ein großer Teil der Adligen und Vornehmen<br />
im Lande stand auf und schlug sich zu<br />
dem Feind. Da ergrimmte das Volk und<br />
erhob sich in seiner Kraft. Es erdrückte die<br />
Verräter und zerschmetterte die Söldner<br />
der Könige. Die junge Freiheit wuchs im<br />
Blut der Tyrannen, und vor ihrer Stimme<br />
bebten die Throne und jauchzten die Völker.<br />
Aber die Franzosen verkauften selbst ihre<br />
junge Freiheit für den Ruhm, den ihnen<br />
Napoleon darbot, und erhoben ihn auf den<br />
Kaiserthron. – Da ließ der Allmächtige das<br />
Heer des Kaisers in Rußland erfrieren und<br />
züchtigte Frankreich durch die Knute der<br />
Kosaken und gab den Franzosen die dickwanstigen<br />
Bourbonen wieder zu Königen,<br />
damit Frankreich sich bekehre vom Götzendienst<br />
der erblichen Königsherrschaft und<br />
dem Gotte diene, der die Menschen frei und<br />
gleich geschaffen. Aber als die Zeit seiner<br />
Strafe verflossen war und tapfere Männer<br />
im Julius 1830 den meineidigen König Karl<br />
den Zehnten aus dem Lande jagten, da<br />
wendete dennoch das befreite Frankreich<br />
sich abermals zur halberblichen Königsherrschaft<br />
und band sich in dem Heuchler<br />
Louis Philipp eine neue Zuchtrute auf. In<br />
Deutschland und ganz Europa war die<br />
große Freude, als der zehnte Karl vom<br />
Trohn gestürzt ward, und die unterdrückten<br />
deutschen Länder rüsteten sich zum Kampf<br />
für die Freiheit. Da ratschlagten die Fürsten,<br />
wie sie dem Grimm des Volkes entgehen<br />
sollten, und die listigen unter ihnen sagten:<br />
Laßt uns einen Teil unserer Gewalt abgeben,<br />
daß wir das übrige behalten. Und sie<br />
traten vor das Volk und sprachen: Wir wollen<br />
euch die Freiheit schenken, um die ihr<br />
kämpfen wollt. Und zitternd vor Furcht warfen<br />
sie einige Brocken hin und sprachen<br />
von ihrer Gnade. Das Volk traute ihnen leider<br />
und legte sich zur Ruhe. – Und so ward<br />
Deutschland betrogen wie Frankreich.<br />
Denn was sind diese Verfassungen in<br />
Deutschland? Nichts als leeres Stroh, woraus<br />
die Fürsten die Körner für sich herausgeklopft<br />
haben. Was sind unsere Landtage?<br />
Nichts als langsame Fuhrwerke, die man<br />
einmal oder zweimal wohl der Raubgier der<br />
Fürsten und ihrer Minister in den Weg<br />
schieben, woraus man aber nimmermehr<br />
eine feste Burg für deutsche Freiheit bauen<br />
kann. Was sind unsere Wahlgesetze?<br />
Nichts als Verletzungen der Bürger- und<br />
Menschenrechte der meisten Deutschen.<br />
Denkt an das Wahlgesetz im Großherzogtum,<br />
wonach keiner gewählt werden kann,<br />
der nicht hochbegütert ist, wie rechtschaffen<br />
und gutgesinnt er auch sei, wohl aber<br />
der Grolmann, der euch um die zwei Millionen<br />
bestehlen wollte. Denkt an die Verfassung<br />
des Großherzogtums. – Nach den<br />
Artikeln derselben ist der Großherzog<br />
unverletzlich, heilig und unverantwortlich.<br />
Seine Würde ist erblich in seiner Familie, er<br />
hat das Recht, Krieg zu führen, und ausschließliche<br />
Verfügung über das Militär. Er<br />
beruft die Landstände, vertagt sie oder löst<br />
sie auf. Die Stände dürfen keinen Gesetzesvorschlag<br />
machen, sondern sie müssen um<br />
das Gesetz bitten, und dem Gutdünken des<br />
Fürsten bleibt es unbedingt überlassen, es<br />
zu geben oder zu verweigern. Er bleibt im<br />
Besitz einer fast unumschränkten Gewalt,<br />
nur darf er keine neuen Gesetze machen<br />
und keine neuen Steuern ausschreiben<br />
ohne Zustimmung der Stände. Aber teils<br />
kehrt er sich nicht an diese Zustimmung,<br />
teils genügen ihm die alten Gesetze, die das<br />
Werk der Fürstengewalt sind, und er bedarf<br />
darum keiner neuen Gesetze. Eine solche<br />
Verfassung ist ein elend jämmerlich Ding.<br />
Was ist von den Ständen zu erwarten, die<br />
an eine solche Verfassung gebunden sind?<br />
Wenn unter den Gewählten auch keine<br />
Volksvertreter und feige Memmen wären,<br />
wenn sie aus lauter entschlossenen Volksfreunden<br />
bestünden?! Was ist von Ständen<br />
zu erwarten, die kaum die elenden Fetzen<br />
einer armseligen Verfassung zu verteidigen<br />
vermögen! – Der einzige Widerstand, den<br />
sie zu leisten vermochten, war die Verweigerung<br />
der zwei Millionen Gulden, die sich<br />
der Großherzog von dem überschuldeten<br />
Volke wollte schenken lassen zur Bezahlung<br />
seiner Schulden. Hätten aber auch die<br />
Landstände des Großherzogtums genügende<br />
Rechte, und hätte das Großherzogtum,<br />
aber nur das Großherzogtum allein, eine<br />
wahrhafte Verfassung, so würde die Herrlichkeit<br />
doch bald zu Ende sein. Die Raubgier<br />
in Wien und Berlin würde ihre Henkerskrallen<br />
ausstrecken und die kleine Freiheit<br />
mit Rumpf und Stumpf ausrotten. Das<br />
ganze deutsche Volk muß sich die Freiheit<br />
erringen. Und diese Zeit, geliebte Mitbürger,<br />
ist nicht ferne. – Der Herr hat das schöne<br />
deutsche Land, das viele Jahrhunderte<br />
das herrlichste Reich der Erde war, in die<br />
Hände der fremden und einheimischen<br />
Schinder gegeben, weil das Herz des deutschen<br />
Volkes von der Freiheit und Gleichheit<br />
seiner Voreltern und von der Furcht des<br />
Herrn abgefallen war, weil ihr dem Götzendienste<br />
der vielen Herrlein, Kleinherzoge<br />
und Däumlings-Könige euch ergeben hattet.<br />
Der Herr, der den Stecken des fremden<br />
Treibers Napoleon zerbrochen bat, wird<br />
auch die Götzenbilder unserer einheimischen<br />
Tyrannen zerbrechen durch die Hände<br />
des Volks. Wohl glänzen diese Götzenbilder<br />
von Gold und Edelsteinen, von Orden<br />
und Ehrenzeichen, aber in ihrem Innern<br />
stirbt der Wurm nicht, und ihre Füße sind<br />
von Lehm. – Gott wird euch Kraft geben,<br />
ihre Füße zu zerschmeißen, sobald ihr euch<br />
bekehrt von dem Irrtum eures Wandels und<br />
die Wahrheit erken<strong>net</strong>: daß nur ein Gott ist<br />
und keine Götter neben ihm, die sich Hoheiten<br />
und Allerhöchste, heilig und unverantwortlich<br />
nennen lassen, daß Gott alle Menschen<br />
frei und gleich in ihren Rechten schuf<br />
und daß keine Obrigkeit von Gott zum<br />
Segen verord<strong>net</strong> ist als die, welche auf das<br />
Vertrauen des Volkes sich gründet und vom<br />
Volk ausdrücklich oder stillschweigend<br />
erwählt ist; daß dagegen die Obrigkeit, die<br />
Gewalt, aber kein Recht über ein Volk hat,<br />
nur also von Gott ist, und daß der Gehorsam<br />
gegen eine solche Teufelsobrigkeit nur<br />
so lange gilt, bis ihre Teufelsgewalt gebrochen<br />
werden kann; – daß der Gott, der ein<br />
Volk durch eine Sprache zu einem Leibe<br />
vereinigte, die Gewaltigen die es zerfleischen<br />
und vierteilen oder gar in dreißig<br />
Stücke zerreißen, als Volksmörder und Tyrannen<br />
hier zeitlich und dort ewiglich strafen<br />
wird, denn die Schrift sagt: Was Gott<br />
vereinigt hat, soll der Mensch nicht trennen;<br />
und daß der Allmächtige, der aus der<br />
Einöde ein Paradies schaffen kann, auch ein<br />
Land des Jammers und des Elends wieder<br />
in ein Paradies umschaffen kann wie unser<br />
teuerwertes Deutschland war, bis seine<br />
Fürsten es zerfleischten und schunden.<br />
Weil das deutsche Reich morsch und faul<br />
war und die Deutschen von Gott und von<br />
der Freiheit abgefallen waren, hat Gott das<br />
Reich zu Trümmern gehen lassen, um es zu<br />
einem Freistaat zu verjüngen. Er hat eine<br />
Zeitlang den Satansengeln Gewalt gegeben,<br />
daß sie Deutschland mit Fäusten schlügen,<br />
er hat den Gewaltigen und Fürsten, die in<br />
der Finsternis herrschen, den bösen Geistern<br />
unter dem Himmel (Ephes. 6), Gewalt<br />
gegeben, daß sie Bürger und Bauern peinigten<br />
und ihr Blut aussaugten und ihren<br />
Mutwillen trieben mit allen, die Recht und<br />
Freiheit mehr lieben als Unrecht und<br />
Knechtschaft. – Aber ihr Maß ist voll!<br />
Sehet an das von Gott gezeich<strong>net</strong>e Scheusal,<br />
den König Ludwig von Bayern, den Gotteslästerer,<br />
der redliche Männer vor seinem<br />
Bilde niederzuknien zwingt und die, welche<br />
die Wahrheit bezeugen, durch meineidige<br />
Richter zum Kerker verurteilen läßt; das<br />
Schwein, das sich in allen Lasterpfützen<br />
von Italien wälzte, den Wolf, der sich für<br />
seinen Baals-Hofstaat für immer jährlich<br />
fünf Millionen durch meineidige Landstände<br />
bewilligen läßt, und fragt dann: „Ist das<br />
eine Obrigkeit von Gott, zum Segen verord<strong>net</strong>?“<br />
Ha! du wärst Obrigkeit von Gott?<br />
Gott spendet Segen aus;<br />
Du raubst, du schindest, kerkerst ein,<br />
Du nicht von Gott, Tyrann!<br />
Ich sage euch: Sein und seiner Mitfürsten<br />
Maß ist voll. Gott, der Deutschland um seiner<br />
Sünden willen geschlagen hat durch<br />
diese Fürsten, wird es wieder heilen. „Er<br />
wird die Hecken und Dörner niederreißen<br />
und auf einem Haufen verbrennen.“ Jesaias<br />
27, 4. So wenig der Höcker noch wächset,<br />
womit Gott diesen König Ludwig gezeich<strong>net</strong><br />
hat, so wenig werden die Schandtaten<br />
dieser Fürsten noch wachsen können. Ihr<br />
Maß ist voll. Der Herr wird ihre Körper zerschmeißen,<br />
und in Deutschland wird dann<br />
Leben und Kraft als Segen der Freiheit wieder<br />
erblühen. Zu einem großen Leichenfelde<br />
haben die Fürsten die deutsche Erde gemacht,<br />
wie Ezechiel im 37. Kapitel beschreibt:<br />
„Der Herr führte mich auf ein weites<br />
Feld, das voller Gebeine lag, und siehe,<br />
sie waren sehr verdorrt.“ Aber wie lautet<br />
des Herrn Wort zu den verdorrten Gebeinen:<br />
„Siehe, ich will euch Adern geben und<br />
Fleisch lassen über euch wachsen, und<br />
euch mit Haut überziehen, und will euch<br />
Odem geben, daß ihr wieder lebendig werdet,<br />
und sollt erfahren, daß ich der Herr<br />
bin.“ Und des Herrn Wort wird auch an<br />
Deutschland sich wahrhaftig beweisen, wie<br />
der Prophet spricht: „Siehe, es rauschte<br />
und regte sich, und die Gebeine kamen wie-<br />
der zusammen, ein jegliches zu seinem Gebein.<br />
– Da kam Odem in sie, und sie wurden<br />
wieder lebendig und richteten sich auf ihre<br />
Füße, und ihrer war ein sehr groß Heer.“<br />
Wie der Prophet schreibet, also stand es<br />
bisher in Deutschland: Eure Gebeine sind<br />
verdorrt, denn die Ordnung, in der ihr lebt,<br />
ist eitel Schinderei. Sechs Millionen bezahlt<br />
ihr im Großherzogtum einer Handvoll Leute,<br />
deren Willkür euer Leben und Eigentum<br />
überlassen ist, und die anderen in dem zerrissenen<br />
Deutschland gleich also. Ihr seid<br />
nichts, ihr habt nichts! Ihr seid rechtlos. Ihr<br />
müsset geben, was eure unersättlichen<br />
Presser fordern, und tragen, was sie euch<br />
aufbürden. So weit ein Tyrann blicket – und<br />
Deutschland hat deren wohl dreißig –, verdorret<br />
Land und Volk. Aber wie der Prophet<br />
schreibet, so wird es bald stehen in<br />
Deutschland: Der Tag der Auferstehung<br />
wird nicht säumen. In dem Leichenfelde<br />
wird sich’s regen und wird rauschen, und<br />
der Neubelebten wird ein großes Heer sein.<br />
Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein<br />
eurer Presser, die nur stark sind durch das<br />
Blut, das sie euch aussaugen, und durch<br />
eure Arme, die ihr ihnen willenlos leihet.<br />
Ihrer sind vielleicht 10.000 im Großherzogtum<br />
und eurer sind es 700.000, und also<br />
verhält sich die Zahl des Volkes zu seinen<br />
Pressern auch im übrigen Deutschland.<br />
Wohl drohen sie mit dem Rüstzeug und den<br />
Reisigen der Könige, aber ich sage euch:<br />
Wer das Schwert erhebt gegen das Volk,<br />
der wird durch das Schwert des Volkes<br />
umkommen. Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld,<br />
bald wird es ein Paradies sein.<br />
Das deutsche Volk ist ein Leib, ihr seid ein<br />
Glied dieses Leibes. Es ist einerlei, wo die<br />
Scheinleiche zu zucken anfängt. Wann der<br />
Herr euch seine Zeichen gibt durch die<br />
Männer, durch welche er die Völker aus der<br />
Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebet<br />
euch, und der ganze Leib wird mit euch<br />
aufstehen. Ihr bücktet euch lange Jahre in<br />
den Dornäckern der Knechtschaft, dann<br />
schwitzt ihr einen Sommer im Weinberge<br />
der Freiheit und werdet frei sein bis ins tausendste<br />
Glied.<br />
Ihr wühltet ein langes Leben die Erde auf,<br />
dann wühlt ihr euren Tyrannen ein Grab. Ihr<br />
bautet die Zwingburgen, dann stürzt ihr sie<br />
und bauet der Freiheit Haus. Dann könnt ihr<br />
eure Kinder frei taufen mit dem Wasser des<br />
Lebens. Und bis der Herr euch ruft durch<br />
seine Boten und Zeichen, wachet und rüstet<br />
euch im Geiste und betet ihr selbst und<br />
lehrt eure Kinder beten: „Herr, zerbrich den<br />
Stecken unserer Treiber und laß dein Reich<br />
zu uns kommen – das Reich der Gerechtigkeit.<br />
Amen.“
Unsere<br />
Parteien-Filzokratie<br />
Wie demokratisch,<br />
wie liberal,<br />
wie tolerant,<br />
wie kritikfähig<br />
oder<br />
wie schweigend,<br />
wie gleichgültig<br />
und<br />
wie rechts<br />
ist Darmstadt heute?<br />
Mit unseren Fragen nach dem politischen<br />
Standort einer Stadt durch mehr als<br />
1.000 Briefe an DarmstädterInnen, die mehr<br />
oder weniger aktiv im Rampenlicht der<br />
Öffentlichkeit stehen, hatten wir die öffentlichen<br />
Antworten gesucht. Doch sie kamen<br />
nicht, weshalb wir uns selbst an einer<br />
Beschreibung unseres schönen Darmstadts<br />
und seiner heute so häßlichen Parteien-Ordnung<br />
versuchen, wenn auch die Zeit zu kurz<br />
war und wir eigentlich lieber gründlicher und<br />
länger beobachtet und ausgearbeitet hätten.<br />
Die Mehrheit der DarmstädterInnen will keine<br />
zweite Zeitung, zumindest keine, die ihnen<br />
zeigt, daß Ausländerfeindlichkeit (Menschenrechtsverletzungen),<br />
Parteien-Filz<br />
(Vorteilnahmen und Absprachen), Umweltzerstörung<br />
(durch wachsenden Verkehr und<br />
Luftverschmutzung) und die schleichende<br />
Zersetzung der Gewaltenteilung, ständige<br />
Gesetzesverletzungen der Behörden, auch<br />
ihrer Kontrolleure, nicht zuletzt eine nachhaltige<br />
Pressezensur, die Stadt langsam und<br />
unmerklich in undemokratische Machtverhältnisse<br />
abgleiten läßt.<br />
Das Ende der Zeitung für Darmstadt hat<br />
neben der gesetzwidrigen Verweigerung<br />
bezahlter Anzeigen durch den Oberbürgermeister,<br />
eine auch allzu bereitwillige Justiz<br />
herbeigeführt, die, statt eine freie Presse zu<br />
schützen, die Berichterstatter verfolgt und<br />
die Täter laufen läßt, die weiter ihre Geschäfte<br />
noch dazu aus öffentlichen Kassen<br />
machen dürfen.<br />
Pressezensur<br />
Die Zensur einer unabhängigen Presse ist<br />
immer der erste Schritt, einer unbeobachtet,<br />
unkritisiert, vor der Öffentlichkeit verborgen,<br />
ihre Macht ausübenden Gesellschaft. Die<br />
Macht wird genutzt zu Vorteilnahmen und<br />
Postenschiebereien, zu kleinen und großen<br />
Diebereien an der Allgemeinheit. Die Öffentlichkeit<br />
darf nichts davon erfahren, damit sie<br />
ja allen Versprechungen und Zusicherungen<br />
der Rechtschaffenheit ihrer Machthaber<br />
glaubt, Vertrauen bewahrt und sie ungehindert<br />
weitermachen läßt.<br />
Warum wir 160 Jahre später den „Hessischen<br />
Landboten“ nachdrucken? Die politischen<br />
Uhren sind nicht nur stehengeblieben,<br />
sie laufen rückwärts. Was einmal hart<br />
erkämpft und in die Verfassung eingegangen<br />
war als Menschenrecht, wird heute wieder<br />
abgebaut: Wer eine andere Hautfarbe trägt,<br />
Fremder ist, hier wird er geprügelt, mißhandelt,<br />
obendrein verurteilt. Wer dies schreibt<br />
und an die Geschichte erinnert, gerät seinerseits<br />
ins Blickfeld der Justiz, allein des historisch<br />
angedeuteten Vergleichs halber mit<br />
dem Ende der Weimarer Republik, in der eine<br />
ähnliche Entwicklung die Presse vereinheitlichte<br />
und zum Schweigen brachte.<br />
Lesen und glauben wollen das hier nur allzu<br />
wenige in dieser fortschrittsbesessenen Zeit,<br />
die schon morgen nicht mehr hören will, was<br />
heute ist, ihre Alltäglichkeit zu monströser<br />
Wichtigkeit aufplustert und darüber vergißt,<br />
was gestern und vorgestern war.<br />
Immer weniger Arbeitsplätze<br />
Zugleich werden die Konsumpaläste immer<br />
größer, immer teurer, immer mehr – für<br />
wen? Denn die Arbeitsplätze werden immer<br />
weniger, das soziale Netz demontiert; die<br />
Zeche zahlen nicht die da oben, sondern wir<br />
da unten. Mietpreise explodieren, die Habenden<br />
zahlen immer weniger Steuern, wir<br />
dagegen immer mehr. Im Namen des Staates<br />
werden sie erhoben, einbehalten,<br />
erzwungen, eingesackt: Bei uns da unten einfach<br />
vom Lohn abgezogen – bei denen da<br />
oben nach Jahren und nach eigener<br />
Erklärung der Höhe der Steuern, die sie meinen<br />
zahlen zu wollen oder zu müssen. Ein<br />
Weltkonzern in Darmstadt, Merck, berappt<br />
nur 3,5 Millionen im Jahr – vom Milliarden-<br />
Umsatz.<br />
„Die schaffen unsere Arbeitsplätze“, lautet<br />
das beliebte Politiker-Argument, das Gegenteil<br />
ist der Fall: Die Unternehmen rationalisieren<br />
heute unsere Arbeitsplätze weg. Wieder<br />
am Beispiel Merck: Ganze Unternehmen werden<br />
in anderen Ländern gekauft, die Umsätze<br />
und Gewinne steigen, und in Darmstadt sollen<br />
10 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeit<br />
verlieren. „Die großen Unternehmen leisten<br />
durch ihre Steuern Beiträge für die Entwicklung<br />
der Stadt“, das nächste Politiker-Argument.<br />
Auch das kennt eine andere Wirklichkeit:<br />
Die neue B3-West-Umgehung bekommt<br />
einen Zubringer, die Virchowstraße – erforderlich<br />
für Mercks Firmenerweiterung, doch<br />
die Kosten tragen wir. Die Bürgerinitiativen,<br />
in den vergangenen zwei Jahrzehnten die<br />
Speerspitzen auch der Darmstädtischen<br />
Gesellschaft, stecken immer weiter zurück:<br />
Die IGAB wollte ursprünglich eine Erweiterung<br />
Merck’s verhindern – davon spricht<br />
heute niemand mehr, dafür vom Konsens.<br />
Keine Initiativen mehr<br />
Bürgerinitiativen, soweit sie nicht in den Grünen<br />
aufgegangen sind, treten immer weniger<br />
öffentlich in Erscheinung. Besonders auffällig<br />
ist dies beim BUND, der heute sogar die<br />
sehr aktiven Jugendlichen diszipliniert oder<br />
weggrault, um ja nicht des kämpferischen<br />
Eintretens gegen den Umweltzerstörer Nummer<br />
eins, das Auto, in Erscheinung zu treten.<br />
Auch von der Bürgerinitiative gegen den Bau<br />
der Nord-Ost-Umgehung ist nichts mehr zu<br />
hören und gegen den wachsenden Verkehr<br />
infolge der HEAG-Hallen-Tiefgaragen trat<br />
erst gar keine Bürgerinitiative an. Solange<br />
sich StudentInnen im Verkehrsforum einsetzen<br />
für den Bau von Umgehungsstraßen,<br />
sind sie erwünscht, willkommen, gefördert,<br />
wenn sie für Drogenfreigabe demonstrieren,<br />
sind sie Kriminelle.<br />
Peinlich auch die geringe Anzahl aktiver Mitglieder<br />
der AGAR, eines Bündnisses gegen<br />
Fremdenfeindlichkeit, das noch nicht einmal<br />
in der Lage ist, den Opfern notwendige Hilfe<br />
zu leisten.<br />
Sind wir selbst schuld?<br />
Derweil verseuchen mehr als zweihundert<br />
Altlast-Deponien, vor allem ehemalige Chemiemüllkippen,<br />
unser Grundwasser – doch,<br />
wenn saniert wird, zahlen wir. Unkontrollierte<br />
Mengen von Industrieabgasen verschmutzen<br />
unsere Luft, versauern die Böden der<br />
Wälder – doch die Folgen zahlen wir.<br />
Uns wird erzählt, daran seid ihr selbst<br />
schuld, denn Eure Autos sind die größten<br />
Luftverschmutzer. Und wer baut unsere<br />
Autos? Warum sind nicht längst die Dinosaurier-Karossen,<br />
die soviel Benzin fressen<br />
wie Lastwagen, verboten und durch kleinmotorisierte,<br />
umweltfreundliche Fortbewegungsmittel<br />
ersetzt? Weil wir das wollen,<br />
besser nicht wollten? Die Technik gibt es<br />
längst.<br />
Wir haben nichts zu sagen, wenn unsere<br />
gewählten VertreterInnen mit den Industrie-<br />
Magnaten verhandeln, zugestehen, vertuschen<br />
und dafür sorgen, daß Produktionsanlagen<br />
aus Vorväter-Zeit (Röhm-Anlagen von<br />
1942) weiterbetrieben werden dürfen – und<br />
das noch unkontrolliert. Passiert einmal<br />
einer der sogenannten „Zwischenfälle“, dann<br />
wird uns erzählt, das habe doch niemanden<br />
gefährdet, sogar wenn eine ganze Stadt wie<br />
1993 nach den HOECHST-Unfällen vergiftet<br />
war.<br />
Für unsere Arbeitsplätze soll das alles sein?<br />
Die werden dennoch weniger und immer<br />
weniger, nicht wir haben den Vorteil, die da<br />
oben.<br />
Wir wollen…?<br />
Wir haben nichts zu sagen, wenn unsere<br />
Stadtverord<strong>net</strong>en beschließen: Noch mehr<br />
Einzelhandel, noch mehr Parkplätze in der<br />
Stadt, noch mehr Straßen, noch mehr Verkehr,<br />
noch mehr Gewerbe, noch größere<br />
Flugplätze und noch mehr Fluglärm. Sie tun<br />
es mit unseren Stimmen, angeblich in unserem<br />
Auftrag: Wollten wir die Startbahn<br />
West? Wollen wir mehr Geschäfte? Gibt es<br />
nicht längst genug zu kaufen? Wollen wir die<br />
Tiefgaragen unter den HEAG-Hallen? Wollen<br />
wir noch mehr Gewerbebetriebe?<br />
Wenn wir zur Urne gehen sollen (häufig<br />
genug), dann zeigen sie uns schöne Bildchen<br />
mit lächelnden Gesichtern – was sie für uns<br />
tun wollen, kleiden sie in Leerformeln: „Freiheit,<br />
die wir meinen“. Gleich, ob wir wählen<br />
oder nicht, ihnen reicht weniger als die Hälfte<br />
unserer Stimmen. Hauptsache sie haben ihre<br />
relativen Mehrheiten. Dann lasten sie uns<br />
weitere Kosten auf: Die Verwaltungsbauten<br />
werden immer größer, protziger, fürstlicher:<br />
die HEAG-Residenz, das Verwaltungsgebäude<br />
der Südhessischen, das neue Polizeipräsidium,<br />
das neue Finanzamt, das neue Postamt,<br />
die Bankenpaläste, jetzt noch ein neues<br />
Rathaus … die Zeche zahlen wir, über: höhere<br />
Wasser-, Strom-, Straßenbahnpreise,<br />
höhere Zinsen, teurere Post-, höhere Telefongebühren<br />
und noch mehr Steuern. Werden<br />
wir gefragt, ob wir das wollen?<br />
Obdachlose im Staatstheater?<br />
Wer sind sie eigentlich, die wir gewählt<br />
haben? Das Parteibuch in der Hand, die<br />
Wählerstimmen in der Urne, die Karriere fest<br />
im Blick, so ziehen sie in die Gremien und<br />
Ämter ein, wo sie binnen kürzester Zeit vergessen,<br />
welchen Auftrag ihrer WählerInnen<br />
sie zu erfüllen haben. Ihr letzter anständig<br />
eigenständiger Rest an Zweifeln fällt dem<br />
Fraktionszwang, dem Parteiwillen zum<br />
Opfer. Ihre Parteiprogramme sind Makulatur,<br />
ihre Versprechen nichts wert. Um ihrer<br />
Posten, Mehrheiten und Geschäfte halber<br />
vergessen sie ihre Ideale und die anderer,<br />
schließen sich mit ihrem angeblich politischen<br />
Gegner zu Koalitionen zusammen,<br />
gleich, warum wir sie gewählt haben. Ihre<br />
höchsten Posten richten sie ohnehin so ein,<br />
daß sie ja lange genug an der Macht bleiben<br />
und gleichzeitig schaffen sie sich auf unsere<br />
Kosten neben hohen Altersrenten auch noch<br />
lukrative Versorgungsjobs. Die Sozialdemokratie<br />
hat ihre sozialen Ziele selbst veräußert<br />
– in Darmstadt gehen die meisten Steuergelder<br />
in den Staatstheater-Palast, während<br />
Obdachlose keine Wohnungen bekommen<br />
und Arbeitslose Schuldnerberatungen um<br />
letzte Hilfen bitten müssen. Der stadteigene<br />
Bauverein räumt ebenso gnadenlos zahlungsunfähige<br />
MieterInnen wie jeder Immobilienspekulant.<br />
Dabei ist unsere Wohnungsbaugesellschaft<br />
unermeßlich reich, könnte<br />
helfen, wenn es politischer Wille wäre.<br />
Gefährliche Sonne<br />
Christ- und Freidemokraten sonnen sich in<br />
ihrem Reichtum, fordern mehr Gewerbe,<br />
mehr Straßen, mehr Einzelhandel, und die<br />
Sozialdemokraten rechten mit ihnen, wer<br />
zuerst die Forderungen aufgestellt hat: Sie<br />
alle ziehen am gleichen Strang. Seit einem<br />
Jahr auch die Grünen. Deren Programm, der<br />
Umweltschutz verkommt und verfällt mit der<br />
Regierungskoalition. Jetzt sind auch sie für<br />
mehr Gewerbe, für mehr Tiefgaragen, für<br />
(Umgehungs-)Straßen, für Rheinwasserversickerungsanlagen<br />
– und die fallenden Wälder,<br />
das sinkende Grundwasser, die verpestete<br />
Luft? Um Zivilisationskranke kümmern<br />
sich Ärzte und Psychotherapeuten –<br />
Gesundheit und Lebensdauer sind keine<br />
kapitalbringenden Größen.<br />
Der Sonnenschein, einstmals ersehnt, herbeigehofft<br />
und immer schon Symbol für die<br />
Schönheit des Lebens, er wird gefährlich.<br />
Haben wir schönes Wetter, müssen wir<br />
Ozon-Werte beobachten, um wenigstens zu<br />
wissen, warum wir Kopfschmerzen bekommen<br />
und müde werden. Doch alles nimmt<br />
seinen gewohnten Gang: Der Fortschritt (als<br />
Wille der Parteien) wird weiter propagiert.<br />
Dabei verdeutlicht gerade das Beispiel Sonnenschein:<br />
Es gibt keine Natur außerhalb von<br />
uns, wir leben von und mit ihr. Ohne Wasser,<br />
ohne Luft, ohne Wälder können wir nicht<br />
leben, wenn auch so mancher unter uns<br />
glauben mag, das alles brauche ihn nicht zu<br />
interessieren, weil er in seiner unüberbietbaren<br />
Naivität, in seinem begrenzten Bewegungsraum,<br />
in der Stadt, glaubt, das alles sei<br />
nur entbehrlicher Öko-Kram.<br />
Die Parteigänger<br />
Wer sind sie eigentlich, die wir wählen? Die<br />
angeblich in unserem Namen für solch eine<br />
Ordnung sorgen, die Verantwortung dafür<br />
tragen wollen?<br />
Es sind die Lehrer unserer Kinder, Richter,<br />
Rechtsanwälte, es sind Beamte und Einzelhändler.<br />
Eines ist ihnen allen gemein: Sie<br />
sind in einer der gleichgeschalteten Parteien,<br />
und alle mit der gleichen Betriebsblindheit<br />
geschlagen – sie wollen die Garanten des<br />
Fortschritts sein, mehr nicht.<br />
Wie kann ein Aufsichtsbeamter parteipolitisch<br />
unabhängig prüfen, was seine Parteifreunde<br />
an Selbstbereicherung treiben? Wie<br />
kann ein Journalist unabhängig schreiben,<br />
wenn er seinen Parteifreunden getreu dienen<br />
will? Korrupt soll das sein? Nein, sie nehmen<br />
es als selbstverständlich: „Wir sind objektiv“.<br />
Doch halten wir uns nicht an ihrer Weltsicht<br />
auf, sie kennt keine Kritik, das Ja-<br />
Schreiben nur, das Belobigen, das Partei-<br />
Nehmen. Da sind alle Ideale abgetakelt und<br />
Bücklinge, im Dienste der Parteilichkeit<br />
schöpfen sie ihre scheinbar wahrheitsgetreuen<br />
Phrasen aus dem unerschöpflichen<br />
Trog des Glaubens an eine noch bessere<br />
andere Wirklichkeit, an die Zukunft.<br />
Die Parteien wissen ihre MitläuferInnen sehr<br />
zu schätzen, zu belohnen, zu knechten, sie in<br />
Abhängigkeit zu bringen, sie heucheln, verleumden<br />
zu lassen. So spinnen die Parteien<br />
ihre Netze, an denen ihre Mitglieder kleben<br />
wie ausgesogene Fliegen, nur noch in sterblicher<br />
Hülle, ohne einen Funken geistiger<br />
Regung, in politischer Leichenstarre.<br />
Unsere öffentliche Ordnung ist heute die<br />
Ordnung der Parteien ohne Ideale, nur der<br />
Posten- und der Machtinteressen. In Darmstadt<br />
ein Heer von mehr als 3.000 Beamten,<br />
die, meist in der SPD, jeweils das tun, was im<br />
Interesse ihrer Partei liegt.<br />
Der Gesellschaftsvertrag<br />
Wir haben einen Vertrag – sagten unsere<br />
Väter, einen Gesellschaftsvertrag, den wir<br />
alle geschlossen haben, weshalb wir für ihn<br />
eintreten müssen. Doch, wer hat das Grund-<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 11<br />
gesetz verfaßt und wer bestimmt über das<br />
neue? Wir nicht, die Parteien. Jeder ist vor<br />
dem Gesetz gleich, so erzählte man uns: das<br />
Gesetz als die Gerechtigkeit einem Engel<br />
gleich über allem schwebend – wie in fernen<br />
Zeiten der Gott über seinen lieben und frommen<br />
Schäfchen. Hinter verschlossenen<br />
Richtertüren aber fallen die gesetzwidrigen<br />
Töne. Dort wird vorverurteilt, das Gesetz<br />
mißachtet, gar von der Todesstrafe<br />
geträumt. Wie kann ein Richter unabhängig<br />
urteilen, wenn er in der Partei ist, deren<br />
Interessen er vertritt? Wie kann ein Staatsanwalt<br />
unabhängig anklagen, wenn er parteiisch<br />
denkt? Wozu dann noch Gesetze, wenn<br />
die Partei das oberste aller Gesetze ist und<br />
öffentliche Moral verkommt?<br />
Denn Gesetze sind nichts Ewiges und ihre<br />
Hüter treue Diener der herrschenden Moral.<br />
Sie ist im beständigen Wandel, und passen<br />
wir nicht auf, wendet sie sich frei nach dem<br />
Willen der Parteien mit aller Härte staatlicher<br />
Übermacht gegen uns.<br />
Deutsche Eichen<br />
Ebensowenig wie wir die Flut der Gesetze<br />
und ihre ständigen Änderungen kennen,<br />
ebenso sind unsere PolitikerInnen überfordert.<br />
Darunter sind alte Zöpfe, neue rückständige<br />
Regelungen, Menschenrechtsverletzungen<br />
(Asyl-Paragraph) – Gesetze und<br />
Paragraphen, die mit unseren Wirklichkeiten<br />
nichts zu tun haben, vielmehr die Partei-Mitglieder<br />
und deren Interessengeber schützen.<br />
In Hessen und Darmstadt ist Voraussetzung<br />
für einen Staatsanwalts- oder Richterposten<br />
das richtige Parteibuch und die höchsten<br />
Gerichte sind mit ParteigängerInnen (entsprechend<br />
den Wahlergebnissen) besetzt –<br />
„die Justiz ist die Hure…“ – so Büchner, und<br />
Heinrich Heine: „Man baut aus deutschen<br />
Eichen keine Galgen für die Reichen“.<br />
Doppelte Opfer<br />
Der bürgerliche Staat der Aufklärung – so<br />
verstehen sie sich noch heute – hat die wichtigste<br />
Sicherheitsgarantie aufgehoben: Die<br />
Gewaltenteilung. Wenn Staatsanwälte Politiker<br />
nicht anklagen (weil in derselben Partei),<br />
wenn Richter Politiker nicht verurteilen (weil<br />
in derselben Partei), dann ist es um diesen<br />
Staat schlecht bestellt, noch schlechter,<br />
wenn Staatsanwälte und Richter politische<br />
Gegner zu Fall bringen und Presse zensieren,<br />
gar wenn sie Opfer verurteilen – ihrer eigenen<br />
Verfassung, ihren einstigen Idealen zum<br />
Hohn.<br />
Wir begreifen nicht, wie Urteile zustande<br />
kommen, wir müssen für unser Recht nur<br />
teuer bezahlen, gleich ob wir Opfer sind oder<br />
den Kohlhaas spielen – die Wirklichkeiten<br />
der Juristen haben mit unseren nichts<br />
gemein. Auch suchen diese Herren immer<br />
noch nach der einen Wahrheit, dem verstaubten<br />
Begriff aus der Klamottenkiste vergangener<br />
Jahrhunderte. Nicht das Warum<br />
der Tat, nur das Daß zählt für sie, verblaßte<br />
Ideale sind ersetzt durch bürokratisches<br />
Reglement namens Recht (gleichbedeutend<br />
mit Anspruch). Unter den verstaubten Roben<br />
hochherrlicher Richterschaft wird dies Wort<br />
zum Strafbefehl gegen uns .<br />
Cui bono?<br />
Wem dient diese Ordnung? Unseren gewählten<br />
VertreterInnen. Sie machen sich einen<br />
schönen Lenz, sacken hohe und viele Gehälter,<br />
Vorruhestandsgelder ein, betätigen sich<br />
selbst als Geschäftsleute, mischen im Geldverleihgeschäft<br />
(Stadt- u. Kreissparkasse)<br />
mit, treiben Immobilienpreise in die Höhe,<br />
fördern Geldhaie (Spekulanten), sind gar<br />
selbst welche und verdienen und verdienen<br />
noch mehr. Ein schäbiges Spiel um Macht<br />
und Geld. Ihr trefft Eure PolitikerInnen auf<br />
Eure Kosten speisend in den nobelsten<br />
Restaurants der Stadt. Sie und ihre Parteifreunde<br />
bekommen von ihren Genossen die<br />
billigen Grundstücke, die zinsgünstigen Kredite,<br />
die preiswerten Mietswohnungen, die<br />
gutbezahlten Jobs, gar extra eingerichtete<br />
Sekretärsposten – Zuschüsse aus Spendenfonds,<br />
Werbemitteln u.a.. Was einstmals der<br />
Großherzog herausgesogen und abgeschröpft<br />
hat, zocken heute die vielen PolitikerInnen<br />
ab.<br />
Trotz ihrer Vielzahl hungern wir heute nicht,<br />
können darüber hinwegsehen und sagen:<br />
Was soll’s?<br />
Doch ein Blick über den lokalen Tellerrand<br />
zeigt, wer heute für unseren Reichtum hungert<br />
(im Gegensatz zu 1834), da wir es nicht<br />
müssen: Die Millionen von Menschen in den<br />
unterentwickelten Ländern der dritten und<br />
vierten Welt. Sie erbringen die Zölle für unseren<br />
heutigen Wohlstand, leiden zudem unter<br />
unseren Waffensystemen, zahlen unsere<br />
Wucherzinsen, sterben für unsere Ordnung.<br />
Und was sagen wir dazu?<br />
M. Grimm
Montag, 11. Juli 2000 DARMSTADT<br />
Oazapft is<br />
Als Pfarrer<br />
Z- Hänger-Watzblöder<br />
nach<br />
Ecke dem Sonntagsgottesdienst<br />
den eingesabberten<br />
Kelch in die Sakristei trägt,<br />
hat er eine Stinklaune. Gottverdammte<br />
Scheiße denkt er,<br />
ich pack die Quote nicht.<br />
Nicht mal schlappe zwei Prozent<br />
der Gemeindeschäfchen<br />
krieg ich in die Kirche. Das<br />
muß anders werden. Ich hol<br />
mir Promis als Laienprediger,<br />
die ziehen Leute. Der OB<br />
wäre nicht schlecht, unser Intendant,<br />
der kann mit Menschen<br />
umgehen, auf alle Fälle<br />
der Chefredakteur des Lokalblattes,<br />
der spricht dann über<br />
Toleranz. Doch wie begründe<br />
ich das? Weil es der Kleintierbeauftrage<br />
der EKHN empfiehlt?<br />
Als ein Betreuungsprojekt<br />
der Motorradseelsorge?<br />
Nein – weil die Kirchgänger<br />
zwischen Gottesdienst<br />
und Alltag unterscheiden!<br />
Das ist ein so genialer<br />
dreister Dumpfsinn, den<br />
könnte ein mittelschwerer<br />
Getränkeunfall ins Hirn gebrannt<br />
haben. Und nächsten<br />
Karfreitag bauen wir vor der<br />
Kirche ein Festzelt auf. Unter<br />
dem Motto „oazapft is“.<br />
Gottlieb B a c h b e u t e l<br />
„Ein bißchen<br />
Wehmut“<br />
(ZD). In dieser Woche hat die<br />
Grüne Stadtverord<strong>net</strong>enfraktion<br />
beschlossen, ihren<br />
Namen dem der Partei anzupassen<br />
und sich in Zukunft<br />
Fraktion Bündnis 90/Die<br />
Grünen zu nennen.<br />
„Ein bißchen Wehmut ist<br />
schon dabei“, sagt Günter<br />
Mayer, der Fraktionsvorsitzende,<br />
„denn Grüne Darmstadt<br />
ist schon ein Markenzeichen.“<br />
Aber andererseits<br />
bringt der neue Namen nun<br />
auch zum Ausdruck, daß die<br />
Grünen Darmstadt Teil einer<br />
Bewegung sind, zu der auch<br />
Bürger- und Basisinitiativen,<br />
Umwelt- und Naturschutzverbände<br />
und Friedensgruppen<br />
gehören.<br />
Die Verbindung mit außerparlamentarischen<br />
Gruppen<br />
steht ausdrücklich in der<br />
Präambel der Satzung des<br />
Kreisverbandes. Außerdem<br />
ist dort festgeschrieben, was<br />
andere Parteien in letzter Zeit<br />
als neuen Weg verkaufen, um<br />
mehr Menschen für die Politik<br />
zu interessieren: Die<br />
Möglichkeit, auch für Nichtmitglieder<br />
in Parteigremien<br />
mitzuarbeiten. Das ist für<br />
Grüne ein alter Hut. Nichtmitglieder<br />
haben seit je her<br />
Rede- und Antragsrecht, alle<br />
Sitzungen sind öffentlich.<br />
Dieses Prinzip ist auch<br />
kein bloßes Lippenbekenntnis,<br />
denn die Listen zur Kommunalwahl<br />
waren immer für<br />
Nichtmitglieder offen, um<br />
die nahestehenden Organisationen<br />
in die parlamentarische<br />
Arbeit miteinzubeziehen.<br />
Von den aktuellen 18<br />
Stadtverord<strong>net</strong>en sind vier<br />
parteilos.<br />
Durch die Namensänderung<br />
der Fraktion wird der<br />
Anspruch unterstrichen, offene<br />
Politik in Darmstadt zu<br />
machen.<br />
UND JETZT WIRD WIEDER IN DIE HÄNDE GESPUCKT: OB Benz (rechts) und<br />
Rotary-Vorsitzender Dr. Landzettel (2.v.l.) schippen Steine beim Spatenstich für das<br />
neue Stadtmuseum. (Zum Bericht „Heimat, deine Steine“.) (Foto: hs)<br />
Heimat, deine Steine<br />
Das Darmstädter Stadtmuseum entsteht in historischer Altstadt<br />
Samstag morgen um halb<br />
zehn. Heinerfestsamstagmorgen<br />
genaugenommen – und<br />
das ist wichtig. Der Himmel<br />
ist blau, die Luft schwül, die<br />
Sonne brennt. Von der Fußball-WM<br />
in den USA wissen<br />
wir, daß diese klimatischen<br />
Bedingungen oft zu scheinbar<br />
unerklärlichen Ausfallerscheinungen<br />
und Leistungsdefiziten<br />
im Arbeitsverhalten<br />
von Menschen führen, denen<br />
wir das eigentlich nicht zugetraut<br />
hatten.<br />
Eine kleine Schar leger<br />
gekleideter Herren mittleren<br />
Alters steht mit diskreten<br />
Schweißperlen auf den gepflegten<br />
Gesichtern und Spaten<br />
in den Händen zwischen<br />
zwei Mauern auf einem Haufen<br />
Bauschutt und stochert<br />
darin herum. Sogar ein leibhaftiger<br />
Oberbürgermeister<br />
ist dabei. Der Hinkelsturm<br />
mit Resten der alten Stadtmauer<br />
zwischen Zentralbad<br />
und Stadtbibliothek ist ein<br />
symbolbeladener Ort. Die<br />
lebhaft photographierten<br />
Spatenstiche für das Darmstädter<br />
Heimatmuseum sind<br />
symbolische Spatenstiche.<br />
Symbolisch zu deuten ist also<br />
auch das Peterbenzwort, dies<br />
sei „ein Stück Heiner-<br />
Dasein“.<br />
Der Archetypus des sinnlos<br />
in einem Haufen Schotter<br />
stochernden Heiners, der<br />
wähnt, das Gemeinwohl zu<br />
mehren, scheint in dieser<br />
Stadt allerdings weit verbreitet<br />
zu sein. Der Stadtmauerrest<br />
führt einem deutlich vor<br />
Augen, wie klein diese Stadt<br />
einmal gewesen sein muß.<br />
Die engen Grenzen der Men-<br />
ANZEIGE<br />
Von Peter Jörg H o f f m a n n<br />
talität seiner Bewohner sollen<br />
jedenfalls nicht ausgestellt<br />
werden – sonst dürfte<br />
abwechselnd einer der gemeinnützigen<br />
Rotarier in die<br />
Vitrine.<br />
Aber Tore, die zur Zeit<br />
noch beim Bauhof lagern,<br />
sollen zu besichtigen sein.<br />
Tore sind sicherlich genauso<br />
interessant wie die Bodenplatten.<br />
Darmstädter Tore<br />
und Darmstädter Bodenplatten<br />
wohlgemerkt, denn die<br />
Relevanz der Exponate<br />
besteht ja nicht darin, daß<br />
ihre Zurschaustellung auf ein<br />
allgemeines Interesse stieße,<br />
sondern daß sie aus Darmstadt<br />
sind. Von diesem wahrhaft<br />
urbanen Geist geprägt ist<br />
auch das Vorhaben, ein nachgebildetes<br />
Stück Fachwerk<br />
auszustellen. Fachwerk in<br />
Darmstadt ist für sich natürlich<br />
eine Sensation. Da werden<br />
die Darmstädterinnen<br />
und Darmstädter strömen,<br />
um endlich einmal ein Stück<br />
Darmstädter Fachwerk –<br />
wenn auch nur nachgebildet<br />
– besichtigen zu können.<br />
Fachwerk, das sonst nur hunderte<br />
von Kilometern entfernt<br />
unter großen Mühen zu sehen<br />
ist, bald endlich auch in<br />
Darmstadt, da wird unsere<br />
Heinerseele im Bierzelt<br />
feuchte Augen kriegen.<br />
Es ist zu überlegen, ob das<br />
bislang bescheidene Konzept<br />
nicht ausgeweitet werden<br />
sollte: nach Euro- nun Heinerdisney.Kutschenrundfahrten<br />
in der Altstadt, endlich<br />
ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal<br />
oder wenigstens ein Heinerfreigehege<br />
im Vivarium<br />
böten sich als erste Schritte<br />
an. Das Darmstädter Heimatmuseum<br />
soll allein aus Spendengeldern<br />
finanziert werden.<br />
Selbstverständlich können<br />
in unserer Gesellschaft<br />
Leute, die offensichtlich zu<br />
viel Geld haben, damit<br />
machen, was sie wollen. Sie<br />
müssen ja nicht – wie beispielsweise<br />
der Lionsclub für<br />
die Obdachlosenhilfe in der<br />
Teestube spenden. Die<br />
Rechtfertigung der wohltätigen<br />
Herren, das Projekt Heimatmuseum<br />
sei „etwas, was<br />
wirklich konsensfähig ist“,<br />
gilt in diesen Tagen für vieles<br />
andere auch: kalt duschen<br />
zum Beispiel. Die Stadt und<br />
ihr Repräsentant Peter Benz<br />
sollten sich genau überlegen,<br />
was für ein Zeichen mit dieser<br />
symbolischen Unterstützung<br />
gesetzt wird. Nach Sironi<br />
und Cannabiswochenende<br />
bleiben die BürgerInnen<br />
natürlich noch viel lieber in<br />
dieser Stadt.<br />
Wer erklärt außerhalb<br />
schon gerne, er käme aus<br />
Darmstadt? Biedermeierliche<br />
Rückwärtsgewandtheit und<br />
tranige Selbstbeweihräucherung<br />
als kulturelles und bürgerschaftliches<br />
Engagement<br />
zu verkaufen – den Köpfen<br />
der selbsternannten Gemeinnützer<br />
muß mehr als nur<br />
die Sonne zugesetzt haben.<br />
Wie sie munter darüber fachsimpeln,<br />
ob die Mauer den<br />
Efeu oder der Efeu die Mauer<br />
hält, verabreden sie sich<br />
schließlich: „nächstes Jahr<br />
9.30 Uhr, Heinerfestsamstag.“<br />
Da meint einer ganz<br />
vergnügt „das ist ja wie beim<br />
Schwejk“. Ach ja?<br />
Jörg Bussmann ausgezeich<strong>net</strong><br />
Er erhält den Preis der Sezession 1994<br />
(ZD). Die Darmstädter Sezession<br />
hat die beiden Förderpreise<br />
für junge Künstler vergeben.<br />
Die Jury entschied sich<br />
mit Mehrheit für den in Bremen<br />
lebenden 34jährigen<br />
Bildhauer Jörg Bussmann für<br />
den mit 8.000 Mark dotierten<br />
Sezessionspreis. Der mit<br />
2.000 Mark dotierte Förderpreis<br />
wurde der Bildhauerin<br />
Bärbel Dieckmann (33) aus<br />
Kaiserslautern zugesprochen.<br />
Die Preise werden am 14. 8.<br />
1994, um 17 Uhr, in der Ausstellung<br />
auf dem Ziegelhüttengelände<br />
in der Kranichsteiner<br />
Straße 108 überreicht.<br />
ZEITUNG FÜR DARMSTADT Seite 12<br />
wieso weshalb warum Notiert von Herta Benzel<br />
▲ Christel Thorbecke (45),<br />
ist eine der ganz Umtriebigen<br />
in Darmstadt – wo sie auftaucht,<br />
da wird sie auch registriert.<br />
Und das war in unserer<br />
Stadt in den letzten Jahren<br />
häufig der Fall: sitzt sie doch<br />
seit sechs Jahren als Grüne<br />
im Stadtparlament und vertritt<br />
ihre Partei öffentlich<br />
allüberall. Schade, daß die<br />
Heiner auf dieses allzu vertraute<br />
Bild (Privat) nun werden<br />
verzichten müssen: Denn<br />
Wie ist die Zeitung<br />
interessant …<br />
Wettlauf mit Enten<br />
Hermine und ich treffen uns ersteinmal am<br />
Steinbrücker Teich, zum morgendlichen<br />
Entenjagen. Was eine Gaudi: fünf Runden<br />
und wir sind fit für den Tag.<br />
Promis schauen<br />
Nach erfolgreicher Jagd werden wir in<br />
bester Laune zum Metzger Schmidt in die<br />
Arheilger Straße dackeln, um stadtbekannten<br />
Promis beim Einkauf zwischen die<br />
Waden zu schauen und ein belegtes Lungenbrötchen<br />
zu schnappen.<br />
Alles im Blick<br />
Um die Mittagszeit plagt Hermine immer<br />
die Blase, deshalb gehen wir zum Marktplatz,<br />
zum neuen Hundeklo. Wenn sie<br />
nicht muß, ist es auch gut – vielleicht finden<br />
wir ja auch noch Würstchenreste vom<br />
Heinerfeste.<br />
die Lehrerin zieht es nach<br />
Brüssel, genauer, Brüssel war<br />
es, die sie rief, an eine<br />
europäische Schule nämlich,<br />
um künftig dort zu unterrichten.<br />
Und ihr Mann? Jan<br />
Peter Thorbecke ist auch<br />
einer derjenigen, der zum<br />
Stadtbild gehört. Er war der<br />
erste Museumspädagoge<br />
Darmstadts beim Dienstherren<br />
Hessisches Landesmuseum.<br />
Aber auch er wird seiner<br />
Heimatstadt den Rücken zudrehen<br />
und mit seiner Frau<br />
Christel von dannen ziehen.<br />
Den Heinern gibt er auf den<br />
Weg: Beuys nicht zu vergessen,<br />
denn „der hat mir stets<br />
Energie gespendet“. Und<br />
eines Nachts, wer weiß, sind<br />
sie wieder da.<br />
Peter Benz (51), ganz<br />
oben in der Stadt, registriert<br />
vergnügt, daß er nie auf die<br />
schiefe Bahn gerät und auch<br />
nicht mehr in den Keller<br />
kommt: weil der Weg zum<br />
Marktplatz weder treppauf<br />
noch treppab führt. Was will<br />
Wie ist doch die Zeitung interessant<br />
Für unser liebes Vaterland!<br />
Was haben wir heute nicht alles vernommen!<br />
Die Fürstin ist gestern niedergekommen,<br />
Und morgen wird der Herzog kommen,<br />
Hier ist der König heimgekommen,<br />
Dort ist der Kaiser durchgekommen,<br />
Bald werden sie alle zusammenkommen<br />
Wie interessant? Wie interessant!<br />
Gott segne das liebe Vaterland!<br />
Wie ist doch die Zeitung interessant<br />
Für unser liebes Vaterland!<br />
Was ist uns nicht alles berichtet worden!<br />
Ein Portepeefähnrich ist Leutnant geworden,<br />
Ein Oberhofprediger erhielt einen Orden,<br />
Die Lakaien erhielten silberne Borden,<br />
Die höchsten Herrschaften gehen nach Norden,<br />
Und zeitig ist es Frühling geworden –<br />
Wie interessant? Wie interessant!<br />
Gott segne das liebe Vaterland!<br />
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben<br />
(2.4.1798-19.1.1874), Dichter<br />
ANZEIGE<br />
er denn dort? Dort lädt ihn die<br />
neue Toilette zum Verweilen<br />
ein. Es ist zwar kein magischer<br />
Tempel, aber die Musi<br />
hat sie von ihm. „Und jetzt<br />
stehen Sie einmal auf …“,<br />
schier unmöglich. Der Ort ist<br />
gar zu lauschig. Unsere Fotografin<br />
konnte ihn selbstverständlich<br />
nicht ablichten.<br />
Rudi Hammel (61), ist<br />
zehn Jahre älter als unser OB,<br />
sein Stammbaum in der Heinergastro<br />
hat Tradition, 180<br />
Jahre zurück. Und er sieht nur<br />
nach vorn. Er will Kämmerer<br />
werden. Er will sein Erbe der<br />
Stadt schenken. Wunderbare<br />
Sinnverwirrungen bietet sein<br />
Zelt (Frontlänge 3.500 Heinerfreunde)<br />
– wie eine empfindungswabberndeWandelhalle.<br />
Hammel hält’s da nicht<br />
mit seinem Vorgänger Otto<br />
Blöcker (62), der traurig früh<br />
in Pension gehen will. Das<br />
glorreiche Motto unseres<br />
neuen Zahlmeisters: „Selbst<br />
denken! Nicht denken lassen<br />
…“.<br />
Wohin denn nur?<br />
Ausgewählt von<br />
Dani Dackel<br />
Kein Wassernotstand<br />
(kn). Die Feststellung eines<br />
flächenhaften Wasserversorgungsnotstandes<br />
im Regierungsbezirk<br />
Darmstadt wird<br />
es in diesem Jahr nicht geben.<br />
Die Entscheidung soll im<br />
August anhand der aktuellen<br />
Grundwasserstände noch einmal<br />
überprüft werden.<br />
Nach Mitteilung des Regierungspräsidiums<br />
(RP) haben<br />
sich die Grundwasserverhältnisse<br />
im Regierungsbezirk<br />
durch die teilweise sehr<br />
ergiebigen Niederschläge<br />
während der Wintermonate<br />
und zusätzliche wasserwirtschaftliche<br />
Maßnahmen entspannt.<br />
Die Situation sei aber<br />
insgesamt gesehen nach wie<br />
vor kritisch und die Notwendigkeit,<br />
mit Wasser äußerst<br />
sparsam und umsichtig umzugehen,<br />
unumgänglich.<br />
In diesem Zusammenhang<br />
macht das RP noch auf das<br />
vom Hessischen Umweltministerium<br />
eingerichtete<br />
„Wassertelefon“ aufmerksam.<br />
Dort gibt es unter der<br />
Nummer 06151/815757<br />
Informationen über wassersparende<br />
Armaturen und<br />
Geräte.<br />
Wau, das gibt ein heißes Wochenende, ein richtiges Hundetraumwetter sozusagen. Was<br />
macht man nur, um sich abzukühlen? Für die, die nicht zu Hause bleiben wollen, sei die<br />
folgende Auswahl empfohlen:<br />
Brautschau<br />
Nachmittags, wenn ich Hermine im Herrngarten<br />
bei ihren Freundinnen abgesetzt<br />
habe, mach ich mich davon. Wohin? Ich<br />
gehe auf Brautschau – ins Tierheim natürlich.<br />
Und wie kommt man da am besten<br />
hin? Mit der schnellen Sechs, die unsere<br />
liebe HEAG fahren läßt.<br />
Kultur pur<br />
Der kulturelle Höhepunkt des Tages: ein<br />
Besuch bei der Vernissage des weltberühmten<br />
Malers Mario Belloni. Den<br />
Hundekuchen verspeisen wir bei schönem<br />
Wetter im Freien auf der Mathildenhöhe.<br />
Hunde im Film<br />
Wer immer noch nicht genug hat, und den<br />
Tag noch nicht ins Bett legen will, dem<br />
empfehlen wir, sich uns anzuschließen: wir<br />
gehen ins Kino, denn da läuft „Susi und<br />
Strolch“.
Aus der „Initiative frauengerechte Stadt“<br />
hat sich ein Verein gegründet –<br />
Pilotprojekt in Kranichstein<br />
Die Initiative gibt es in Darmstadt schon<br />
lange, genauso wie das (am 26.9.1991)<br />
von den Stadtverord<strong>net</strong>en beschlossene<br />
„Grundsatzpapier frauengerechte Stadt“,<br />
das einen Kriterienkatalog enthält, wie frauengerecht<br />
gebaut und geplant werden sollte.<br />
Fachfrauen und Bürgerinnen haben nun<br />
aus der Initiative einen (noch nicht eingetragenen)<br />
Verein gegründet, „um längerfristig<br />
Druck machen zu können, damit unsere<br />
Anliegen bei zukünftigen Vorhaben mehr<br />
Gewicht finden“, begründet Vorsitzende<br />
Rita Weirich. Helfen soll dabei auch der eine<br />
Sitz im 16köpfigen Stadtentwicklungsbeirat;<br />
in den rot-grünen Koalitionsvereinbarungen<br />
steht überdies drin, daß in Darmstadt<br />
ein Frauenplanungsbeirat installiert<br />
werden soll.<br />
Männer-Maßstäbe<br />
Ab den 60er Jahren wuchs die Kritik am<br />
bestehenden sozialen Wohnungsbau. Vor<br />
allem Frauen bemängelten die Grundrisse<br />
im öffentlich geförderten Wohnungsbau,<br />
dabei vor allem die großen repräsentativen<br />
sen (durch verschiebbare Wände, red.).<br />
Jeder Person im Haushalt wird ein eigener<br />
Individualraum zugesprochen, es soll die<br />
Möglichkeit bestehen, daß jeweils zwei<br />
Räume zusammengeschaltet und bei<br />
Bedarf wieder geteilt werden können.“ (aus:<br />
„Alternativen im Sozialen Wohnungsbau“,<br />
Hessisches Ministerium für Landesentwicklung<br />
und Wohnen). Erst seitdem hat<br />
eine Ein-Kind-Ein-Eltern-Familie Anspruch<br />
auf eine Drei-Zimmer-Wohnung.<br />
Der Realisierungswettbewerb<br />
Die Landesregierung hat im vergangenen<br />
Jahr in Zusammenarbeit mit der Wohnungsbaugesellschaft<br />
„Nassauische Heimstätte“,<br />
Tochterfirma „Gesellschaft für<br />
innovative Projekte im Wohnungsbau<br />
mbH“ (gip) Architektinnen und Städteplanerinnen<br />
für einen „Realisierungswettbewerb:<br />
Frauengerechtes Bauen und Wohnen“<br />
eingeladen. Den 1. Preis gewannen<br />
Klaudia Hornung und Michael Spieß aus<br />
Frankfurt, den zweiten Ramona Buxbaum<br />
und Peter Karle aus Darmstadt. Im Frühjahr<br />
West-Modellwohnung (Konzept Rojan-Sandvoss)<br />
Abb.: Broschüre „Alternativen im Sozialen Wohnungsbau“<br />
„Ältere Männer sind nicht gerade<br />
Kranichstein K6, Marktplatzumgestaltung,<br />
der HEAG-Hallen-Komplex und<br />
das Bahnhofsgebiet – vier Stadtteile, bei<br />
denen in naher Zukunft Veränderungen<br />
anstehen. Nicht nur Darmstadts Frauenbeauftragte<br />
Trautel Baur ist gespannt, inwieweit<br />
dort die Kriterien „frauengerechte<br />
Stadt“ verwirklicht werden. „Viele sagen,<br />
was soll das? und meinen, Architektur und<br />
Städteplanung seien geschlechtsneutral.<br />
Doch Frauen sagen: wir werden vergessen,<br />
benachteiligt, weil sich die sogenannte<br />
menschengerechte Planung ausschließlich<br />
an männlichen Maßstäben orientiert. Der<br />
Stadtverord<strong>net</strong>enbeschluß von 1991 bedarf<br />
der grundsätzlichen Umsetzung, bedarf des<br />
politischen Willens“. Mit diesen Worten<br />
eröff<strong>net</strong>e Baur eine Podiumsdiskussion zur<br />
Ausstellung„Frauengerechtes Bauen und<br />
Wohnen“ in der Orangerie (29.6.).<br />
Auf dem Podium saßen: Wiebke Schindel,<br />
Frauenreferentin des Hessischen Wohnungsbauministeriums,<br />
Rita Weirich von<br />
der Darmstädter „Initiative frauengerechte<br />
Stadt“, Antje Flade vom „Institut Wohnen<br />
die Speerspitze der Innovation“ (Zitat: Daniela Wagner)<br />
Wohnzimmer und die kleinen Kinderzimmer,<br />
die abgetrennten Küchen. Bis Anfang<br />
1993 waren in Hessen für den öffentlichen<br />
Wohnungsbau Richtlinien gültig, die solche<br />
Raumaufteilungen verord<strong>net</strong>en.<br />
Da Frauen stärker als Männer an Hausarbeit<br />
gebunden sind – so ist nun mal die Realität<br />
– sie mehr als Männer mit dem Problem<br />
konfrontiert sind, Familien- und Erwerbsarbeit<br />
zu verknüpfen, da sie häufiger zu den<br />
Einkommensschwachen zählen, die auf den<br />
sozialen Wohnungsbau angewiesen sind,<br />
und weil sie seltener Autos besitzen und<br />
damit stärker als Männer auf den öffentlichen<br />
Nahverkehr (ÖPNV) angewiesen sind,<br />
haben viele Frauen in vielen Städten<br />
beschlossen, daß Wohnbauplanung nicht<br />
allein Männern überlassen bleiben darf.<br />
Was heißt frauengerecht?<br />
Ausgehend von diesen Benachteiligungen<br />
haben Architektinnen, Städteplanerinnen<br />
und Bürgerinnen in den vergangenen Jahren<br />
Kriterien erarbeitet, von denen die wichtigste<br />
lautet: Frauengerechtes Bauen und<br />
Wohnen darf keinesfalls die geschlechtsspezifische<br />
Arbeitsteilung zwischen Mann<br />
und Frau weiter verfestigen oder die Arbeitskraft<br />
der Frauen noch mehr ausbeuten.<br />
Um Frauen in ihrem Alltag zu entlasten,<br />
müssen folgende Punkte erfüllt werden:<br />
• Nähe von Wohnen und Arbeiten.<br />
• Sozialer Wohnungsbau muß im ÖPNV eingebunden<br />
sein. Der Weg zu den Haltestellen<br />
der Nahverkehrsmittel sollte nicht mehr<br />
als 700 m betragen und öffentliche Verkehrsmittel<br />
mindestens im 20 Minuten-Takt<br />
fahren.<br />
• Kindergärten, Schulen, Geschäfte sollen<br />
per Pedes erreichbar sein.<br />
• Das Wohnumfeld muß ausreichende<br />
Möglichkeiten für Kinder bieten, gefahrlos<br />
zu spielen.<br />
• Die Wohngebiete sollen Wohnungen<br />
unterschiedlicher Größe und Preisklasse<br />
anbieten (soziale Mischung).<br />
• Die Wohngebiete sollen ohne dunkle<br />
Angst- und Gefahrecken geplant werden.<br />
In den Wohnungen sollte es:<br />
• Rückzugsmöglichkeiten geben, sogenannte<br />
„nutzungsoffene Räume“.<br />
• möglich sein, Küchenarbeit partnerschaftlich<br />
zu verrichten.<br />
• möglich sein, die Kinder bei der Hausarbeit<br />
auch zu beaufsichtigen.<br />
Neue Wohnungsbaurichtlinien<br />
Diese Kriterien hat die Hessische Landesregierung<br />
1993 in den neuen „Technischen<br />
Wohnungsbaurichtlinien“ einfließen lassen.<br />
Danach sollen neue mit öffentlichen Geldern<br />
finanzierte Wohnungen sich „wandelnden<br />
Wohnbedürfnissen anpassen las-<br />
95 soll im Baugebiet Wiesbaden Mainz-<br />
Kastell gebaut werden – auch mit dem Ziel,<br />
zu zeigen, daß frauengerechter Wohnungsbau<br />
nicht teurer sein muß. Die Ergebnisse<br />
waren bis zum 8.7. in einer Ausstellung im<br />
Kundenzentrum der HEAG zu begutachten.<br />
Demnächst soll in Darmstadt in Zusammenarbeit<br />
mit der „gip“ ein solches Bauvorhaben<br />
realisiert werden: im Vilbeler Weg in<br />
Kranichstein. Dennoch: die Frauen sind<br />
sicher, daß sie noch viele Männer-Widerstände<br />
zu überwinden haben, bis Darmstadt<br />
eines Tages vielleicht wirklich einmal<br />
frauengerechter sein wird. Dazu müßten<br />
Frauen vermehrt in der Wohnungswirtschaft<br />
und -politik verantwortungsvolle<br />
Positionen übernehmen. Denn nach wie vor<br />
sind Aufsichtsräte, Gesellschafterversammlungen<br />
wie auch kommunalpolitische<br />
Ausschüsse und Kommissionen zu Wohnungsfragen<br />
in männlicher Hand. Ein Hoffnungsschimmer<br />
ist da vielleicht Daniela<br />
Wagner (Grüne), die seit ein paar Wochen<br />
im Aufsichtsrat des „Bauvereins für Arbeiterwohnungen“<br />
sitzt: „Da wird über jeden<br />
noch so kleinen Scheiß gebabbelt“. Und<br />
vielleicht ändert sich die patriarchale Realität<br />
ja langsam – dank Hessischem Gleichberechtigungsgesetz<br />
(s. ZD-Ausgabe 69).<br />
Eva Bredow<br />
Der Verein will für alle Frauen offen sein. Welche interessiert<br />
ist, kann jeweils am dritten Mittwoch im Monat<br />
um 20 Uhr ins Frauenzentrum in der Kyritzschule kommen,<br />
wo sich die Vereinsfrauen treffen.<br />
Trautel Baur + 6<br />
Zugestimmt hat der Magistrat der Bestellung<br />
der seitherigen Frauenbeauftragten Edeltraut<br />
Baur zur Frauenbeauftragten der Stadtverwaltung<br />
Darmstadt im Sinne des Hessischen<br />
Gleichberechtigungsgesetzes. Außerdem bekommen<br />
jetzt auch die Berufsfeuerwehr und<br />
die vier Eigenbetriebe nebenamtliche Frauenbeauftragte,<br />
die wiederum Stellvertreterinnen.<br />
Dem bestehenden Frauenbüro werden<br />
die Aufgaben der Frauenbeauftragten nach<br />
dem Hessischen Gleichberechtigungsgesetz<br />
übertragen und, so Oberbürgermeister Peter<br />
Benz, dieses personell aufgestockt: „Neben<br />
der vorhandenen Ganztagsstelle hat der Magistrat<br />
eine weitere Vollzeitstelle bewilligt. Alle<br />
zusätzlichen Stellen werden aus dem sogenannten<br />
Stellenpool, also aus dem städtischen<br />
Personalbestand, gewonnen“, so meldet<br />
das städtische Presseamt.<br />
„Frauenförderpläne sollen für die Berufsfeuerwehr<br />
und die vier Eigenbetriebe erstellt werden.<br />
Das Frauenbüro wird durch eine Sozialpädagogin<br />
oder -arbeiterin aufgestockt, auch<br />
für die Schreibkraft gibt es jetzt eine Vollzeitstelle.<br />
„Mit diesen Entscheidungen ist der<br />
2. Preis im Wettbewerb „Frauengerechtes<br />
Bauen und Wohnen“:<br />
Ramona Buxbaum und Peter<br />
Karle. Die Jury beurteilt wie folgt:<br />
„Die einfache, klare städtebauliche<br />
Lösung integriert sich in eine heterogene<br />
Umgebung und stellt einen<br />
sehr guten Beitrag zum Thema<br />
Kommunikation und Privatheit in<br />
einer gemeinschaftlichen Grundkonzeption<br />
dar und bringt wertvolle<br />
Beispiele für differenzierte<br />
Wohnangebote zum Thema:<br />
‚Frauengerechtes Bauen und<br />
Wohnen‘“ (Abb.: Realisierungswettbewerb<br />
Frauengerechtes<br />
Bauen und Wohnen im Sozialen<br />
Wohnungsbau, Hessisches<br />
Ministerium für Landesentwicklung,<br />
Wohnen, Landwirtschaft,<br />
Forsten und Naturschutz)<br />
Darmstädter Magistrat den Bestimmungen<br />
des Hessischen Gleichberechtigungsgesetzes<br />
vom Dezember letzten Jahres nachgekommen“,<br />
schreibt: Volker Rinnert, Presseamt<br />
Frauenpartei<br />
in Darmstadt?<br />
Am 14. Juli 1994 findet im Sefo, Wienerstr.<br />
78, um 20 Uhr eine Diskussion statt mit der<br />
Referentin Monika Simmel zum Thema<br />
„Frauenpartei“. Alle interessierten Darmstädter<br />
Frauen sind dazu eingeladen.<br />
Dr. Monika Simmel ist Professorin an der<br />
Fachhochschule Wiesbaden und hat sich in<br />
ihren Forschungen ganz besonders mit der<br />
Frauenbewegung der zwanziger Jahre<br />
beschäftigt. Schon damals haben Frauen<br />
überlegt, eine Frauenpartei bzw. Frauenliste<br />
zu gründen. Diese Frage beschäftigt die<br />
Darmstädter Frauen auch heute. Gerade im<br />
„Superwahljahr“ 1994 fühlen sich viele Frauen<br />
von der offiziellen Politik nicht vertreten.<br />
„Uns reicht’s!“ hatten die Darmstädter Frauen<br />
am 8. März – dem internationalen Frauentag<br />
– auf ihren Plakaten und Transparenten<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 13<br />
Siebert: „Da ändert sich nichts“ –<br />
Flade: „frauengerecht“ – Nein –<br />
Mohr: „frauengerecht“ – Ja ???<br />
1. Preis im Wettbewerb<br />
„Frauengerechtes Bauen und<br />
Wohnen“: Klaudia Hornung<br />
und Michael Spies. Die Jury<br />
beurteilt wie folgt: „Das<br />
städtebauliche Ensemble<br />
aus vier zueinander gruppierten<br />
Baukörpern schafft<br />
eine äußert kommunikative<br />
Mitte, ohne wichtige Bezüge<br />
zur Umgebung zu negieren<br />
… Ein optimiertes Grundrißraster<br />
ermöglicht Raumbereiche<br />
mit weitgehender<br />
Nutzungsneutraliät und<br />
hoher Flexibilität. Ein<br />
Zusammenschalten von<br />
Wohnräumen ist ebenso<br />
möglich wie das Zusammenfügen<br />
von Wohnungen …“<br />
stehen. Was die Frauen ändern wollen und<br />
wie, das soll Gegenstand der Diskussionen<br />
am Informationsabend im Sefo sein. In<br />
Darmstadt existiert seit fast einem Jahr das<br />
„Komitee zur Vorbereitung des Frauenstreiktages<br />
8. März 1994“ (Streikkomitee). Eine<br />
Gruppe engagierter Frauen, die auch über<br />
den 8. März dieses Jahres hinaus in regelmäßigen<br />
Zusammenkünften das Thema<br />
„Frauenpartei“ für Darmstadt und das<br />
Umfeld der Stadt diskutieren. red.<br />
Orientierung für<br />
Frauen<br />
Im „Frauenselbsthilfe- und Fortbildungszentrum“<br />
(Sefo) beginnt der 21. Orientierungskurs<br />
für erwerbslose Frauen, die nach einer<br />
längeren Berufsunterbrechung wieder in das<br />
Erwerbsleben zurückkehren wollen/zurückkehren<br />
müssen. Ein beruflicher Neuanfang<br />
ist mit vielfältigen Entscheidungen verbunden,<br />
sowohl der neue Berufsweg als auch die<br />
Neuorganisation der Familie muß durchdacht<br />
und geplant werden. Häufig sind die<br />
früher erworbenen beruflichen Qualifikatio-<br />
und Umwelt“, Hans Fürst, Geschäftsführer<br />
der „gip“, An<strong>net</strong>te Laute, Frauenbeauftragte<br />
und wissenschaftliche Mitarbeiterin des<br />
TH-Fachbereichs Architektur, Landtagsabgeord<strong>net</strong>e<br />
Daniela Wagner (Grüne), die im<br />
Aufsichtsrat des „Bauvereins“ sitzt, sowie<br />
Planungsdezernent und Bürgermeister<br />
Michael Siebert (Grüne).<br />
Mit den Männern<br />
„Frauengerecht“ – Antje Flade will den<br />
Begriff am liebsten über Bord werfen, denn<br />
vor allem bei Männern stößt er auf Mißtrauen,<br />
Unverständnis und Ablehnung, meint<br />
sie. „Er gilt nicht für Arme, Alte, Alleinerziehende,<br />
sondern für alle Frauen, die einen<br />
komplexeren Lebensalltag als Männer<br />
haben, da sie Erwerbs- und Familienarbeit,<br />
die meist räumlich voneinander getrennt<br />
sind, miteinander verbinden müssen. Die<br />
Zielgruppe für frauengerechte Bauten sind<br />
Erwerbstätige, die Kinder aber meist kein<br />
Auto haben“. Ohne den Begriff frauengerecht<br />
– „kämen wir viel weiter“.<br />
Das sieht Sozialamtsleiterin Wilma Mohr<br />
(SPD) entschieden anders: sie hatte Anfang<br />
90, damals noch als Frauenbeauftragte, den<br />
Stadtverord<strong>net</strong>enbeschluß durchgeboxt.<br />
Doch ihr ganzer Stolz („Frauengerecht“)<br />
stieß beim Bauverein auf keine Gegenliebe,<br />
dort mißachtete Mann das Papier gänzlich –<br />
noch nicht einmal den Eingang wollte Mann<br />
bestätigen. Heute ist sie, Wilma Mohr,<br />
zuversichtlich, daß sich da mit Daniela<br />
Wagner was ändere. Die empfindet den<br />
Bauvereins-Vorstand aber „als sehr zäh“<br />
und attestiert ihm, einen Sack „voller Vorurteile“<br />
– „ältere Herren sind nun mal nicht<br />
gerade die Speerspitze der Innovation“, so<br />
Wagner. Wer sich da wohl angesprochen<br />
fühlt?<br />
„Das ist halt nicht zu ändern“<br />
Mann Siebert preist die Planungen für das<br />
Neubaugebiet Kranichstein K6 an: „Da ist<br />
alles frauengerecht“. Was? Der Siebert war<br />
an dem Abend nicht so gut drauf, so war<br />
denn auch nicht allzuviel zu hören, was er<br />
dazu meint, außer: „Es treten alle möglichen<br />
Gruppen an mich heran“, mit dem<br />
Wunsch, ihre Vorstellungen seien hier oder<br />
dort zu berücksichtigen und zu verwirklichen.<br />
Die Planungskultur in Darmstadt seit<br />
dem Stadtverord<strong>net</strong>enbeschluß von 91 ist<br />
immer noch dieselbe, meint er, das sei halt<br />
nicht zu ändern. Aus einer Bauausschußsitzung<br />
vom Nachmittag plaudert er, daß beinahe<br />
der Abschnitt „Neue Wohnformen“<br />
aus den Anforderungen des städtebaulichen<br />
Wettbewerbs K6 rausgefallen wäre:<br />
„für die ist das zu provokant, beängstigend<br />
neu, sie sind verunsichert“. Hans Fürst<br />
widerspricht Siebert: „Das kann man der<br />
Planungskultur nicht gnädig nachsehen.<br />
Die Kriterien zum frauengerechten Wohnen<br />
und Bauen müssen jetzt durchgesetzt werden,<br />
denn die Strukturen, die jetzt geschaffen<br />
werden, stehen 200 Jahre“.<br />
Nicht nur Siebert, auch den anderen PodiumsteilnehmerInnen<br />
war es wohl zu heiß,<br />
ebenso wie dem Publikum, das lieber zu<br />
Hause geblieben war. vro<br />
nen für den heutigen Arbeitsmarkt nicht<br />
mehr ausreichend. Hinzu kommt noch, daß<br />
die neuen Technologien viele Arbeitsplätze<br />
völlig verändert haben. Innerhalb des Kurses<br />
werden vielfältige Informationen zur Erwerbsarbeit<br />
gegeben: Fortbildungs- und<br />
Umschulungsangebote, Berufsbilder, Bewerbung,<br />
Renten, neue Technologien,<br />
Arbeitszeitmodelle, Arbeitsrecht, Firmenbesuche<br />
und vieles mehr sind Themen im Kurs.<br />
Ziel des Kurses ist es, jeder Frau durch<br />
umfassende Informationen zur Erwerbsarbeit,<br />
unter Einbeziehung ihrer persönlichen<br />
Lebenssituation, zu einer fundierten Entscheidung<br />
bezüglich der Berufsrückkehr zu<br />
verhelfen. Die Teilnahme an dem Kurs ist<br />
kostenlos. In diesem Jahr können wir nur<br />
noch einen dreimonatigen Kurs durchführen.<br />
Von daher findet innerhalb des Kurses nur<br />
eine einwöchige EDV-Einführung und ein<br />
zweiwöchiges Praktikum statt. Kursbeginn:<br />
26.9.1994. Informationen und Anmeldung<br />
ab sofort, telefonisch oder persönlich im<br />
Sefo bei den Kursleiterinnen Ulla Kurz und<br />
Maria Späh. Bürozeiten: Montag und Dienstag<br />
10 bis 16 Uhr, Donnerstag 10 bis 18 Uhr.<br />
Frauenselbsthilfe- u. Fortbildungszentrum<br />
(Sefo)
Vergewaltigung:<br />
Der Täter Opfer weiblicher Reize<br />
Der Schutz der Familie – eine allzu nützliche männliche Ideologie –<br />
Studientag „Gewalt gegen Frauen und Mädchen“<br />
„Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter“ – so nennt sich eine<br />
Kampagne der Bundesfrauenministerin Angela Merkel (CDU),<br />
an der das Frauenbüro Darmstadt und das Kreisfrauenbüro<br />
Darmstadt-Dieburg mit einem Studientag zum Thema teilnahmen.<br />
Am 24.6. sprachen eine Rechtsanwältin, eine Staatsanwältin,<br />
eine Juristin und eine Kriminaloberrätin über ihre Erfahrungen.<br />
Tags darauf wurde in einzelnen Gruppen ein Forderungskatalog<br />
an Justiz und Polizei erstellt; er soll im Herbst<br />
öffentlich übergeben werden.<br />
chon lange gibt es die Idee, den Kon-<br />
„Stakt mit Justiz und Polizei aufzunehmen.<br />
Doch wir hatten die Angst, in gegenseitiger<br />
Überzeugungsarbeit stecken zu bleiben.<br />
Deshalb haben wir uns überlegt, einen Forderungskatalog<br />
zu erstellen, damit sich die<br />
Situation für Frauen verändert.“ Darmstadts<br />
Frauenbeauftragte Trautel Baur spricht von<br />
„längst fälligen, notwendigen Änderungen“.<br />
Alle Fraueninstitutionen stoßen immer wieder<br />
an „Grenzen von Justiz und Polizei“, „fast<br />
täglich hören wir Aussagen, daß Frauen und<br />
Mädchen vor einer Mauer stehen, nachdem<br />
sie bedroht, mißhandelt und geschlagen<br />
worden sind. Frauen fühlen sich nicht ernstgenommen.<br />
Sie erzählen, daß der Ton<br />
extrem unterschiedlich ist, zu dem Ton<br />
gegenüber Männern, Ehemännern oder dem<br />
Freund. Wenn eine weinende Frau um Hilfe<br />
ruft, spricht die Polizei mit dem Mißhandler.<br />
Da fallen Sätze wie, ,Na, wenn das meine<br />
Frau getan hätte, wer weiß, was ich dann<br />
getan hätte‘“, weiß Trautel Baur. Sie fordert,<br />
daß Alkohol bei sexuellen Gewalttaten kein<br />
strafmindernder Grund mehr sein darf, wie<br />
es erst kürzlich vor einem Darmstädter<br />
Das Patriarchat hält Frauen in Angst<br />
Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist das (rechtsextreme) Gewaltpotential<br />
in unserer Gesellschaft erschreckend sichtbar geworden, sind Rassismus und<br />
Ausländerfeindlichkeit beängstigend angewachsen. Seit eh und je leben wir mit dem alltäglichen<br />
Skandal des Sexismus und der (insbesondere sexuellen) Gewalt gegen<br />
Mädchen und Frauen. Doch diese ist ein akzeptierter Bestandteil unserer Gesellschaft.<br />
In dem Regierungsbericht der Gewaltkommission von 1990 heißt es, Gewalt finde vorwiegend<br />
im Schoße der trauten Familie statt, der Keimzelle des deutschen Staates – also<br />
gegen Frauen, Mädchen und Jungen.<br />
Gerade der private Raum, der angeblich dem Schutz von Frauen und Mädchen dienen<br />
soll, ist für sie der gefährlichste. Statistiken entlarven diese Schutzvorstellung als<br />
Mißverständnis und Ideologie, als Absicherung männlicher Verfügungsrechte.<br />
Vor Gewalt sind Mädchen und Frauen nirgendwo geschützt: weder in der Öffentlichkeit,<br />
auf Straßen, in Wohnungen, in Schulen, Gaststätten, in Institutionen noch und gerade<br />
am Arbeitsplatz (so gaben 70 Prozent aller befragten Frauen in einer Studie des Bundesministerium<br />
für Frauen und Jugend an, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz im engeren<br />
und weiteren Sinne erfahren zu haben) und schon gar nicht in Beziehungen oder in<br />
Familien. Auch die Anwesenheit anderer schützt sie nicht vor sexuellem Mißbrauch,<br />
Vergewaltigung und Mord. Oft beteiligen sich andere an der Gewalt, schauen gar zu.<br />
In den wenigen Fällen, in denen die Täter vor Gericht kommen, werden sie zumeist entlastet,<br />
entschuldigt, den Opfern wird die Verantwortung an der ihnen zugefügten Gewalt<br />
zugeschrieben. Ein Grundrecht des Mannes, seine sexuellen und aggressiven Bedürfnisse<br />
zu befriedigen?! Und umgekehrt gesteht das allgemeine – gleich männliche –<br />
Bewußtsein Mädchen und Frauen kein Recht zu, sich sexuell zu verweigern.<br />
Die Vorstellung von der ehelichen Pflicht zum Geschlechtsverkehr ist eine allzu nützliche<br />
Definition – und findet sich im geltenden Bürgerlichen (Ehe-) Gesetzbuch, wo es in<br />
§ 1353 heißt: „Ein Ehegatte ist nicht verpflichtet, dem Verlangen des anderen … nach<br />
Herstellung der Gemeinschaft Folge zu leisten, wenn sich das Verlangen als Mißbrauch<br />
seines Rechtes darstellt oder wenn die Ehe gescheitert ist“. Was im geschrobenen Juristen-Deutsch<br />
so unverständlich daherkommt, heißt nichts anderes als: Dem männlichen<br />
Recht auf Beischlaf hat die Frau Folge zu leisten, es sei denn er hätte sie mit einer<br />
anderen Frau (Mann?) betrogen. Straffreie, heißt legitimierte Vergewaltigung der Ehefrau.<br />
Und dies diszipliniert Frauen. Die Verfügungsgewalt des Mannes über den Körper<br />
der Frau manifestiert sich auch in der Weigerung des (noch männlichen) Gesetzgebers,<br />
Vergewaltigungen in der Ehe als Straftatbestand anzuerkennen und zu verfolgen. Und<br />
das ist patriarchale Realität unserer Gesellschaft.<br />
Die sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen kennt viele Formen – Vergewaltigung<br />
und Sexualmord sind die brutalsten, gefolgt vom sexuellen Mißbrauch, körperlichen<br />
Übergriffen, Androhung sexueller Gewalt sowie anzügliche und herabwürdigende<br />
Bemerkungen.<br />
Die alltägliche Ausübung von Gewalt und ihre Androhung wird ergänzt und gestützt<br />
durch Darstellungen der Verfügbarkeit über den weiblichen Körper in Medien,<br />
Werbung, Filmen, Literatur und Pornographie, wodurch die rechtmäßige Verfügungsgewalt<br />
des Mannes über das weibliche Geschlecht als Norm vermittelt wird – und<br />
Gewaltausübung damit zur legitimen Handlung wird. Die Medien sind dabei nicht nur<br />
Spiegel der männlichen Herr-Schaftsverhältnisse, sondern darüber hinaus „Instrument<br />
zu ihrer Manipulation und Aufrechterhaltung“, wie schon die Soziologin Ursula Scheu<br />
feststellte.<br />
Wie ist diese Gewalt zu erklären? Warum wird sie geduldet? Den Boden für diese Gewalt<br />
bereitet männliche Übermacht. Interviews mit Tätern haben gezeigt, daß Vergewaltigungen<br />
nicht Resultat eines Triebstaus sind, sondern aus dem Bedürfnis entspringen,<br />
Macht zu demonstrieren und zu unterwerfen. Resultat der alltäglichen Gewalt ist: die<br />
permanente Einschüchterung aller Frauen, die durch Männer in permanenter Angst<br />
gehalten werden.<br />
Sexuelle Gewalt ist Machtpraxis patriarchaler Kulturen – wie der Bundesrepublik<br />
Deutschland.<br />
Gewalt in der Schule, Gewalt gegen Andersfarbige und Ausländer, Gewalt gegen<br />
Mädchen und Frauen: Die Erziehung versagt, die aus Unmenschen Menschen macht.<br />
Eva Bredow<br />
Parkhaus-Gewalt<br />
Es ist nach 22 Uhr, außer mir hat keine<br />
der Frauen, die an der Diskussion teilgenommen<br />
haben, in der Tiefgarage des<br />
Luisencenters geparkt. Ich laufe ins<br />
Erdgeschoß und will mit der Rolltreppe<br />
ins Basement fahren, wo die Kassenautomaten<br />
sind, doch die Rolltreppe ist<br />
mit rot-weißen Bändern abgesperrt. Ich<br />
treffe einen Mann, der damit wohl was<br />
zu tun hat, der mir rät: „Krabbeln se<br />
drunter durch“. Unten sehe ich in spärlichem<br />
Licht einen anderen Mann stehen,<br />
als ich ankomme, ist er verschwunden.<br />
Wohin? Ich fühle mich unsicher, schaue<br />
um mich, schmeiße mein Geld in den<br />
Automaten und warte. Allein. Wo ist er<br />
hin? Auch der Aufzug läßt auf sich warten,<br />
lange, beängstigend lange Minuten.<br />
Er hält und da ist diese Angst, drinnen<br />
könnte er auf mich warten, mich packen<br />
– und keiner würde mich hören …<br />
Gericht wieder der Fall war, wo ein Mann eine<br />
Frau über viele Jahre sexuell mißbraucht hat,<br />
da er die Tat aber gestand, mit Bewährung<br />
davon kam.<br />
Für Baur Grund genug, sich an der Kampagne,<br />
„Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter“,<br />
zu beteiligen. Etwa vierzig Frauen waren<br />
in den Raum Graz ins Neue Rathaus gekommen.<br />
Herrschaftsarchitektur im<br />
Gericht<br />
Rechtsanwältin Claudia Burgsmüller aus<br />
Wiesbaden hat 17 Jahre Erfahrung als Zeuginnenbeistand<br />
und als Rechtsbeistand in<br />
Nebenklagen. Sie spricht lieber von den<br />
„Verletzten“ als von „Opfern“. Denn dieser<br />
Begriff habe immer den „Ruch des passiv<br />
Leidenden, Duldenden“. Sie fordert, daß sich<br />
die Justiz an „die Bedürfnisse der Mädchen<br />
und Frauen anzupassen“ habe, daß Gerichtsprozesse<br />
als „Verarbeitungsstrategie“ zu<br />
verstehen seien. Es gehe um eine Verantwortungsübernahme<br />
des Täters, darum, den<br />
Verletzten zuzugestehen, daß sie nicht gelogen<br />
haben, und darum, angemessene Sanktionen<br />
zu verhängen. Burgsmüller konstatiert<br />
„unwürdige äußerliche Bedingungen vor<br />
Gericht“ und nennt die „Herrschaftsarchitektur“<br />
im Saal und die „einschüchternde Wirkung<br />
der Roben“, denen mit eigenen neuen<br />
Zeuginnen-Warteräumen, pädagogischer<br />
Betreuung und Spielmaterial entgegengetreten<br />
werden könne. Rechtsanwältinnen müßten<br />
möglichst früh bei Gewalttaten eingeschaltet<br />
werden, und zwar kostenlos, unabhängig<br />
von den Vermögensverhältnissen der<br />
Kinder und Frauen. Denn: „Die Prozeßkostenhilfe<br />
ist heute sehr kleinlich“. Außerdem<br />
müßten die Rechte der Nebenklage wesentlich<br />
verbessert werden.<br />
Täter sind nicht abnormal<br />
„Es gibt das Klischee, der Täter sei abnormal“,<br />
erzählt Staatsanwältin Iris Weingardt<br />
(Kaiserslautern), „dabei ist der Täter der<br />
Nachbar, der Mann, der Freund, der Kollege“.<br />
5.500 Frauen sind 1991 in den alten<br />
Bundesländern und Berlin vergewaltigt worden,<br />
ExpertInnen schätzen die Dunkelziffer<br />
auf das Zehn- bis Zwanzigfache. Vergewaltigung,<br />
die schlimmste Form der sexuellen<br />
Gewalt, sei ein „massiver Angriff auf die Psyche<br />
der Frau“, die „Schrecken, Panik, Erniedrigung,<br />
Hilflosigkeit, Ekel und Wut“ erleide.<br />
Bei zwei Dritteln der Opfer blieben Angst vor<br />
und Mißtrauen gegen Männer zurück.<br />
Aus ihrer täglichen Praxis weiß sie, daß Frauen<br />
oft als Verführerinnen vorverurteilt werden.<br />
Polizei und Justiz würden Tätern Fragen<br />
stellen, die bewußt auf ihre Entlastung abzielen.<br />
Beispiele: „Wie war das Opfer gekleidet?“,<br />
„War es alkoholisiert?“, „Hat es sich<br />
die Tat nur eingebildet?“, sowie Fragen danach,<br />
ob das Opfer etwa den späteren Täter<br />
zu sich in die Wohnung gebeten habe? Hat<br />
es sich genügend gewehrt? Hatte es eine intime<br />
Beziehung zu dem Täter? undsoweiter<br />
undsofort … „Jeder Verteidiger wird versuchen,<br />
einen maroden Lebenswandel der Frau<br />
nachzuweisen, und somit die Vergewaltigung<br />
zu einem minder schweren Fall zu machen“,<br />
weiß Weingardt: „Dies ist eine untragbare<br />
Situation.“<br />
Täter wird zum Opfer<br />
Der Täter wird zu einem Opfer weiblicher<br />
Reize, das Opfer zum Täter – öffentliches<br />
Vorurteil: „50 Prozent der befragten Männer<br />
und Frauen gaben kürzlich an, wenn eine<br />
Frau einen Mann zum Essen einlade, könne<br />
er davon ausgehen, daß sie sexuellen Kontakt<br />
zu ihm will, 75 Prozent gar, daß auffällige<br />
Kleidung Männer zur Vergewaltigung provoziert.“<br />
Dahinter steht das (für Männer) allzu<br />
nützliche Vorurteil, „eine anständige Frau<br />
könne nicht vergewaltigt werden“, so die<br />
Staatsanwältin.<br />
Vor Gericht muß das Opfer beweisen, daß die<br />
Tat stattgefunden hat. Die Täter hätten in der<br />
Regel kein Unrechtsbewußtsein und würden<br />
verharmlosen. Vergewaltigungen sind in den<br />
meisten Fällen „Beziehungstaten“ und die-<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 14<br />
nen der „Demonstration von Macht und<br />
Überlegenheit“, sagt Weingardt und ergänzt,<br />
„oft sind sie mit körperlicher und psychischer<br />
Gewalt verbunden. Das Selbstbewußtsein<br />
wird systematisch zerstört“. Sie fordert<br />
„dringend eine Reform“ des § 177 Strafgesetzbuch,<br />
der unter Vergewaltigungen nur<br />
außerehelichen Geschlechtsverkehr versteht.<br />
Die hohe Dunkelziffer erklärt die Referentin<br />
mit Angst, Scheu und Scham und mit<br />
der vielfach sozialen und finanziellen Abhängigkeit<br />
vom Täter. Doch nur mit Anzeigen<br />
läßt sich ein Umdenkprozeß bei den Tätern<br />
(und damit Männern) erreichen, so ihr<br />
Appell. Ihr Tip: die Tat sofort anzeigen, dies<br />
spare lästige Fragen wegen Beweisen. In<br />
Hessen haben Frauen übrigens das Recht,<br />
sich von Polizistinnen befragen zu lassen.<br />
Männliche Ratschläge<br />
Noch vor ein paar Jahren hat die Polizei Frauen<br />
geraten, sich bei Vergewaltigungen nicht<br />
WM-Sei dank<br />
25.6. In Israel, stellte die dortige Polizei<br />
fest, werden in diesen Tagen nur noch<br />
halb so viele Frauen von ihren Ehemännern<br />
geschlagen und vergewaltigt. Warum?<br />
Die Männer sitzen abends und<br />
nächtens vor dem Flimmerkasten und<br />
glotzen Fußballweltmeisterschaft …<br />
zu wehren – „das sind Ratschläge von Männern<br />
für Frauen“, sagt Elke Matthäi, Kriminaloberrätin<br />
in Groß-Gerau, die der Realität<br />
nicht standhalten: „Neue Studien haben<br />
ergeben, daß sie bei Gegenwehr im öffentlichen<br />
Raum öfter nicht vollzogen werden“.<br />
„Wer hat Frauen beigebracht, sich zu wehren?“,<br />
fragt sie provokant und setzt hinzu:<br />
„Ist die Familie eine Brutstätte der Gewalt?“<br />
Wenn eine Frau ihren Mann nicht anzeigt,<br />
dann sei die Polizei machtlos, selbst wenn<br />
die Frau die Tat zugegeben und den Täter<br />
beim Namen genannt hat.<br />
Die Juristin und wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
der Uni Mainz, Sabine Platt, ist der<br />
Ansicht, der Abtreibungsparagraph 218<br />
gehöre zum Thema, weil Frauen nach Vergewaltigungen<br />
schwanger werden. Und zweitens<br />
218 „Ausdruck einer gegenüber Frauen<br />
gewalttätigen Gesellschaft“ sei. Ihrer Forderung:<br />
„Männer sollen sich mit diesem Thema<br />
nicht befassen“, schloß sich auch der „Feministische<br />
Juristinnentag“ 1993 kurz vor dem<br />
Urteil des Bundesverfassungsgerichts an.<br />
„Das Gericht konstatiert ein Recht des<br />
Embryos, zu leben und leitet daraus einen<br />
Schutz ab und spricht von einer Zweiheit in<br />
einer Einheit und nicht vom Selbstbestimmungsrecht<br />
der Frau.“ Daß Frauen zu Beratungsgesprächen<br />
gezwungen werden und<br />
Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch<br />
angeben müssen, das habe mit „Schutz des<br />
Lebens nichts mehr zu tun“, sondern sei<br />
„eine sadistische Quälerei“ – der Frau. Der<br />
Schutz des Lebens ist allerdings nur für ChristInnen<br />
ein solcher, bei denen das Leben<br />
bereits vor seinem Beginn begonnen hat.<br />
Eva Bredow
Darmstädter Jugendstil:<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 15<br />
„Alles von demselben Geist beherrscht“ J. M. Olbrich<br />
II. Darmstadt, eine Stadt wie manche andere<br />
in jener Zeit: Das neue Jahrhundert beginnt<br />
(laut „Darmstädter Zeitung“ vom 2. Januar<br />
1900) in der Haupt- und Residenzstadt des<br />
Großherzogtums Hessens mit der Neujahrs-<br />
Gratulation der Diplomaten, Hochwürdenträger<br />
und Minister bei Großherzog und<br />
Großherzogin, mit Militärgottesdiensten und<br />
Wachparade der Garnison, deren Ehrenbatterie<br />
101 Salutschüsse feuert, und mit einer<br />
abendlichen Neujahrs-Galatafel im Residenzschloß.<br />
Auf einem gleichzeitig von Offizieren,<br />
Beamten und Bürgern der Stadt veranstalteten<br />
Neujahrs-Essen im Hotel „Zur Traube“ feiert<br />
Oberbürgermeister Morneweg, der an diesem<br />
Tag das Ritterkreuz 1. Klasse des Verdienstordens<br />
Philipps des Großmütigen erhalten hat,<br />
das abgelaufene Jahrhundert mit stolzem<br />
Rückblick auf die „herrliche Entwicklung<br />
Deutschlands zu einem einigen kraftvollen<br />
Deutschen Reiche“.<br />
Teil an der überall sichtbaren Umwälzung und<br />
Entwicklung habe auch Darmstadt selbst, dessen<br />
Bevölkerung es verstanden habe, „die bewegenden<br />
Kräfte des geistigen und des Wirtschaftlebens,<br />
der Industrie und des Handels<br />
sich dienstbar zu machen“. Die Stadt-Werke<br />
blühen; der Hauptbahnhof (1912) krönt den<br />
Aufstieg der Residenz-, Behörden und Beamtenstadt<br />
zum Verkehrs- und Handelsplatz.<br />
Aber Leben ist mehr. Per spera ad astra! Und<br />
ist es auch nur ein leichter Anstieg zur Mathildenhöhe;<br />
„droben“ soll sich – neben dem Reservoir<br />
der neuen Wasserleitung, das Realitätsprinzip<br />
lokalisierend – die erhöhte wie<br />
erhöhende Kunst niederlassen.<br />
Joseph Maria Olbrich, dem die Gestaltung der<br />
Künstlerkolonie übertragen war, schreibt in<br />
„Deutscher Kunst und Dekor“ (1900):<br />
„Oben am höchsten Streif soll das Haus der<br />
Arbeit sich erheben; dort gilt, gleichsam in einem<br />
Tempel, die Arbeit als heiliger Gottesdienst.<br />
Acht große Ateliers mit kleinen Meister-Stuben,<br />
ein kleines Theater, Turn- und<br />
Fechtsäle, gastliche Räume, Douchen und<br />
Bäder sind in einem Langbau aufgenommen.<br />
Im abgefallenen Gelände die Wohnhäuser der<br />
Künstler, gleich einem friedlichen Ort, zu dem<br />
nach des Tages emsiger Arbeit von dem Tempel<br />
des Fleißes herabgestiegen wird, um den<br />
Künstler mit dem Menschen einzutauschen.<br />
All die Häuschen, um ein Forum gruppiert, mit<br />
eigenartig angelegten Wegen, Gärten,<br />
Beleuchtungskörpern, Brunnen und Blumenbeeten<br />
zur Einheit verbunden.“<br />
Man beklagt die Trennung zwischen dem<br />
schöpferischen Künstler und ausführenden<br />
Handwerker; man will unter ganzheitlichem<br />
Aspekt eine Verbindung von Kunst und Leben<br />
herstellen. Die Kunst spielt eine normative<br />
Rolle: der Künstler läßt sich, wenn er das<br />
Reich des interessenlosen Anschauens der<br />
Idee verläßt und sich ins Leben einmischt,<br />
„herab“. Der Handwerker wiederum blickt von<br />
unten nach oben, wenn ihm künstlerische Erziehung<br />
und künstlerische Vorbilder zuteil<br />
werden. Die Utopie der Lebensgestaltung ist<br />
hierarchisch strukturiert. Von oben, vom<br />
Berg, sendet die normative Ästhetik ihre Signale<br />
ins Flachland hinab; dessen Bewohner<br />
müssen sich bemühen, nach oben zu gelangen,<br />
wenn sie am Heilsgeschehen der Kunst<br />
teilnehmen wollen. Im Psychodrom des Kapitalismus<br />
und der industriellen Welt treibt man<br />
drunten in der Tiefe, parterre, dahin. Dem<br />
Minderbegabten bleibe ohnehin kein anderer<br />
Ausweg als in die Fabrik zu gehen, meint der<br />
Verleger Alexander Koch, der durch die Herausgabe<br />
verschiedener kunstgewerblicher<br />
Zeitschriften in Darmstadt ein Forum schuf,<br />
welches sich die Förderung der neuen Kunstgewerbebewegung<br />
zum Ziele gesetzt hatte.<br />
Der Berg ruft; um ein paar „Per-aspera-adastra“-Phänomene<br />
zu beleuchten: er ruft bei<br />
Nietzsche im „Zarathustra“, der sich in die<br />
Niederungen nur dann begibt, wenn er Gefolgschaft<br />
für seine hehren Verkündungen benötigt;<br />
diese sind Eingebung in azurner Höhe,<br />
nicht diskursiv entwickelt. Der Berg ruft bei<br />
der weitverbreiteten Zeitschrift „Alpine Majestäten“,<br />
die heroische, elitäre Einsamkeitserlebnisse<br />
mit Gipfelblick zu niedrigen Ladenpreisen<br />
zu vermitteln trachtete; übrigens dem<br />
Schrebergärtner auch gotische Ruinen zusammen<br />
mit Gartenhäuschen und Gartenzwergen<br />
anbietet. (Gartenzwerge wohin man<br />
blickt, freilich unterschiedlich kostümiert!)<br />
Der Berg ruft bei Karl May: In einem seiner trivial-philosophisch<br />
wichtigsten Romane („Von<br />
Ardistan nach Dschinnistan“) zerfällt der sym-<br />
Jahrhundertwende – Utopien und Praxis der Lebensgestaltung 1900<br />
bolisch für die Erde stehende Pla<strong>net</strong> Sitara<br />
(Stern) in zwei Bereiche in das Tiefland Ardistan<br />
(Ard = Erde, niedriger Stoff), von den Gewaltmenschen<br />
bewohnt, und das Bergland<br />
Dschinnistan (Dschinn – Geist), in dem die<br />
„Edelmenschen“ leben.<br />
Ein realer Ort ästhetisch sakraler Topographie<br />
war der Monte Verita, der Berg der Wahrheit,<br />
bei Ascona, einem aus der langen Kette der<br />
„Wahrheitsberge“, auf den seelensüchtige, reformorientierte<br />
Lebensart abwanderte. Das<br />
landschaftliche und klimatische Mikroparadies<br />
des oberen Lago Maggiore wurde zur<br />
umfassenden Reformkulturlandschaft, deren<br />
Bewohner sich gegen Industrialisierung, Urbanisierung,<br />
Technisierung wandten und den<br />
Gegenentwurf einer „Naturkultur“ wagten. Die<br />
lebensgestalterischen Utopien der damaligen<br />
Zeit erwachsen dem antizivilisatorischen Protest<br />
(wie Dürer-Bund, Heimatschutzbund und<br />
Gartenstadt-Bewegung). Diese Protestbewegungen,<br />
so Janos Frecot, dem wesentliche<br />
Einsichten in die ästhetischen Fluchtbewegungen<br />
der Jahrhundertwende zu danken sind,<br />
„für die um 1900 der Sammelbegriff ‚Lebensreform‘<br />
eingeführt wurde, bezogen ihr stärkstes<br />
Potential aus dem Widerspruch zwischen<br />
einer sich mehr und mehr technisch-naturwissenschaftlicher<br />
Methoden bedienenden Medizin<br />
und einer den Menschen als leibseelische<br />
Einheit begreifenden Heilkunst.“<br />
Die auf dem Berg angesiedelte Lebensreform,<br />
die mit Verachtung auf das Flachland zurückblickt,<br />
und sich zum Tempeltanz der deutschen<br />
Seele formiert, versucht anstelle der<br />
Industrielandschaft eine Parklandschaft zu<br />
etablieren. Hatte schon Friedrich Schiller festgestellt,<br />
daß wir nicht mehr in der Lage seien,<br />
naiv zu empfinden, wohl aber das Naive zu<br />
schätzen wüßten, so sind erst recht diejenigen,<br />
die sich am Ende des 19. Jahrhunderts<br />
inmitten der industriellen und kapitalistischen<br />
Gründerzeit zur Konstituierung einer Gegenwelt<br />
zusammenfinden, darauf angewiesen,<br />
dies mit artifiziellem Raffinement zu tun.<br />
Die etwa bei Hugo Höppener, genannt Fidus,<br />
anzutreffende konstante Verzückung, die sich<br />
als Morgenwunder und Abendgebet, Hornungssturm<br />
und Wintergroll, Gnadennacht<br />
und Weiheschritt, Königstraum und Brautkleidmystik,<br />
Quellsymphonie und Spatenwacht<br />
emblematisch präsentiert, gipfelt in<br />
ideologisch-mentaler „Dauerkose“, so übersetzte<br />
Fidus „Karezza“ (den Koitus ohne<br />
Samenerguß).<br />
In grauer Städte Mauern entstand die Jugendbewegung,<br />
die mit dem Gipfelerlebnis des Hohen<br />
Meißner ihren psychotopographischen<br />
Höhepunkt erreichte. Im Oktober 1913 versammelten<br />
sich auf dieser höchsten Erhebung<br />
des nordhessischen Berglandes große Teile<br />
der Jugendbewegung, rund zweitausend ihrer<br />
Mitglieder, um den ersten Freideutschen Jugendtag<br />
zu begehen. Man tanzte, die „Iphige-<br />
Ein Essay von Hermann Glaser<br />
„Darmstädter Zimmer“ auf der Weltausstellung in Paris 1900 (Alle Abbildungen sind dem Ausstellungskatalog des Museum Künstlerkolonie Darmstadt entnommen)<br />
nie“ wurde aufgeführt und Gustav Wyneken,<br />
der Schulreformer, sprach. Das hundertjährige<br />
Jubiläum der Völkerschlacht von Leipzig<br />
sollte nicht in chauvinistischem Bierdunst,<br />
sondern inmitten der Natur, auf Bergeshöhe,<br />
als ein Fest der Verbrüderung gefeiert werden.<br />
In der Einladung zum Meißner-Fest hieß es:<br />
„Die deutsche Jugend steht an einem entscheidenden<br />
Wendepunkt. Die Jugend, bisher<br />
nur ein Anhängsel der älteren Generation, aus<br />
dem öffentlichen Leben ausgeschaltet und auf<br />
eine passive Rolle verwiesen, beginnt sich auf<br />
sich selbst zu besinnen. Sie versucht, unabhängig<br />
von den Geboten der Konvention,<br />
selbst ihr Leben zu gestalten. Sie strebt nach<br />
einer Lebensführung, die jugendlichem Wesen<br />
entspricht, die es ihr aber zugleich auch<br />
ermöglicht, sich selbst und ihr Tun ernst zu<br />
nehmen und sich als einen besonderen Faktor<br />
in die allgemeine Kulturarbeit einzugliedern.<br />
Sie möchte das, was in ihr an reiner Begeisterung<br />
für höchste Menschheitsaufgaben, an<br />
ungebrochenem Glauben und Mut zu einem<br />
adligen Dasein lebt, also einen erfrischenden,<br />
verjüngenden Strom dem Geistesleben des<br />
Volkes zuführen.“<br />
Der Berg ruft: Da begibt sich einer aus dem<br />
Flachland nach oben. Die Ortsveränderung hat<br />
zunächst medizinische Gründe. Ein einfacher<br />
junger Mann reist im Hochsommer von Hamburg,<br />
seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im<br />
Graubündischen. Er fährt auf Besuch für drei<br />
Wochen. Hans Castorp besucht seinen lungenkranken<br />
Vetter Jochim Ziemßen.<br />
„Zwei Reisetage entfernen den Menschen –<br />
und gar den jungen, im Leben noch wenig fest<br />
wurzelnden Menschen – einer Alltagswelt, all<br />
dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen,<br />
Aussichten nannte.“<br />
Hans Castorp (in Thomas Manns Roman „Der<br />
Zauberberg“) nimmt die Reise nicht sonderlich<br />
wichtig; seine Gedanken weilen mehr bei<br />
dem, was ihn auf der Rennstrecke des Lebens<br />
erwartet. Nach abgeschlossenem Ingenieursexamen<br />
steht sein Eintritt in die Praxis bei<br />
Tunder & Wilms (Schiffswerft, Maschinenfabrik<br />
und Kesselschmiede) unmittelbar bevor.<br />
Allerdings fängt dieses „Emporgehobenwerden<br />
in Regionen, wo er noch nie geatmet und<br />
wo, wie er wußte, völlig ungewohnte, eigentümlich<br />
dünne und spärliche Lebensbedingungen<br />
herrschten“ an, ihn zu erregen, ihn mit<br />
einer gewissen Ängstlichkeit zu erfüllen. Heimat<br />
und Ordnung liegen nicht nur weit zurück,<br />
sie liegen auch klaftertief unter er ihm; und<br />
noch immer steigt er darüber hinaus. Schwebend<br />
zwischen ihnen und dem Unbekannten,<br />
fragt er sich, wie es ihm dort oben ergehen<br />
werde.<br />
„Vielleicht war es unklug und unzuträglich,<br />
daß er, geboren und gewohnt, nur ein paar<br />
Meter über dem Meeresspiegel zu atmen, sich<br />
plötzlich in diese extremen Gegenden befördern<br />
ließ, ohne wenigstens einige Tage an<br />
einem Platze von mittlerer Lage verweilt zu<br />
haben.“<br />
Es ist gegen acht Uhr abends, als er ankommt.<br />
Und bald danach hat er, auf steiler, schleifenförmiger<br />
Anfahrt, das Internationale Sanatorium<br />
„Berghof“ erreicht. Er betritt den „Zauberberg“.<br />
Bald hat der hermetische Ort den Flachlandbewohner<br />
in seinen Bann geschlagen. Er<br />
erkrankt selbst und bleibt über die Besuchszeit<br />
hinaus sieben Jahre lang in der Heilstätte.<br />
Aber vom enthobenen Gipfel reißt ihn die Realität<br />
herunter. Der Weltkrieg zwingt ihn – der<br />
auf dem „Zauberberg“ die Moribunden der<br />
europäischen Zivilisation (makaber, orgiastisch)<br />
erlebt hat –, der Weltkrieg zwingt ihn<br />
ins Flachland zurück. Sein Weg verliert sich in<br />
der Industrielandschaft des Krieges.<br />
„Sie werfen sich nieder vor anheulenden Projektilen,<br />
um wieder aufzuspringen und weiterzuhasten,<br />
mit jungsprödem Mutgeschrei, weil<br />
es sie nicht getroffen hat. Sie werden getroffen,<br />
sie fallen, mit den Armen fechtend, in die<br />
Stirn, in das Herz, ins Gedärm geschossen.<br />
Sie liegen, die Gesichter im Kot, und rühren<br />
sich nicht mehr. Sie liegen, den Rücken vom<br />
Tornister gehoben, den Hinterkopf in den<br />
Grund gebohrt, und greifen krallend mit ihren<br />
Händen hinten in die Luft. Aber der Wald sendet<br />
neue, die sich hinwerfen und springen und<br />
schreiend oder stumm wischen den Ausgefallenen<br />
vorwärtsstolpern.“<br />
III. Das war dann das unschöne Ende eines<br />
Kunst-Höhenflugs, den Joseph Maria Olbrich,<br />
noch in seiner Wiener Zeit, mit folgenden programmatischen<br />
Leitsätzen formuliert hatte:<br />
„Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze<br />
Stadt! Alles Andere ist nichts … Das heißt<br />
doch nichts, wenn Einer bloß ein Haus baut.<br />
Wie kann das schön sein, wenn daneben ein<br />
häßliches ist. Was nützten drei, fünf, zehn<br />
schöne Häuser, wenn die Anlage der Straße<br />
keine schöne ist? Was nützt die schöne Straße<br />
mit schönen Häusern, wenn darin die Sessel<br />
nicht schön sind, oder die Teller nicht schön<br />
sind? Nein – ein Feld; anders ist es nicht zu<br />
machen. Ein leeres weites Feld; und da wollen<br />
wir dann zeigen, was wir können; in der<br />
ganzen Anlage und bis ins letzte Detail. Alles<br />
von demselben Geist beherrscht, die Straßen<br />
und die Gärten und die Paläste und die Hütten<br />
und die Tische und die Sessel, und die Leuchter<br />
und die Löffel Ausdrücke derselben Empfindung.<br />
In der Mitte aber, wie ein Tempel in<br />
einem heiligen Haine, ein Haus der Arbeit,<br />
zugleich Atelier der Künstler und Werkstätte<br />
der Handwerker, wo nun der Künstler immer<br />
das beruhigende und ordnende Handwerk, der<br />
Handwerker immer die befreiende und reinigende<br />
Kunst neben sich hätte, bis die beiden<br />
gleichsam zu einer einzigen Person verwachsen<br />
würden.“<br />
Das Leben mit Kunstformen zu durchdringen<br />
und Kunst zur Lebensgestaltung heranzuziehen<br />
(manchmal auch herbeizukommandieren)<br />
ist insofern neu, als die idealistische Hoffnung<br />
auf die ästhetische Erziehung des Menschen<br />
(wie sie Friedrich Schiller in Nachfolge Kants<br />
formulierte) vom Kopf auf die Füße gestellt,<br />
aus dem Ideenhimmel in die Werkstatt versetzt<br />
wurde.<br />
In den Zauberbann des Schönen geraten Buch<br />
und Bild, Haus und Garten, quasi alles – vom<br />
Sofakissen bis zur Stadtplanung. Alle Gegenstände<br />
(Möbel, Geschirr, Besteck, Kleider, und<br />
alle Fähigkeiten wie Tätigkeiten, von der Liebe<br />
bis zum Exitus) werden dekorativ erfaßt und<br />
gestaltet – ein eindrucksvoll erhabener Lebensentwurf,<br />
der freilich (noch dazu innerhalb<br />
kapitalistischer Produktions- und Verwertungsinteressen)<br />
nie Realität werden konnte,<br />
sondern Realität suggerierte. Allerdings gab<br />
es gewisse Erfolge beim durch lange Erziehung<br />
ästhetisch konditionierte, beflissene Bildungsbürger,<br />
Besitz und Bildung in sich vereinend,<br />
der zwar kein kunstliebender Klosterbruder<br />
sein wollte, wohl aber zeitweilig einen<br />
klosterliebenden Kunstbruder zu spielen<br />
bereit war – was ihm einige Exerzitien abverlangte.<br />
Adolf Loos hat dies in seiner Geschichte<br />
vom armen reichen Manne (1900) glossiert:<br />
„Der architekt hatte es gut mit ihm gemeint.<br />
An alles hatte er gedacht. Für das kleinste<br />
schächtelchen gab es einen platz, der gerade<br />
dafür gemacht war. Bequem war die wohnung,<br />
aber den kopf strengte sie sehr an. Der<br />
architekt überwachte daher in den ersten<br />
wochen das wohnen, damit sich kein fehler<br />
einschleiche. Der reiche mann gab sich alle<br />
mühe. Aber es geschah doch, daß er ein buch<br />
aus der hand legte und es in gedanken in ein<br />
fach schob, das für zeitungen angefertigt war.<br />
Oder daß er die asche seiner zigarre in jener<br />
vertiefung des tisches abstrich, die bestimmt<br />
war, den leuchter aufzunehmen. Hatte man<br />
einmal einen gegenstand in die hand genommen,<br />
so war des ratens und suchens nach<br />
dem richtigen platz kein ende, und manchmal<br />
mußte der architekt die detailzeichnungen aufrollen,<br />
um den platz für eine zündholzschachtel<br />
wieder zu entdecken.“<br />
Unverkennbar ist, daß der Jugendstil mit seinen<br />
floralen, farbig beschwingten oder dunkel-verschlungenen<br />
Arabesken einen Kontrast<br />
zur viktorianisch-spießbürgerlichen Systemhierarchie<br />
setzt – zum Delirium des Größenwahns,<br />
zum Schaucharakter der Bildungsfassade,<br />
zum Einander-Anprotzen (wie es Jost<br />
Hermand in seiner wegweisenden Studie zum<br />
Jugendstil und dessen Mentalitätsmuster<br />
nennt). Nur: den Snob benützen, um allmählich<br />
zum Volk zu kommen (wie es Friedrich<br />
Ahlers-Hestermann formulierte) war zumindest<br />
ein gewagtes, frag-würdiges Unterfangen<br />
und konnte leicht in Restauration umschlagen.<br />
Am Ende war man von der Verzauberung so<br />
verzaubert, daß man den Weckruf der Notdurft<br />
gar nicht mehr vernahm, nicht mehr<br />
wahr-nahm. Die Darmstädter Künstler setzten,<br />
den Eskapismus zur Programmformel<br />
machend, in das Portalfeld ihres Werkstätten-<br />
Gebäudes – immerhin ihres Werkstättengebäudes<br />
– den Spruch von Hermann Bahr:<br />
„Seine Welt zeige der Künstler, die niemals<br />
war, noch jemals sein wird.“<br />
Vom heutigen Standpunkt aus neigen wir<br />
dazu, solche die reale Handlungsenergie<br />
anästhetisierenden ästhetischen Utopien als<br />
regressiv einzustufen; sie romantisieren die<br />
Hütten, verkennen das Elend der proletarischen<br />
Massen in dieser Zeit; sie glauben daran,<br />
daß Paläste durch angenehmes Dekor humanisiert<br />
werden können. Solche Häuser der<br />
Arbeit reüssieren vor allem, wenn ihre Produkte<br />
in elitären Circles zirkulieren und entsprechend<br />
goutiert (und, z.B. in Boutiquen,<br />
honoriert) werden. Als Orte für die Hebung<br />
des Geschmacks der Massen verlören sie<br />
ihren eigentlichen Charakter: nämlich Werkstatt<br />
zu sein – sie müßten Fabrik werden.<br />
Das Dritte Reich hat mit der Ästhetisierung der<br />
Barbarei zudem deutlich gemacht, daß Kunst<br />
nicht allein schon deshalb moralische Qualität<br />
in Anspruch nehmen kann, weil sie schön ist.<br />
Faszination und Gewalt gingen stattdessen<br />
eine höchst wirksame und verderbliche Verbindung<br />
ein; das Schöne konnte verhältnismäßig<br />
leicht aus der Trias des „Schönen, Guten<br />
und Wahren“ herausgebrochen und isoliert<br />
werden. So mutig der von den künstlerischen<br />
Lebensreformern eingenommene Standpunkt<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite<br />
INTERNAT. TAPETEN<br />
DARMSTADT<br />
ROSSDÖRFER PLATZ
Darmstädter Jugendstil: „Alles von demselben Geist“<br />
auch war, daß über das Schöne nämlich eine<br />
bessere Welt zu schaffen sei (man müsse nur<br />
die „wahre“ Ästhetik finden) – die ästhetische<br />
Erziehung als normativer Vorgang, gewissermaßen<br />
als Teil des Exerzier-Regiements von<br />
Schöneform-Rittern hat inzwischen ausgedient.<br />
Schon 1898 hatte der Architekt Adolf Loos in<br />
„Ver Sacrum“, der Zeitschrift der Wiener<br />
Secession, das Ringstraßen-Wien als „potemkinsche<br />
Stadt“ verspottet. Eine solche Architektur<br />
sei innen wie außen Pseudobefriedigung<br />
mit der Formel „Ornament und Verbrechen“<br />
denunziert er den Schönheitskult als<br />
Instrument der Entmündigung. Das verkündete<br />
irdische Paradies sei eine Vorhölle. Verfälsche<br />
man den Alltag durch kunsthandwerkliches<br />
Ritual (nachfolgend bezieht sich Loos<br />
auf seinen Kollegen Joseph Maria Olbrich),<br />
enthumanisiere man das Leben auf<br />
erschreckende Weise.<br />
„Schildert einmal, wie sich geburt und tod, wie<br />
sich die schmerzensschreie eines verunglückten<br />
sohnes, das todesröcheln einer sterbenden<br />
mutter, die letzten gedanken einer tochter,<br />
die in den tod gehen will, in einem Olbrichschen<br />
schlafzimmer abspielen und ausnehmen.“<br />
Das Gesamtkunstwerk sei, wenn in Dekor,<br />
Ornament, Komfort abgesunken, diesen „letzten<br />
Dingen“ nicht gewachsen. Im Sinne des<br />
allgemeinen sozialen Fortschritts sei es angebracht,<br />
aufs Ornamental-Überflüssige zu verzichten,<br />
das Ornamental-Entmündigende zu<br />
verdammen. Das durchs Ornament beschworene<br />
Reich der Freiheit, in dem der Funktionalismus<br />
ästhetisch vernichtet werde, gaukle lediglich<br />
Entmaterialisation vor. So entstehe<br />
scheinhafte Identität. Die Ornamente seien<br />
dem Menschen im 19. Jahrhundert zum Fetisch<br />
geworden; es gehe um funktionalistische<br />
Befreiung.<br />
Wie Loos geht es auch anderen Gegnern des<br />
Gesamtkunstwerkes (etwa Karl Kraus, Oskar<br />
Kokoschka, Egon Schiele, Arnold Schönberg)<br />
um die „nackte Wahrheit“; radikal und kompromißlos,<br />
wodurch die Kampfansage selbst<br />
die Gestalt eines Erlösungsauftrags annimmt,<br />
werden schroffe Askese (Schmerz, Verzicht,<br />
Dissonanz) schwelgerisch-raffiniertem Hedonismus<br />
entgegengestellt.<br />
„Der Künstler, der diese tragische Botschaft<br />
auf sich nimmt, ist nicht mehr der souveräne<br />
Schönheitspriester, sondern ein Leidender,<br />
der sich als Märtyrer versteht. Er verlangt von<br />
einem Partner, dem Publikum, mehr als ‚interessenloses<br />
Wohlgefallen‘: Gefordert wird<br />
Umkehr und Läuterung. Das Gesamtkunstwerk<br />
der Secessionisten und Stilkünstler beschwor<br />
den Garten Eden, seine Kritiker zerstören<br />
diese behagliche Fluchtwelt, indem sie<br />
deren Bewohnern die schönen Hüllen verweigern<br />
und ihnen bewußt machen, was schon<br />
das erste Menschenpaar erfahren mußte, als<br />
es seiner Nacktheit gewahr wurde. Die Metapher,<br />
in der diese Kreatürlichkeit ihre Gefährdungen<br />
erkennt, ist Eros thanatos, der todbringende<br />
Eros.“ (Werner Hofmann)<br />
Wenn Adolf Loos Ornament mit Verbrechen<br />
gleichsetzte, als Versuch, harter Tatsächlichkeit<br />
auszuweichen, so blieb er mit seiner Kritik<br />
freilich innerhalb ästhetischer Kategorien. Das<br />
Schmucklose als Schmuck bedeutete keinen<br />
qualitativen Unterschied zum „geschmückten<br />
Schmuck“. Dekor durch die Reduktion von<br />
Dekor, eine Form postulierend, die der Funktion<br />
folgt, mag als sublimer sich erweisen; doch<br />
wußten die Nationalsozialisten auch den Funktionalismus<br />
ihrer Abgründikeit zu integrieren.<br />
Mit Design kann man weder das Sein noch<br />
das Sosein definieren. Die Verpackung ist nie<br />
die Botschaft.<br />
Was wir von den Lebensreformbemühungen<br />
und den ästhetischen Utopien der Jahrhundertwende<br />
jedoch lernen können, ist der Stel-<br />
J. M. Olbrich, Speisezimmer im Hofpredigerhaus<br />
lenwert, den man der Gestaltung und Form<br />
einräumte. Ist das Schöne auch an sich nicht<br />
gut, so kann es doch bessere Konditionen für<br />
das Gute schaffen. Man kann mit einer Wohnung<br />
den Menschen erschlagen, oder – wie<br />
die Plüsch-Etablissements es gezeigt haben –<br />
das Humane ersticken. Eine Wohnung sollte<br />
dem Menschen helfen, sich einzurichten, sich<br />
einzubergen und eine Nische für Kommunikation,<br />
Sozialisation und Kreativität zu finden.<br />
Nach den gehetzten Geschäften des Tages<br />
solle der Mensch – so das Ziel der Mathildenhöher<br />
Wohnästhetik – in seinem Hause Ruhe<br />
finden für Herz und Geist; sein Haus solle ihm<br />
„von dem veräußerlichten Leben der Straße<br />
… zu dem innerlichen, stillen, aber so viel reicheren<br />
der Familie … zurückführen.“<br />
Wir müssen heute die ästhetische Erziehung<br />
des Menschen ernster denn je nehmen, aber<br />
anders ernst nehmen. Die Ästhetik des Produkts<br />
ist zwar anzustreben, aber nicht oktroyierbar.<br />
Ästhetik ist in den Diskurs zu verlagern,<br />
in die Fähigkeit des Individuums, sich mit<br />
Form und Inhalt auseinanderzusetzen. Es geht<br />
nicht darum festzulegen, für was man sich<br />
entscheidet, sondern daß man sich entscheidet.<br />
Die diskursive Ästhetik akzeptiert nicht<br />
Vor-bilder, sondern setzt sich mit ihnen auseinander.<br />
Hochwertiges Halbzeug wird zum<br />
Endprodukt durch die Verarbeitung, die individuelle<br />
Ichstärke vornimmt. Die Verbrauchsund<br />
Gebrauchsprozesse werden zu ästhetischen<br />
durch Pfleglichkeit. Diese ist immer<br />
auch verbunden mit Entschleunigung, einem<br />
wesentlichen Element des kulturellen Umgangs<br />
mit den Dingen, der kommunikativen<br />
Begegnung mit dem anderen und den anderen.<br />
Das Schöne geschieht im Verweilen. Wir<br />
drehen den Wasserhahn auf; unbedacht lassen<br />
wir Wasser abfließen. Dabei ist etwas<br />
wesentliches in Sekundenschnelle geschehen:<br />
Das nicht gebrauchte reine Wasser ist, nur<br />
weil es abfloß, zum verbrauchten Wasser<br />
geworden. Beschleunigung hat Reflexion<br />
ersetzt. Zufall ohne Einfall wird zum Abfall.<br />
Diskursive Ästhetik will uns nicht belehren,<br />
sondern kommunikativ-lernfähig machen. In<br />
einem strukturellen Sinne kann Goethes „Wilhelm<br />
Meisters Wanderjahre“ Denkhilfe für<br />
eine moderne Werkstatt-Idee leisten, eine<br />
Werkstatt auf allen Ebenen, die eine diskursive<br />
Verbindung von Kunst und Handwerk anstrebt.<br />
Was der Mensch auch ergreife und<br />
handhabe, heißt es dort, der einzelne sei sich<br />
nicht hinreichend.<br />
„Alle brauchbaren Menschen sollen in Bezug<br />
untereinander stehen, wie sich der Bauherr<br />
nach dem Architekten, und dieser nach Maurer<br />
und Zimmermann umsieht. Und so ist<br />
denn allen bekannt, wie und auf welche Weise<br />
unser Bund geschlossen und gegründet sei;<br />
niemand sehen wir unter uns, der nicht<br />
zweckmäßig seine Tätigkeit jeden Augenblick<br />
üben könnte, der nicht versichert wäre, daß er<br />
überall, wohin Zufall, Neigung, ja Leidenschaft<br />
ihn führen könnte, sich immer wohl empfohlen,<br />
aufgenommen und gefördert, ja von Unglücksfällen<br />
möglichst wieder hergestellt finden<br />
werde.“<br />
Diese „Fortwanderungsrede“ Lenardos korrespondiert<br />
mit Odoards „Beharrungsrede“,<br />
wobei zu bedenken ist, daß es sich bei den<br />
Figuren der „Wanderjahre“ um Träger bestimmter<br />
Ideen handelt. Lenardos Auswanderergesellschaft,<br />
mit dem Ziel eines Kolonisationsprojekts<br />
in Amerika, spiegelt gewissermaßen<br />
einen transzendierenden, der Handwerkerbund<br />
Odoards mit dem Ziel eines<br />
Kolonisationsprojekts in einer europäischen<br />
Provinz einen immanenten Mobilismus; sie<br />
sind beide, je auf ihre Weise, im Aufbruch, um<br />
eine neue Synthese von Erwerbstätigkeit und<br />
Tätigkeitsarbeit zu finden, lebendige Arbeit im<br />
Reich der Freiheit zu „bewerkstelligen“.<br />
Ein Diktum von Ralf Dahrendorf kann die bildhafte<br />
Utopie des „Wilhelm Meister“ sozusagen<br />
Friedrich Nietzsche: „Zarathustra“, Buchausstattung<br />
von Peter Behrens, 1902<br />
auf den Begriff bringen und als Leitidee einer<br />
Ästhetik begriffen werden, die normative<br />
Überheblichkeit endgültig hinter sich läßt:<br />
„Wer irgendeinem Lebensbereich die Unfreiheit<br />
als unvermeidlich zugesteht, kann sich, ja<br />
wird sich bald in einer Welt finden, in der diese<br />
Unfreiheit alles beherrscht. Die Forderung der<br />
Freiheit ist immer absolut … Das heißt, daß<br />
die Forderung, die sein muß, alle Arbeit in<br />
Tätigkeit, alles heteronome Tun vom Menschen<br />
in autonomes Tun zu verwandeln. Noch<br />
der letzte Rest von Arbeit steht unter dem<br />
Anspruch der Verwandlung in Tätigkeit.“<br />
Die Utopien um die Jahrhundertwende waren<br />
solchen Ideen noch nicht verpflichtet; sie<br />
haben aber, da sie die Wiedergewinnung des<br />
Ästhetischen betrieben, deren Überholung<br />
ermöglicht: „Fortwanderung“ von der normativen<br />
hin zur diskursiven Ästhetik – im Tätigsein<br />
den Wert des Anderen fürs Eigene erfahrend.<br />
Um es anders zu formulieren: Die Utopien und<br />
Lebensgestaltungskonzepte um die Jahrhundertwende<br />
hatten – und da treffen sich die<br />
restaurativen mit den reformerischen Kräften<br />
– das Miteinander in der pädagogischen Provinz,<br />
im Sinne der Gelassenheit Goethes,<br />
zugunsten des präzeptorialen Gestus vergessen.<br />
Sie ahnten allerdings, auf vorindustrielle<br />
Vorbilder rekurrierend, die Notwendigkeit von<br />
Werk-statt. Sie konnten freilich inmitten einer<br />
zerrissenen Kulturlandschaft – zwischen<br />
Laboratorium und Atelier, Fabrik und Salon,<br />
Großstadt-Dschungel und einfachem Leben –<br />
Modernität nicht bewältigen, sondern sie nur<br />
hinwegprojizieren, verdrängen oder vor ihr<br />
flüchten.<br />
Ihre Ästhetik ist ein gewaltiger, auch gewaltsamer<br />
Entwurf ins Ungewisse, wohin man sich,<br />
die Versatzstücke der Tradition mitführend<br />
und nur formal sie verändernd, enthusiastisch<br />
wie von dunkler Vision bedrückt, begibt:<br />
Unruhevoll, gequält, besessen, verkannt,<br />
großartig, fragwürdig, vieldeutig, faszinierend<br />
– um Thomas Hanns Charakteristik Richard<br />
Wagners als Repräsentant des ausklingenden<br />
19. Jahrhunderts nochmals aufzugreifen.<br />
Indem wir diese Zeit „aufheben“ – bewahren,<br />
überwinden, und mit ihr sublim auseinandersetzen<br />
–, halten wir auch Vorschau auf das Fin<br />
de millénaire, das eine ganz neue ästhetische<br />
Herausforderung bereit hält: noch einmal den<br />
Versuch zu unternehmen, im Umgang mit den<br />
Menschen, Dingen, Kulturen und der Natur die<br />
Rettung des Guten, Schönen und Wahren (als<br />
ver<strong>net</strong>zter Trias) zu versuchen.<br />
Man mag das die Totalität des gelungenen<br />
Lebens nennen: mit Hilfe einer Ästhetik, die<br />
nicht postmodern die Anästhetisierung des<br />
Schönen betreibt, sondern ihre irritierende,<br />
sperrige, aleatorische Kraft ausübt (Singt die<br />
Lieder, die man aus eurem Munde nicht<br />
erwartet!), die nicht die Entzauberung der<br />
Welt mit Hilfe künstlerischer Farbigkeitsbedarfsdeckung<br />
kompensiert, sondern dieser<br />
Welt wieder ein Stück ihres Zaubers als ökologische,<br />
soziale und interkulturelle Gerechtigkeit<br />
zurückgibt – Terre des Hommes; die also<br />
in ihrer Fortwanderung aus den Systemzwängen<br />
zum humanen Tätigsein gelangt und so<br />
das unvollende Projekt der Aufklärung, auch<br />
einer fröhlichen Aufklärung, weiter und mit<br />
neuem Mut betreibt. Ob das gelingt?<br />
Prof. Dr. H. Glaser ist Kulturwissenschaftler, Publizist<br />
und Vorsitzender des Deutschen Werkbundes<br />
Teil I des Essays ist in der ZD-Ausgabe 72<br />
unter dem Titel „Die Spitzen und Stützen der<br />
Gesellschaft richten sich im Plüsch ein“<br />
erschienen.<br />
Die Stadt Darmstadt unterstützt das<br />
neue „Laboratorium der Zivilisation.<br />
Akademie Deutscher Werkbund“ (DWB)<br />
mit einem Zuschuß und durch die kostenlose<br />
Nutzung eines Büroraums im Haus Deiters<br />
auf der Mathildenhöhe. Am 23. Juni<br />
feierte die Akademie die offizielle Gründung<br />
des Laboratoriums in den Ausstellungshallen<br />
der Mathildenhöhe. Sie „ist eine Institution,<br />
die sich als internationaler Arbeitsverbund<br />
mit den Fragen der Gestaltung unserer<br />
Lebenswelt auseinandersetzt“ – heißt es<br />
in einer Ankündigung.<br />
Bereits 1984 beschloß der Werkbundrat die<br />
Einrichtung einer Akademie, „um Fragen<br />
des Designs zu diskutieren und zu entwickeln“,<br />
so DWB-Geschäftsführerin Regine<br />
Halter. Doch zu einer Gründung kam es<br />
zunächst nicht.<br />
Worum geht es? „Um einen interdisziplinär<br />
zu erarbeitenden Begriff Gestaltung, der<br />
einer grundsätzlichen Revision bedarf“, so<br />
Halter – dafür soll die Akademie „kontinuierliche<br />
Grundlagenarbeit“ betreiben, in<br />
einer Zeit, einer Zivilisation, die heute einen<br />
Umbruch erlebt, der „ähnlich radikal ist wie<br />
die Wandlung zur Industriegesellschaft in<br />
der Mitte des 19. Jahrhunderts“.<br />
Dabei will die Akademie keine Ausbildungsstätte<br />
sein, keine Arbeitsplätze auf Lebenszeit<br />
bieten, sondern in kleinen Gruppen<br />
arbeiten und mit Symposien, Publikationen<br />
und Ausstellungen an die Öffentlichkeit treten.<br />
Zweimal hat sie dies schon getan: bei<br />
einer ersten internationalen Konferenz in<br />
Darmstadt 1991, bei der es um Fragen dieser<br />
Einrichtung ging, und ebenfalls in<br />
Darmstadt, 1992, mit einer Tagung zum<br />
Thema „Die Zukunft des Raums“. Die dritte<br />
Konferenz soll vom 16. bis 19. September<br />
1994 in Bonn stattfinden. Thema: „Revision<br />
des Gebrauchs“.<br />
Geleitet wird die Akademie von Regine Halter<br />
und dem Darmstädter FH-Professor<br />
Bernd Meurer. Er sprach u.a. in seinem<br />
Vortrag voller aneinandergereihter Fremdwörterkolonnen,<br />
deren Sinn manchmal verlorenging:<br />
„Die zivilisatorischen Herausforderungen<br />
stellen das tradierte Verständnis<br />
von Wissenschaft, Technik und Gestaltung<br />
in Frage … Noch scheint die Umbruchsituation<br />
nach allen Seiten hin offen zu sein,<br />
aber es fehlt an Handlungsentwürfen, mit<br />
denen sich die ökologische und zivilisatorische<br />
Krise ohne Gefährdung der Demokratie,<br />
der Menschenrechte und der physikalischen<br />
Lebensgrundlagen beantworten<br />
ließe“.<br />
Der britische Architekturkritiker Martin<br />
Pawley äußerte die Vermutung, „daß die<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 16<br />
Die Krise der<br />
Zivilisation<br />
„Laboratorium der Zivilisation.<br />
Akademie Deutscher Werkbund“ –<br />
ein internationaler Arbeitsverbund<br />
mit Sitz in Darmstadt<br />
übliche Wahrnehmung der städtischen<br />
Umwelt am Ende des 20. Jahrhunderts<br />
möglicherweise auf einem gravierenden Irrtum<br />
beruht“. Seine These: „… was wir als<br />
Ausbreitung und Ausweitung des städtischen<br />
Raums wahrnehmen, (ist) vielleicht<br />
gar kein Wachstumsprozeß, sondern das<br />
Endstadium eines Verfallsprozesses“. Daß<br />
der öffentliche Raum heute „nichts positiv<br />
Besetztes“ mehr ist, wertet er als Indiz. Die<br />
Architektur („das Medium der Verherrlichung<br />
von Wirklichkeit“) unserer Städte<br />
nennt er „Ersatzteil-Bauten“: „Die aus verschiedenen<br />
Bestandteilen und Epochen zu<br />
einem homogenen, enthistorisierten Stadtbild<br />
verschmolzen sind“. Die Folgen, so<br />
Pawley: „der Verlust historischer Identität<br />
und das Verschwinden von Sein“.<br />
Heute bräuchte man nur ein Terminal, um<br />
scheinbar am Leben, an der Kommunikation<br />
teilhaben zu können, deshalb seien<br />
„städtische Form und städtischer Raum<br />
überflüssig geworden“. „Bürokomplexe<br />
und Einkaufszentren außerhalb der Städte<br />
…, sind urtümliche, unbewußte Vorläufer<br />
der städtischen Entwicklung von der Wirklichkeit<br />
zur Unwirklichkeit. In ähnlicher<br />
Weise gewöhnen wir uns durch die elektronische<br />
Aufhebung von Distanzen an den<br />
Tod des städtischen Raums und damit der<br />
Stadt, wie wir sie kennen. Die neue elektronisch-imaginäre<br />
Umwelt hat die Aufgabe<br />
übernommen, die der öffentliche Raum bisher<br />
innehatte. Der städtische Raum für Verkehr,<br />
Klatsch, Aufstand, Demonstration,<br />
Zurschaustellung, Parade und Spektakel,<br />
wird nicht mehr gebraucht. Er ist im Begriff,<br />
seinen Wert zu verlieren.“<br />
Pawley war auch Gastredner des Akademie-Symposiums<br />
1992 in Darmstadt – seine<br />
Rede ist exemplarisch für die abstrakte<br />
Kommunikationsebene, auf der sich dieser<br />
Arbeitsverband bewegen will. Bleibt abzuwarten,<br />
ob daraus irgendwann einmal wirklich<br />
konkrete, praktische – „gesellschaftsverbessernde“<br />
– Handlungsanleitungen<br />
erwachsen, oder ob er auf der abgehoben,<br />
auch verquasten Luftblasenebene stecken<br />
bleibt, die am „Otto Normalverbraucher“<br />
gänzlich vorbeigeht … vro<br />
Der Deutsche Werkbund e.V. (DWB) wurde 1907<br />
gegründet, bis 1986 hatte er seinen Sitz in Darmstadt,<br />
ab 87 in Frankfurt. Seine (ca. 1.700) Mitglieder kommen<br />
aus allen gestalterischen Berufen, vor allem aus<br />
Architektur und Design, aber auch aus der Literatur,<br />
dem Journalismus, aus Fotografie, Handwerk und aus<br />
der Industrie. Wichtigstes Motiv der Gründung war<br />
„eine technisch und funktional geprägte Ästhetik, die<br />
Chance der Massenproduktion für ein neues, demokratisches<br />
Zeitalter durchzusetzen“. Heute setzt sich<br />
der Werkbund „zunehmend mit den zerstörerischen<br />
Folgen der neuen technischen Kapazität auseinander.“<br />
Im Haus Deiters auf der<br />
Mathildenhöhe, dem Sitz der<br />
Galerie 19. Jahrhundert, kann<br />
die Akademie des Deutschen<br />
Werkbundes kostenlos einen<br />
Büroraum nutzen.<br />
(Foto: Heiner Schäfer)
E<br />
ine Ausstellung über Drogen also.<br />
Doch wer dabei nur an Heroin, Kokain<br />
und Haschisch denkt, der irrt. Unter der<br />
Regie von Frankfurts Gesundheitsdezernentin<br />
Margarethe Nimsch (Grüne) zeigt<br />
das städtische Drogenreferat im Volksbildungheim<br />
(an der Eschenheimer Anlage),<br />
daß in Frankfurt seit 1200 Jahren getrunken,<br />
geraucht, geschnüffelt und geschluckt<br />
wird. Drogen, das sind auch Heilkräuter,<br />
Alkohol, Tabak und Kaffee. Die Ausstellung<br />
zum Stadtjubiläum zeigt, daß Drogen-Verbote<br />
noch nie etwas genutzt haben und<br />
stets nur eine vorübergehende Erscheinung<br />
waren – „langfristig gesehen, bestimmen<br />
die gesellschaftliche Akzeptanz und nicht<br />
von oben eingesetzte Verbote den<br />
Gebrauch einer Droge“, so Nimsch. Und die<br />
Drogen-Schau ist ein Appell, Drogenhilfe<br />
und Drogenabhängigkeit vom Joch des<br />
Strafrechts zu befreien.<br />
Doch so weit ist unsere bundesdeutsche<br />
Drogenpolitik noch nicht, bis jetzt gilt das<br />
Motto: „Keine Macht den Drogen“ (woraus<br />
Keine Nacht<br />
ohne Drogen<br />
„Im Rausch der Zeit – 1200 Jahre Drogen in Frankfurt“:<br />
eine Ausstellung im Volksbildungsheim<br />
Drogenfreunde den Slogan, „Keine Nacht<br />
ohne Drogen“, gemacht haben) und „Kein<br />
Recht auf Rausch“, so das Bundesverfassungsgericht<br />
in seinem jüngsten Urteil über<br />
Cannabis.<br />
Im ersten Stock des Volksbildungsheims<br />
erheischen als erstes acht großformatige,<br />
farbige Portraits das Augenmerk. Marek<br />
Vogel zeigt acht Frankfurter Drogenabhängige<br />
als ganz „normale“ Menschen – und<br />
nicht als verwahrloste Junkies, die sich in<br />
der Taunusanlage Spritzen setzen. Auch<br />
diese Fotos räumen, wie die ganze Ausstellung,<br />
mit gängigen Klischees auf.<br />
Auf den mit vielen Texten und Abbildungen<br />
gefüllten Schautafeln läßt sich etwa eine<br />
Apothekerrechnung Goethes finden, aus<br />
der hervorgeht, daß der große deutsche<br />
Dichter im März 1805, im April 1806 und<br />
auch noch am 7. April 1818 Opium bezog.<br />
Zu seiner Zeit war diese Droge legal, relativ<br />
teuer und in den Kreisen von Literaten und<br />
Künstlern als Rauschmittel bekannt.<br />
1803 entdeckte der deutsche Apotheker<br />
Friedrich Wilhelm Sertürner Morphium.<br />
Einen Durchbruch schaffte diese Droge<br />
aber erst durch den Darmstädter Apotheker<br />
Heinrich Emanuel Merck, der 1827 begann,<br />
das Morphium in seiner eigens dafür<br />
gegründeten Fabrik in großen Mengen herzustellen,<br />
später auch Kokain als Lokalanästhetikum.<br />
Auch das Heroin ist ab 1898<br />
„Drogenabhängig“ (Foto: Katalog, Fred Prase)<br />
von einer deutschen Firma hergestellt worden:<br />
von Bayer. Zunächst galt es als nicht<br />
suchtbildendes Allheilmittel gegen Erkrankungen<br />
der Atemwege und wurde vor allem<br />
für Kinder angepriesen.<br />
Zu jeder Zeit, auch das macht die Ausstellung<br />
klar, hat der Staat kräftig an dem Drogengebrauch<br />
verdient: Im 14. Jahrhundert<br />
machten die verschiedenen Alkoholsteuern<br />
fast 75 Prozent der städtischen Einnahmen<br />
aus. Heute kassiert die Bundesregierung<br />
mehr als 6 Milliarden Mark aus der Branntund<br />
Schaumweinsteuer, beim Tabak sind<br />
es mehr als 19 Milliarden Mark.<br />
Und immer wieder kam es zu Ausschreitungen<br />
der Drogenkonsumenten, wenn die<br />
Stadtherren eine Preiserhöhung beschlossen:<br />
etwa bei den Frankfurter Bierkrawallen<br />
1873, bei denen 20 Menschen starben.<br />
Ergänzt werden diese Tafeln, die von der<br />
Flugsalbe der Hexen bis zum Heroin alles<br />
zeigen, mit allerlei Utensilien wie Destillen,<br />
Heilkräuter, Fixerbestecke …<br />
Presse im Zensur-Käfig<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 17<br />
So interessant, wichtig und notwendig die<br />
Drogenschau ist, sie läßt sich aufgrund der<br />
Fülle der Texte und Dokumente nicht innerhalb<br />
eines kurzen Ausstellungsbesuchs<br />
erfassen. Frau/Mann erstehe den Katalog,<br />
in dem sich die kommunale Drogengeschichte<br />
in Ruhe zu Hause nachlesen läßt:<br />
eine Fundstätte, die enthüllt, daß Drogenkonsumenten<br />
selten so an den Rand der<br />
Gesellschaft gedrängt worden sind, wie<br />
heute.<br />
Eva Bredow<br />
Die Ausstellung ist noch bis zum 12. August zu sehen.<br />
Der Katalog kostet 10 Mark. Abb. oben links und<br />
rechts: Jean Cocteau, aus dem Katalog zur<br />
Ausstellung: „Im Rausch der Zeit – 1200 Jahre<br />
Drogen in Frankfurt“, Hrsg.: Margarete Nimsch,<br />
Dezernentin für Frauen und Gesundheit der Stadt<br />
Frankfurt/Main, Drogenreferat<br />
„Als die Post noch Zeitung machte“ – eine Ausstellung im Deutschen Postmuseum<br />
„Die ‚gute‘ Presse“, Lithographie um 1847<br />
or allen andern aber kommet der<br />
„V Zeitungen Ursprung aus denen<br />
Postheusern her: und eben darum sind<br />
auch zugleich die Keyserl. Postmeister mit<br />
so vielen stattlichen Freyheiten und Gerechtigkeiten<br />
begabet/daß von ihnen der Lauf<br />
der Welt entleh<strong>net</strong> … Und schei<strong>net</strong> dieses<br />
Postwerk wol der wahre und eingendliche<br />
Anfang der Zeitungen zu seyn …“<br />
So schrieb Kaspar Stieler in „Zeitungs Lust<br />
und Nutz“ 1695. Das Frankfurter Postmuseum<br />
zeigt derzeit die Ausstellung „Als die<br />
Post noch Zeitung machte“ – aus Anlaß der<br />
1200-Jahr-Feier der Stadt – mit fast 350<br />
Originalexponaten.<br />
Das Konzept erschließt sich flüchtigen AusstellungsbesucherInnen<br />
nicht unbedingt,<br />
der Verantwortliche Klaus Beyrer erstellte<br />
deshalb ein Rundgang-Faltblatt, das Interessierte<br />
durch die Räume leiten soll.<br />
Das Konzept ist gut durchdacht: Im nach<br />
oben offenen Tiefgeschoß steht eine alte<br />
Druckpresse, aus der sich eine Stoffahne<br />
an die Decke windet, auf ihr die Namen der<br />
Frankfurter Postzeitungsverleger. Der<br />
erste: Johann von den Birghden, dessen<br />
Zeitung ab 1621 als „Unvergreifliche continuierende<br />
Post Zeitungen wie solche bey<br />
den Ordinari Posten einkommen“ bereits<br />
wöchentlich<br />
erschien – und<br />
später unter dem<br />
Titel „Frankfurter<br />
Postzeitung“ noch<br />
bis zum Jahr 1866.<br />
Eine Zeit, in der<br />
diese Zeitung 25<br />
Mal ihren Titel und<br />
ihr Format änderte.<br />
Zeitung, darunter<br />
verstand man<br />
zunächst mal nur<br />
Nachrichten, Neuigkeiten<br />
– die die<br />
Postbeamten, als Nachrichtenträger und<br />
-übermittler, immer als erste erreichten. Da<br />
lag es wohl nah, daß mit Erfindung des<br />
Buchdrucks bald Postmeister darangingen,<br />
diese Nachrichten zu sammeln, zusammenzufassen,<br />
in eigener Regie zu drucken und<br />
schließlich auch noch auf den eigenen<br />
Postwegen zu vertreiben – gegen Entgelt<br />
natürlich.<br />
Die erste handgeschriebene Zeitung ist aus<br />
dem Jahr 1536 bekannt, damals korrespondierten<br />
Kaufleute; es entstanden Schreibbüros,<br />
die die Blätter mit einer Auflage von<br />
30 Stück verbreiteten. Im 17. Jahrhundert,<br />
so Schätzungen, sollen 15 Prozent aller Zeitungen<br />
von Postmeistern herausgegeben<br />
worden sein. Bereits im 18. Jahrhundert<br />
erschienen viele dreimal wöchentlich, ab<br />
1790 gab es die geschätzten Blätter auch<br />
samstags, mit Anfang des 19. Jahrhunderts<br />
kamen die Feuilletons hinzu. Durch die<br />
Feuilletons wurden Zeitungen von der<br />
schlichten Nachrichtenwieder- und -weitergabe<br />
zu einem Medium der Meinungsbildung.<br />
Die erste nachgewiesene Tageszeitung<br />
erschien in Leipzig allerdings schon<br />
1650.<br />
Im ersten Stock hängt eine große Tafel, mit<br />
der seit dem 16. Jahrhundert wichtigsten<br />
Handelsroute von Antwerpen bis nach<br />
Venedig. Neben den Städten ist jeweils die<br />
erste dort (nachgewiesene) Zeitung abgebildet.<br />
Die ältesten Titelblätter stammen aus<br />
„Frankfurter Postzeitung“, 23. Februar 1853, 31x22 cm (Alle Abbildungen sind dem Katalog entnommen)<br />
„Reitender und hinkender Bote“, Kupferstich von Johann Martin Will. Um 1750, 19x24<br />
dem Jahr 1609 und sind in den Städten<br />
Straßbourg und Wolfenbüttel erschienen.<br />
Von dort aus führt der Gang durch die Jahrhunderte,<br />
bis 1866, jenem Jahr, als die<br />
„Frankfurter Postzeitung“ ihr Erscheinen<br />
einstellte.<br />
„Das Postmuseum“, so Beyrer, „sammelt<br />
Exponate seit 120<br />
Jahren“. In einem<br />
Raum hängen Originale<br />
der ersten<br />
25 Zeitungen, die<br />
regelmäßig, aktuell<br />
und überparteilich<br />
einmal<br />
wöchentlich erschienen<br />
sind. Da<br />
findet sich etwa<br />
der Holzschnitt<br />
aus dem Jahr<br />
1679 mit dem<br />
Titel: „Die verwan-<br />
delte Krieges-Last in höchst erwünschte<br />
Friedens-Lust“.<br />
Mit Originalen reich bebildert sind auch die<br />
Themen Zeitungsvertrieb, Nachrichtenwege<br />
und die Zeitungslesesitten. Einen Raum<br />
hat Beyrer als „Zensur-Käfig“ eingerichtet,<br />
von der Decke hängen viele Scheren mit<br />
Augen herab. Sie entstammen einer Lithographie<br />
aus dem Jahr 1847 mit dem Titel:<br />
„Die ,gute’ Presse“ (siehe Abbildung). Im<br />
Käfig auch die Titelseite der „Kölnischen<br />
Zeitung“ vom 27. Mai 1817. Unter dem Zeitungskopf<br />
dieser Ausgabe steht nur ein<br />
Wort: „Deutschland“, darunter, daneben ist<br />
alles weiß – Zeichen eines stummen Zensurprotests.<br />
Eva Bredow<br />
Die Ausstellung läuft noch bis zum 4. September.<br />
Ein die Ausstellung begleitendes Buch unter dem<br />
selben Titel ist im Anabas-Verlag erschienen, (Hrsg.):<br />
Klaus Beyrer und Martin Dallmeier. Im Postmuseum<br />
kostet es 28 Mark, im Buchhandel 48. Es enthält<br />
Abbildungen von rund 90 Exponaten und rund 15<br />
Beiträge zu Post, Presse, Zensur, Nachrichtenwegen,<br />
Druck, Papier, Öffentlichkeit u.a.<br />
RAUMGESTALTUNG<br />
DARMSTADT<br />
ROSSDÖRFER PLATZ
Das Leben als flüchtiger Traum<br />
Ödön von Horváths „Kasimir und Karoline“ im Staatstheater<br />
Sebastian Hufschmidt als Kasimir und Leonore Endreß als Karoline in Horváths gleichnamigen Stück (Foto: B. Aumüller)<br />
Die große Liebe ist es nicht, scheint es<br />
nie gewesen. Man hat diese Beziehung<br />
mit Bequemlichkeit, Konventionen<br />
und Vagheit zusammengeleimt. Wenn die<br />
Beziehung auseinandergeht, liegt es eigentlich<br />
nur daran, daß sie ein Eis essen möchte.<br />
Das überrascht niemanden; Kasimir<br />
nicht, Karoline nicht. Die Geschichte der<br />
beiden ist mager, ihr Schicksal so interessant<br />
wie die Zahnschmerzen des Bademeisters<br />
im Hallenbad oder der Fleck auf der<br />
Hose der Straßenbahnfahrerin der Linie 8.<br />
In Ödön von Horváths 1932 uraufgeführtem<br />
Volksstück „Kasimir und Karoline“ bildet<br />
eine Nacht auf dem Münchener Okto-<br />
t’s more than music – it’s environ-<br />
„Iment!“ Das ist einer der kernigen Werbesprüche<br />
des weltweit operierenden<br />
MUZAK-Konzerns. MUZAK sorgt international<br />
für mehr als Musik, nämlich tatsächlich<br />
für „environment“, also Umgebung, Atmosphäre,<br />
Lebensgefühl. Wie macht MUZAK<br />
(Konzernsitz: Brüssel) das? Mit der allgegenwärtigen<br />
Klangtapete in Restaurants,<br />
Schnell-Imbissen, Aufzügen, Supermärkten<br />
oder Linien-Jets. Die ganze Welt wird mit<br />
Tonkonserven beliefert – Kunst als sanft<br />
beruhigender, synthetischer Dauerlutscher<br />
fürs Ohr mit pervertiertem Nutzcharakter.<br />
„Kürzlich haben wir“, heißt es in einem firmeninternen<br />
Bulletin, „einen Schlachthof<br />
besichtigt. Anscheinend gab es da Probleme<br />
mit der Blutgerinnung beim Schlachtvieh.<br />
Das abgespielte MUZAK-Programm entspannt<br />
die Tiere, während sie zur Schlachtbank<br />
geführt werden …<br />
Selbst bei Ausbruch eines Atomkrieges verfügt<br />
die MUZAK-Corporation über eigene<br />
Stromgeneratoren, um einen Ausfall des<br />
Basic-Programms auszuschließen und zu<br />
gewährleisten, daß die noch funktionierenden<br />
Einrichtungen weiterhin unser Programm<br />
empfangen“. Da sind wir ja nun groß<br />
erleichtert, wenn schon verstrahlt, dann<br />
wenigstens „entspannt“.<br />
Der Exkurs in Sachen MUZAK ist geboten,<br />
weil die MUZAK-Karriere-Story symbolischen<br />
Charakter trägt, weil auch die demokratischen<br />
Gesellschaften und deren Medien der Kunst<br />
wieder eindeutige Funktionen zuweisen und<br />
sie mehr und mehr in MUZAK-Manier bestellen,<br />
gebrauchen, fördern und bezahlen. Dabei<br />
ist eine Sichtweise durchaus legitim, denn<br />
Künstler sind tatsächlich Dienstleister in einer<br />
allseits proklamierten „Dienstleistungsgesellschaft“.<br />
Sie sorgen für einen ganzen Katalog<br />
unentbehrlicher Über-Lebensmittel, als da<br />
wären Reflexion, Transzendenz, Hinterfragung,<br />
auch Dekoration, Unterhaltung, Ästhetik.<br />
Nur sollte dies ausschließlich die offensive<br />
Selbstbeschreibung künstlerischer Aktivität<br />
sein. Der Künstler als moderner Dienstleister<br />
ist kein Anbieter, der auf Bestellung hin kreativen<br />
Vollzug meldet, womöglich samt geordertem<br />
Wunschergebnis.<br />
berfest den Rahmen, in dem hinter der Trivialität<br />
der Vergnügungen der Ziellosigkeit<br />
der handelnden Figuren und der Alltäglichkeit<br />
der Dialoge die strukturelle Gewalt<br />
einer patriarchalen Gesellschaft sichtbar<br />
wird.<br />
Der Chauffeur Kasimir ist arbeitslos geworden.<br />
Sebastian Hufschmidt zeigt ihn als ein<br />
verunsichertes Männlein, das nicht nur den<br />
Arbeitsplatz, sondern auch seine Rolle als<br />
nützliches Mitglied der Gesellschaft und<br />
potentieller Ernährer einer Frau verloren<br />
hat. Zwischen Selbstmitleid, unterschwelliger<br />
Aggression und bemühtem Zynismus,<br />
der Überlegenheit vortäuschen soll, stol-<br />
Was hat dies nun wieder mit Bitterfeld zu<br />
tun? Überhaupt Bitterfeld – ist das nicht diese<br />
arme, von Umweltsünden gezeich<strong>net</strong>e Chemie-Stadt<br />
in der ehemaligen DDR? Richtig.<br />
Aber nicht nur. Für die SED hatte Bitterfeld<br />
noch eine ganz andere Bedeutung und Wichtigkeit.<br />
Die 1. und 2. „Bitterfelder Konferenz“<br />
bemühte sich um sozialistisch-parteitreue<br />
Regularien für die „Kulturschaffenden“ des<br />
Arbeiter- und Bauernstaates, das war 1959<br />
und 1964. „Bitterfeld“ als SED-Projekt war<br />
der irrige, von hoch oben verord<strong>net</strong>e Versuch,<br />
die Teilung der Gesellschaft in sogenannte<br />
„einfache Menschen“ und sogenannte<br />
„Intellektuelle“ zu überbrücken – eine<br />
politisch-ideologisch hochbornierte, lebensfremde<br />
„kleine Kulturrevolution“ Marke DDR.<br />
Die 3. „Bitterfelder Konferenz“ fand unter<br />
gänzlich anderen Vorzeichen Anfang Mai<br />
1992 statt. Zwar nach der deutschen Vereinigung,<br />
aber im gleichen „Kulturpalast“ wie<br />
1959 und 1964. Geladen hatten 1992 die<br />
Friedrich-Ebert-Stiftung, die Aktion für mehr<br />
Demokratie (AMD) sowie die Evangelische<br />
Akademie Sachsen-Anhalt. Titel des personell<br />
schillernd zusammengesetzten Diskurses:<br />
„Kunst – Was soll das?“<br />
Das nun vorliegende Buch zum Diskurs ist<br />
ein großes, faszinierend authentisch belassenes<br />
Protokoll einer Konferenz, die sich<br />
hochintellektuell mit sich selbst und der Rolle<br />
ihrer Teilnehmer befaßt. Kulturkritiker,<br />
Medienköpfe und Künstler aller Sparten<br />
debattieren über eine uralte Frage (Was soll,<br />
darf, muß die Kunst?) mit ewigjungem Elan<br />
und tradierter Ergebnislosigkeit. Was Freimut<br />
Duve, Friedrich Schorlemmer, A. R.<br />
Penck, Klaus Staeck, Christoph Hein oder<br />
Hans-Jürgen Rosenbauer sagen, sich einreden,<br />
sich an den Kopf werfen – es hat direkt<br />
mit der deutschen Realität zu tun, indirekt<br />
aber mit dem grundsätzlichen Disput, wie<br />
„gesellschaftlich“ die Kunst gegen Ende des<br />
medialen 20. Jahrhunderts nun eben sein<br />
sollte oder müßte.<br />
Bei einer auf weite Strecken als Gesprächsprotokoll<br />
angelegten Dokumentation echot<br />
manche definitorische Unschärfe den nachlässigen<br />
Umgang mit Sprache in der Öffentlichkeit<br />
ganz allgemein. Künstler sind eben<br />
pert das arme Schwein über den Rummelplatz.<br />
Seine Verunsicherung macht ihn<br />
eifersüchtig – und Eifersucht macht klein.<br />
Kleiner und kleiner werden Karolines Worte<br />
auf der Goldwaage gewogen, gewendet,<br />
gedeutet, gedreht: warum sie dies sagt,<br />
was dabei betont, nicht sagt und wie sie<br />
verschweigt, dabei meint und behauptet<br />
und eigentlich doch, wenn sie nur ehrlich<br />
wäre – was aber Frauen natürlich nie sind.<br />
Mit so einem hat Frau es schwer, mit sich<br />
hat es Karoline leichter. Leonore Endreß’<br />
Karoline ist ein gutmütiges Geschöpf, ein<br />
bißchen unreflektiert, ein wenig naiv, nicht<br />
zu empfindlich, lebenshungrig. Das Leben,<br />
das ist Eis essen und noch ein Eis essen,<br />
Achterbahnfahren und noch einmal Achterbahnfahren,<br />
auf einem Pferd reiten und<br />
noch einmal auf einem Pferd reiten. Das<br />
Leben sind die kleinen Vergnügungen – nur<br />
öfter. „Wenn’s mir schlecht geht“, sagt sie<br />
und schaut zum Himmel, „dann denke ich<br />
mir immer: was ist ein Mensch gegen einen<br />
Stern.“<br />
Und das ist der schmollende Proletarierchauvi<br />
Kasimir gegen Karolines Jahrmarktalternative<br />
Eugen Schürzinger: harmlos.<br />
Helmut Zhubers Schauspielleistung macht<br />
den schleimenden Buckler Schürzinger zur<br />
heimlichen Hauptrolle des Stücks. Stets<br />
devot und angepaßt leise ist der in kotbraune<br />
Hose und taubenschißgraues Jackett<br />
gewandete Widerling (Kostüme: Kristine<br />
Upesleja), der Prototyp des unpolitischen<br />
Untertanen. Der eislutschende Helmut Zhuber<br />
garantiert beim bloßen Zusehen verklebte<br />
Hände.<br />
Karoline geht also mit dem aus allen Lefzen<br />
triefenden Kinderkonfektionszuschneider<br />
Schürzinger Achterbahnfahren, Kasimir<br />
begeg<strong>net</strong> dem Merkl Franz und seiner Erna.<br />
Hat Schürzinger gelernt, geduckt auszuharren,<br />
einzustecken und darauf zu warten,<br />
einen Schwächeren zu treffen, hat der Merkl<br />
Franz das kriminelle Fach gewählt. „Der<br />
Merkl Franz prügelt seine Erna, obwohl sie<br />
ihm pariert“, sagt Karoline. Der Merkl Franz<br />
steckt seine Finger auch schon mal in seiner<br />
Erna Bier und ärgert sie damit. Das<br />
braucht der Merklfranz, daß er sich gut<br />
fühlt. Timo Berndt spielt das männliche<br />
Wrack mit Knasterfahrung und Tuberkulose<br />
in einem bordeauxroten Siebzigerjahreanzug.<br />
Und seine Erna? Elisabeth Degen als mürrisch-mäkelnde<br />
Watschenfrau hat das<br />
patriarchale System verinnerlicht, es ist ihr<br />
Kunstpraxis – pure Selbstbefriedigung<br />
Ein kritisches Plädoyer über Tonkonserven hin zur Kulturkritik<br />
nicht mit Intellektuellen in eins zu setzen, Politik<br />
nicht mit Ideologie und schon gar nicht die<br />
BRD mit dem Kapitalismus. Oder ist es etwa<br />
die Lieblingsbeschäftigung der Intellektuellen,<br />
Protest zu erklären und Kritik zu üben? Nein,<br />
nicht alle, sondern nur wenige, avancierte<br />
Köpfe, die sich als Kind ihrer Zeit fühlen und<br />
dies zur Verpflichtung nehmen, mit an der<br />
Ausgestaltung ihrer Zeit teilzuhaben, sind am<br />
magischen Kunst-Dreieck Verweigern –<br />
Widerstehen – Mitgestalten beteiligt.<br />
Protest und politisch substantielle Kritik scheinen<br />
den Künstlern seit gut einem Dutzend Jahren<br />
in der BRD eher Fremdworte, denn Lieblingsvokabeln.<br />
Und so hat denn Autor Heleno<br />
Saña (Darmstadt) exakt recht, wenn er die<br />
Kunst in deutschen Landen – gerade auch die<br />
Literatur und die bildende Kunst – als „weitgehend<br />
entsozialisiert“ maßregelt, weil vornehmlich<br />
„mit dem eigenen Ich“ beschäftigt, „dem<br />
armselig gewordenen abendländischen Ich“.<br />
René Descartes, einer der Stifter der Moderne,<br />
sprach da noch vom Gesetz, das verpflichte,<br />
das allgemeine Wohl im Auge zu behalten.<br />
Heute hat das Gros der Kunst-„Produzenten“<br />
im wesentlichen die Introspektion im Auge,<br />
gespickt mit selbsttherapeutischen Imperativen.<br />
Der heutige Künstler – sofern ein Intellektueller<br />
und mit dem Fundus der Aufklärung<br />
hantierend – hat sein kritisches Potential sträflich<br />
privatisiert. Es ist zum rein subjektiven<br />
Ereignis verkümmert, kommt als versteckte<br />
Rechthaberei im Schmollwinkel daher. Da diese<br />
real existierende Selbstverliebtheit einem<br />
Megatrend der gesellschaftlichen Wirklichkeit<br />
entspricht, muß sie selbst wieder zum Thema<br />
werden. Wie in Bitterfeld.<br />
Sicher, Künstler gelten als „größte Egoisten“<br />
und sind keine „geschichtliche Veränderungsagentur“<br />
(Oskar Negt), aber die Frage,<br />
ob es so sinnreich ist, angesichts Sarajevo<br />
und Kigali ausschließlich entzückend egophile<br />
Avantgarde-Aquarelle zu malen, große<br />
monochrome Farbwände in hehren Kulturtempeln<br />
einem maßlos gelangweilten Publikum<br />
zu „verkaufen“ oder Ich-Trübsal blasende<br />
Lyrismen im sozialen Abseits zu verfassen,<br />
diese Frage muß erlaubt sein.<br />
„Widerstand hat keinen Markt“, konstatiert<br />
A. R. Penck. Das wäre ja auch das allererste<br />
Mal, das sich kritikwürdige Zustände Kritik<br />
und Widerstand herbeisehnten. Nein, der<br />
Marktgedanke paßt nicht, wenn es um den<br />
Prozeß der Aufklärung geht, der ständig<br />
befeuert werden muß. Öffentlich gemachte<br />
Vernunft ist fast immer quertreibender<br />
Natur, ethisch fundierte Opposition ist eine<br />
Lebensform praktizierter Verantwortung.<br />
Und: Analyse ist Arbeit, weil mit dem Aufbau<br />
konkreter eigener Positionen und Maximen<br />
verknüpft, von denen aus Kritik erst Sinn<br />
macht. Für den kritischen Künstler ist ein an<br />
Sozialiät ausgerichteter innerer Kompaß des<br />
Denkens und Fühlens eine Voraussetzung.<br />
Bequem macht es sich der pointiert Mahnende<br />
gerade nicht. Mitschwimmer brauchen<br />
andererseits keine Belobigung. Und da die<br />
ehemalige Staatsführung der DDR eben<br />
jenen intellektuellen – besser: moralisch<br />
amputierten scheinintellektuellen – Mit-dem-<br />
Strom-Schwimmern eine Inflation an Orden<br />
in die Brust gepiekst hatte (und die „Nestbeschmutzer“<br />
ins Gefängnis warf, wie Angelika<br />
Mechtel angemessen ungeschminkt in Erinnerung<br />
rief), deshalb ist dieser Bitterfelder<br />
Diskurs auch weiterhin nötig. Die 4. Konferenz<br />
ist projektiert.<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 18<br />
eingebleut worden: „Wenn ich ein Mann<br />
wär’, dann tät ich keine Frau anrühren. Ich<br />
ertrag’ den Geruch nicht.“ Wenn der Merkl<br />
Franz nach dem nächsten Autoeinbruch<br />
wieder eingelocht worden ist, wird sich der<br />
Kasimir um seine Erna kümmern. Bis dahin<br />
jedoch muß Karoline erst noch dem Kommerzienrat<br />
Rauch und dem Landgerichtsdirektor<br />
Speer begegnen. Roman Silberstein<br />
als Rauch und Siegfried Heinrichsohn als<br />
Speer zelebrieren die in die Jahre gekommene<br />
Männerfreundschaft, in der Alkohol<br />
eine tragende Rolle spielt. Wie sich die alten<br />
geilen Böcke an Karolines junges Fleisch<br />
herantatschen, was im Hippodrom geschieht,<br />
wieso Schürzinger seinem Chef<br />
Rauch die Braut überläßt, ob der seinen<br />
Herzanfall überlebt und wie der Landgerichtsdirektor<br />
ein paar Zähne verliert, das<br />
und noch mehr erleben die ZuschauerInnen<br />
in zwei kurzweiligen Stunden.<br />
Es ist viel los auf der Bühne, denn neben<br />
Maryam El-Ghussein, Claudia Fenner, Aart<br />
Veder, Eduardo Bender und Peter Hackenberger<br />
in kleineren Rollen, sind ein Haufen<br />
Leute als Statisterie aufgeboten. Regisseur<br />
Tobias Lenel – wirkungsvoll unterstützt von<br />
Bühnenbildner Bernd Damovsky – bietet<br />
zum einen den Jahrmarkt als opulenten<br />
Augenschmaus, denunziert zum anderen<br />
die voyeuristische Schaulust des Publikums.<br />
Die Drehbühne leistet gute Dienste<br />
dabei, zum Beispiel wenn wir bei der Zurschaustellung<br />
mißgebildeter Menschen<br />
nach der Drehung einen Blick auf das Publikum<br />
werfen dürfen. Lemurenhaft hetzen die<br />
Oktoberfestgäste hin und her, ab und an<br />
erscheint der Zeppelin als ein schönes<br />
Wunder der Technik – unerreichbar. „Es<br />
geht immer besser“, übt Eugen Schürzinger<br />
am Schluß mit seiner Liebsten Karoline das<br />
Motto der Kleinbürger.<br />
Für das Schauspiel des Staatstheaters mag<br />
dieser Satz gelten. Ensemble, Stück und<br />
Regie haben zu einer sehenswerten Symbiose<br />
gefunden. Die nächsten Aufführungen<br />
sind am 15. und 16. Juli.<br />
P. J. Hoffmann<br />
Kunst – Was soll das? Mit Erich Kästner zu<br />
antworten: „Ja die Bösen und Beschränkten<br />
sind die Meisten und Stärkeren, aber spiel<br />
nicht den Gekränkten, bleib am Leben, sie zu<br />
ärgern.“ Aber es geht selbstverständlich um<br />
viel mehr als bloßes Ärgern. Kunst als Technik,<br />
Ästhetik oder lärmendes Entertainment<br />
allein ist zuwenig. Der intellektuelle Künstler<br />
als mental privilegierter Außenseiter ist ideell<br />
gefordert. Fehlen gänzlich Wille oder Fähigkeit<br />
zu einem überindividuellen Reflexionsniveau,<br />
regiert ein dröges L’art pour l’art oder<br />
eben der kleine, private Exhibitionismus im<br />
Elfenbeinturm. Der mag ganz lustig sein und<br />
begrenzt unterhaltungsfähig, ist aber irrelevant.<br />
Kunstpraxis muß über die pure künstlerische<br />
Selbstbefriedigung hinausreichen.<br />
Kunst ist Politik mit anderen Mitteln und eben<br />
nicht MUZAK. Ergreifen die „gesellschaftlich“<br />
denkenden Künstler und Intellektuellen doch<br />
klar und offensiv die Rolle des Buhmanns.<br />
Sie sorgen für ein Denken in Alternativen und<br />
die visionäre Option: Viel Feind, viel Ehr.<br />
Paul-Hermann Gruner<br />
Klaus Staeck, Eugen Blume, Christoph Tannert<br />
(Hrsg.), „Kunst – Was soll das? Die Dritte Bitterfelder<br />
Konferenz“, Steidl-Verlag, Göttingen, 240 Seiten, viele<br />
S/W-Abb., 28 Mark<br />
Intendant Girth will gehen<br />
(Foto: hs)<br />
Peter Girth will gehen, wenn sein Vertrag<br />
als Intendant am Staatstheater<br />
Darmstadt 1996 ausläuft. Darüber habe, so<br />
meldet das Hessische Ministerium für Wissenschaft<br />
und Kunst mit der Ministerin Evelies<br />
Mayer (SPD) und dem Oberbürgermeister<br />
Peter Benz (SPD) bei einem Gespräch<br />
am 4. 7. „Einvernehmen“ bestanden.<br />
Aus der „FAZ“ (vom 6.7.) zitieren wir: „Der<br />
Intendant beklagte eine ,Diktatur der Verantwortungslosigkeit‘<br />
in Darmstadt. Leute<br />
ohne Sachverstand meldeten sich in seinem<br />
Haus und in der Stadt zu Wort.“ Dem<br />
ist wohl nichts mehr hinzuzufügen …<br />
Außer: Monatelang hatte Darmstadt einen<br />
Nachfolger für Intendant Brenner gesucht,<br />
bevor Girth gefunden werden konnte. Wie<br />
lange wird es wohl diesmal dauern? Ob<br />
überhaupt noch einer (oder eine?) in diese<br />
Provinzstadt kommen mag? L.v.S.
ZD IM WÜRGEGRIFF<br />
Die veröffentlichte Meinung beeinflußt entscheidend die öffentliche Meinung.<br />
Sage mir, was du liest, und ich sage dir, was du denkst.<br />
Wer das bezweifelt, braucht nicht mehr weiterzulesen. – Seit viereinhalb<br />
Jahren gibt es nun die „Zeitung für Darmstadt“, eine erfrischende, wohltuende<br />
und notwendige Ergänzung zum „Darmstädter Echo“, dem mit der<br />
Liquidation des „Darmstädter Tagblatts“ das lokale Meinungsmonopol in<br />
den Schoß gefallen war. Eine mediale Konkurrenz zum „DE“ ist die ZD nie<br />
gewesen, kann sie auch nicht sein, denn eine Tageszeitung und eine Zweiwochenzeitung<br />
sind völlig verschiedene Dinge. Wohl aber gibt es eine<br />
inhaltliche Konkurrenz. Die Tageszeitung arbeitet insgesamt oberflächlicher,<br />
sie schöpft die meist über Agenturen kommenden aktuellen Informationen<br />
einfach ab und präsentiert sie. Eine Zweiwochenzeitung bietet keine<br />
Tagesaktualität, dafür aber bringt sie Exemplarisches, liefert Erklärungen,<br />
Hintergründe, Zusammenhänge, sie bohrt tiefer und baggert Dinge aus, die<br />
dem Leser normalerweise verborgen bleiben.<br />
Die inhaltliche Konkurrenz zwischen dem großen „DE“ und der kleinen<br />
ZD hat aber noch einen anderen Grund. Während das „Echo“, bei allen<br />
Unterschieden innerhalb der Redaktion, sich insgesamt regierungsfromm<br />
verhält, sich manchmal schwerhörig oder gar taub stellt, weil es verwachsen<br />
ist in die verfilzten, von einer einzigen Partei beherrschten lokalen<br />
Strukturen, zeigte sich die ZD von Anfang an alternativ und respektlos, ein<br />
unbestechliches Forum für basisdemokratische Initiativen, und ihre Kritik<br />
an den Etablierten war weitgehend, keine Partei konnte sich vor der spitzen<br />
Feder sicher fühlen. Politische Positionen kamen hier zu Wort, die beim<br />
gutbürgerlichen lokalen Meinungsmonopolisten keine Chance gehabt hätten.<br />
Die ZD hat gezeigt, was eine „unabhängige und überparteiliche“ Zeitung<br />
wirklich ist.<br />
Von Anfang an aber hat man von verschiedenen Seiten der ZD Knüppel<br />
zwischen die Beine geworfen, ihre Tätigkeit mit vielfältigen Mitteln und<br />
Methoden behindert: Informationsblockade, Anzeigenboykott, Druck auf<br />
Anzeigenkunden, Verweigerung von Krediten, Verweigerung öffentlicher<br />
(bezahlter) Bekanntmachungen, Mitarbeiter-Abwerbung, Gerichtsprozesse<br />
– ein Lehrstück für den Mißbrauch politischer Macht. Seit geraumer Zeit<br />
setzt man nun (dieser Eindruck verdichtet sich immer mehr) auf „Beleidigungsklagen“,<br />
ein todsicheres Mittel, um eine kleine, finanzschwache Zeitung<br />
zu strangulieren. Jetzt, wo die ZD die versteinerten Darmstädter Verhältnisse<br />
(ein bißchen) zum Tanzen gebracht und unsere Amigos, zumal im<br />
Wahljahr, in eine gewisse Unruhe versetzt hat, soll sie zum Schweigen<br />
gebracht werden.<br />
Und die Reaktion auf diese Bedrohung der ZD? Beim Sammeln von<br />
Unterstützungsunterschriften konnte ich viel Hilfsbereitschaft feststellen.<br />
Viele (auch solche, die von der Existenz der ZD bisher gar nichts wußten)<br />
zeigten sich erschrocken angesichts der Gefahr, daß es diese Zeitung nicht<br />
mehr geben könnte. Andere fühlten sich animiert, die ZD zu abonnieren<br />
oder selber Unterschriften zu sammeln. Leider bekam ich aber auch Stimmen<br />
zu hören, die ihre Unterstützungsunterschrift nicht geben wollten; die<br />
Begründungen waren voller Blauäugigkeit oder kleinkarierter Provinzialität,<br />
verschrobene Meinungen, Irrungen und Wirrungen auch ansonsten fortschrittlich<br />
Denkender. Manche(r) Linke(r) hat noch nicht die alte Weisheit<br />
begriffen, daß die herrschende Meinung die Meinung der Herrschenden ist<br />
und daß deshalb die Existenz der ZD eine politische Machtfrage darstellt,<br />
weil in diesem Blatt die linksparlamentarischen Kräfte und die außerparlamentarische<br />
Bewegung unzensiert und undiffamiert zu Wort kommen.<br />
Und wenn die ZD kaputt wäre? Dann kann das „Echo“ ungestört seinen<br />
Fest-und-Jubel-Journalismus weiter betreiben und so viel Kritik üben, wie<br />
man es ihm erlaubt. Kritische Leserbriefe hätten keine Chance mehr, wenn<br />
überhaupt, unverstümmelt zu erscheinen. Antikriegspositionen, antifaschistische<br />
und antirassistische Positionen, sofern sie nicht nur der Imagepflege<br />
dienen, und konsequentes ökologisches Denken hätten kein Forum<br />
mehr. Unsere Darmstädter Amigos könnten, mit Blick auf ihre ungestörten<br />
Pfründe, sich beruhigt zurücklehnen und im Glanz der öffentlichen Beliebtheit<br />
sonnen. Niemand würde ihre Schweinereien ausbaggern. Und das für<br />
lange. Denn ein so fähiges Team wie das der ZD (das sich seit Jahren freiwillig<br />
selber ausbeutet), gibt es hier erst wieder in vielleicht zwanzig Jahren.<br />
Und so lange möchte ich nicht warten.<br />
Dr. Artur Rümmler<br />
Sehr geehrter Michael Grimm,<br />
ich bitte Dich hiermit, weiter die Zeitung für Darmstadt herauszugeben,<br />
deren Erscheinung nicht einzustellen.<br />
Ich halte eine zweite Pressestimme in Darmstadt nicht nur für erforderlich,<br />
ja bei der einseitigen, pro Stadtregierung gerichteten Berichterstattung und<br />
der ständigen Zensur und Themenbeschneidung der Leserbriefe des<br />
„Darmstädter Echos“, für zwingend erforderlich.<br />
Ich möchte bemerken, ich stehe inhaltlich nicht zu jedem Artikel in Deiner<br />
Zeitung, bin nicht mit allem einverstanden. Manchmal ist mir das Vokabular<br />
etwas zu extrem gewählt, die Wortwahl etwas hart, aber die Berichte<br />
machen im allgemeinen einen gut recherchierten Eindruck.<br />
Eine zweite Zeitung, wie die ZD, bereichert die Berichterstattung einer<br />
Stadt/Region und ist oft wichtig für die Meinungsbildung, da ein zweiter<br />
Journalist oft ein Thema von einer anderen Seite sieht, beurteilt und aufrollt.<br />
Auch gefallen mir an der ZD, das Recherchieren vom Filz und Komplott<br />
in der Darmstädter Stadtregierung inkl. Heag … Diese Seite fehlt (verständlicherweise)<br />
bei dem „DE“ komplett. Daher möchte ich mich allen<br />
Forderungen der ZD anschließen und wünsche viel Erfolg für die 10.000<br />
Unterschriften.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Michael Steidel<br />
Stellungnahme zu meiner Unterschrift:<br />
Ich bin grundsätzlich ein Vertreter der Meinungsfreiheit, trotzdem habe ich<br />
einige Bedenken, Ihren Forderungskatalog zu unterschreiben. Das Eintreten<br />
gegen rechtswidrige Übergriffe der Staatsorgane und für die wirtschaftliche<br />
Gleichbehandlung der ortsansässigen Zeitungen durch die<br />
Stadtverwaltung ist eine Selbstverständlichkeit. Andererseits sind mir einige<br />
Berichterstattungen über politische und religiöse Minderheiten in Ihrer<br />
Zeitung sehr unangenehm in Erinnerung, die die Abgabe einer Solidaritätserklärung<br />
nur mit sehr gemischten Gefühlen erlauben.<br />
BRIEFE ZUR ZD …<br />
Einmal war es ein Artikel von Peter Horn „Aids-Infizierte internieren – eine<br />
unwahre Behauptung?“, in dem über den Bund gegen Anpassung berichtet<br />
wurde. Ich war Augenzeuge der Eskalation der Gewalt gegen den Bund<br />
gegen Anpassung in Mainz. Den Höhepunkt bildete die gewaltsame Verhinderung<br />
einer Veranstaltung des Bundes gegen Anpassung durch eine<br />
angetrunkene Menschenmenge (kostenloser Glühweinausschank!) unter<br />
den Scheinwerfern eines Kamerateams von „Sat 1“. Kurz zuvor fand eine<br />
Studentenversammlung mit dem einzigen Tagesordnungspunkt „Wer ist<br />
der Bund gegen Anpassung?“ statt. Eine Vertreterin des Bundes gegen<br />
Anpassung versuchte zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen. Ihr wurden<br />
gerade zwei Minuten Redezeit zugestanden. Daraufhin verließen die Mitglieder<br />
des Bundes gegen Anpassung unter dem Gejohle der Menge „Auf<br />
Wiedersehen, auf Wiedersehen …“ und Fußgetrampel den Saal.<br />
Ähnliches konnte in Darmstadt beobachtet werden. Aber für Sie bestand<br />
keine Notwendigkeit beide Seiten zu hören, obwohl schon Tage vor der<br />
angekündigten Veranstaltung Steckbriefe („Wanted“) plakatiert wurden<br />
und die Plakate des Bundes gegen Anpassung entweder abgerissen oder<br />
mit dem Aufkleber „Fällt aus“ überklebt wurden.<br />
Nichts gesehen? Nichts gehört? Und nur eine Seite befragt! Ich zitiere<br />
ihren Autor Peter Horn:<br />
„Der BgA … ist Mitte der achtziger Jahre unter anderem in Göttingen und<br />
1989 in Mainz aufgefallen – die dortige ASten sollten darüber Bescheid<br />
wissen. Jedenfalls scheint es immer rabiat zuzugehen bei den Veranstaltungen<br />
des ‚Bundes’. Was im einzelnen dort gelaufen ist (oder nicht), das<br />
wollen wir lieber nicht zitieren.“<br />
Zur zweiten unangenehmen Berichterstattung habe ich mich schon in<br />
einem Leserbrief geäußert (ZD 71). Ich gebe äußerst ungern eine Solidaritätserklärung<br />
für eine Zeitung ab, die Hofberichterstattung für die Gegner<br />
der Meinungsfreiheit betreibt.<br />
Warum dann doch? Einerseits wegen der Einmaligkeit (eigentlich Selbstverständlichkeit)<br />
in der deutschen Presselandschaft, daß Ihr Leserbriefe<br />
nicht zensiert. Andererseits wegen den seltenen Fällen, in denen Ihr auch<br />
mal einem Angegriffenem ein Forum bietet. Als positives Beispiel sei die<br />
Veröffentlichung der Bilder des italienischen Malers Mario Sironi genannt.<br />
Peter Betscher<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
mit Bestürzung habe ich in der Ausgabe 71 der ZD gelesen, daß dieser Zeitung<br />
das Ende droht; zu mächtig scheint die Allianz der Widerstände, von<br />
denen allerdings oft genug berichtet wurde – nur mit diesen Konsequenzen<br />
rech<strong>net</strong>e ich doch nicht.<br />
So ist das in der Welt – man hört und liest von allerlei Schlechtigkeiten,<br />
und wenn dann im engeren Lebensumfeld etwas passiert, ist man doch<br />
ziemlich berührt. So fühle ich mich persönlich betroffen – eigentlich auch<br />
getroffen, denn was nach Ihren Schilderungen da abläuft, ist ein eklatanter<br />
Eingriff in die Pressefreiheit, mithin eine gröbliche Mißachtung der Grundwerte<br />
unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Wer das duldet, ist<br />
selbst schuld; und doch: Bleibt uns anderes übrig? Die Stimme zu erheben<br />
mag ja heilige (oder erste) Bürgerpflicht sein – allein, was nutzt es? Politischer<br />
und/oder finanzieller Einfluß ist allemal wirksamer als hehre Solidaritätsbekundungen,<br />
doch solche Einflußmöglichkeiten stehen offensichtlich<br />
denen näher, die freie Meinungsäußerungen und Meinungsvielfalt in<br />
den Medien mit kritischer Berichterstattung nur dann dulden, wenn es<br />
ihnen nicht schadet – also offenbar nie.<br />
Wie auch immer, ich werde – wie hoffentlich auch viele andere kritische<br />
Leser(innen) der ZD, die weitere Entwicklung aufmerksam verfolgen und<br />
fordere diejenigen, die der ZD andauernd Knüppel zwischen die Beine werfen,<br />
öffentlich auf, Stellung zu nehmen, warum sie das tun und was sie zu<br />
den Vorwürfen bzw. der Berichterstattung zu sagen haben.<br />
Ob es um Beleidigungen geht (an „Ehrenrührigem“ gibt es weit Schlimmeres)<br />
oder um gravierendere Dinge – wenn die öffentlichen Belange betroffen<br />
sind, scheint mir die Gerichtsbarkeit der falsche Verhandlungsplatz zu<br />
sein. Das gute alte Forum ist ein geeig<strong>net</strong>eres Feld zur Gegenüberstellung<br />
von gegensätzlichen, die Allgemeinheit betreffenden Meinungen; und wer<br />
setzte sich für so ein Forum ein, wenn nicht die ZD?<br />
Mit freundlichem Gruß<br />
Dieter Wolf<br />
Lieber Michael Grimm,<br />
ein blaublütiger, britischer Geldsack hat m. E. die zutreffende Charakterisierung<br />
von Pressetätigkeit unter den Bedingungen des real existierenden<br />
Kapitalismus gegeben. In zynischer Offenheit (man befand sich unter Seinesgleichen)<br />
meinte er sinngemäß, Pressefreiheit bedeute die Freiheit der<br />
200 reichsten Männer, Ihre Meinung gedruckt zu sehen.<br />
Den Zustand der etablierten und bequemen HOFberichterstattung kennt in<br />
Darmstadt und Umgebung jeder, der das „DE“ liest – publizistische<br />
Gegen„macht“ ist daher möglich und nötig; um so mehr, da es heute nicht<br />
unbedingt einen offiziellen Zensor (obwohl auch das immer häufiger vorkommt)<br />
braucht, um eine mißliebige Stimme im „Zeitungswald“ zum<br />
Schweigen zu bringen.<br />
In diesem Sinne,<br />
mit freundlichen Grüßen,<br />
Roland Vogel, Antifa-Archiv Georg Fröba<br />
Liebe ZD’ler<br />
leider ist es mir bis heute nicht gelungen, Menschen von der Wichtigkeit<br />
einer ZD zu überzeugen. „Lieber nicht“, war die Reaktion, wenn ich um<br />
Unterschrift bat.<br />
Ich hoffe für Euch! Bin begeisterte Abo-Empfängerin und fände eine Einstellung<br />
dieser Zeitung in vielerlei Hinsicht bezeichnend.<br />
Seid herzlich gegrüßt<br />
Diana Birkenfeld<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 19<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
Ihre Ankündigung, die ZD einzustellen, ist für Darmstadt eine Katastrophe.<br />
Ich habe die Zeitung von drei Seiten erlebt, als Abonnent, als Autor und als<br />
Ziel ihrer Recherchen. Abonnent bin ich von Anfang an und ich habe mir<br />
eine „Lobby für den Sozialbereich“ erhofft. Autor war ich leider nur sehr<br />
kurz, und ich habe eine kritische, sehr anspruchsvolle aber sehr kooperative<br />
Redaktion erlebt. Bei Recherchen in der Institution, in der mein Arbeitsauftrag<br />
liegt, und die ihrerseits Lobby ist für Randgruppen, hat die Zeitung<br />
Sensibilität und detailgetreue Wiedergabe der Realität bewiesen. Insgesamt<br />
das, was Darmstadt braucht und man/frau von Presse erwartet. Die<br />
Aggressivität, mit der Sie manchmal berichten, trifft nicht immer meinen<br />
Stil. Dies darf aber nicht zu Zensur führen, denn das ist der Zerfall der<br />
Demokratie. Der Appell geht an alle Darmstädter. Kaufen oder Nicht-Kaufen<br />
soll das Überleben der Zeitung bestimmen, nicht Zensur oder Opportunismus.<br />
Karl-Heinz Schön<br />
Wenn ich halbmonatlich aus der provinziellen, noch nicht ganz gleichgeschalteten<br />
Zeitungslandschaft Berlins in die provinzielle, fast gleichgeschaltete<br />
Zeitungslandschaft Ostthüringens zurückkehrte, fand ich regelmäßig<br />
die „Zeitung für Darmstadt“ im Briefkasten. Jedesmal hob sich<br />
sogleich meine Stimmung: siehe da; es gibt noch Flecken im Lande dampfender<br />
Dumpfheit, wo sich aufmüpfige Blätter und deren Macher halten<br />
können. Da packt einen doch gleich der Optimismus, und man hält die<br />
deutsche Menschheit nicht nur für bieder, ausländerfeindlich, lesefaul,<br />
braunfleckig und lernschwach. Nun soll, wie man lesen und hören muß, die<br />
„Zeitung für Darmstadt“ exekutiert werden. Muß ich jetzt meinen – lebensnotwendigen<br />
– Optimismus gänzlich aus dem eigenen, notwendigerweise<br />
wachsenden, Bauch nehmen?<br />
Matthias Biskupek, freier Schriftsteller, Rudolstadt<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
der Aufruf zur Unterstützung der ZD ist für mich der Anlaß, anstelle des<br />
vorformulierten Protestes einen (eigenen) Brief zu (unter)schreiben.<br />
Ich unterstütze die Forderung nach einer zweiten (Tages)-Zeitung für<br />
Darmstadt.<br />
• In der Zeitung für Darmstadt sehe ich den Versuch, ein Stück Öffentlichkeit<br />
in der Stadt wiederzubeleben. Da die Wiedergabe von Ereignissen<br />
immer den (subjektiven) Blickwinkel der JournalistInnen beinhaltet und<br />
nicht alle Aspekte der (objektiven) Wirklichkeit einbeziehen kann, ist ein<br />
breites Spektrum der Berichterstattung aus unterschiedlicher Perspektive<br />
über die vielfältigen Ereignisse in der Stadt wünschenswert.<br />
• Weiterhin kann eine zweite Zeitung in Darmstadt durch die Veröffentlichung<br />
von Leserbriefen, die manchmal auch „länger als 30 Zeilen à 60<br />
Anschläge“ sein können, einen größeren Kreis von Bürgerinnen und Bürgern<br />
in einen lebendigen Diskussionsprozeß einbeziehen.<br />
• Auch unter dem Gesichtspunkt des Wettbewerbs in einer Marktwirtschaft<br />
ist eine zweite lokale Zeitung notwendig, vor allem wenn mit dem so schillernden<br />
Gut „Information“ gehandelt wird.<br />
Ich lese seit Herbst vergangenen Jahres als Neu-Darmstädter die Zeitung<br />
für Darmstadt und habe sie als Informationsquelle schätzen gelernt. Längere<br />
Berichte, welche auch Hintergründe beleuchten, ermöglichen den<br />
LeserInnen im Zusammenhang mit anderen Presseerzeugnissen und der<br />
eigenen Wahrnehmung eine selbständige Urteilsbildung. Erwähnen möchte<br />
ich die Beiträge über die Frauenbeauftragte der Stadt Darmstadt (ZD Nr.<br />
56), den Artikel über den Ausländerbeirat (ZD Nr. 60) und die Fotodokumentation<br />
über das Heag-Hallen-Vorhaben (ZD Nr. 70).<br />
Eine kritische Anmerkung möchte ich zur Zeichnung auf der Titelseite der<br />
Ausgabe Nr. 71 vom 10.6.94 machen. Ich halte eine derartige bildliche Darstellung<br />
für gefährlich, in der Hinsicht, daß auf diese Art und Weise Feind-<br />
BILDer aufgebaut und verfestigt werden. Außerdem klangen in der Vergangenheit<br />
manche Beiträge in der ZD eher verzweifelt, anklagend, als daß sie<br />
zur Mitarbeit und zum Engagement in der Stadt ermutigt hätten. Ermutigende,<br />
Möglichkeiten aufzeigende Beiträge sollten in der Zeitung für Darmstadt<br />
ihren Platz finden.<br />
Ich hoffe, daß dieses einzelne Votum für eine zweite Zeitung in Darmstadt<br />
mit zu deren Erhalt beitragen kann.<br />
Freundliche Grüße,<br />
T. Schumann<br />
Lieber Michael,<br />
in den letzten Monaten habe ich die politischen Geschehnisse in Darmstadt<br />
nicht näher verfolgen können, da mich andere Probleme beschäftigt haben.<br />
Immerhin habe ich bei meinen Arbeitskollegen bzw. -kolleginnen einige<br />
Unterschriften für die ZD sammeln können. Dabei habe ich festgestellt, daß<br />
kaum jemand die ZD kannte.<br />
Übrigens bezweifle ich, ob die Erhöhung des Einzelverkaufspreises auf<br />
5,50 Mark der ZD nutzen wird. Meines Erachtens ist damit ein Schwellenwert<br />
überschritten, der manche Interessenten vielleicht vom Kauf abhalten<br />
wird. Ich hätte einen Preis von unter 5 Mark für besser befunden.<br />
Nichtsdestotrotz bleibt die ZD für mich die wichtigste Informationsquelle<br />
über das Geschehen in Darmstadt. Ich würde es als einen großen Verlust<br />
empfinden, wenn die ZD ihr Erscheinen einstellen müßte. Für die nächste<br />
Ausgabe wünsche ich mir eine kritische Berichterstattung zum Heinerfest<br />
und dem ganzen bierseeligen Drum und Dran.<br />
Mit den besten Wünschen<br />
Karl-Heinz Dehner<br />
Hallo Herr Grimm,<br />
für diesen Text waren nicht mehr Unterschriften zu bekommen. Insbesondere<br />
der letzte Absatz hat viele abgeschreckt. Wenn Sie die Unterschriften-<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite<br />
DESIGNERTEPPICHE<br />
DARMSTADT<br />
ROSSDÖRFER PLATZ
sammlung fortsetzen wollen, sollten Sie über einen moderateren Vorspann<br />
nachdenken, der das Ziel, eine zweite Zeitung für DA, mehr in den Vordergrund<br />
stellt. Dennoch viel Erfolg.<br />
Christian Fleischmann<br />
Sehr geehrter Michael Grimm,<br />
ich muß zugeben, ich weiß nun gar nicht, ob Sie gerade an der letzten Ausgabe<br />
der ZD arbeiten – ich hoffe doch nicht. Wie ich in meinem gesamten<br />
Umfeld jedenfalls vernehme, ist die Einsicht in die Notwendigkeit eines<br />
zweiten Print-Presse-Organs für Darmstadt unumstritten.<br />
Verbunden mit den besten Grüßen<br />
Paul-Hermann Gruner<br />
Lieber Michael Grimm,<br />
gerade in letzter Zeit hat sich ja wieder die Notwendigkeit einer unzensierten<br />
Berichterstattung gezeigt. Wer hätte ohne die ZD mitbekommen, daß<br />
die Darmstädter Polizei wieder gegen Andersaussehende und ihre Befehlsgeber<br />
gegen Andersdenkende (Hanf-Aktionen) vorgehen?<br />
Niemand hätte gemerkt, daß die Pressefreiheit in Darmstadt nur „pro forma“<br />
existiert, hättet Ihr sie nicht gesucht. Wer hätte Termine und Standpunkte<br />
von politischen Basisinitiativen in Darmstadt veröffentlicht, wenn<br />
nicht die ZD?<br />
Eine Gegenöffentlichkeit in Darmstadt aufzubauen, war sicher schwer, der<br />
Kampf gegen den Filz raubte Euch sicher einige Kräfte. Die politische Wirkung<br />
der ZD war nicht so hoch, wie es viele angenommen hatten. Schade,<br />
aber Darmstadt braucht die ZD. Ich wünsche Euch die nötige Energie und<br />
das Geld, die ZD doch noch weiter erscheinen zu lassen.<br />
Gute Nacht, schlafende Beamtenstadt!<br />
Tilman Heller<br />
„Oh Herr, schenk’ uns das Fünfte Reich, das Vierte ist dem Dritten gleich!“<br />
Leider bin ich nicht in der Lage zu werben, da ich 80 Prozent schwerstbehindert<br />
bin, u. a. Arthrose (unheilbar) in Rücken, Händen, Füßen; am 11.7.<br />
nun 43. Kopfhöhlenoperation; bin 68 Jahre alt! – Wir brauchen eine echte<br />
Demokratie – statt einer Maulkorbdemokratie! Volksabstimmung wie in<br />
der Schweiz, 50.000 Mark für Abgeord<strong>net</strong>e im Jahr ohne Pension!<br />
Viel Erfolg!<br />
Ihre Gertrud Scheuermann<br />
Lieber Michael Grimm,<br />
es wäre schlimm für Darmstadt, wenn die Zeitung für Darmstadt gezwungen<br />
sein wird, ihr Erscheinen einzustellen. Ich kann mir Darmstadt ohne<br />
diese Zeitung nicht mehr vorstellen; nur noch das „Darmstädter Echo“, das<br />
über viele Sachen in der Vergangenheit falsch oder unwahr berichtet hat,<br />
als einzige häufig erscheinende Zeitung in Darmstadt zu haben, das ist für<br />
mich beängstigend.<br />
Die „Zeitung für Darmstadt“ muß weiter erscheinen. Es darf keine Zensur<br />
der Stadt- und Landesregierung geben. Die Politiker müssen die Finger von<br />
dem Presserecht lassen. Es darf kein Presserecht geben, das nur für regierungsfreundliche<br />
und einseitige Zeitungen, wie das „Darmstädter Echo“,<br />
gilt, nicht aber für kritische und vielfältige Zeitungen, wie die Zeitung für<br />
Darmstadt.<br />
Ich habe Angst vor einer Stadt Darmstadt, wo sich eine Regierungspartei<br />
alles leisten kann, ohne Widerstand zu spüren und in der es ein Pressemonopol<br />
gibt, deren Besitzer Informationen zensieren können, wie sie wollen<br />
und eng mit Politik verstrickt und verfilzt sind, ich habe Angst vor Darmstadt<br />
ohne zweite Zeitung.<br />
Ich wünsche mir, daß Ihr irgendeine Möglichkeit seht, die Zeitung für<br />
Darmstadt weiterzumachen.<br />
In dieser Hoffnung,<br />
Christian Mierse<br />
Sehr geehrter Herr Grimm,<br />
anbei übersende ich Ihnen eine fast volle und eine fast leere Unterschriftenliste<br />
für die ZD und zwei neue Abos. Ich hoffe, diese Unterstützung hilft,<br />
damit die ZD weiter erscheinen kann!!!!<br />
Mit freundlichem Gruß<br />
J. Hehner-Anders<br />
Dies ist also die letzte Ausgabe der einzigen politischen, kritischen Zeitung<br />
in Darmstadt, die mit so großen Zielen vor mehr als vier Jahren als Alternative<br />
zum dumpfen Politfilzlokalblättchen gestartet war. Ab morgen gibt es<br />
sie nicht mehr, das „Echo“ erscheint wieder in absolutistischem Sonnenglanz,<br />
das Parteienkartell, das inzwischen auch die Grünen scheinbar<br />
mühelos in sich aufgesogen hat, ist wieder ungestört.<br />
Und warum? Wieso hat die ZD keine Zukunft? Sicher, kein Geld für die Veröffentlichung<br />
von Bekanntmachungen der Stadt und ihrer Unternehmen, ja<br />
auch Zensur, sublim und verdeckt, und die dünne Auftragslage für Anzeigen<br />
in der Zeitung – all das sind gute Gründe, die einer kleinen Zeitung<br />
leicht das Genick brechen können, doch all diese Gründe müßten noch<br />
nicht das Aus für die ZD bedeuten, wenn es in Darmstadt noch eine kritische<br />
Öffentlichkeit gäbe, die an einer Alternative zur Hofberichterstattung<br />
des „Echos“ wirklich interessiert wäre. Nur ein Bruchteil der 9.000 Leser<br />
(oder soll man sie besser Käufer nennen) ist bereit auch nur eine Unterschrift<br />
zu leisten, die lediglich die Solidarität mit dem Projekt ZD zum Ausdruck<br />
gebracht hätte, geschweige denn zu entschiedeneren Aktionen,<br />
öffentlichem Protest in irgendeiner Form.<br />
BRIEFE ZUR ZD …<br />
Da müssen sich die Leute von der ZD natürlich fragen, wofür mach’ ich das<br />
hier eigentlich, wen interessiert das noch, wenn nicht einmal der feste Käuferkreis<br />
wirklich am Fortbestand der Zeitung interessiert ist.<br />
Ein Signal ist das allemal, ein Signal auch, das weit über die ZD hinausweist<br />
auf die politische Stimmung im Land. Ich will gar nicht einmal so<br />
weit gehen, wie der Herausgeber der ZD, der die heutige politische Situation<br />
immer wieder mit dem Ende der Weimarer Republik vergleicht, aber die<br />
Lethargie, die bleierne Lethargie, die über dem ganzen Land liegt, die ist<br />
tatsächlich unverkennbar und das stille, gleichgültig hingenommene Aus<br />
der Zeitung für Darmstadt liegt unter anderem in dieser dumpfen Leere<br />
begründet. Kritische Öffentlichkeit wird fast ausschließlich als Konsum<br />
gelebt in diesem Land, durch den Erwerb von „Spiegel“, „taz“ und ZD hat<br />
man seinen Beitrag geleistet, ich lese „Taz“, bin kritisch, links, was wollt ihr<br />
mehr? War das mal anders?<br />
Gab’s die breite kritische Öffentlichkeit, in einer Zeit, bevor Kohl die geistig<br />
moralische Wende verkündete (und so erfolgreich durchsetzte), in einer<br />
Zeit vor dem Mauerfall, als es noch nicht Konsens war, daß das westliche<br />
Regierungssystem ohnehin ohne Alternative ist? (Das ist ja heute Konsens,<br />
obgleich kein ernstzunehmender Linker die DDR jemals als Alternative zur<br />
Alt-BRD pries), ach und so weiter, ich schweife ja ab, weiß ja auch nicht,<br />
wie anders es mal wirklich war, nur daß die Zeitung für Darmstadt einfach<br />
so sang- und klanglos verschwinden soll, von ihren Lesern, Käufern und<br />
Abonnenten mit einem kurzen Achselzucken verabschiedet, das ist verdammt<br />
schade.<br />
Und daß Darmstadt in unabsehbare Zukunft hinein von diesem spießig,<br />
dumpfen Parteien- und Medienkartell regiert wird, ist eine Schande.<br />
Volker Weidermann<br />
Sehr geehrter Herr Grimm,<br />
Sie haben mit einem allgemeinen Rundschreiben unter dem 18. Juni 1994<br />
um Unterstützung für die Herausgabe der „Zeitung für Darmstadt“ gebeten.<br />
Wir können Sie uneingeschränkt unterstützen, wo es darum geht, daß<br />
Sie von öffentlichen Stellen die Informationen bekommen, die auch anderen<br />
Zeitungen und Medien regelmäßig zur Verfügung gestellt werden. Sie<br />
werden es zu schätzen wissen, daß die IHK Darmstadt Ihnen ihre Presseinformationen<br />
regelmäßig liefert.<br />
Ihren anderen Forderungen können wir uns jedoch nicht anschließen, da<br />
hier Fragen der rationellen Verwendung öffentlicher Mittel angesprochen<br />
sind, die sehr sorgfältig mit anderen Gesichtspunkten abzuwägen sind.<br />
Mit freundlichen Grüßen,<br />
Dr. Volker Merx,<br />
Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Darmstadt<br />
Armutszeugnis für Darmstadt<br />
Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten<br />
protestiert entschieden gegen die offensichtlichen Absichten aller im Stadtparlament<br />
vertretenen Parteien, der Zeitung für Darmstadt die wirtschaftliche<br />
Basis zu entziehen. Die Weigerung, sie gleichberechtigt mit anderen<br />
Zeitungen zu behandeln und amtliche Anzeigen und Pressemitteilungen ihr<br />
vorzuenthalten, verstößt gegen die Pressefreiheit und die demokratischen<br />
Prinzipien.<br />
Gerade die Zeitung für Darmstadt veröffentlichte in der Vergangenheit<br />
Berichte und Kommentare unabhängig von Parteizugehörigkeit und wirtschafltichen<br />
Interessen und trug wesentlich zur Meinungsvielfalt in Darmstadt<br />
bei. Umfassend und engagiert hat sie über Rassismus und Neofaschismus<br />
berichtet und die wachsenden rassistischen Tendenzen in Darmstadt<br />
sowie die Übergriffe der Darmstädter Polizei gegen Menschen anderer<br />
Hautfarbe angeprangert.<br />
Sollte die Zeitung für Darmstadt ihr Erscheinen einstellen müssen, bedeutet<br />
diese Tatsache für unsere Heimatstadt ein Armutszeugnis, für das auch<br />
die Magistratsmehrheit die Verantwortung übernehmen muß.<br />
Philipp Benz, VVN/BdA Kreisverband Darmstadt-Dieburg<br />
Sehr geehrter Herr Grimm!<br />
Ihren Brief erhielt ich am 15.6.94. Vielen Dank!<br />
Es ist ein bißchen schwierig, Ihrem Anliegen, dessen sich kein Anwalt<br />
annehmen wollte, gerecht zu werden. Die Schwierigkeit besteht unter anderem<br />
darin, daß alle gewünschten Rechte und Einnahmen auch den Stadtteilblättern,<br />
dem „Wochenblatt“ etc. zur Verfügung gestellt werden müßten –<br />
denn alle diese Blätter erscheinen nicht täglich, wohl aber periodisch.<br />
Wir sind leider nach wie vor in dem Dilemma, daß es keine zweite Darmstädter<br />
Tageszeitung gibt.<br />
Die CDU-Fraktion hat das Ihre getan, um Gleichberechtigung zu wahren.<br />
Alle unsere Pressemeldungen gehen Ihnen zu; zu unseren Pressegesprächen<br />
erhalten Sie gleichermaßen eine Einladung.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Karin Wolff, CDU-Fraktionsvorsitzende<br />
Lieber Herr Grimm,<br />
in den vergangenen Tagen haben Sie die FDP-Stadtverord<strong>net</strong>enfraktion<br />
sowie alle unsere Fraktionsmitglieder angeschrieben mit der Bitte, in den<br />
zuständigen Gremien dafür einzutreten, daß die Hauptsatzung für die Vergabe<br />
der Bekanntmachungen der Stadt Darmstadt dahingehend geändert<br />
wird, daß die öffentlichen Bekanntmachungen nicht nur an das „Darmstädter<br />
Echo“, sondern auch an die „Zeitung für Darmstadt“ gegen Entgelt vergeben<br />
werden.<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 20<br />
Wir haben in unserer Fraktion ausführlich über Ihr Anliegen diskutiert,<br />
zumal uns seit jeher an der Pressefreiheit und Pressevielfalt gelegen ist.<br />
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unser Eintreten für die Aufrechterhaltung<br />
des „Darmstädter Tagblatts“, das leider keinen Erfolg hatte. Wir<br />
schätzen es auch sehr, daß Sie die Pressemeldungen der Darmstädter Parteien<br />
und Fraktionen unzensiert in Ihrer Zeitung abdrucken.<br />
Wir geben jedoch zu bedenken, daß bei einer wirklichen Gleichbehandlung<br />
aller in Darmstadt erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften außer Ihrer<br />
zweiwöchentlich erscheinenden „Zeitung für Darmstadt“ noch weitere Zeitungen<br />
bei der Vergabe der öffentlichen Bekanntmachungen berücksichtigt<br />
werden müßten. Dies würde beispielsweise dann auch für das „Darmstädter<br />
Wochenblatt“, die „Arheilger Post“, den „Blickpunkt Eberstadt“, den<br />
„Eberstädter Lokalanzeiger“, die „Bessunger Nachrichten“ u. a. m. gelten.<br />
Eine Vergabe der öffentlichen Bekanntmachungen gegen Entgelt an all diese<br />
wöchentlich/zweiwöchentlich/monatlich erscheinenden Zeitungen wäre<br />
mit erheblichen Mehrkosten für die Stadt und damit letzten Endes für uns<br />
Steuerzahler verbunden. Bei der derzeitigen Haushaltslage unserer Stadt<br />
hält meine Fraktion eine solche Mehrausgabe für nicht vertretbar.<br />
Deshalb bitte ich Sie um Verständnis, daß die FDP-Fraktion den von Ihnen<br />
gewünschten Antrag auf Änderung der Hauptsatzung nicht in die Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung<br />
einbringen wird.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Ihr Dr. Dierk Molter, Fraktionsvorsitzender<br />
Dringlichkeitsantrag<br />
Die Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung möge beschließen:<br />
Der § 7, Absatz 1, der Hauptsatzung der Stadt Darmstadt wird wie folgt<br />
ergänzt: … und der „Zeitung für Darmstadt“.<br />
Begründung:<br />
Die Öffentlichen Bekanntmachungen der Stadt sollten möglichst viele Bürgerinnen<br />
und Bürger Darmstadts erreichen. Darmstädter Echo und Zeitung<br />
für Darmstadt werden von unterschiedlichen Gruppen der Darmstädter<br />
Bürgerschaft gelesen. Deshalb sollten die Bekanntmachungen der Stadt in<br />
beiden Zeitungen veröffentlicht werden, um eine größere Verbreitung dieser<br />
Information sicherzustellen.<br />
Nach dem §7 Der Hessischen Gemeindeordnung erfolgen Öffentliche<br />
Bekanntmachungen in einer (…) mindestens einmal wöchentlich erscheindenen<br />
Zeitung. Der Herausgeber der Zeitung für Darmstadt hat zugesagt,<br />
diese Voraussetzung zu erfüllen.<br />
Helmut Dreßler, Stv., Daniela Wagner, Stve., Doris Fröhlich<br />
Der Antrag ist nicht eingereicht worden red.<br />
Sehr geehrter Herr Grimm,<br />
Ihr oben angegebenes Schreiben nebst anhängendem Unterschriftenblatt<br />
ist für mich eine Zumutung. Ich gebe beide unkommentiert zurück.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Gerd Grünewaldt, Stadtrat<br />
Die Zeitung für Darmstadt wird nicht mehr erscheinen.<br />
Der letzten Aufforderung des Herausgebers an die Stadt Darmstadt, den<br />
Boykott dieses kritischen Blattes zu beenden und die ihr dringend notwendigen<br />
Finanzen durch die Vergabe der öffentlichen Bekanntmachungen der<br />
Stadt, die bisher nur das Darmstädter BenzEcho erhält, zukommen zu lassen,<br />
wurde nicht nachgegeben.<br />
Ganz zu schweigen von der alles (vor allem das „Darmstädter Echo“ und<br />
Die Grünen) beherrschenden SPD, war noch nicht einmal die Regierungspartei<br />
Die Grünen bereit, sich für den Erhalt der Zeitung einzusetzen.<br />
Obwohl sie noch vor kurzem ankündigten, alles zu unternehmen, um die<br />
Stadt, die sie regieren, dazu zu bewegen, auch (und wenigstens) eine<br />
regierungskritische Zeitung zu unterstützen, hielten sie ihr Versprechen<br />
nicht. Sie waren nicht willens, auf der Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung am<br />
letzten Donnerstag einen Antrag zu stellen, daß die Freiheit der Presse auch<br />
endlich mal wieder in Darmstadt nicht mehr nur auf dem Papier (einer Zeitung)<br />
zu stehen habe. Schließlich habe man zum Darmstädter BenzEcho<br />
endlich ein „ganz gutes Verhältnis“ (Günter Mayer), das man nicht auf’s<br />
Spiel setzen wollte.<br />
So begründeten Die Grünen, nicht an der Demonstration gegen das „Darmstädter<br />
Echo“ teilnehmen zu wollen. Anzunehmen ist, daß sie wieder einmal<br />
Krach mit ihrem Koalitionspartner befürchteten. Schade, denn auch<br />
hier hätten Die Grünen erneut Gelegenheit gehabt, ihre Haltung zum<br />
Grundgesetz zu verdeutlichen, wie ihr Koalitionspartner dies ja vor kurzem<br />
forderte. Diesmal dazu, wie sie zur Pressefreiheit stehen. Anscheinend stehen<br />
sie wieder einmal nicht so ganz hinter ihren einstigen Forderungen und<br />
Wünschen, in der Zeitung für Darmstadt eine zweite und eine unabhängige<br />
Zeitung in Darmstadt unterstützen und etablieren helfen zu wollen.<br />
Schließlich will man ja in Darmstadt Reformpolitik betreiben, und wenn Die<br />
Grünen ständig Ärger mit der SPD riskieren, könnte ja die ach so reformfreudige<br />
Regierungskoalition kippen, und dann wäre keine Reformpolitik<br />
mehr möglich.<br />
Bis auf die Zeitung für Darmstadt können sich alle also noch einmal glücklich<br />
schätzen. Die Stadt behält ihre mit reformerischem Potential nur so<br />
beglückte Regierung, als kleines Übel verliert sie nun eine kritische Informationsquelle.<br />
Aber das ist offensichtlich der Preis für Reformpolitik.<br />
Presseerklärung der PDS/LL Hessen Süd
Autofreier Sonntag<br />
gegen Sommersmog<br />
DER VERKEHRSCLUB DEUTSCHLAND WERTET DEN OZON-<br />
VERSUCH IN HEILBRONN ALS ERFOLG UND FORDERT:<br />
„OPFER SCHÜTZEN, NICHT TÄTER“<br />
Die Wiedereinführung des „Autofreien Sonntags“ in Deutschland fordert<br />
der Verkehrsclub Deutschland (VCD). Dies ist nach Ansicht des umweltbewußten<br />
Verkehrsclubs die am meisten geeig<strong>net</strong>e, um gegen die hohen<br />
Ozonbelastungen vorzugehen. Nicht die Täter sollten geschützt werden,<br />
sondern die Opfer.<br />
Ein durchschlagender Erfolg war der Ozon-Großversuch in der Region Heilbronn/Neckarsulm:<br />
Nicht nur die Ozon-Konzentration sank deutlich, auch<br />
der Verkehrslärm und die Benzolbelastungen gingen deutlich zurück. Von<br />
den Bürgern wurden diese positiven Auswirkungen begrüßt. Das Umsteigen<br />
auf das Fahrrad war problemlos möglich. Sogar begeisterte Autofans<br />
bekannten, Berichten von Nachrichtenmagazinen zufolge, daß es doch<br />
möglich sei, Bus zu fahren.<br />
Negative Auswirkungen auf die Mobilität der Bevölkerung kann der VCD<br />
nicht erkennen: Gerade in der Freizeit ist ein Umsteigen auf Rad, Bahn und<br />
Bus viel problemloser als unter der Woche, weil das Ziel im Gegensatz zum<br />
Berufsverkehr meist selbstbestimmt ist. Von seiten der Politik ist dennoch<br />
ein Ausbau des Nahverkehrs gerade am Wochenende notwendig, wie er bei<br />
der Odenwaldbahn in den letzten Jahren erfolgt ist.<br />
Dem VCD zufolge soll mit Hilfe des autofreien Sonntags gegen den Hauptverursacher<br />
des Sommersmogs vorgegangen werden: In den Ballungsräumen<br />
gehen unbestritten 60 bis 80 Prozent der Ozonbelastung auf den Autoverkehr<br />
zurück. Er emittiert Stickoxide und leichtflüchtige organische Kohlenwasserstoffe,<br />
aus denen sich unter Lichteinwirkung, also an besonders<br />
schönen Sommertagen, Ozon bildet. Gerade an Sonntagen werden so nicht<br />
die Täter (also die Autofahrer) in ihrer Bewegungsmöglichkeit eingeschränkt,<br />
sondern die Opfer (Wanderer, Radfahrer, Kinder). Dieser Ungerechtigkeit<br />
soll mit dem autofreien Sonntag entgegengetreten werden.<br />
Verkehrsclub Deutschland, Kreisverband Darmstadt-Dieburg<br />
Mehr als ein Silberstreif<br />
am Horizont<br />
DER FAHRGASTVERBAND „PRO BAHN“ FREUT SICH ÜBER<br />
DIE GRÜNDUNG DES „RHEIN-MAIN-VERKEHRSVERBUNDES“<br />
Ein in jeder Hinsicht freudiges<br />
Ereignis stellt die Geburt des<br />
Rhein-Main-Verkehrsverbundes<br />
(RMV) für die Mitglieder<br />
des Fahrgastverbandes Pro<br />
Bahn dar. Die Gründung, so Pro Bahn-Vorsitzender Joachim Elbing, sei<br />
weit mehr als der berühmte Silberstreif am Horizont des immer noch überwiegend<br />
bewölkten Nahverkehrshimmels.<br />
Schon über zehn Jahre kämpft der Verband in zahllosen Einzelinitiativen für<br />
bessere Fahrpläne, verschönte Bahnhöfe und mehr Dienst am Kunden.<br />
Dabei wühlten sich die engagierten Fahrgäste bislang stets durch ein<br />
Dickicht von Verwaltungen, Behörden und Verkehrsunternehmern. Den einzelnen<br />
Beteiligten war es stets ein Leichtes, die Verantwortung für die Mißstände<br />
auf die nächste Ebene zu schieben. „Jetzt“, freut sich Elbing, „haben<br />
wir endlich einen kompetenten Ansprechpartner auf einer vernünftig<br />
großen Ebene“.<br />
Bereits mit der Vorbereitungsgesellschaft für den RMV gab es zahlreiche<br />
Kontakte. So machte man sich z.B. gemeinsam Gedanken über einen möglichst<br />
fahrgastfreundlichen Tarif und erarbeitete Grundzüge eines integralen<br />
Taktfahrplans. Nicht selten diskutieren die Pro Bahn-Vertreter dabei hart an<br />
der Sache und freuen sich dennoch in erster Linie darüber, daß es erstmals<br />
dafür einen Partner gibt.<br />
Pro Bahn empfiehlt dem RMV, besonders in den ländlichen Kreisen am<br />
Rande des Verbundgebietes, eine überzeugende Arbeit zu leisten. Oft sei<br />
man dort nur in Ermangelung einer Alternative und ohne rechte Überzeugung<br />
dem Verbund beigetreten. Einige „Ewiggestrige des Nahverkehrs in<br />
den Kreistagen“, so Elbing, „schielen bereits auf die Austrittsklausel“.<br />
Von Anfang an wird die Arbeit des RMV übrigens von einem Fahrgastbeirat<br />
begleitet. Auch darin ist Pro Bahn vertreten. Man wünscht sich hier noch<br />
eine Ausdehnung auf die lokale Ebene, denn die praxisnahesten Vorschläge<br />
kämen naturgemäß von betroffenen Fahrgästen selbst.<br />
Pro Bahn, Hessen<br />
CDU: Faß’ Dich an der<br />
eigenen Nase!<br />
EIN LESER KOMMENTIERT DIE FRAGE DER REGIERUNGSBIL-<br />
DUNG IN SACHSEN-ANHALT AUS SEINER SICHT:<br />
Der amtierende Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Bergner (CDU) wirft<br />
der SPD vor, sich in die Abhängigkeit der PDS zu begeben, wenn sie auf die<br />
Stimmen der PDS zugunsten einer rot-grünen Minderheitsregierung setzt.<br />
Gerade die CDU Sachsen-Anhalts verfügt über ein starkes rechtsradikales<br />
Treiben. Kein Wunder, daß bei der überdurchschnittlichen hohen Anzahl<br />
von Anschlägen gegen Ausländer, Asylanten und Asylbewerber in Sachsen-<br />
Anhalt gegenüber anderen Bundesländern auch der Rechtsradikalismus in<br />
der CDU Einzug findet. Die CDU-Mitglieder wählen 1990 ihren Bundestagskandidaten<br />
Dr. Rudolf Krause, der seinen Rechtsradikalismus offenbart.<br />
Der ehemalige Ministerpräsident Prof. Dr. Münch, der später selbst wegen<br />
eines Finanzskandales in seinem Regierungskabi<strong>net</strong>t seinen Hut nehmen<br />
muß, erduldet Äußerungen Krauses, wie, einen großen Teil Mitschuld der<br />
(Juden-) Vernichtung hätten andere Staaten als das Deutsche Reich getragen,<br />
da sie den Juden, Kommunisten, Gewerkschaftern, u.a. kein Asyl<br />
gewährt hätten. Gleichzeitig will der inzwischen für die Republikaner im<br />
Bundestag sitzende Dr. Krause das Asylrecht in der BRD abschaffen. Ganz<br />
offen spricht er das nach meiner Kenntnis (noch) nicht aus – aber, studiert<br />
man seine Schriften, wird dies deutlich.<br />
BRIEFE AN DIE REDAKTION I<br />
Der Bundestagsgruppe der PDS, die sich im Bundestag am stärksten macht<br />
für die Aufdeckung der Sympathisierung von Teilen der CDU/CSU mit<br />
Rechtsradikalismus, soll jetzt nicht mitbestimmen dürfen im Lande Sachsen-Anhalts,<br />
weil sie die Nachfolgepartei der SED sei.<br />
Man könnte angesichts der Tatsache, daß die CDU in einem Parteiausschlußverfahren<br />
gegen Ex-Kreisrat Dr. Manfred Dreher (CDU) wegen dessen<br />
Einladung des Geschichtsrevisionisten und Judenvernichtungsleugners<br />
David Irving zu einer CDU-Veranstaltung in Dritter Instanz auf rechtskräftigen<br />
Verbleib dessen Mitgliedschaft in der CDU und der Offenbarung<br />
der CDU, daß 25,4 Prozent der ersten 1.000 Mitglieder der CDU Hamburgs<br />
ehemalige NSDAP-Mitglieder waren, auch die Frage stellen: Ist die CDU die<br />
Nachfolgepartei der NSDAP? Letztere wurde vom Kontrollrat der Alliierten<br />
aufgelöst und nun integriert man nationalistisches Denken in der sogenannten<br />
demokratischen Partei CDU.<br />
Marcus Braum<br />
Fünfzig Jahre danach<br />
EINEN NEUEN D-DAY WIRD ES IN ABSEHBARER ZEIT NICHT<br />
GEBEN, MEINT EIN LESER. SEINER ANSICHT NACH BESTEHT<br />
KEIN UNTERSCHIED, OB MAN FÜR HITLERS LEBENSRAUM-<br />
ERWEITERUNG IM OSTEN ODER FÜR „FREEDOM AND<br />
DEMOCRACY“ ÀLAUSA INS FELD ZIEHT:<br />
Beim Bundesverfassungsgericht (BVG) wird zur Zeit über die Zulässigkeit<br />
der Auslandseinsätze der Bundeswehr verhandelt. Bei der Anhörung vor<br />
dem BVG nannten die Bundesminister Kinkel (FDP) und Rühe (CDU) internationale<br />
Einsätze unverzichtbar.<br />
Kinkels Partei ist, zusammen mit der SPD, Kläger gegen die Auslandseinsätze<br />
der Bundeswehr. Für die SPD führte Anke Fuchs aus, daß auch die<br />
SPD exteritoriale Kampfeinsätze nicht mehr prinzipiell für ausgeschlossen<br />
hält. Vielmehr will die Opposition in Karlsruhe erreichen, daß Beteiligungen<br />
an UN-Einsätzen in Zukunft durchs Parlament gehen müssen.<br />
Somit stehen zwei Optionen für die weitere Entwicklung offen: Entweder der<br />
inflationäre Grundgesetzabbau in der letzten Zeit wird durch das Parlament<br />
fortgesetzt oder die Rotroben bearbeiten die Artikel 87a, 26 und 24 GG, die<br />
der Bundeswehr einen reinen Verteidigungsauftrag zuweisen, mit der<br />
Brechstange, z.B. bei einer globalen Betrachtung die militärischen Ziele der<br />
UN der Herstellung des Weltfriedens und letztendlich der Verteidigung der<br />
BRD dienen.<br />
Getreu dem Motto: „Getrennt marschieren, vereint zuschlagen“. Dieser<br />
Vorgang wird landesüblich als Gewaltenteilung bezeich<strong>net</strong>. Die wünschenswerte<br />
dritte Option, nämlich Beibehaltung der oben genannten Artikel in<br />
ihrem vollen Gehalt und Verurteilung der inzwischen unrechtmäßig<br />
durchgeführten Auslandseinsätze der Bundeswehr, halte ich nach den<br />
Erfahrungen der letzten fünfzig Jahre für ausgeschlossen.<br />
Deutschland wird zwar nicht im Alleingang in einen Raubkrieg stürzen, sondern<br />
im Troß der internationalen Staatengemeinschaft für einen „ungehinderten<br />
Zugang zu den Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ (Verteidigungspolitische<br />
Richtlinien der Bundeswehr vom 26.11.1992) sorgen.<br />
Deshalb wird es einen neuen D-Day in nächster Zukunft nicht geben, weil im<br />
Moment keine Nation und kein Bündnis dem neuen Weltherrscher USA und<br />
seiner Verbündeten (sprich: internationale Staatengemeinschaft) Paroli bieten<br />
kann. Meiner Ansicht nach besteht kein Unterschied, ob man für Hitlers<br />
Lebensraumerweiterung im Osten oder für „freedom and democracy“ à la<br />
USA ins Feld zieht.<br />
Wem das übertrieben erscheint, der sei auf die Geschichte der USA zumindest<br />
in den letzten hundert Jahren verwiesen. Erinnert sei an die zahlreichen<br />
Interventionen in Latein- und Mittelamerika, Korea, Vietnam, Grenada und<br />
in neuester Zeit das Massaker an der irakischen Bevölkerung und die Menschenrechtsverletzungen<br />
in Somalia. Daß dabei noch nie Humanität, Menschenrechte<br />
oder Gerechtigkeit das Programm waren, steht außer Zweifel.<br />
Bezeichnenderweise dürfen in der „internationalen Staatengemeinschaft“<br />
nur die USA und ihre Verbündeten (z.B. die Türkei) ungestraft Völkermord<br />
und Menschenrechtsverletzungen begehen.<br />
Wir sind an den Einsätzen der UN seit einiger Zeit nicht nur finanziell, sondern<br />
auch mit unseren Soldaten grundgesetzwidrig beteiligt. In absehbarer<br />
Zeit werden diese „humanitären“ Feldzüge und Strafaktionen für unsere<br />
Soldaten und die Bevölkerung zur Normalität werden.<br />
Eine erfreuliche Nachricht kam am 12.6.94 aus der Schweiz. Die Mehrheit<br />
der Bevölkerung votierte gegen die Beteiligung von Schweizer Soldaten an<br />
Blauhelmeinsätzen der Vereinten Nationen. Erfreulich vor allem deshalb,<br />
weil sich die Schweizer Bevölkerung von den Humanitätsparolen nicht<br />
beeindrucken ließ.<br />
Geradezu gespenstig wirkt dagegen die Grabesstille, die sich über die Diskussion<br />
der Blauhelmeinsätze in Deutschland gelegt hat. Nach fünfzig Jahren<br />
wird es auch endlich wieder Zeit!<br />
P.S.: Anmerkung zu meinem letzten Leserbrief (ZD 71). Die vier Leserbriefe<br />
zu dem Artikel „Jesulein contra Gabi“ waren im Inhaltsverzeichnis der ZD<br />
als „Religiöse Proteste“ angekündigt und alle vier Leserbriefe waren mit<br />
einem Zeichen (vermutlich des Universellen Lebens) markiert. So kann man<br />
natürlich auch Meinungen machen, indem man suggeriert, daß alle Proteste<br />
aus der angegriffenen Ecke kommen und somit in den Verdacht einer<br />
verengten Weltsicht gebracht werden. Ich bin Atheist und außer Frau<br />
Lorenz hat sich keiner der anderen Leserbriefschreiber zum Universellen<br />
Leben oder zu einer anderen Religionsgemeinschaft bekannt.<br />
Inzwischen fand übrigens ein neuer Kreuzzug in Darmstadt statt und zwar<br />
eine Veranstaltung mit dem Titel „Geschäfte mit der Seele – Dia<strong>net</strong>ik und<br />
Scientology – eine neue Form von Religion?“ im Katholischen Bildungszentrum.<br />
Zu Beginn kommentierte der Sektenbeauftragte des Bistum Mainz die Glaubensinhalte<br />
der Scientology Church (S.C.). Danach stellte sich eine Frau<br />
Schweitzer als ehemaliges Mitglied der S.C. vor. Stolz berichtete sie, daß<br />
sie der Treuhand beim Aufspüren von Firmen hilft, die von Mitgliedern der<br />
S.C. betrieben werden und denen ein Vertragsabschluß mit der Treuhand<br />
unmöglich gemacht wird. Das ist ein Verstoß der Treuhand gegen Art. 3 GG.<br />
Im Gegensatz dazu werden den beiden Großkirchen jährlich 10 Milliarden<br />
Mark aus allgemeinen Steuergeldern vom Staat geschenkt (siehe: Leserbrief<br />
von Walter Decker, ZD 60).<br />
Der erste Teil ihres Vortrages bestand dann auch aus der visuellen Vorführung<br />
von Firmenanzeigen, die von Mitgliedern der S.C. inseriert wurden.<br />
Danach erläuterte sie den Aufbau und die verschiedenen Untergruppierungen<br />
der S.C.. Unter anderem sollen die Künstler in einer Sektion zusam-<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 21<br />
mengefaßt sein, die ausschließlich zu Werbezwecken eingesetzt wird. Dabei<br />
fiel unter anderen auch der Name des Malers Gottfried Helnwein. Zufällig<br />
hatte ich vor kurzem ein Interview mit G. Helnwein gelesen, in dem er sich<br />
zu dem Propagandafeldzug gegen seine Person wegen seiner angeblichen<br />
Mitgliedschaft in der S.C. äußert: „In dieser Zeit hörte ich auch durch einen<br />
anderen Künstler zum ersten Mal von Scientology, belegte einige ihrer Kurse<br />
und las die Bücher, so wie ich mich mit vielen anderen Sachen befaßt<br />
habe. Aber weder damals, noch zu einem anderen Zeitpunkt, seit ich in der<br />
Lage bin, selbst zu entscheiden, und seit ich mich vom Diktat des Katholizismus<br />
befreit habe, folgte ich irgendeinem Guru, irgend jemanden, dem<br />
ich mich unterwerfe. Im Gegenteil, ich habe seither immer versucht, allein<br />
dem Prinzip Vernunft zu gehorchen und meinen eigenen analytischen Verstand<br />
zu benützen. Also, ich betone: Ich gehöre zu keiner Religionsgemeinschaft<br />
…“<br />
In dem Interview schildert G. Helnwein die Diffamierungskampagne gegen<br />
seine Person, die bis zum Versuch der wirtschaftlichen Existenzvernichtung<br />
geführt wird (Ketzerbriefe 43/Okt. 1993). Die Aussagen von G. Helnwein<br />
wurden auch von Frau Schweitzer an diesem Abend bestätigt: Sie wirkte auf<br />
einen Auftraggeber des Malers ein, einen bereits erteilten Auftrag rückgängig<br />
zu machen. Nach meiner Reklamation wurde behauptet, daß G. Helnwein<br />
Mitglied in einer Unterorganisation der S.C. sein könnte und das er<br />
zumindest Werbung für die S.C. betreibt.<br />
Danach erzählte Frau Schweitzer ihre Leidensgeschichte bei der S.C. und<br />
über Erpressung, Freiheitsberaubung und Straflager wurde nichts aus dem<br />
düsteren Sektenalltag ausgelassen. Jetzt kann sich der unbefangene<br />
Betrachter zwar vorstellen, daß ein Mensch in psychische Abhängigkeit<br />
gebracht werden kann. Aber nachdem er den Absprung unter angeblicher<br />
Bedrohung geschafft hat, ist der normale Gang in einem bürgerlichen Staat,<br />
daß man Strafanzeige stellt. Das hätte sie auch getan, antwortete Frau<br />
Schweitzer, aber von den Prozessen würde noch kein Urteil vorliegen.<br />
Außerdem wären die Hauptverantwortlichen geflohen und im übrigen würden<br />
immer nur die kleinen Fische geschnappt.<br />
Dieser anrüchige Abend bestand größtenteils aus Denunziation Andersdenkender<br />
und nicht überprüfbaren Anschuldigungen. Entsprechend gestalteten<br />
sich auch die Fragen aus dem Publikum: „Woran man denn einen Scientologen<br />
erkennen könne?“ Die Antwort des Sektenbeauftragten beginnt mit<br />
dem Satz: „Bestimmt nicht an der Nase.“ Gelächter von ihm und im Publikum.<br />
Was war denn an der Judenverfolgung im 3. Reich so witzig? Fragen Sie<br />
einfach mal nach: Ref. f. Weltanschauungs- und Sektenfragen, Grebenstr.<br />
24-26, 55116 Mainz, Telefon 06131/253284.<br />
Bei der gleichen Dienststelle können Sie auch zweckdienliche Hinweise zur<br />
Verfolgung religiöser Minderheiten entgegen nehmen.<br />
Peter Betscher<br />
Ideenschmiede für die<br />
Stadt<br />
DIE ÖKUMENISCHE WOHNHILFE DARMSTADT STELLT IHR<br />
KONZEPT VOR: MIT BANKDARLEHEN WILL SIE LEERSTEHEN-<br />
DE WOHNUNGEN KAUFEN ODER BAUEN – FÜR SCHWER VER-<br />
MITTELBARE WOHNUNGSSUCHENDE<br />
„Handeln statt reden!“ Nach diesem Motto wollte die Martinsgemeinde mit<br />
der Aufnahme einer Flüchtlingsfamilie ein Zeichen setzen gegen Fremdenfeindlichkeit.<br />
Aus dieser anfänglich noch vagen Idee entstand nach vielen<br />
Gesprächen mit ähnlichen Initiativen, mit Kirchengemeinden und Behörden,<br />
das Projekt der Ökumenischen Wohnhilfe Darmstadt als gemeinnütziger<br />
GmbH.<br />
Neben den beiden Hauptgesellschaftern, dem ev. Dekanat Darmstadt und<br />
der ev. Martinsgemeinde, wird die GmbH von einer breiten Basis aus Kirchengemeinden<br />
und Einzelpersonen getragen. Die inhaltliche Konzeption<br />
wurde von den Arbeitskreisen Flüchtlingshilfe aus der Martinsgemeinde<br />
und aus Eberstadt erarbeitet, die auch die zwei ehrenamtlichen Geschäftsführer<br />
stellen. Der Name der GmbH spiegelt ihr Programm wider:<br />
Wohnhilfe: Es wäre überflüssig, hier noch etwas über den Mangel an billigem<br />
Wohnraum zu schreiben. Wem aber soll unsere Wohnhilfe zugute<br />
kommen? Wir waren uns der Brisanz dieser Frage sehr wohl bewußt und<br />
haben uns deshalb nicht nur auf ausländische Flüchtlinge beschränkt. Wir<br />
wollten auf jeden Fall vermeiden, daß bei der Wohnraumbeschaffung<br />
Obdachlose gegen Asylbewerber, Bürgerkriegsflüchtlinge gegen Sozialhilfeempfänger,<br />
kurz die Ärmsten gegen die Allerärmsten ausgespielt würden.<br />
Unser allererstes Ziel ist es daher, Wohnungsnot insgesamt zu lindern und<br />
damit einen wichtigen Beitrag zum sozialen Frieden zu leisten. Denn die<br />
Konkurrenz um billige Wohnungen ist eine der Ursachen für Fremdenhaß.<br />
Wir wollten auch zeigen, daß man mit den vorhandenen staatlichen Geldern<br />
für die Unterbringung von Asylbewerbern sinnvoller umgehen kann, als<br />
dies in der Vergangenheit geschah, wo Städte und Landkreise für ihre<br />
Unterbringung 20 bis 30, zum Teil sogar über 50 Mark pro Tag an skrupellose<br />
Immobilienbesitzer bezahlten. Die Flüchtlinge werden dabei nicht selten<br />
in miserablen Wohnungen und Containern zusammengepfercht (Mindeststandard<br />
sind 6 m2 /Person).<br />
Unser primäre Strategie heißt daher, mit Bankdarlehen leerstehende Wohnungen<br />
zu kaufen oder zu bauen. Der Kapitaldienst wird durch die relativ<br />
hohen Tagessätze für die Unterbringung von Asylbewerbern gedeckt. Dieser<br />
Wohnraum kann dann aber langfristig allen schwer vermittelbaren<br />
Wohnungssuchenden (z.B. Obdachlose, Bürgerkriegsflüchtlinge, alleinerziehende<br />
Frauen etc.) zur Verfügung gestellt werden. Wir wollen auch darauf<br />
achten, daß durch eine angemessene Belegung der Wohnungen und<br />
soziale Betreuung der Flüchtlinge eine menschenwürdige Aufnahme gesichert<br />
ist. Dieses Projekt soll ja nicht nur ein Immobiliengeschäft werden,<br />
sondern ein ständiger Anstoß sein für die Beschäftigung mit den Themen<br />
Wohnungsnot und Fremdenfeindlichkeit.<br />
Parallel dazu werden wir in einem zweiten Ansatz über den sozialen Wohnungsbau<br />
Modelle zur kostengünstigen Bereitstellung von Wohnraum für<br />
schwer vermittelbare Mieter entwickeln. Ein erstes Projekt mit etwa zehn<br />
Wohneinheiten wird zur Zeit mit der Neuen Wohnraumhilfe GmbH am<br />
Nordbahnhof geplant. Auch eine Beteiligung bei der Nutzung des alten Polizeipräsidiums<br />
sowie die Bebauung von kircheneigenen Grundstücken sind<br />
im Gespräch.<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite<br />
NEPAL-TEPPICHE<br />
DARMSTADT<br />
ROSSDÖRFER PLATZ
Ökumenisch: Hinter diesem Namensteil stecken zwei wichtige Aussagen:<br />
1. Es handelt sich um eine Initiative, bei der christliche Ideale unabhängig<br />
von konfessionellen Grenzen und kirchlichen Verwaltungsstrukturen verwirklicht<br />
werden sollen. Wir sehen uns in der spirituellen Tradition unzähliger<br />
biblischer Flüchtlingsgeschichten, angefangen vom „Wirtschaftsflüchtling“<br />
Abraham bis zum politischen Flüchtlingskind Jesus in Bethlehem.<br />
2. Ökumene soll aber auch heißen, daß wir mit unseren Projekten und einer<br />
behutsamen Öffentlichkeitsarbeit Toleranz gegenüber allem Fremden fördern<br />
wollen, als Voraussetzung für ein friedliches Miteinander. Das ist nicht<br />
einfach, aber es fällt uns sicher leichter, wenn das Fremde nicht anonyme<br />
Statistik bleibt, sondern Namen und Gesichter bekommt.<br />
Kirche und Idealismus als profane GmbH? Wir glauben, daß man gerade<br />
auch dann professionell und effizient wirtschaften kann und sollte, wenn<br />
der Gewinn gemeinnützigen Zwecken zur Verfügung steht. Ja, wir wollen<br />
sogar Kapital ansammeln, nämlich in Form von möglichst viel Wohnungen,<br />
und dafür erschien uns die Form der GmbH am zweckmäßigsten. Außerdem<br />
haben andere Initiativen, wie z.B. die christlichen Flüchtlingshilfen in<br />
Walldorf-Mörfelden, Erzhausen/Egelsbach und Pfungstadt damit gute<br />
Erfahrungen gemacht.<br />
Das größte „Kapital“ unserer GmbH wird jedoch das Engagement und die<br />
Kreativität der Initiatoren sein, mit denen wir zu einer Ideenschmiede für die<br />
Stadt und die großen Bauträger werden wollen. Wir werden dabei natürlich<br />
angewiesen sein auf die Zusammenarbeit mit der Stadt und die Unterstützung<br />
durch möglichst viele Institutionen und Privatpersonen, sei es durch<br />
Beteiligungen und Darlehen, Bereitstellung von Wohnungen oder Mitarbeit<br />
in der GmbH. In unserer GmbH befinden Sie sich in einer guten Gesellschaft.<br />
Kontaktadressen in 64289 Darmstadt: Bernd Haberkern, Kittler-Str. 36,<br />
Telefon 710300. Pfr. Knut Trobitius, Heinheimer-Str. 41, Telefon 75898.<br />
Und das ist unser Konto: Ev. Martinsgemeinde, Flüchtlingsarbeit,<br />
Kto. 11004733, Sparkasse Darmstadt, BLZ 50850150<br />
Ökumenische Wohnhilfe Darmstadt<br />
Zeichen setzen –<br />
gegen rechts<br />
IN EINEM OFFENEN BRIEF FORDERT DAS „AUTONOME<br />
AKTIONSKOMITEE DARMSTADT“ ALLE BUSUNTERNEH-<br />
MERINNEN IM RAUM DARMSTADT AUF, KEINE NEOFA-<br />
SCHISTINNEN ZUM „RUDOLF-HESS-GEDENKMARSCH“ AM<br />
14.8.94 ZU TRANSPORTIEREN:<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
NeofaschistInnen aus dem gesamten Bundesgebiet und Europa werden<br />
auch in diesem Jahr am 14. August 1994 den sogenannten „Rudolf-Heß-<br />
Gedenkmarsch“ veranstalten. Rudolf Heß war der Stellvertreter von Adolf<br />
Hitler – er wurde in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zu lebenslanger<br />
Haft verurteilt und erhängte sich am 14.8.87 in seiner Zelle im<br />
Gefängnis von Berlin.<br />
Für die NeofaschistInnen ist diese Veranstaltung ein wichtiges Datum zur<br />
Mobilisierung ihrer AnhängerInnen und zur Verbreitung ihres menschenverachtenden<br />
Gedankengutes. Wie in den Jahren zuvor werden die<br />
NeofaschistInnen wieder gemeinsam mit angemieteten Bussen anreisen.<br />
Leider gab es Busunternehmen, die in den vergangenen Jahren die NeofaschistInnen<br />
zu dem „Gedenkmarsch“ befördert haben.<br />
Daraufhin beschlossen einige Körperschaften diesen Busunternehmen keine<br />
Aufträge mehr zu erteilen. Außerdem haben Unbekannte mehrere Busse<br />
dieser Firmen beschädigt. Aus allen genannten Gründen möchten wir Sie<br />
auffordern, NeofaschistInnen nicht dadurch Hilfestellung zu geben, indem<br />
Sie sie befördern.<br />
Insbesondere möchten wir Ihnen empfehlen, sich bei Busbestellungen in<br />
den Tagen vom 12.8. bis 22.8. (möglichst schriftlich) von den KundInnen<br />
bestätigen zu lassen, daß es sich beim Fahrtziel nicht um eine neofaschistische<br />
Veranstaltung handelt. Bei einer arglistigen Täuschung haben Sie<br />
jederzeit die Möglichkeit, von dem Vertrag zurückzutreten und gegebenenfalls<br />
straf- und zivilrechtliche Schritte gegen die betreffende/n Person/en<br />
einzuleiten. Weiter bitten wir Sie, uns die Namen der Person/en zu nennen,<br />
die bei Ihnen Busse zwecks einer neofaschistischen Veranstaltung angemietet<br />
hat/haben. Sie würden so einen nicht unerheblichen Beitrag gegen<br />
die Normalisierung und das Voranschreiten des Neofaschismus in der Bundesrepublik<br />
leisten.<br />
Dieser Brief ist Teil einer bundesweiten Initiative zur Verhinderung des<br />
„Rudolf-Heß-Gedenkmarsches“.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Autonomes Aktionskomitee Darmstadt<br />
Ein Ohr für kritische<br />
Kinder<br />
DAS KINDERBÜRO ÖFFNET SEINE TÜREN IM JOHANNES-<br />
VIERTEL:<br />
Am Sonntag, den 3.7.94 wurde, trotz hochsommerlicher Temperaturen und<br />
dem Heinerfest, das erste Kinderbüro des Internationalen Bundes, Projekt<br />
„Offene Kinderarbeit Johannesviertel“ in der Frankfurter Str. 10, Hinterhaus,<br />
eingeweiht.<br />
Nachdem Stadtrat Gerd Grünewaldt das Büro feierlich eröff<strong>net</strong> hatte, standen<br />
Schmink-, Mal- und Spielaktionen für die Kinder auf dem Programm.<br />
Als besonderen Höhepunkt führte Alwin der Zauberclown, die Kinder, aber<br />
auch die Erwachsenen, in die Welt der Zauberkünste und Clownerien ein.<br />
Das Kinderbüro ist nun also eröff<strong>net</strong>, bis zu den Sommerferien wird es<br />
dienstags zwischen 15 und 18 Uhr besetzt sein, nach den Ferien wird die<br />
Öffnungszeit verlängert, um den Kindern verstärkt die Möglichkeit zu bieten,<br />
ihre Wünsche, Vorstellungen, aber auch Kritik, am Johannesviertel und<br />
ihre Lebenssituation in Darmstadt zu artikulieren und umzusetzen.<br />
J. Hehner-Anders, Internationaler Bund für Sozialarbeit<br />
BRIEFE AN DIE REDAKTION II Nummer 73· 11.7.1994 · Seite 22<br />
RP stimmt<br />
Müllexport zu<br />
IN EINEM OFFENEN BRIEF AN DEN SÄCHSISCHEN UMWELT-<br />
MINISTER STELLT DER ZUSTÄNDIGE HESSISCHE STAATS-<br />
SEKRETÄR KLAR, DAß ER VON DER ENTSCHEIDUNG DES<br />
DARMSTÄDTER REGIERUNGSPRÄSIDENTEN NICHTS HÄLT<br />
UND SIE DESHALB ZURÜCKNEHMEN MUß:<br />
Sehr geehrter Herr Kollege Vaatz,<br />
Ihr Schreiben vom 17. Juni 1994 habe ich dankend erhalten. Die Bestrebungen<br />
einzelner hessischer Gebietskörperschaften, ihre Entsorgungsprobleme<br />
durch die Verbringung von Siedlungsabfällen zu Entsorgungsanlagen in<br />
anderen Bundesländern zu lösen, stehen nicht im Einklang mit den abfallwirtschaftlichen<br />
Zielen der Hessischen Landesregierung. Der für das Ansehen<br />
des Landes Hessen schädliche Mülltourismus, insbesondere in die<br />
neuen Bundesländer, widerspricht den Grundsätzen einer ortsnahen und<br />
gebietsbezogenen Entsorgung.<br />
Ich habe daher die Regierungspräsidien in Hessen als zuständige obere<br />
Abfallbehörden angewiesen, diesen Bestrebungen einzelner hessischer<br />
Gebietskörperschaften mit allen gebotenen Mitteln entgegenzuwirken. Den<br />
entsprechenden Erlaß füge ich zu Ihrer Kenntnisnahme bei.<br />
Die Zustimmung des Regierungspräsidiums Darmstadt zum Müllexport<br />
des Main-Kinzig-Kreises ist ohne meine und ohne die Kenntnis meines<br />
Ministeriums erfolgt. Ich habe die Regierungspräsidien angewiesen, Anträge<br />
auf Zustimmung zur Entsorgung von Siedlungsabfällen in andere Bundesländer<br />
mit sofortiger Wirkung zurückzuweisen. Ausnahmen sind nur in<br />
besonders begründeten Einzelfällen möglich. Voraussetzung ist u.a. das<br />
Einverständnis des Umweltministeriums des betroffenen Bundeslandes.<br />
Entscheidungen über solche Anträge habe ich mir persönlich vorbehalten.<br />
Sie sehen, auch ich lege auf diese Art von „Aufbauhilfe Ost“ keinerlei Wert.<br />
Im Gegenteil, ich beabsichtige, die gute Zusammenarbeit zwischen unseren<br />
Bundesländern in abfallwirtschaftlichen Fragen fortzusetzen. Dies schließt<br />
ein, daß wir uns in begründeten Notsituationen helfen, wie Hessen dies<br />
zuletzt mit der Entsorgung von illegal von Sachsen nach Rumänien verbrachtem<br />
Sondermüll getan hat.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
In Vertretung Rainer Baake, Staatssekretär<br />
„Linker Gesinnungs-<br />
Narzismus“?<br />
AN DIE ZD<br />
Nach reiflicher Überlegung bestelle ich hiermit die ZD ab. Grund: das subjektivistische,<br />
engstirnige Regime des Herausgebers, der verdreht, verschweigt<br />
oder anpinkelt, was nicht in seine trostlose Festungsmentalität<br />
paßt. Dazu aus eigener Erfahrung:<br />
Beispiel 1: Über die Aktion „Mit dem Rad zur Arbeit“ gab es in der ZD in über<br />
sechs Monaten außer drei Leserbriefen keinen einzigen redaktionellen Artikel,<br />
obwohl die Zeitung seit Dezember 93 durch persönliche Gespräche, per<br />
Telefon, Fax und Post intensiv bedient wurde. Eine alternative Zeitung, die<br />
Angebote zur Zusammenarbeit und gegenseitiger Unterstützung (wenn’s<br />
sein muß, gerne in kritischer Diskussion) derart ignoriert, entzieht sich<br />
selbst den Boden. Sie vergiftet ihn geradezu mit paranoiden Verdächtigungen<br />
wie in der ZD Nr. 72 (nach dem Fahrradfest auf dem Karolinenplatz) –<br />
die ZD habe keinen Anzeigenauftrag erhalten, weil dies von der Sparkasse<br />
(als Sponsor) der Initiative zur Auflage gemacht worden sei. Daß die ZD erst<br />
hinterher ihren ätzenden Senf dazugibt, beweist Verachtung für Aktionen,<br />
die durch Beteiligung Vieler öffentliches Interesse wecken und die Chance<br />
bieten, erfolgreich Druck, z.B. für den Ausbau des Radverkehrs<strong>net</strong>zes, zu<br />
machen.<br />
Beispiel 2: „Rassisten in Trautheim“. Als sich vor einem Jahr Bürgerprotest<br />
in Trautheim gegen ein geplantes Asylbewerberheim erhob, war für die ZD<br />
klar: Rassisten, Bürger und Bürgerinitiative, letztere, weil sie zwischen<br />
Faschisten und um ihre Wohnruhe besorgten Eigenheimlern zu differenzieren<br />
wußte – gehören in denselben Sack und festedruff mit der Moralinkeule.<br />
Pauschale Publikumsbeschimpfung ohne Recherche und Rücksicht auf die<br />
Aktivitäten einer Bürgerinitiative – hier zeigte sich eine Art kontraproduktiver<br />
„Antirassismus“, der die Masse der Menschen bereits dort sieht, wo die<br />
Faschisten sie hinhaben wollen.<br />
Linker Gesinnungs-Narzißmus reicht nicht für die Existenz einer zweiten<br />
Zeitung. Er bewirkt auf die Dauer nur Frust und Resignation. Das muß man<br />
nicht noch extra abonnieren.<br />
K.-H. Goll<br />
Sehr geehrter K.-H. Goll,<br />
Ihre Kritik in allen Unehren mitsamt Beschimpfungen und Verleumdungen.<br />
Dazu möchten wir nur anmerken: Die ZD veröffentlicht Leserzuschriften<br />
ungekürzt und unverändert. Die Berichterstattung selbst ist Sache der ZD.<br />
Wer meint, daß etwas falsch, einseitig, unvollständig oder sonst wie unzufriedenstellend<br />
geschrieben sei, hat immer die Möglichkeit, selbst schreibend<br />
tätig zu werden – das gilt auch für einen K.H. Goll. Doch da fehlt offensichtlich<br />
das Interesse an der Öffentlichkeit.<br />
Eine wesentliche Antwort ist Goll schuldig geblieben: Die Sparkasse hat kein<br />
einziges Mal seit Erscheinen der ZD eine Anzeige geschaltet. Dann tauchen<br />
Anzeigen im „DE“ auf für Golls-Radaktion ( bei der ZD wird nicht einmal angefragt,<br />
ob sie gratis publiziert) finanziert von der Sparkasse. Offensichtlich ist<br />
niemand bereit, zuzugeben, daß Mauscheleien hinter verschlossenen Türen<br />
geführt werden – auch kein Goll. Für geldwerte Förderung lassen sich offensichtlich<br />
die meisten einkaufen.<br />
Für unsere LeserInnen: Die Veranstaltung für das Radfest am 18./19.6. konnten<br />
wir nicht vorankündigen, da die Termine (Uhrzeiten, Programm) nach der<br />
Spaka-Anzeige nicht mehr eingingen.<br />
Übrigens: ZD-LeserInnen wissen, daß der unterstellte „linke Gesinnungs-Narzißmus“<br />
in die Klamottenkiste des Schubladendenkens gehört und außer dem<br />
Polemischen eines verärgerten Alt-Linken Goll nichts mit der Wirklichkeit der<br />
ZD zu tun hat. Goll wünschen wir ruhigere Zeiten mit dem „DE“.<br />
Der Herausgeber<br />
Ein neuer Anstoß<br />
IN EINEM OFFENEN BRIEF APPELLIERT DER „PEN“ -<br />
DEUTSCHLAND AN BUNDESKANZLER HELMUT KOHL<br />
(CDU), AUF DEM GIPFELTREFFEN DER G-7-STAATEN IN<br />
NEAPEL, VOM IRAN DIE AUFHEBUNG DES FATWA GEGEN<br />
SALMAN RUSHDIE ZU FORDERN:<br />
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,<br />
das anstehende Gipfeltreffen der G-7-Staaten in Neapel würde – gerade im<br />
Hinblick auf die kürzlich erfolgte Umschuldung der immensen Verbindlichkeiten<br />
des Iran bei seinen Handelspartner in Japan und Europa – eine einzigartige<br />
Gelegenheit bieten, der Kampagne zur Verteidigung Salman Rushdies<br />
einen neuen, entscheidenden Anstoß zu geben. Bereits auf dem Gipfel<br />
in Tokio im vergangenen Jahr wurde eine politische Erklärung verabschiedet,<br />
die ausdrücklich die Besorgnis der G-7-Mitgliedsstaaten über verschiedene<br />
„Aspekte“ der iranischen Vorgehensweise unterstrich und die iranische<br />
Regierung aufforderte, sich „konstruktiv an den internationalen<br />
Bemühungen um Frieden und Stabilität zu beteiligen und Handlungen zu<br />
unterlassen, die diesen Zielen zuwiderlaufen“. Im März dieses Jahres erst<br />
bezog sich auch die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in<br />
ihrer Resolution zur Lage der Menschenrechte in der Islamisch Iranischen<br />
Republik speziell auf den Fall Salman Rushdie und wies ihre Beobachter<br />
erneut an, die Situation im Iran zu überwachen. Diese Entscheidung spiegelt<br />
deutlich wider, welche Gefahren eine Anzahl von Regierungen in dem<br />
Versuch des Irans sieht, ein auf interner Rechtsauffassung basierendes<br />
Urteil extraterritorial in Anwendung zu bringen.<br />
Wir bitten Sie daher in aller Eindringlichkeit, auf dem Gipfeltreffen in Neapel<br />
– vor jeglicher neuerlicher Diskussion über weitere Hilfeleistungen an den<br />
und Handelsbeziehungen mit dem Iran – die Regierung des Landes aufzufordern,<br />
die Fatwa gegen Salman Rushdie und alle, die mit seinem Roman<br />
in Verbindung stehen, aufzuheben sowie die Aussetzung des Kopfgeldes<br />
von zwei Millionen Dollar für die Ermordung des Autors zu widerrufen.<br />
Ursula Setzer und Jochen Laabs für das PEN-Zentrum Deutschland,<br />
Sabine Herholz, Verband Deutscher Schriftsteller<br />
Tempo 30 auf der<br />
Heinheimer Straße! –<br />
UND NUN?<br />
Vor zwei Wochen machte im Martinsviertel eine Nachricht die Runde: „Auf<br />
dem unteren Teil der Heinheimer Straße ist Tempo 30 eingeführt“. Manche<br />
dachten, daß dies nie kommen würde, immerhin ist es eine qualifizierte<br />
Bundesstraße. Aber eben auch eine reine Wohnstraße. Ich hab’s geglaubt<br />
und mußte es doch sofort auch sehen. Knapp vier Jahre sind seit dem Beginn<br />
unserer Aktivitäten vergangen, um ein höchst legitimes Begehren der<br />
Bevölkerung zu realisieren, das Aufstellen von zwölf Tempo-30-Schildern.<br />
Am 14. September 1990 war der vierjährige Attila auf dem Kopernikusplatz<br />
verunglückt; sein Tod ist unser Auftrag!<br />
Wir wollen uns bedanken (oder ist das auch schon wieder ironisch?) bei<br />
unserem grünen Bürgermeister (mit 42 Prozent im Martinsviertel gewählt),<br />
der Ev. Martinsgemeinde für ihr hartnäckiges Nachhaken und der oberen<br />
Verkehrsbehörde. Und nun?… Ruhe im Viertel?… Keineswegs. Wir<br />
schöpfen Kraft, Mut und Hoffnung, die noch viel weitergehenden Forderungen<br />
zu wiederholen: Tempo 30 für die ganze Stadt. Das ist das Ziel! Und wir<br />
erwarten an dieser Stelle von unseren gewählten Vertretern Unterstützung.<br />
Laßt uns dabei mit schnellen Schritten vorgehen: Sofort Tempo 30, auch<br />
auf dem oberen Teil der Heinheimer Straße (Dieburger Straße bis Kopernikusplatz).<br />
Dringend ist auch die Verkehrsberuhigung in der Dieburger<br />
Straße, wo sich am 29. 6. ein Unfall ereig<strong>net</strong>e, der weit tragischere Folgen<br />
hätte haben können, als der vom 14.9. am Kopernikusplatz. Dort ist die für<br />
Fußgänger vielleicht am gefährlichsten zu überquerende Straße Darmstadts,<br />
warum wird dort keine Fußgängerampel gebaut? Ständige<br />
Geschwindigkeitskontrollen wären zwingend notwendig. Verkehrsberuhigung<br />
und eine abgeschlossene Tempo-30-Zone im ganzen Martinsviertel<br />
sind seitens der Stadt seit drei Jahren versprochen. Warum muß die Erledigung<br />
solcher Hausaufgaben ständig eingeklagt werden?– Gibt es doch viel<br />
Wichtigeres, wofür es zu kämpfen gilt!<br />
Holger Haupt, AFD UmKehr, Aktionsforum Darmstadt für Umwelt und Verkehr<br />
Internationale<br />
Solidaritäts-Karawane<br />
DIE „PASTORS FOR PEACE“ ORGANISIEREN FREUND-<br />
SCHAFTS-KARAWANEN FÜR KUBA, UM DIE BLOCKADEGE-<br />
SETZE DER USA ZU DURCHBRECHEN.<br />
Seit 1992 – nach der Verschärfung der US-amerikanischen Blockadegesetze<br />
– werden in den USA jährlich Freundschafts-Karawanen für Cuba organisiert.<br />
Die Organisatoren setzen dieses Jahr auch auf internationale Unterstützung.<br />
In der Bundesrepublik wird ab jetzt gesammelt und die Waren<br />
werden gegen Ende September mit Fahrzeugkolonnen, der Freundschafts-<br />
Karawane, von den Sammelstellen an den Hafen gefahren. In einer<br />
Abschlußkundgebung soll eine breitere Öffentlichkeit erreicht werden.<br />
Die Blockadegesetze begreifen neben Medikamenten auch Lebensmittel mit<br />
ein. In den USA hatten erstmals die „Pastors for peace“ beschlossen, eine<br />
Freundschafts-Karawane nach Kuba zu organisieren. Auf mehreren Routen<br />
quer durch die USA schafften sie im Jahr 1992 etwa 20 Tonnen Medikamente,<br />
Milchpulver, Rollstühle, Computer und Bibeln an die mexikanische<br />
Grenze. Sie durchbrachen die staatlich verhängte Blockade mit dem Grenzüberschritt<br />
nach Mexiko und verletzten so die Gesetze. In den USA ist der<br />
„Handel mit dem Feind“ verboten. Mit mexikanischen Solidaritätsgruppen<br />
ging’s weiter zum Hafen und die Waren wurden nach Cuba verschifft. Zeitgleich<br />
im November 1992 verurteilte die UNO die Blockadegesetze in einer<br />
Resolution, die USA haben die Blockade dennoch bis heute aufrechterhalten.<br />
Im Jahr 1993 protestierte auch das Europaparlament gegen die Blockadegesetze,<br />
da von den US-Bestimmungen auch alle Tochterfirmen der US-Industrie<br />
im Ausland betroffen sind.<br />
Taller de la Solidaridad, Michael Bühne
Gewaltenteilung<br />
aufgehoben?<br />
Ist in Darmstadt die<br />
Gewaltenteilung aufgehoben und ordnen<br />
sich die Grünen dieser rechtsstaatswidrigen<br />
Ordnung unter?<br />
Der Direktkandidat von Bündnis90/Die Grünen,<br />
Jürgen Barth, wurde in einem aus unserer<br />
Sicht rein politischen Prozeß verurteilt.<br />
Darin sehen wir, wie bereits in der ZD dargestellt,<br />
eine bewußte Kampagne der Darmstädter<br />
SPD, die fürchtet, im Oktober ihren<br />
Kandidaten Eike Ebert nicht mehr in den<br />
Bundestag zu bringen, da Jürgen Barth zu<br />
viele Stimmen auf sich vereinigen wird. Zum<br />
wiederholten Mal erleben wir somit, wie autokratisch<br />
die Darmstädter SPD mit ihrem<br />
Koalitionspartner umspringt, nämlich, als<br />
regierte sie alleine. Allzu offensichtlich wird<br />
kritischen Beobachtern der Zusammenhang<br />
zwischen der Darmstädter Sozialdemokratie<br />
und der Darmstädter Staatsanwaltschaft, die,<br />
ausgestattet mit SPD-Parteibüchern, die von<br />
oben kommenden Anweisungen befolgt. Hier<br />
ging sie der Eike Eberts nach, seinen Konkurrenten<br />
zu diskreditieren. Das ist ein Skandal,<br />
der Konsequenzen nach sich ziehen muß!<br />
Wie werden die Grünen reagieren? Gar<br />
nicht, um den Koalitionsfrieden nicht zu<br />
stören? Mit leisem Protest, der jedoch der<br />
„guten Zusammenarbeit“ wegen, bald zu<br />
verebben hat? Oder werden sie endlich einmal<br />
eine klare Position beziehen und, gemäß<br />
ihren 25% Stimmenanteil, die schwache<br />
Darmstädter SPD unter Druck setzen?<br />
Innerhalb von acht Wochen ist die Verurteilung<br />
Barths ein zweiter dicker – diesmal verschleierter<br />
Affront gegen die Grünen in<br />
Darmstadt. Für uns unverständlich wäre es,<br />
wenn die Grünen nach diesem politischen<br />
Prozeß wieder zur Tagesordnung übergingen.<br />
Die Grünen, die bisher nur sehr wenige<br />
Reformvorstellungen in die Regierungsarbeit<br />
einfließen lassen konnten, müssen endlich<br />
mehr Profil zeigen. Wir vermissen das<br />
Reformbestreben und sehen es immer häufiger<br />
dem Argument geopfert, daß bei einem<br />
strikteren Reformkurs die Gefahr eines<br />
Koalitionsbruchs bestünde. Dann, so die<br />
Grünen, wäre gar keine Reformpolitik mehr<br />
möglich. Dies ist ein nur schwaches Argument,<br />
besonders, da es eben bisher nur<br />
dazu diente, für einen SPD-treuen Kurs entschuldigend<br />
herzuhalten.<br />
Wir fordern eine klare Aussage der Grünen<br />
zu diesem Prozeß und eine öffentliche Stellungnahme<br />
zu den Zusammenhängen zwischen<br />
der Darmstädter SPD und der hiesigen<br />
Justiz. Hierbei müßte erkennbar werden,<br />
ob die Grünen hinter Jürgen Barth stehen<br />
und die Machenschaften Eike Eberts erkannt<br />
haben. Sollte dies der Fall sein, müssen<br />
Konsequenzen gezogen werden! Für die<br />
Grünen bietet sich hier im übrigen an, ihr<br />
Verhältnis zum Rechtsstaat darzulegen, wie<br />
OB Benz dies bekanntlich nach dem Cannabis-Weekend<br />
forderte, denn wenn die Politik<br />
der Justiz Anweisungen zu geben hat, ist<br />
rechtsstaatlich einiges faul!<br />
Wir kennen uns da aus, eure SED-Nachfolgepartei!<br />
Poststalinistischer<br />
Gemischtwarenladen<br />
Die Darmstädter<br />
Landtagsabgeord<strong>net</strong>e Daniela Wagner<br />
(Bündnis 90/Die Grünen) zur „Presseerklärung“<br />
der PDS:<br />
BÜNDNIS ’90<br />
DIE GRÜNEN<br />
STADTVERORDNETENFRAKTION<br />
PARTEIEN - STANDPUNKTE I<br />
Die Gruppe, die bisher weder landes- noch<br />
kommunalpolitisch mit nennenswerten Vorschlägen<br />
in Erscheinung getreten sei, versuche<br />
offensichtlich, aus kommunalen Randereignissen<br />
politisches Kapital zu ziehen.<br />
Schon das Instrumentalisieren des „Cannabis-Weekends“<br />
zu einer „PDS gegen Rechts<br />
Demo“ habe gezeigt, daß nicht Problemlösungen<br />
angestrebt werden, sondern öffentlichkeitswirksam<br />
eine vermeintliche Klientel<br />
unter „linken“ Jugendlichen bedient werden<br />
soll. „Dieses Verhalten hat die notwendige<br />
Information und Diskussion über Haschisch<br />
als Nutzpflanze im speziellen sowie gesellschaftliche<br />
Drogen- und Suchtproblematik<br />
im allgemeinen nicht einen Schritt weiter<br />
gebracht“, so Frau Wagner. „Im Gegenteil:<br />
Die Vermittlungsbemühungen zwischen<br />
beteiligten Jugendlichen, Bündnisgrünen,<br />
Kommunalpolitikern, dem Magistrat der<br />
Stadt und der Polizei, wurden teilweise nur<br />
noch unter dem Aspekt der ‚PDS-Demo’<br />
betrachtet und diskreditiert.“<br />
In der (oben veröffentlichten, red.) Erklärung<br />
spekuliere die Gruppe jetzt über Zusammenhänge<br />
zwischen einem nicht rechtskräftigen<br />
Urteil und Interessen der Darmstädter SPD,<br />
die über direkte oder informelle Wege – „von<br />
oben kommenden Anweisungen“ – durch<br />
die Justiz umgesetzt würden. Die Gruppe<br />
nutze so „spekulative Verdächtigungen“, um<br />
Bündnis 90/Die Grünen in Darmstadt dazu<br />
zu bewegen, „endlich einmal eine klare Position“<br />
und „strikteren Reformkurs“, so die<br />
PDS-Erklärung, zu beziehen. Was darunter<br />
zu verstehen sei, bleibe allerdings im trüben.<br />
Die Landtagsabgeord<strong>net</strong>e und Stadtverord<strong>net</strong>e<br />
stellt zusammenfassend fest:<br />
„1. Auch wenn das angeführte Urteil in vieler<br />
Hinsicht zu kritisieren ist, auch wenn es einige<br />
Ungereimtheiten im Verlauf des Prozesses<br />
gegeben hat, so berechtigt das noch<br />
nicht vorschnell von ‚Aufhebung der Gewaltenteilung’<br />
(!) zu sprechen. Nachhilfe in<br />
Sachen Rechtsstaat und dessen demokratischer<br />
Gestaltung haben Bündnis 90/Die Grü-<br />
Ludwigshöhstraße 55 · 64285 Darmstadt · Tel. 0 6151/6 1430 oder 614 90 · Fax 614 01<br />
en…Bündnis ’90/Die Grünen informieren…Bündnis ’90/Die Grünen informi<br />
In die hier aufgeführten Anträge und Kleinen Anfragen der Fraktion DIE GRÜNEN sowie<br />
in die kleine Auswahl von Magistratsvorlagen kann im Grünen-Büro Einsicht genommen werden.<br />
Anträge zu:<br />
– Getrenntmüllsammlung für Glas, Papier,<br />
Grüner-Punkt-Müll und Restmüll bei der Erneuerung von<br />
Abfallbehältern auf öffentlichen Plätzen<br />
– Energiesanierungskonzept und Wärmedirektservice<br />
bzw. Nutzlichtvertrag für städtische Gebäude<br />
– Umgestaltung des Wilhelminenplatzes und des Platzes<br />
vor der St. Ludwigs-Kirche<br />
– Pachtvertrag mit dem Verein „Kinder- und Jugendfarm“<br />
für ein geeig<strong>net</strong>es Gelände an der Maulbeerallee oder<br />
an anderer Stelle (gem. mit der SPD)<br />
– Eintrittsgelder Landesmuseum<br />
– Verbesserung der Fahrgastinformation über alle am Ostbahnhof<br />
verkehrenden Linien (gem. mit SPD)<br />
– Flughafen Egelsbach (gem. mit SPD)<br />
– Aufwertung der Straßenbahnlinie 1 (gem. mit SPD)<br />
Kleine Anfragen zu:<br />
– Leerfahrten am Betriebsende mit Heag-Bussen zum<br />
Depot<br />
– Gehaborner Hof<br />
– Verlängerung der Straßenbahnlinie 6 bis<br />
Arheilgen-Hofgasse<br />
– Bebauung der ehemaligen Lederfabrik Pfeiffer in der<br />
Eberstädter Mühltalstraße<br />
– Parkplatzsituation am Biergarten im Bürgerpark Nord<br />
– Sendeanlage der Telekom in der Heinrich-Delp-Straße<br />
– Restgelände der Deutschen Bundesbahn an der<br />
Michaelisstraße<br />
Magistratsvorlagen:<br />
0487 Altstadtmuseum an der Stadtmauer<br />
Hinkelsturm<br />
Beschlußdatum: 1.6.94<br />
0489 Papiertheatersammlung Röhler<br />
Beschlußdatum: 1.6.94<br />
0491 Lichtenbergschule; hier: PCB-Sanierung<br />
Beschlußdatum: 1.6.94<br />
0496 Verbesserung des Schienenpersonennahverkehrs<br />
in Hessen S-O<br />
Beschlußdatum: 1.6.94<br />
0497 Freikartenregelung für Kinder und<br />
Jugendliche von Sozialhilfeempfängern<br />
und Langzeitarbeitslose<br />
Beschlußdatum: 1.6.94<br />
0503 Verwendung des Sozialen Verfügungsfonds<br />
Beschlußdatum: 8.6.94<br />
0504 Erzielen von Einnahmen bei der Stadtbibliothek<br />
Beschlußdatum: 8.6.94<br />
0513 Untersuchungsergebnisse zur<br />
CO2-Reduzierung auf der Basis von<br />
Erfolgshonorarverträgen<br />
Beschlußdatum: 8.6.94<br />
0517 Haus der Literatur<br />
Beschlußdatum: 8.6.94<br />
0521 Darmstädter Skateboard- und BMX-Verein<br />
Beschlußdatum: 8.6.94<br />
0523 Geruchsimmissionsbegehung im Umfeld<br />
der Kompostierungsanlage im März 1994<br />
Beschlußdatum: 15.6.94<br />
0533 Instandsetzung Marktplatz und ÖPNV-<br />
Haltestellen in der Stadtmitte<br />
Beschlußdatum: 15.6.94<br />
0534 „Pfungstadt-Ost“/Kooperation<br />
Darmstadt - Pfungstadt<br />
Beschlußdatum: 15.6.94<br />
0538 Baugebiet K6 – Städtebaulicher Wettbewerb<br />
Beschlußdatum: 15.6.94<br />
0545 Innenstadt Block Heag-Hallen mit<br />
Neugestaltung der Luisenstraße<br />
Beschlußdatum: 15.6.94<br />
0549 Änderung der Bebauungspläne A25<br />
und A24 sowie Aufstellung eines<br />
Beb. Planes A29<br />
Beschlußdatum: 15.6.94<br />
0564 Verkehrssicherheit im Straßenverkehr;<br />
Hier: Fortschreibung 1993<br />
Beschlußdatum: 22.6.94<br />
0566 Kunstmarkt<br />
Beschlußdatum: 22.6.94<br />
0570 Anpassung der Bushaltestellen<br />
verschiedener Linien an Niederflurfahrzeuge<br />
Beschlußdatum: 22.6.94<br />
0572 Ferienkarte für Darmstädter Kinder<br />
und Jugendliche<br />
Beschlußdatum: 22.6.94<br />
Der Magistrat soll mit Südhessischer und Heag verhandeln, damit diese ein Energiesanierungskonzept<br />
für städtische Gebäude erstellen und auf dieser Grundlage der Stadt<br />
ein Angebot für einen Wärmedirektservicevertrag bzw. Nutzlichtkonzeptvertrag vorlegen.<br />
(Auszug aus einem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur nächsten Stavo)<br />
nen nicht nötig, schon gar nicht von der<br />
PDS. Zu Prozeß und Hintergründen sollte<br />
bei solch starkem Tobak, gelinde gesagt,<br />
etwas genauer recherchiert werden.<br />
2. Die geforderten ‚klaren Positionen’ sind<br />
im Unterschied zur PDS im kommunalpolitischen<br />
Programm und in der täglichen Praxis<br />
auf Kommunal- und Landesebene deutlich<br />
und für die BürgerInnen überprüfbar.<br />
3. Bündnis 90/Die Grünen steuern keinen<br />
‚SPD-treuen Kurs’, wie behauptet. Sie<br />
machen allerdings koalitionsorientierte und<br />
verantwortungsbewußte Realpolitik, wozu<br />
auch Kompromißbereitschaft unabdingbar<br />
zählt. Die Zeiten, in denen eine Partei allein<br />
die Wahrheit gepachtet hat, sind in Darmstadt<br />
und seit einigen Jahren auch in östlicheren<br />
Gefilden, dank der BürgerInnenbewegungen<br />
und nicht der PDS, vorbei. Wir,<br />
Bündnis 90/Die Grünen, werden das Unsrige<br />
dazutun, daß das so bleibt.<br />
4. Absolut anmaßend ist der wohl witzig<br />
gemeinte Schluß der PDS-Erklärung, wo<br />
nach dem Beklagen von rechtsstaatlicher<br />
Fäulnis steht: ‚Wir kennen uns da aus, Eure<br />
SED-Nachfolgepartei!’ Darmstädter ‚Junglinke’<br />
wollen offensichtlich nicht realisieren,<br />
daß diese Bezeichnung für die PDS nicht nur<br />
antikommunistischer Reflex notorischer<br />
Wessies ist, sondern aus der Entstehungsgeschichte<br />
der PDS herrührt. Nur durch die<br />
auch juristische Nachfolge wurden große<br />
Teile des SED-Parteivermögens für die PDS<br />
gerettet. Die PDS ist eben keine ‚Neugründung’<br />
und bezieht sich finanziell, personell<br />
und strukturell weitestgehend auf die Reste<br />
der SED. Die inhaltlichen Positionen sind<br />
demgegenüber nur selten originär. Hier<br />
klaut die PDS sich aus sozialdemokratischen<br />
und Bündnisgrünen Programmen zusammen,<br />
was gerade so in den poststalinistischen<br />
Gemischtwarenladen paßt.<br />
Unsere gleichzeitige Kritik an der wohlfeilen<br />
Übernahme der entsprechenden Blockparteien<br />
durch CDU und FDP sei hier – der Klarheit<br />
wegen – nur erwähnt, nicht ausgeführt.<br />
Unhistorisch und zynisch ist es allerdings,<br />
wie leicht – bei dem hohen moralischen Entrüstungspotential<br />
der ‚SED-Nachfolgepartei’<br />
– die Opfer des Stalinismus und der spätstalinistischen<br />
Systeme des realexistierenden<br />
Sozialismus übergangen werden. Vergeßlichkeit<br />
in dieser Hinsicht werden Bündnis<br />
90/Die Grünen, ebenso wie der Verdrängung<br />
der Nazi-Vergangenheit – ohne falsche<br />
Gleichsetzungen zu betreiben –, entschieden<br />
entgegentreten!<br />
Die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen<br />
sind zu ernst, um sie Leuten<br />
zu überlassen, deren hanebüchene Selbstinszenierung<br />
als verfolgter Unschuld,<br />
gepaart mit Selbstgerechtigkeit und -gefälligkeit,<br />
nur noch von schlichter Geschichtslosigkeit<br />
und ureigener Sozialismusromantik<br />
übertroffen wird.“<br />
Die bündnisgrüne Abgeord<strong>net</strong>e schließt ihre<br />
Mitteilung mit einer deutlichen Aufforderung:<br />
„PDSlerInnen in Darmstadt, erspart<br />
uns in Zukunft solche ‚aufklärerischen‘ Pamphlete,<br />
die, falls Ihr dem nicht nachkommen<br />
könnt, womit ich rechne, zumindest von<br />
dem/der VerfasserIn unterzeich<strong>net</strong> sein sollten,<br />
und freut Euch auf die nächste Gysi-<br />
Talkshow.“<br />
Groß-Bieberau: laut<br />
HGO Vorteilsnahme<br />
Die Kommunalaufsicht teilte<br />
uns am 21.6.1994 mit, daß bei den Beschlüssen<br />
über den Bebauungsplan Ober-Ramstädter-Weg<br />
sowie der 1. und 2. Änderung CDU-<br />
Stadtverord<strong>net</strong>e mit abgestimmt haben, die<br />
ein persönliches Interesse nach § 25 HGO<br />
hatten. Sie oder ihre Familienangehörigen<br />
wollten dort bauen. Auch Bürgermeister Seubert<br />
und ein Stadtrat hätten bei den Abstimmungen<br />
den Raum verlassen müssen.<br />
Das Ziel von Bürgermeister Seubert und seiner<br />
CDU-Fraktion war es von Anfang an, dieses<br />
Baugebiet in exponierter Lage zu<br />
erschließen, um dort zu bauen. Da die Oppositionsfraktionen<br />
gegen dieses Baugebiet<br />
waren, fragen wir uns, wie die Abstimmung<br />
ausgegangen wäre, wenn die CDU-Bauplatzbewerber<br />
nicht mitgestimmt hätten, wie es<br />
die Hessische Gemeindeordnung (HGO) in §<br />
25 vorschreibt.<br />
Da Bürgermeister Seubert kategorisch die<br />
Einsicht in die Bewerberliste verweigerte,<br />
konnte die Opposition den Widerstreit der<br />
Interessen nicht erkennen.<br />
Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 23<br />
Den Kommentaren zur HGO entnehmen wir,<br />
daß dies Vorteilsnahme im Amt darstellt.<br />
Die Rolle von Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher<br />
Anton Weiher ist völlig undurchsichtig. Sollte<br />
er nicht gewußt haben, daß über das<br />
zukünftige Grundstück Seubert abgestimmt<br />
wurde?, daß Stadtverord<strong>net</strong>er Michael Herrmanns<br />
selbst und Familienangehörige der<br />
Stadtverord<strong>net</strong>en Heribert Lorenz und Werner<br />
Mattusch und Stadtrat Rudi Lorenz dort<br />
bauen wollen?<br />
Die Feststellung der Kommunalaufsicht<br />
bestätigte, daß die Behandlung des Baugebietes<br />
Ober-Ramstädter-Weg von Bürgermeister<br />
Seubert und Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher<br />
Anton Weiher im Parlament nicht korrekt<br />
war. Nach bekannter Manier war der<br />
Bürgermeister auf die kritischen Äußerungen<br />
der Grünen hin zum Angriff übergegangen<br />
und hatte uns beschuldigt, „Psychoterror<br />
und Rufmord“ zu begehen („DE“<br />
31.1.94). Der Zeitung für Darmstadt warf er<br />
im „DE“ vom 2.2.94 vor, „psychologische<br />
Kriegsführung mit dem Ziel, Volksverhetzung<br />
zu betreiben und einzelne Personen<br />
fertig zu machen“.<br />
Zeit für Profis<br />
„Einen Offenbarungseid“<br />
nennt die FDP-Stadtverord<strong>net</strong>enfraktion das<br />
Ergebnis der sozialdemokratischen Kämmerer-Findungskommission.<br />
Für die Liberalen<br />
ist die Diskussion um die bisher genannten<br />
Kandidaten für die Nachfolge Otto Blöckers<br />
auch eine Folge der „ebenso vagen wie<br />
unterkarätigen“ Anforderungen im Text der<br />
Ausschreibung. Dieser Text, in dem lediglich<br />
von juristischem und betriebswirtschaftlichem<br />
„Hintergrund“ die Rede war, sei<br />
bereits bei der Formulierung von den Liberalen<br />
scharf kritisiert worden, erklärt Fraktionsvorsitzender<br />
Dr. Dierk Molter in einer<br />
Pressemitteilung. Die neue Ausschreibung<br />
der Position des Stadtkämmerers sollte deshalb<br />
ein abgeschlossenes Hochschulstudium,<br />
Verwaltungserfahrung und Know-how<br />
im Umgang mit städtischen Finanzen zur<br />
Bedingung machen.<br />
Einen fähigen und geeig<strong>net</strong>en Kandidaten<br />
würden die Liberalen durchaus mit unterstützen,<br />
betont Dr. Molter für seine Fraktion.<br />
Mit der Verschiebung der Stadtratswahlen<br />
auf den September sei zwar der nächste<br />
Koalitionskrach vorprogrammiert, man hoffe<br />
aber, daß sich bis dahin vielleicht auch bei<br />
den Grünen ein geeig<strong>net</strong>erer Bewerber als<br />
die „gelernte Landtagsabgeord<strong>net</strong>e“ Daniela<br />
Wagner finden lasse. Auf der Bühne des<br />
Darmstädter Sommertheaters seien bisher<br />
nur Laienschauspieler aufgetreten. „Nun“,<br />
so Dr. Molter, „werde es Zeit für Profis“.<br />
Kämmerei ist von<br />
großer Bedeutung<br />
In der Koalitionsrunde am<br />
22.6. sprachen die Koalitionspartner u. a.<br />
auch über die Wahlen für den hauptamtlichen<br />
Magistrat. Die SPD teilte mit, daß die<br />
Stelle für die Kämmerei neu ausgeschrieben<br />
werden soll, um dieses Dezernat mit einer<br />
Bewerberin oder einem Bewerber von außen<br />
zu besetzen. Vereinbart werden sollte deshalb<br />
auch, daß beide anstehende Wahlen auf<br />
den Herbst verschoben werden.<br />
Die Verhandlungsgruppe der Grünen<br />
begrüßt die Entscheidung der SPD: „Angesichts<br />
der wirtschaftlich schwierigen Zeiten,<br />
in denen alle Kommunen Finanzprobleme<br />
haben, ist die Kämmerei von großer Bedeutung.<br />
Es ist deshalb wichtig, die Stelle mit<br />
einer Person zu besetzen, die neben Fachwissen<br />
und Erfahrung auch neue Ideen mitbringt<br />
und die in der Lage ist, festgefahrene<br />
Strukturen aufzulösen.“<br />
Diese Personalentscheidung kann nicht von<br />
heute auf morgen getroffen werden. Um die<br />
Entscheidung, die Stelle neu auszuschreiben,<br />
zu unterstützen, haben die Grünen<br />
zugestimmt, beide Wahlen auf den Herbst zu<br />
verschieben. Das Einverständnis der Grünen<br />
wurde dadurch erleichtert, daß die Kandidatin<br />
der Grünen für den hauptamtlichen Magistrat,<br />
Daniela Wagner, sich mit dieser<br />
Lösung einverstanden erklärt hat und sie ihr<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite<br />
SONNENSCHUTZ<br />
DARMSTADT<br />
ROSSDÖRFER PLATZ
Amt ohnehin frühestens zum 1. September<br />
übernehmen könnte.<br />
Nach Ansicht der Grünen Verhandlungsgruppe<br />
hat sich gestern gezeigt, daß SPD<br />
und Grüne mittlerweile ein gutes Arbeitsklima<br />
gefunden haben. Das wird auch dadurch<br />
deutlich, daß in wichtigen Punkten Übereinstimmung<br />
erzielt wurde, wie z. B. bei der B3-<br />
Westumgehung, den Heag-Hallen oder der<br />
Neugestaltung des Marktplatzes.<br />
Hastiger Aktionismus<br />
im Magistrat<br />
Als „skandalös“, bezeich<strong>net</strong><br />
die CDU-Fraktionsvorsitzende Karin Wolff<br />
die „Blitzentscheidungen“, die auf der letzten<br />
Magistratssitzung gefallen sind. Umfangreiche<br />
Vorlagen zu wichtigen Zukunftsentscheidungen<br />
für Darmstadt wie das Projekt<br />
„Heag-Hallen“, die B3-Westumgehung oder<br />
die Marktplatz-Umgestaltung wurden in<br />
erster Sitzung regelrecht „durchgepaukt“.<br />
Auf die Forderung der ehrenamtlichen CDU-<br />
Magistratsmitglieder nach Bedenkzeit zum<br />
Studium der neuen Vorlagen sei die rot-grüne<br />
Koalition nicht eingegangen.<br />
„Das war noch nie da“, empört sich Karin<br />
Wolff. Nur bei wichtigsten Terminsachen<br />
seien Vorlagen bis jetzt im D-Zug-Tempo<br />
beschlossen worden. Dies gelte aber auch<br />
nicht für den Fall, daß eine Gruppe, wie jetzt<br />
die CDU, Beratungsbedarf bekundet habe.<br />
Um so unerklärlicher ist für Karin Wolff der<br />
plötzliche „hastige Aktionismus“, da die Probleme<br />
schon jahrelang auf dem Tisch gelegen<br />
hätten.<br />
„Magistrat und Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung<br />
müssen in die Lage versetzt werden,<br />
intensiv zu diskutieren, Gespräche zu führen<br />
und den Rat der Ausschüsse einzuholen“,<br />
beschrieb die CDU-Fraktionsvorsitzende ihre<br />
Kriterien für eine seriöse Politik. Als Negativbeispiel<br />
hierfür nannte Karin Wolff die<br />
„Informationspolitik“ der rot-grünen Koalition<br />
bezüglich des Heag-Hallen-Projekts. Bis<br />
jetzt fehlten den Stadtverord<strong>net</strong>en wesentliche<br />
Unterlagen. „Und die Zahlen, die uns<br />
vorliegen, entpuppten sich als schlampige<br />
Rechnungen“, stellte sie fest.<br />
Die CDU-Fraktion verlange offene Informationen<br />
und eine solide Beratungszeit. Vor<br />
allem müßten die getroffenen Entscheidungen<br />
anschließend auch tatsächlich umgesetzt<br />
werden, so Karin Wolff.<br />
Stadt kann Fahrpreiserhöhungen<br />
nicht verhindern<br />
Die HEAG hat angekündigt,<br />
nach dem Heinerfest ihre Fahrpreise zu<br />
erhöhen. „Man muß dieses Entscheidung<br />
akzeptieren“, meint die Grüne Fraktion.<br />
Unter den gegebenen Umständen – allgemeine<br />
Preisentwicklung, kommende Tarife<br />
im RMV – kann die Stadt diese Maßnahme<br />
der HEAG nicht verhindern.<br />
Die HEAG reagiert auch auf die Tarifgestaltung<br />
im RMV, die für Darmstadt aber problematisch<br />
ist. Pendler aus der Umgebung<br />
Darmstadts, die bisher den DDV-Tarif in<br />
Höhe von 69 Mark für die Monatskarte zahlen,<br />
werden durch die RMV-Preise benachteiligt,<br />
da sie dann mit 93 Mark zur Kasse<br />
gebeten werden. Der Pendlerverkehr müßte<br />
aber gefördert werden, um die Belastungen<br />
durch den Individualverkehr zu verringern.<br />
Die Zeitkarten müßten deshalb deutlich billiger<br />
angeboten werden. Im Gegensatz dazu<br />
ist nach RMV-Vorgaben die Zeitkarte für die<br />
Darmstädter City billiger als bisher, wodurch<br />
erhebliche Einnahmeverluste in diesem stark<br />
frequentierten Bereich entstehen, die durch<br />
höhere Tarife anderswo kompensiert werden<br />
müssen.<br />
Die Tarifgestaltung im öffentlichen Personennahverkehr<br />
ist recht schwierig, weil<br />
Wirtschaftlichkeit und verbraucherfreundliche<br />
Preisgestaltung nur schwer zu verbinden<br />
sind. Die Diskussion über die Kosten<br />
des ÖPNVs muß deshalb ehrlich geführt<br />
werden. Den Blick nur auf steigende Preise<br />
für Fahrscheine zu richten, ist nicht ausreichend.<br />
Man muß auch sehen, daß die HEAG-Verkaufsgesellschaft<br />
mit den Einnahmen aus<br />
dem Fahrscheinverkauf und anderen Positionen<br />
nur 51 Prozent der Aufwendungen<br />
bestreiten kann – dennoch eine im Vergleich<br />
mit anderen Verkehrsbetrieben gute Quote.<br />
Für 1993 weist die HEAG Umsatzerlöse in<br />
Höhe von 45 Millionen Mark aus (ca. 30 Millionen<br />
Mark aus dem Fahrscheinverkauf).<br />
Dem stehen Aufwendungen von 88 Millionen<br />
gegenüber.<br />
Die Differenz muß vom Land, der Stadt und<br />
den Stromkunden ausgeglichen werden.<br />
Das ist im Sinne der Allgemeinheit, weil<br />
öffentliche Verkehrsmittel umweltfreundlich<br />
sind. Die Übernahme eines Verlusts des Verkehrsbetriebs<br />
durch die HEAG-Versorgung<br />
(aus dem Stromgeschäft) ist mit 25 Millionen<br />
Mark festgeschrieben. Dadurch mindert<br />
sich der Gewinn. Aber auch die Steuerforderungen<br />
des Finanzamtes sind geringer. Hier<br />
ist zu überlegen, ob dieser Betrag in Zukunft<br />
nicht an die Stromtarife gekoppelt werden<br />
sollte. Wenn die Stromtarife steigen, würde<br />
auch der Verlustausgleich größer. Berücksichtigt<br />
man die immensen öffentlichen<br />
Zuschüsse für Investitionen (Busse,<br />
Straßenbahnen, neue Strecken) dann ist das<br />
Verhältnis von Einnahmen zu Ausgaben<br />
noch um einiges ungünstiger. Preissteigerungen<br />
für Fahrscheine lassen sich deshalb<br />
nicht vermeiden, wenn das ÖPNV-Angebot<br />
verbessert werden soll.<br />
Unehrlich ist die Diskussion, wenn gestiegene<br />
ÖPNV-Tarife mit den Kosten fürs<br />
Autofahren verglichen werden. Denn Autofahren<br />
ist viel zu billig. Der Individualverkehr<br />
verursacht soziale und volkswirtschaftliche<br />
Folgekosten in Höhe von 220 Milliarden<br />
Mark im Jahr aufgrund von Umweltzerstörung,<br />
Verkehrsunfällen, Krankheiten und<br />
durch Autoschadstoffe oder Lärm. Diese<br />
Zahl nennt das Umwelt- und Prognoseinstitut<br />
in Heidelberg.<br />
Diese Kosten zahlt die Allgemeinheit und<br />
nicht der einzelne Autofahrer. Wenn die Ausgaben<br />
fürs Autofahren die ökologisch und<br />
soziale Wahrheit sagen würden, müßte fürs<br />
Autofahren wesentlich mehr bezahlt werden.<br />
Sogar der von der Bundesregierung beauftrage<br />
Sachverständigenrat für Umweltfragen<br />
hält eine schrittweise Erhöhung der Kraftstoffpreise<br />
auf 5 Mark pro Liter für notwendig.<br />
Gemessen an der Kaufkraft ist der heutige<br />
Benzinpreis viel niedriger als in den 50er<br />
Jahren.<br />
Es steht fest, daß der Individualverkehr viel<br />
stärker subventioniert wird als der öffentliche<br />
Nahverkehr. Diese Fehlentwicklung kann<br />
eine Kommune allein aber kaum korrigieren<br />
(möglich wäre z. B. die Erhöhung der Parkgebühren).<br />
Dazu wäre eine Wende in der<br />
Bonner Verkehrspolitik nötig.<br />
Die Anzeige ist da!<br />
Nach dem bundesweit mit<br />
Spannung erwarteten Cannabis-Weekend,<br />
das von OB Benz verboten wurde und demnach<br />
nicht in der geplanten Form stattfinden<br />
konnte, erreichte gestern die PDS-Hessen-<br />
Süd eine Anzeige wegen Verdachts des Verstoßes<br />
gegen das Versammlungsgesetz.<br />
Aus dem Schreiben der Darmstädter Polizei<br />
geht nicht hervor, von wessen Seite aus die<br />
Anzeige erstattet wurde. Mit ziemlicher<br />
Sicherheit, so glauben wir, wird sie allerdings<br />
von der Stadt Darmstadt erstattet worden<br />
sein, die kurz nach dem Wochenende<br />
damit drohte, uns mit einer Klage zu überziehen.<br />
In der Person des OB’s dürfte der<br />
Drahtzieher dieser Machenschaft zu finden<br />
sein, denn, so sein Originalton, „was von<br />
Seiten der Stadt noch auf Euch zu kommt,<br />
das werdet ihr schon noch sehen.“ Wobei<br />
seine letzten Worte ein fieses Lachen begleitete.<br />
Diese Prophezeiung eröff<strong>net</strong>e er uns bei<br />
einem „persönlichen Gespräch“ in einer seiner<br />
Bürgersprechstunden. Weiterhin, so<br />
beklagte er sich bei dieser Unterhaltung,<br />
„vergesse ich Euch niemals, daß Ihr das<br />
Cannabis-Weekend doch gemacht habt“,<br />
was allerdings völliger Blödsinn ist.<br />
Ursprünglich wollte uns die Stadt auch<br />
wegen „der Durchführung einer verbotenen<br />
Ersatzveranstaltung“ anklagen, so faxte sie<br />
an die Zeitung für Darmstadt. Diese Vorwürfe<br />
werden gegen uns erhoben, da wir am<br />
Tage des Weekends eine Demonstration<br />
gegen Rechtsextremismus veranstalteten,<br />
zu der sich viele Menschen gesellten, von<br />
denen die Polizei annahm, sie seien<br />
ursprünglich wegen des verbotenen Cannabis-Weekends<br />
nach Darmstadt gekommen.<br />
Wir sehen in dem „vorliegenden Ermitt-<br />
PARTEIEN - STANDPUNKTE II Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 24<br />
lungsverfahren“ einen Racheakt der SPD<br />
und des eitlen Oberbürgermeisters gegen<br />
uns. Zum anderen vermuten wir hinter diesem<br />
Vorgang den erneuten Versuch, in<br />
Darmstadt gerichtlich gegen mißliebige,<br />
politisch engagierte Menschen vorzugehen.<br />
Nach dem politischen Prozeß gegen Jürgen<br />
Barth, in dem offen zutage trat, wie eng die<br />
Darmstädter SPD mit der hiesigen Justiz<br />
verknüpft ist und daß die Gewaltenteilung<br />
fast aufgehoben zu sein scheint, soll nun der<br />
nächste politische Prozeß eröff<strong>net</strong> werden,<br />
der im Wahl(kampf)jahr ‘94 nur dazu dient,<br />
mit der SPD konkurrierende Parteien und<br />
Kandidaten einzuschüchtern und zu diskreditieren.<br />
Dagegen protestieren wir und wir<br />
fordern OB Benz und die Stadt Darmstadt<br />
auf, diese Anzeige zurückzuziehen.<br />
Die Zeitung für Darmstadt druckt Parteienmeldungen<br />
grundsätzlich unverändert. Ausgenommen sind Schreib- und<br />
Grammatikfehler sowie Wiederholungen. Inhaltliche auch<br />
politische Änderungen werden nicht angebracht und auch<br />
nichts hinzugefügt. Die Briefe geben nicht die Meinung der<br />
Redaktion wieder.<br />
Agrarrat beugt sich<br />
der Chemie-<br />
Industrie<br />
Zur Verabschiedung von<br />
Anhang VI der Richtlinie über das Inverkehrbringen<br />
von Pflanzenschutzmitteln durch<br />
den Agrarrat erklärt die Europaabgeord<strong>net</strong>e<br />
von Bündnis 90/Die Grünen, Hiltrud Breyer,<br />
MdEP:<br />
Die Entscheidung der EU-Agrarminister ist<br />
ein umweltpolitisches Desaster. Sie legitimiert<br />
einen Angriff auf die Gesundheit der<br />
340 Millionen Bürgerinnen und Bürger in der<br />
Europäischen Union. Die schon über jedes<br />
Maß strapazierte Natur darf künftig noch<br />
stärker maltretiert werden. Die Landwirtschaftsminister<br />
beugen sich dem Diktat der<br />
Chemie- und Agrarindustrie und wischen in<br />
unerträglicher Manier die eindringlichen<br />
Warnungen der besorgten Öffentlichkeit<br />
vom Tisch.<br />
Anstatt Umweltschonung und Gesundheitsschutz<br />
zum primären Gebot für eine einheitliche<br />
Vermarktung von Pestiziden in der EU<br />
zu machen, wird die heute schon massenhafte<br />
Anwendung der Pflanzengifte weiter<br />
ansteigen. Die nun beschlossene Zulassung<br />
markiert damit einen schwerwiegenden<br />
Rückschritt in der EU-Umweltpolitik. Für<br />
eines der wenigen wirklich am Verbraucherund<br />
Naturschutz gemessenen Gesetze sind<br />
die Tage gezählt. Denn das Votum der Minister<br />
am 23.6. ist zweifellos der erste Schritt<br />
auf dem Weg, die von der Industrie seit langem<br />
attackierten Reinheitsvorschriften für<br />
Trinkwasser aus der Welt zu schaffen. Der<br />
dort festgelegte Pestizid-Grenzwert von 0,1<br />
Mikrogramm je Liter soll nur für jenes<br />
Grundwasser gelten, das zur Trinkwassergewinnung<br />
dient. Für alle anderen Grundwassergebiete<br />
gibt es nahezu keinen Schutz.<br />
Und die Eingrenzung dieser Trinkwasser-<br />
Ressourcen unterliegt allein nationalen Entscheidungen.<br />
Außerdem darf auch dort die<br />
Pflanzengift-Dosierung für fünf Jahre und<br />
länger überschritten werden. Die Hersteller<br />
sind nicht gezwungen, die Umweltverträglichkeit<br />
ihrer Produkte nachzuweisen.<br />
Bundeslandwirtschaftsminister Borchert hat<br />
mit seinen Äußerungen in den vergangenen<br />
Tagen die Öffentlichkeit bewußt irregeführt.<br />
Seine Versicherung, das deutsche Schutzniveau<br />
werde mit dieser Entscheidung nicht<br />
angetastet, kann nur als wahlkampfpraktische<br />
Heuchelei bezeich<strong>net</strong> werden. Deutschland<br />
wird letztlich weder nationale Produktverbote<br />
aufrecht erhalten, noch die Vermarktung<br />
in der Bundesrepublik verbotener<br />
Wirkstoffe aus anderen EU-Ländern untersagen<br />
können. Die Bundesregierung beweist<br />
damit erneut ihre Mißachtung von VerbraucherInneninteressen<br />
und Umweltschutz.<br />
Das Europäische Parlament hatte bereits im<br />
vergangenen Dezember in einer Entscheidung<br />
dagegen protestiert, daß der Rat eine<br />
derartige Entscheidung ohne Konsultation<br />
des EP treffen kann. Zudem ist es völlig<br />
unakzeptabel, daß ein umweltpolitisch so<br />
brisantes Thema vom Agrarrat verabschiedet<br />
wird.<br />
Die Europa-Grünen werden rechtliche<br />
Schritte des EP gegen die Pestizid-Zulassung<br />
initiieren. Sie fordern eine Änderung<br />
der Rechtsgrundlage, um das Paket in den<br />
Umweltrat zu bringen und dem EP die Möglichkeit<br />
zu geben, mit absoluter Mehrheit<br />
eine Ratsentscheidung verhindern zu können.<br />
Die Euro-Grünen treten nach wie vor dafür<br />
ein, daß<br />
– eine Pestizid-Zulassung nur auf der<br />
Grundlage des Trinkwasser-Grenzwertes<br />
erfolgen darf, und dieser auszudehnen ist<br />
auf den gesamten Gewässerschutz.<br />
– Hersteller keine Vermarktungsgenehmigung<br />
für ihre Produkte ohne Umweltverträglichkeitsnachweis<br />
erhalten.<br />
Eine Jugendfarm in<br />
Darmstadt?<br />
Die Fraktionen Bündnis<br />
90/Die Grünen und SPD finden das Projekt<br />
des Vereins Kinder- und Jugendfarm Darmstadt,<br />
der sich vor etwas über einem Jahr<br />
gegründet hat, unterstützenswert. Deshalb<br />
fordern sie mit einem Prüfantrag den Magistrat<br />
auf, einen Pachtvertrag mit dem Verein<br />
für ein Gelände an der Maulbeerallee oder an<br />
einem anderen geeig<strong>net</strong>en Standort abzuschließen.<br />
In hessischen Kommunen sind Kinder- und<br />
Jugendfarmen noch wenig bekannt. Im<br />
Stuttgarter Raum hingegen sind etwa zwanzig<br />
solcher alternativer Spielplätze seit vielen<br />
Jahren erfolgreich in Betrieb. Kinder und<br />
Jugendliche von sieben bis vierzehn verbringen<br />
ihre freie Zeit auf dem Farmgelände.<br />
Dort wird mit natürlichen Stoffen wie Holz<br />
und Wasser gebaut und gebastelt. Und vor<br />
allem werden Tiere gehalten: Schafe, Ziegen,<br />
Hühner, Enten, Gänse, Ponys und Pferde.<br />
Kinder pflegen und füttern die Tiere regelmäßig.<br />
Die Kinder lernen so, verantwortlich<br />
mit der Natur, den Tieren und Pflanzen<br />
umzugehen und sich mit ihren Fähigkeiten<br />
aktiv und verantwortlich am Aufbau und<br />
dem Erhalt der Anlage zu beteiligen. Durch<br />
die hohe Verkehrsbelastung in der Stadt<br />
sind gerade Stadtkinder auf einen Ausgleich<br />
für den zunehmenden Verlust von freien<br />
Spielflächen in ihrer Wohnumgebung angewiesen.<br />
Die Grünen und die SPD sind der Ansicht,<br />
daß der Standort für eine Kinder- und<br />
Jugendfarm in der Nähe der großen Wohngebiete<br />
zu Kranichstein oder Arheilgen liegen<br />
sollte. Ob es das Gelände an der Maulbeerallee<br />
ist oder ein anderes, ebenfalls<br />
geeig<strong>net</strong>es Gelände, das sich für die Kinderund<br />
Jugendfarm am besten anbietet – dies<br />
sollte der Magistrat auf ihre gemeinsame<br />
Initiative hin herausfinden.<br />
Bei der Fernwärme<br />
tut sich nichts<br />
In einer kleinen Anfrage hat<br />
sich der Kranichsteiner CDU-Stadtverord<strong>net</strong>e<br />
Georg Röder beim Magistrat nach dem<br />
Stand der Maßnahmen zur Sicherstellung<br />
der Fernwärmeversorgung von Kranichstein<br />
erkundigt.<br />
Seit April 1992 stehe fest, daß die Wärmeversorgung<br />
Kranichsteins in kälteren Wintern<br />
von dem bestehenden Fernheizwerk<br />
nicht mehr sichergestellt werden kann.<br />
Nachdem zunächst ein neuer Heizkessel mit<br />
ausreichender Wärmeleistung für 1,2 Millionen<br />
Mark geplant war, entschied sich der<br />
Magistrat dann für eine Kombination des<br />
Fernheizkraftwerkes Kranichstein mit dem<br />
Fernheizwerk Arheilgen, das in ein Blockheizkraftwerk<br />
umgebaut werden soll;<br />
Kostenpunkt ca. 20,2 Millionen Mark. Die<br />
Fernheizwerke sollen an die Südhessische<br />
verkauft werden, die dann die Maßnahmen<br />
auf ihre Kosten durchführen will. Eine Verbindungsleitung<br />
zwischen den beiden Heizwerken<br />
soll die benötigte Wärmemenge von<br />
Arheilgen nach Kranichstein bringen. Der<br />
unterschriftsreife Vertrag zwischen der Stadt<br />
und der Südhessischen Gas- und Wasser<br />
AG wurde von dem neugewählten grünen<br />
Planungsdezernenten Michael Siebert seit<br />
Sommer 1993 mit zusätzlichen Forderungen,<br />
u. a. nach einem Konkurrenzangebot<br />
der Blockheizkraftwerk GmbH gestoppt. Die<br />
Südhessische stellte daraufhin den Weiterbau<br />
der begonnen Verbindungsleitung ein.<br />
Die CDU forderte im November und Dezem-<br />
ber 1993 sowie im März 1994 den Magistrat<br />
auf, umgehend die Verbindungsleitung bauen<br />
zu lassen und dadurch die Wärmeversorgung<br />
Kranichsteins sicherzustellen. Vergeblich<br />
– am 17. Februar 1994 zog Oberbürgermeister<br />
Benz auf Drängen seines Koalitionspartners<br />
die betreffende Magistratsvorlage<br />
zurück. Der CDU gab er zur Antwort, die<br />
Wärmeversorgung Kranichsteins sei nicht in<br />
Gefahr, obwohl die Südhessische ihm<br />
schriftlich mitgeteilt hatte, daß die Leistung<br />
des Heizwerks Kranichstein bei Temperaturen<br />
unter Null Grad nicht mehr zur Versorgung<br />
der Wohnungen ausreiche.<br />
Seitdem habe sich nichts getan, so Röder.<br />
Die Blockheizkraftwerk-GmbH habe mitgeteilt,<br />
daß sie kein günstigeres Angebot abgeben<br />
könne als die Südhessische. Diese hatte<br />
vom Magistrat bis April 1994 den Vertragsabschluß<br />
oder eine schriftliche Kostenzusage<br />
für die Fertigstellung der Verbindungsleitung<br />
verlangt. Geschehen sei nichts. Die<br />
Verbindungsleitung werde demnach auch<br />
für den kommenden Winter nicht zur Verfügung<br />
stehen. Als Zwischenlösung schlug die<br />
Südhessische die Reparatur des defekten<br />
Kessels im Heizwerk Kranichstein oder die<br />
Aufstellung einer mobilen Heizzentrale vor,<br />
die bis Anfang Juli in Auftrag gegeben werden<br />
müßte. Auch hierfür liege noch kein<br />
Magistratsbeschluß vor. „Die Kranichsteiner<br />
müssen damit rechnen, daß die Dickköpfigkeit<br />
des grünen Bürgermeisters Michael Siebert<br />
ihnen einen weiteren Winter mit dem<br />
Risiko beschert, bei Temperaturen um den<br />
Gefrierpunkt in ihren Wohnungen frieren zu<br />
müssen“, warnte Röder.<br />
Eva Ludwig will in<br />
den Landtag<br />
Eva Ludwig heißt die<br />
Kandidatin der Darmstädter CDU für den<br />
Landtagswahlkreis 49 „Darmstadt Nord“.<br />
Auf einer Delegiertenversammlung erhielt<br />
Darmstadts CDU-Kreisvorsitzende 35 von<br />
38 Stimmen. Eine Gegenkandidatur gab es<br />
nicht. In ihrer Vorstellungsrede zog Eva Ludwig<br />
Parallelen zwischen der SPD-Politik in<br />
Darmstadt und in Hessen. In Darmstadt wie<br />
in Wiesbaden sei die CDU „die einzige Oppositionspartei“<br />
und „die Alternative gegen<br />
Genossenfilz“. Die CDU stelle die Partei für<br />
all diejenigen dar, die die „rot-grüne Bevormundung“<br />
satt hätten. „Kungelei“ und<br />
„Schlitzohrigkeit“ der SPD seien nicht zur<br />
Nachahmung empfohlen. Die Aufgabe der<br />
CDU sei es, für „politische Hygiene“ zu sorgen.<br />
Als ein „Lernbeispiel für erfolgreiche Arbeit“,<br />
bezeich<strong>net</strong>e Eva Ludwig die CDU-Landtagsfraktion.<br />
Hier hob sie die Drogenpolitik der<br />
hessischen CDU heraus: „Die CDU bleibt bei<br />
einem „konsequenten Nein“ zu weichen Drogen.<br />
„Hier besteht kein Nachholbedarf an<br />
Liberalisierung.“ An die Adresse der rot-grünen<br />
Landesregierung richtete Eva Ludwig<br />
die Aufforderung, statt über eine Liberalisierung<br />
der Drogenpolitik zu diskutieren, erst<br />
einmal ausreichend Therapieplätze für Drogenabhängige<br />
zu schaffen.<br />
Angesichts der „Pleiten, Pech- und Pannenregierung<br />
von Hans Eichel, deren Spektrum<br />
von der Dienstvilla- bis zur Lotto-Affäre reiche,<br />
rech<strong>net</strong> sich Eva Ludwig gute Chancen<br />
für einen Wahlsieg der hessischen CDU im<br />
nächsten Jahr aus. „Einen Hans Eichel hat<br />
Hessen nicht verdient“, stellte sie fest. Der<br />
SPD-Ministerpräsident hinterlasse keine<br />
Spuren im Land. Und die Genossen stünden<br />
schon mit „gezückter Säge“ hinter seinem<br />
Sessel. Für die CDU-Kreisvorsitzende gibt es<br />
keinen Zweifel: „Die CDU ist mit Manfred<br />
Kanther an der Spitze die personell klar bessere<br />
Alternative für Hessen.“<br />
Ein neues<br />
Bürgerbüro<br />
Die letzten Wahlergebnisse,<br />
aber auch das selbstverursachte schlechte<br />
Bild der SPD in Darmstadt, haben uns veranlaßt,<br />
über neue Wege der direkten Kommunikation<br />
der Partei mit Bürgerinnen und Bürgern<br />
nachzudenken. Die Partei muß wieder<br />
glaubhaft und ehrlich werden und neue For-<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite
men der Zusammenarbeit mit der Bevölkerung<br />
finden. Politik muß aus den Hinterzimmern<br />
heraus und transparent Entscheidungen<br />
nachvollziehbar werden.<br />
Ein erster Schritt wird von dem SPD Ortsverein<br />
Bessungen und der Europaabgeord<strong>net</strong>en<br />
Barbara Schmidbauer getan, durch die<br />
Einrichtung eines gemeinsamen Bürgerbüros<br />
mit festen Öffnungs- und Sprechzeiten<br />
in den Räumen des Hauses Bessunger<br />
Straße 48.<br />
Dort wird ab sofort jeden Montag der eigens<br />
für diese Aufgabe engagierte Mitarbeiter<br />
Helmut Gerhardt den Bürgerinnen und Bürgern<br />
in der Zeit von 9 Uhr bis 11 Uhr persönlich<br />
und auch telefonisch unter der Nummer<br />
663092 zur Verfügung stehen. Darüber hinaus<br />
können hier Direkttermine mit dem Ortsvereinsvorsitzenden<br />
Michael Blechschmitt<br />
und anderen Politikern vereinbart werden.<br />
„Nur durch gegenseitiges Vertrauen und<br />
Verständnis, kann die arg gebeutelte Darmstädter<br />
SPD verlorengegangene Glaubhaftigkeit<br />
und politisches Profil zurückgewinnen.<br />
Dies muß in erster Linie in Gesprächen mit<br />
Bürgerinnen und Bürgern, aber auch durch<br />
aktive Mitarbeit in Vereinen und Gruppen<br />
erfolgen“, so der Ortsvereinsvorsitzende<br />
Michael Blechschmitt.<br />
Sieberts<br />
Wettbewerbswahn<br />
Unnötige Warteschleifen im<br />
Baugebiet Kranichstein K6: „Die Planer hoffen<br />
und die Stadt blockiert“, erklärt die<br />
Darmstädter CDU-Fraktion in Bezug auf das<br />
Baugebiet K6 in Kranichstein. Wenn man<br />
sich auf Anraten der CDU zum Wohnungsbau<br />
in K6 entschlossen habe und jetzt erst<br />
einen städtebaulichen Ideenwettbewerb ausschreibe,<br />
heiße dies: Auch 1995 ist dort kein<br />
Spatenstich zu erwarten. Die Auswertung<br />
der Wettbewerbsergebnisse sei für März<br />
1995 vorgesehen. Danach erst könne man<br />
Umlegung betreiben und in die konkrete Planung<br />
einsteigen. Bis zu einem rechtskräftigen<br />
Bebauungsplan vergingen weitere Jahre.<br />
„Dieser Wettbewerb ist so überflüssig wie<br />
ein Kropf, weil man ja weiß, daß dort Wohnungen<br />
hinkommen sollen. Er bewirkt nur,<br />
daß ein weiteres Jahr ins Land geht, bevor<br />
etwas geschieht“, stellt die Kranichsteiner<br />
CDU-Stadtverord<strong>net</strong>e Walburga Jung fest.<br />
„Inzwischen warten die Leute auf Wohnungen<br />
und den Bauwilligen laufen die Preise<br />
davon“, warnt sie. Sogar provisorische<br />
Erschließungskosten für die Heag-Garage<br />
seien erforderlich wegen dieser Planungsverzögerung.<br />
Das koste die Stadt zusätzlich<br />
100.000 Mark. „Das sind vermeidbare Folgekosten,<br />
die nur durch Michael Sieberts<br />
Wettbewerbsidee entstehen“, erklärt die<br />
CDU-Stadtverord<strong>net</strong>e.<br />
Elternprotest<br />
verständlich<br />
Der Elternbeirat der<br />
Friedrich-Ebert-Schule beschwert sich in<br />
einem Offenen Brief über das Vorhaben der<br />
Stadt, in Räumen der Schule städtische<br />
Ämter unterzubringen. Insbesondere<br />
mißfällt der Elternschaft, daß die Schulkonferenz<br />
nicht gehört worden ist, wie es das<br />
neue Hessische Schulgesetz eigentlich vorschreibt.<br />
„Den Groll der Eltern können wir verstehen“,<br />
sagen Doris Fröhlich und Christel Thorbecke<br />
von der Grünen Fraktion. „Die Schule hat ja<br />
in den letzten Jahren bereits einige Räume,<br />
u. a. an den Adventkindergarten und die Herderschule<br />
abgegeben.“ Die Kommunalpolitikerinnen<br />
haben sich deshalb mit der Bitte an<br />
den Magistrat gewandt, vor einer endgültigen<br />
Entscheidung, die Meinung der Schulkonferenz<br />
einzuholen und auf die besondere<br />
Situation an der Schule Rücksicht zu nehmen.<br />
Die Maßnahme der Stadt darf nämlich<br />
auf keinen Fall den laufenden Unterricht oder<br />
die Betreuung beeinträchtigen.<br />
Das Vorhaben der Stadt, in der Friedrich-<br />
Ebert-Schule Teile der Verwaltung zeitweise<br />
unterzubringen, ist eine Folge der geplanten<br />
Baumaßnahmen im Heag-Hallen-Block.<br />
Doris Fröhlich und Christel Thorbecke sprechen<br />
sich deshalb dafür aus, daß die Stadt<br />
sich bemühen sollte, auftretende Probleme<br />
beim Heag-Hallen-Projekt mit Betroffenen<br />
einvernehmlich zu lösen.<br />
Keine Nord-Ost-<br />
Umgehung mit den<br />
Grünen<br />
„Die Grünen fallen<br />
Darmstadt in den Rücken“, diese Feststellung<br />
traf der ehrenamtliche CDU-Stadtrat<br />
Willi Franz angesichts des Abstimmungsverhaltens<br />
der Grünen bei der Regionalen Planungsversammlung<br />
(RPV). Dort hatten die<br />
Grünen, an deren Spitze Bürgermeister<br />
Michael Siebert, entgegen einem Beschluß<br />
der Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung, eine<br />
Wiederaufnahme der Darmstädter Nord-Ost-<br />
Umgehung in den Regionalen Raumordnungsplan<br />
abgelehnt.<br />
Der CDU-Stadtrat erinnert daran, daß sich<br />
Siebert in der Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung<br />
mit „Windungen“ für eine Wiederaufnahme<br />
der Umgehungsstraße in den Regionalen<br />
Raumordnungsplan ausgesprochen<br />
habe. Doch angesichts des umgekehrten<br />
Abstimmungsverhaltens in der RPV sei wieder<br />
einmal deutlich geworden, daß die Grünen<br />
eine Nord-Ost-Umgehung ablehnten.<br />
Dieser Dissens sei schon in der rot-grünen<br />
Koalitionsvereinbarung festgeschrieben.<br />
„Die Ankündigung von Planungsdezernent<br />
Siebert, die Umgehungsstraße werde frühestens<br />
2001 gebaut, war also die freundliche<br />
Umschreibung des St. Nimmerleinstages“,<br />
so Willi Franz.<br />
Hilflose Geste<br />
Sehr geehrter Herr<br />
Oberbürgermeister,<br />
die Stadt Darmstadt hat dankenswerterweise<br />
das Kinderprojekt „Favela do Andarai“ in Rio<br />
de Janeiro mit Mitteln aus dem Dritte-Welt-<br />
Fonds unterstützt. Die Initiatorin, Frau Batista,<br />
war auch in Darmstadt und hat Kontakt<br />
zu Parlamentarierinnen und Frauengruppen<br />
aufgenommen. Ich habe Frau Batista, die<br />
auch Präsidentin der Arbeiterpartei (PT) ist,<br />
als engagierten Menschen kennengelernt,<br />
der wichtige Arbeit, insbesondere für Kinder<br />
in Rio leistet.<br />
Die Meldung, daß ihre engsten Mitarbeiter –<br />
Hermogenes da Silva Almeida und Reinaldo<br />
Gueden Miranda – brutal ermordet wurden,<br />
hat mich erschüttert. Auch Frau Batista hat<br />
Morddrohungen erhalten. Es ist offensichtlich,<br />
daß diese Gewalt politische Hintergründe<br />
hat. Die Ermordeten kämpften gegen die<br />
Ermordung von Straßenkindern in Rio und<br />
waren in der Kommission zur Verteidigung<br />
der Menschenrechte im Stadtparlament<br />
aktiv.<br />
Ich denke, daß Magistrat und Stadtverord<strong>net</strong>e<br />
in Darmstadt dazu nicht schweigen dürfen.<br />
Ich wende mich deshalb mit der herzlichen<br />
Bitte an Sie, sich als Oberbürgermeister<br />
der Stadt Darmstadt beim Bürgermeister<br />
von Rio de Janeiro dafür einzusetzen,<br />
gegen die Morde Stellung zu beziehen und<br />
die Kinderarbeit von Frau Batista zu würdigen.<br />
Ich weiß, daß das nur eine hilflose<br />
Geste sein kann, die aber dennoch zeigt, daß<br />
uns das Schicksal von Menschen, die sich<br />
sozial engagieren, nicht gleichgültig ist.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
gez. Doris Fröhlich<br />
Hände weg von der<br />
PDS<br />
Die CDU verlangt von den<br />
Sozialdemokraten „Hände weg von der SED-<br />
Nachfolgepartei PDS“.<br />
Die CDU-Kreisvorsitzende Eva Ludwig hat<br />
die SPD aufgefordert, umgehend und<br />
unmißverständlich zu erklären, daß eine<br />
PARTEIEN - STANDPUNKTE III Nummer 73 · 11.7.1994 · Seite 25<br />
Zusammenarbeit mit der SED-Nachfolgepartei<br />
PDS nicht in Betracht kommt. „Wir sind<br />
entsetzt darüber, daß es in der SPD allen<br />
Ernstes eine Diskussion über mögliche<br />
Koalitionen mit der PDS gibt“, erklärte die<br />
CDU-Kreisvorsitzende Eva Ludwig. „Die<br />
demokratische Zuverlässigkeit der SPD<br />
steht auf dem Spiel.“ Eva Ludwig fordert die<br />
SPD-Politiker dazu auf, das „gemeinsame<br />
Interesse der Demokraten“ im SPD-Präsidium<br />
zu vertreten und Koalitionen mit der PDS<br />
eine Absage zu erteilen.<br />
Die CDU-Kreisvorsitzende bezeich<strong>net</strong>e es als<br />
„erschreckend“, daß Teile der SPD offenbar<br />
vergessen hätten, welches Leid die SED über<br />
Millionen von Deutschen gebracht hat, und<br />
daß die Nachfolgepartei PDS eine andere,<br />
eine sozialistische Gesellschaftsordnung<br />
will. Alle Demokraten hätten die Verpflichtung,<br />
einen eindeutigen Trennungsstrich zu<br />
radikalen Kräften zu ziehen. Was für die<br />
Republikaner gelte, habe auch für die Nachfolgepartei<br />
der SED seine Gültigkeit: „Hände<br />
weg von der PDS.“<br />
Wenn die SPD gewillt sein sollte, auf der<br />
Suche nach einem Strohhalm zur Wiederherstellung<br />
ihrer Mehrheitsfähigkeit vor der<br />
PDS nicht zurückzuschrecken, werde die<br />
CDU einen solchen Kurs massiv bekämpfen,<br />
kündigte Eva Ludwig an.<br />
Der Müll, die Tonne<br />
und die Stadt<br />
Partei für Bürger, die sich<br />
durch die Stadt bei der Festsetzung von<br />
Müllabfuhrgebühren „gelinkt“ fühlen,<br />
ergreift der Vorsitzende der SPD-Fraktion<br />
Horst Knechtel.<br />
Hintergrund: Im November 1993 hatte die<br />
Stadtverwaltung allen Müll-spar-willigen<br />
Bürgern den kostenlosen Umtausch der<br />
großen 120 l Tonnen in kleinere 80 l Tonnen<br />
mit längeren Leerzeiten angeboten, wenn die<br />
Antragsteller bis zum 1. Dezember d. J.<br />
erfolgt. Die Antragsfrist war später im Gefolge<br />
der damaligen Müllgebührendiskussion<br />
bis zum 1. Januar 1994 verlängert worden.<br />
Viele, wohl allzuviele Darmstädterinnen und<br />
Darmstädter wollten von diesem vermeintlich<br />
doppelten Sparangebot Gebrauch<br />
machen und stellten unverzüglich und fristgerecht<br />
die entsprechenden Tauschanträge.<br />
Ihre Verwunderung darüber, daß danach<br />
lange nichts geschah – bis dann irgendwann<br />
im ersten Jahresdrittel 1994 die Austauschmaßnahmen<br />
erfolgten, wuchs, als sie<br />
anstatt des versprochenen Erlasses der Austauschgebühren<br />
diese doch bezahlen sollten.<br />
Empört wandten sie sich an die Stadt und<br />
reklamierten die versprochene Kostenfreiheit.<br />
Vom Steueramt, so Knechtel, seien sie<br />
mit „dürren Hinweisen“ auf die inzwischen,<br />
nämlich seit 1.1.1994 gültige Gebührensatzung,<br />
„abgespeist“ worden.<br />
Außerdem heiße es in den Schreiben: „Ihr<br />
Hinweis auf die rechtzeitige Antragstellung<br />
vermag daran nichts zu ändern. Vor allem<br />
liegt keine bewußt herbeigeführte Verzögerung<br />
von seiten der Stadt vor. Der Umtausch<br />
der Mülltonnen war nämlich wegen der Vielzahl<br />
der Anträge nicht früher möglich“.<br />
„Das darf doch nicht wahr sein“, so der<br />
SPD-Politiker, daß die Stadt erst großzügigen<br />
kostenlosen Austausch verspricht, die<br />
Antragstellung dazu sogar an eine Frist bindet,<br />
sich dann unfähig zeigt, ihr eigenes<br />
großspuriges Versprechen einzulösen, um<br />
dann die betroffenen Bürger erst recht zur<br />
Kasse zu bitten.<br />
Auf die Erledigung einer „Vielzahl von Anträgen“<br />
hätte die Stadt eben eingestellt sein<br />
müssen, wenn sie schon so etwas in die<br />
Öffentlichkeit setze. Daß sie es nicht war,<br />
könne doch nicht zu Lasten der Antragsteller<br />
gehen.<br />
Inzwischen seien diese mit ihrem berechtigten<br />
Beharren auf Gebührenfreiheit bis auf ein<br />
Muster-Schieds-Verfahren im August vertröstet<br />
worden. Von Bürgernähe und Bürgerservice<br />
könne man da wohl nicht sprechen.<br />
Er fordere den zuständigen Stadtrat Heino<br />
Swyter (FDP) auf, unverzüglich für die<br />
Gebührenfreistellung Sorge zu tragen, das<br />
Versprechen der Stadt somit einzulösen und<br />
so auch dieses für die Stadt nur peinliche<br />
Schiedsgerichtsverfahren erst gar nicht<br />
stattfinden zu lassen.<br />
Jugendaustausch<br />
USA<br />
Als ein „Kernstück der<br />
deutsch-amerikanischen Freundschaft“ findet<br />
auch im nächsten Jahr wieder der parlamentarische<br />
Jugendaustausch mit den USA<br />
statt. Im Rahmen des 12. Parlamentarischen<br />
Patenschaftsprogramms können junge Leute<br />
1995/1996 ein Jahr in die USA gehen.<br />
Darauf weist die Darmstädter CDU-Bundestagsabgeord<strong>net</strong>e<br />
Dr. Sissy Geiger hin.<br />
Das Angebot richtet sich an Jugendliche, die<br />
als Schüler oder Auszubildende für ein Jahr<br />
in einer amerikanischen Familie leben und<br />
dort die Schule besuchen oder ihrem Beruf<br />
nachgehen wollen. Von den Bewerbern werden<br />
im Alltag brauchbare Englischkenntnisse<br />
erwartet. Außer dem Taschengeld entstehen<br />
den Teilnehmern keine Kosten für Reise<br />
und Aufenthalt. Die Reise beginnt am 31.<br />
Juli 1995, bis dahin müssen die Teilnehmer<br />
die 10. Klasse abgeschlossen haben und<br />
müssen nach dem 31. Juli 1977 geboren<br />
sein. Für junge Berufstätige gilt ein Höchstalter<br />
von 21 Jahren. „Der Deutsche Bundestag<br />
erwartet, daß die Stipendiaten als junge<br />
Botschafter ihres Landes einen dauerhaften<br />
Beitrag zur besseren Verständigung leisten“,<br />
heißt es im Informationsblatt. Darin enthalten<br />
ist auch die Teilnahmekarte, die die<br />
Bewerber ausfüllen müssen. Die Unterlagen<br />
sind bei der CDU-Geschäftsstelle, Emilstr.<br />
21, Telefon 26613 erhältlich.<br />
Setzrisse:<br />
Wasserversorger<br />
sind gefragt<br />
Anstatt immer wieder zu versuchen,<br />
allein das Land in die Verantwortung<br />
zu nehmen, fordert der umweltpolitische<br />
Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen<br />
im Landtag, Horst Burghardt, die SPD- und<br />
CDU-Abgeord<strong>net</strong>en im Ried auf, endlich den<br />
Wasserversorgern Druck zu machen, damit<br />
diese ihr Scherflein zur Beseitigung der<br />
Setzrisse beitragen.<br />
„Das Land ist bereit, zwei Millionen Mark<br />
zuzuschießen. Der Fond für die Setzrißgeschädigten<br />
scheitert aber immer noch daran,<br />
daß die Wasserwerke nicht bereit sind,<br />
ihren finanziell angemessenen Beitrag zu leisten.<br />
Die Verhältnisse dürfen nicht auf den<br />
Kopf gestellt werden, so daß diejenigen, die<br />
für die Setzrisse verantwortlich sind, sich<br />
möglichst billig aus der Affäre ziehen. Wer<br />
jahrzehntelang das Ried leergepumpt und<br />
damit gutes Geld verdient hat, muß sich jetzt<br />
auch den Kosten stellen“, so Horst Burghardt.<br />
Er lehnt es weiterhin aus rechtlichen<br />
Gründen ab, die Einnahmen aus der Grundwasserabgabe<br />
für die Sanierung der Setzrisse<br />
heranzuziehen. „Aus der Grundwasserabgabe<br />
müssen Wassersparprojekte finanziert<br />
werden und nicht die Sünden der Vergangenheit.“<br />
Sind Faschisten<br />
wählbar?<br />
Gedanken zum Besuch des<br />
italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi<br />
in Bonn:<br />
Regierungssprecher Vogel äußerte sich, von<br />
Journalisten auf den zu erwartenden<br />
Umgang mit Berlusconi von Seiten der Bundesregierung<br />
angesprochen, wie folgt: „Wir<br />
können ja wohl nicht sagen, mit denen reden<br />
wir nicht.“ Man müsse diese Leute eben „mit<br />
einer gewissen Vorsicht betrachten“, sie<br />
„geschäftsmäßig behandeln“ und im übrigen<br />
mal sehen, „was die da so treiben“ (nachzulesen<br />
in „FR“ vom 21.6.).<br />
(Wenn es nach „denen da“ ginge, „trieben<br />
sie im übrigen“ als erstes die Homosexuellen<br />
in ein KZ; so äußerte sich vor kurzem ein<br />
Abgeord<strong>net</strong>er der faschistischen Fraktion im<br />
italienischen Parlament.)<br />
Die Leute, so sagt Vogel fast entschuldigend,<br />
seien „ja schließlich gewählt worden“.<br />
Wir fragen uns nun, ob die Republikaner in<br />
den Augen der CDU/CSU wohl die schlimmeren,<br />
die gefährlicheren Faschisten sind<br />
als die italienischen Neofaschisten und diejenigen,<br />
die diese in die Regierungsverantwortung<br />
holten. Schließlich gilt es in<br />
Deutschland, die Republikaner und andere<br />
rechtsradikale Parteien entschieden und mit<br />
allen demokratischen Mitteln zu bekämpfen.<br />
Die Republikaner, die DVU und die NPD sind<br />
„schließlich“ auch „gewählt worden“, jene<br />
behandelt man aber nicht „geschäftsmäßig“,<br />
bei jenen kann man durchaus sagen, „mit<br />
denen reden wir nicht.“ Sind diese Parteien<br />
denn nun gefährlicher und bekämpfenswerter<br />
als Neofaschisten in einer Regierung?<br />
Geht es nach dem neuesten Verfassungsschutzbericht<br />
sind sie es nämlich nicht.<br />
Hierin werden die Republikaner noch nicht<br />
einmal unter den extremen Parteien aufgelistet.<br />
Dies scheint uns ein interessanter Widerspruch,<br />
der vermuten läßt, daß es der<br />
CDU/CSU bei der Bekämpfung von rechten,<br />
rechtsradikalen, rechtsextremen (oder wie<br />
auch immer) Parteien nicht etwa um die<br />
Bekämpfung des zugrundeliegenden Gedankenguts<br />
geht, sondern ausschließlich um<br />
Wählerstimmen, die bei einem „geschäftsmäßigen“<br />
Umgang mit jenen Parteien verloren<br />
gingen, da signalisiert würde, daß diese<br />
durchaus wählbar, weil dialogfähig seien.<br />
Das verwirrende und nicht ganz einfache<br />
Spagat zwischen Bekämpfen und gleichzeitigem<br />
Verharmlosen ist in unseren Augen<br />
notwendiger Wahlkampfstil der CDU/CSU,<br />
einerseits eine Unwählbarkeit zu attestieren,<br />
andererseits diejenigen, die sie trotzdem<br />
wählten, nicht auszugrenzen und als rechtsextrem<br />
zu diffamieren. Schließlich handelt<br />
es sich bei diesen Menschen auch und vornehmlich<br />
um potentielle Wähler der „christlich-demokratischen“<br />
Volksparteien.<br />
Das Signal der Wählbarkeit wird aber nichtsdestotrotz<br />
durch den geschäftsmäßigen<br />
Umgang mit Berlusconi gesetzt. Wählbar<br />
sind die mit ihm regierenden Neofaschisten,<br />
nur bitte nicht in Deutschland. Denn hier<br />
schädigen sie unser Image im Ausland und,<br />
was viel schwerer wiegt, hier klauen sie den<br />
„demokratischen“ Volksparteien die Stimmen<br />
am rechten Rand.<br />
Wählbar sind Faschisten im übrigen auch<br />
nicht in Rußland, denn hier bedrohen sie<br />
eine gerade erst erkämpfte Demokratie, die<br />
den Kommunismus besiegte. Hier bedrohen<br />
sie, die Faschisten der Marke Schirinowski,<br />
auch die demokratieliebenden Staaten des<br />
ehemaligen Warschauer Paktes, sie bedrohen<br />
Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien<br />
und nicht zuletzt auch den inneren Frieden in<br />
Deutschland, den zu schützen sich besonders<br />
die christlich-demokratischen Volksparteien<br />
auf die Fahnen geschrieben haben.<br />
Solch eine Bedrohung geht von italienischen<br />
Neofaschisten sicherlich nicht aus, man<br />
erinnere sich nur an die gute (wirtschaftliche)<br />
Zusammenarbeit mit Italien, die seit<br />
1933 anhält!<br />
Weitere<br />
Baugrundstücke<br />
Der Schutz des städtebaulich<br />
sehr sensiblen Bereiches rechts und links<br />
der Dieburger Straße, von der Odenwaldbrücke<br />
bis zur Fasanerie, ist Gegenstand<br />
einer gemeinsamen dringlichen Antrags-<br />
Initiative der Fraktionen von SPD und Grünen<br />
für die Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung<br />
am Donnerstag (7.).<br />
Wie der Vorsitzende der SPD-Fraktion Horst<br />
Knechtel dazu mitteilt, sei das Bekanntwerden<br />
eines großvolumigen Bauvorhabens auf<br />
einem der dort befindlichen Grundstücke der<br />
Anlaß für dieses Vorgehen. Es sei zu<br />
befürchten, daß weitere solche Bauten folgen<br />
werden, weil es in diesem Bereich einerseits<br />
keine Bebauungspläne gebe, andererseits<br />
jedoch großzügig zugeschnittene<br />
Grundstücke. Diese machten sicherlich an<br />
vielen Stellen eine bauliche Nachverdichtung<br />
durch den Bau von Wohnungen möglich. Die<br />
entsprechende Bautätigkeit solle jedoch<br />
durch Bebauungspläne, die dem Grüncharakter<br />
des Straßenzuges Rechnung tragen,<br />
gesteuert werden.<br />
Bis diese Pläne erstellt seien, so Knechtel,<br />
solle der Magistrat nach Möglichkeit eine<br />
Bauveränderungssperre z. B. durch die Vorlage<br />
einer Erhaltungssatzung für das Gebiet<br />
prüfen.<br />
POLSTERSTOFFE<br />
DARMSTADT<br />
ROSSDÖRFER PLATZ