Ausgabe 02/2010 - Der Landesseniorenrat Baden-Württemberg eV
Ausgabe 02/2010 - Der Landesseniorenrat Baden-Württemberg eV
Ausgabe 02/2010 - Der Landesseniorenrat Baden-Württemberg eV
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Titel<br />
ein Behandlungsfall pro Pflegeheimbewohner<br />
gemessen werden konnte.<br />
2. Es gibt Tendenzen einer Über-<br />
und Unterversorgung mit Arzneimitteln:<br />
• Heimbewohner erhalten im Vergleich<br />
zu Nicht-Pflegedürftigen<br />
bei Kontrolle der Erkrankungen<br />
deutlich mehr Psycholeptika (Antipsychotika,<br />
Anxiolytika, Hypnotika<br />
und Sedativa). Dieser Befund<br />
deutet auf „ein Ruhigstellen“ von<br />
pflegebedürftigen Heimbewohnern.<br />
Und umgekehrt gilt es festzustellen,<br />
dass insbesondere bei der<br />
Demenz eine zu geringe Menge an<br />
verordneten Dementiva als Unterversorgung<br />
interpretiert werden<br />
könnte.<br />
Insgesamt scheint die Medikamentenversorgung<br />
weniger ein quantitatives,<br />
sondern vielmehr ein qualitatives<br />
Problem darzustellen. Das gilt<br />
auch für den ambulanten Bereich.<br />
Denn diesbezüglich konnte bereits<br />
in der bekannten Berliner Altersstudie<br />
gezeigt werden, dass - obwohl 90<br />
Prozent der über 70-Jährigen mit<br />
mindestens einem Medikament versorgt<br />
wurden - etwa bei 24 Prozent<br />
eine Untermedikation im Sinne unbehandelter,<br />
mittel- und schwergradiger,<br />
körperlicher Erkrankungen<br />
festgestellt wurde.<br />
3. Bei der Problematik der Krankenhauseinweisungen<br />
ist zu beachten:<br />
• Die Zahl der Krankenhauseinweisungen<br />
bei Pflegeheimbewohnern<br />
ist insgesamt geringer als bei häuslich<br />
gepflegten Personen; aber höher<br />
als bei nicht pflegebedürftigen<br />
Menschen – bei Kontrolle des<br />
Krankheitsspektrums.<br />
Handlungsoptionen<br />
Interventionsstudien zeigen die<br />
Bedeutung der Reduktion von klinischen<br />
Problemfeldern, vor allem<br />
18 2/<strong>2010</strong><br />
durch qualifiziertes und engagiertes<br />
Pflegepersonal in den Bereichen:<br />
Dekubitus, freiheitsentziehende<br />
Maßnahmen, Ernährung und Verhinderung<br />
von Stürzen. Die Zusammenarbeit<br />
von Medizin und Pflege<br />
war ein entscheidender Erfolgsfaktor.<br />
Konkret bedeutet dies, dass die<br />
gesundheitliche Situation alter Menschen<br />
in den Heimen verbessert und<br />
damit ein Beitrag zur Lebensqualität<br />
und Würde im Alter geleistet werden<br />
kann.<br />
Verbesserungen erfolgen aber nicht<br />
wie das Morgenrot nach durchschlafener<br />
Nacht, sondern unter Beachtung<br />
von folgenden gesundheitspolitischen<br />
Erwägungen. Hierzu hat das<br />
Diakonische Werk der Ev. Kirche in<br />
Deutschland in einem Positionspapier<br />
Stellung genommen:<br />
1. Alle Heimbewohner sollten ein<br />
geriatrisches Assessment erhalten,<br />
welches gezielt die Potentiale einer<br />
selbständigen Lebensführung<br />
erhebt. Entscheidend dabei ist<br />
u.a. die Evaluation des Therapieerfolgs.<br />
Die Zusammenarbeit mit<br />
qualifizierten Pflegenden halte ich<br />
für zwingend, vor allem wenn es um<br />
die Identifizierung, Förderung und<br />
Unterstützung von Potentialen der<br />
selbständigen Lebensführung geht.<br />
Das geriatrische Assessment ist ein<br />
wesentlicher zentraler Punkt, der<br />
natürlich für die ambulante ärztliche<br />
Versorgung gilt. Bei Studien<br />
konnte festgestellt werden, dass<br />
ein geriatrisches Assessment wesentlich<br />
zur Verhütung schwerwiegender<br />
Komplikationen (Demenz,<br />
Delirium, Schenkelhalsfrakturen<br />
usw.) sowie zur Verminderung von<br />
Krankenhaus- und Pflegeheim-<br />
Einweisungen beitragen kann.<br />
2. Die akutgeriatrische Versorgung<br />
muss ausgebaut werden. Bekannt<br />
ist, dass die akutstationäre Versorgung<br />
im Bereich der Geriatrie nicht<br />
flächendeckend sichergestellt ist<br />
und eine ambulante existiert in der<br />
Fläche nicht. Wichtig ist die Aufwertung<br />
des Faches Geriatrie im<br />
Medizinstudium, die Einrichtung<br />
von geriatrischen Lehrstühlen an<br />
allen medizinischen Fakultäten<br />
des Landes. Wichtig ist auch der<br />
Ausbau des Fortbildungsangebots<br />
durch die Landesärztekammern.<br />
3. Die Versorgung pflegebedürftiger<br />
alter Menschen mit integrierten<br />
Versorgungsmodellen muss verbessert<br />
werden. <strong>Der</strong> Patient muss<br />
künftig im Mittelpunkt stehen und<br />
die Versorgungsstrukturen sind so<br />
zu gestalten, dass sektorenübergreifende<br />
Behandlungsformen das<br />
Maß der Dinge sein müssen.<br />
4. Ärztliche Besuche bei pflegebedürftigen<br />
Menschen müssen budgetunabhängig<br />
und gesondert<br />
vergütet werden. Entscheidend<br />
ist hier nicht nur der Blick auf<br />
die Höhe der Vergütung, sondern<br />
auf die Budget-Restriktionen, die<br />
dazu führen, dass eine Leistung<br />
nur noch in geringerem Umfang<br />
honoriert wird, wenn das Praxisbudget<br />
ausgeschöpft ist. Optionen<br />
sind z.B. besondere Verträge, in<br />
denen die Vergütung außerhalb<br />
des Praxisbudgets geregelt wird.<br />
Auch die Heime sind gefragt<br />
Aber nicht nur die Gesundheitspolitik<br />
ist gefordert, auch die Einrichtungen<br />
selbst - und hier vor allem die<br />
Berufsgruppen der Medizin und der<br />
Pflege - sind in hohem Ausmaß in die<br />
Pflicht genommen:<br />
Die ärztliche Versorgung kann und<br />
muss seitens des Heims besser strukturiert<br />
werden!<br />
Kriterien guter Zusammenarbeit<br />
sind u.a. folgende Punkte:<br />
• Koordination der medizinischen<br />
Versorgung als Aufgabe des Pflegemanagements<br />
• Zusammenarbeit mit wenigen,<br />
dafür aber engagierten Ärzten<br />
(Gratwanderung zwischen freier<br />
Arztwahl und einem Team von engagierten<br />
Ärzten/ Fachärzten)<br />
• Systematische Vorbereitung der<br />
Arztbesuche in Heimen<br />
• Regelmäßig Visitentage<br />
• Erweiterte ärztliche Bereitschaftszeiten<br />
• Qualifizierung von Ärzten und Pflegenden<br />
Darüber hinaus ist die Kooperationsfrage<br />
zwischen den Berufsgruppen<br />
eine zentrale Frage, bei der<br />
noch über ganz andere Innovationen<br />
nachgedacht werden muss, die aus<br />
meiner Sicht zwingend sind. Zu nennen<br />
sind z.B.:<br />
• Gemeinsames geriatrisches Assessment<br />
bei Neuaufnahmen<br />
• Interdisziplinäre Fallbesprechungen<br />
mit wechselnder Moderation<br />
• Einbeziehung von Ärzten in konzeptionellen<br />
Fragen (integrierte und / oder<br />
segregative Demenzversorgung).<br />
Die Zukunft wird ohnehin eine Entwicklung<br />
mit weiterer Spezialisierung<br />
bedeuten, insbesondere für den<br />
Demenzbereich: Spezialpflegebereiche,<br />
etc.<br />
Zu guter Letzt:<br />
Für mich gibt es keinen Zweifel, dass<br />
die medizinische Versorgung alter<br />
Menschen im Heim wie auch zu Hause<br />
verbessert werden muss und kann.<br />
Panik ist völlig unangebracht, aber<br />
Mängel müssen konkret benannt werden.<br />
Dabei ist die Erkenntnis schmerzhaft,<br />
dass unser Gesundheits- und<br />
Versorgungssystem immer noch sehr<br />
stark auf Akutmedizin, weniger auf<br />
Chronikermedizin und damit auf die<br />
Bedürfnisse alter und hochbetagter<br />
Menschen ausgerichtet ist.<br />
Aber bei allen Innovationen und notwendigen<br />
Verbesserungen sollten<br />
auch die Grenzen der Medizin und<br />
des Machbaren nicht aus dem Auge<br />
verloren werden. <strong>Der</strong> deutsche Philosoph<br />
Hans Georg Gadamer hat einmal<br />
von der „Verborgenheit“ der Gesundheit<br />
gesprochen. Letzten Endes ist sie<br />
ein Geschenk, welches in einer Welt<br />
der Machbarkeit, der Beschleunigung<br />
und des technischen Fortschritts den<br />
Menschen an<br />
Grenzen führt.<br />
Meiner Auffassung<br />
nach sollten<br />
diese Grenzen<br />
beachtet,<br />
respektiert und<br />
nicht überschritten<br />
werden.<br />
Kontakt<br />
Prof. Dr. Hermann Brandenburg<br />
Pflegewissenschaftliche<br />
Fakultät, Philosophisch-<br />
Theologische Hochschule<br />
Vallendar;<br />
hbrandenburg@pthv.de<br />
Anzeige