Ausgabe 02/2010 - Der Landesseniorenrat Baden-Württemberg eV
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Migration<br />
Allen bewusst?<br />
2,5 Mio. Ältere im Ländle – aber auch immer mehr mit „Migrationshintergrund“<br />
Unter dem Motto „Aufeinander<br />
zugehen statt ausgrenzen“<br />
hatte der Paritätische <strong>Baden</strong>-<br />
<strong>Württemberg</strong> (Dachorganisation für<br />
4 000 Dienste und Einrichtungen)<br />
in die Jugendherberge Stuttgart zu<br />
einem Fachtag eingeladen. Erstmals<br />
ging es dabei – wie Landesgeschäftsführer<br />
Hansjörg Böhringer betonte<br />
– vorrangig um die stetig steigende<br />
Zahl der bei uns lebenden älteren<br />
Menschen, die aus einem anderen<br />
Land eingereist waren, um zu arbeiten<br />
und nun teilweise Kinder und<br />
Enkel hier haben. Angebote aus den<br />
Bereichen Gesundheit, Altenhilfe,<br />
Behindertenhilfe, aber auch der<br />
Selbsthilfe werden von ihnen selten<br />
in Anspruch genommen.<br />
Nur 26 Prozent in Mehrgenerationen-Haushalten<br />
<strong>Der</strong> Integrationsbeauftragte des<br />
Landes, Justizminister Prof. Ulrich<br />
Goll, konnte nur unterstreichen,<br />
welche Probleme es gibt. „Kultursensible“<br />
Pflege werde ein immer<br />
wichtigeres Thema werden, da die<br />
Zahl der älteren Migranten, die hier<br />
wohnen bleibe, steige. Diese Senioren<br />
würden zunehmend nicht<br />
mehr in der Großfamilie leben (nur<br />
26 Prozent in Mehrgenerationen-<br />
Haushalten). Wird Pflege bei ihnen<br />
ein Thema, dann bereiten Schwellenängste<br />
und mangelnde Informationen<br />
Probleme. Deshalb sei es wichtig,<br />
dass das Thema Migration in der<br />
Berufsfachschule für die Pflege und<br />
auch bei den Ärzten dazugehöre. Das<br />
Landesgesundheitsamt biete schon<br />
Fortbildungen an.<br />
„Wir sind in der<br />
Fremde alt geworden“,<br />
also nicht in der „neuen Heimat<br />
Deutschland“, darauf wies Kenan<br />
Zuhörende<br />
Kolat, der Bundesvorsitzende der<br />
türkischen Gemeinde hin. Denn eigentlich<br />
hätten alle vorgehabt, später<br />
wieder heimzukehren. Nun würden<br />
Kinder und Enkel hier die Schule<br />
besuchen. Man sei hin- und hergerissen,<br />
wo man den Lebensabend<br />
verbringen, wo man sterben werde.<br />
<strong>Der</strong>zeit gebe es noch mehr „junge<br />
Ältere“, bald werde die Zahl der Pflegebedürftigen<br />
deutlich steigen. Bedingt<br />
sei dies auch dadurch, dass es<br />
bei den Migranten – aufgrund der oft<br />
geleisteten schweren Arbeit – mehr<br />
sind, die körperlich beeinträchtigt<br />
seien und psychische Probleme haben,<br />
„wo bin ich wirklich zu Hause“.<br />
Daher werde die Altenhilfe für diese<br />
Menschen immer wichtiger, im Vorfeld<br />
aber auch schon die Gesundheitsaufklärung<br />
und vielfältige Informationen.<br />
Hilfreich dafür wären<br />
zentrale Beratungsstellen für Ältere<br />
(besonders zur finanziellen Seite).<br />
Dazu müssten die Migrantenorganisationen<br />
mit der Altenhilfe vernetzt<br />
werden. Es gehe um spezielle bedürf-<br />
Diskutierende<br />
nisorientierte Angebote. Möglich erscheine<br />
beispielsweise auch Pflege in<br />
der „alten Heimat“, wo die Kosten<br />
viel niedriger sein könnten.<br />
Rente: 40 Prozent weniger<br />
Informationen aus einer vielfältigen<br />
Podiumsdiskussion mit Migranten,<br />
die es geschafft haben: In Hannover<br />
gibt es bereits seit 20 Jahren<br />
muttersprachliche Gesundheitsförderung<br />
und beim DGB in Hamburg<br />
eine Anlaufstelle für Migranten der<br />
ersten Generation, die im Normalfall<br />
40 Prozent weniger an Rente hätten.<br />
Spezielle Pflegeheime für Türken<br />
gebe es bisher in Berlin und Duisburg.<br />
Die zunehmenden „türkischen<br />
Pflegedienste“ seien ganz normale,<br />
„wirtschaftliche Einrichtungen“, die<br />
Geld machen wollen.<br />
Bald überall mit<br />
Seniorenräten?<br />
<strong>Der</strong> Integrationsbeauftragte für<br />
Freiburg konnte berichten, dass man<br />
einen Runden Tisch zur ambulanten<br />
Altenhilfe habe und viel Projektarbeit<br />
mache. Wichtig sei, dass man die<br />
richtigen Personen dafür gewinne.<br />
Allerdings fehle teilweise (noch) die<br />
politische Lobby. Er hoffe, dass bald<br />
auch die Seniorenräte dabei seien.<br />
Mit 69 noch das<br />
Alphabet lernen?<br />
Generell die Forderung: Die Angebote<br />
müssten sich interkulturell<br />
öffnen. Bei den Türken sei das Gespräch<br />
mit der Familie wichtig und<br />
es gelte, dafür Vertrauen zu gewinnen.<br />
In Hamburg wären insbesondere<br />
die Medien (sowohl deutsche<br />
wie türkische) hilfreich gewesen. Die<br />
Aufklärungsarbeit<br />
über, zu und mit<br />
den Heimen, würde<br />
nicht innerhalb<br />
weniger Monate<br />
„stehen“ können.<br />
Für die Zukunft<br />
sieht man noch<br />
größere Probleme,<br />
weil es bei der<br />
ersten Generation Intensiv (miteinander Redende)<br />
der Migranten nur<br />
ganz wenige „kaputte Ehen“ gegeben<br />
habe. Die türkisch-deutsche Betreuerin<br />
der Stadt Düsseldorf berichtete,<br />
dass es jetzt 30 Prozent alleinstehende<br />
Mütter gebe. Ganz wichtig: Die<br />
Bildungsprobleme, besonders bei<br />
den türkischen Frauen. Es sei zwar<br />
mühsam aber nötig, einer 69-Jährigen<br />
noch ihr eigenes, also das türkische<br />
Alphabet beizubringen, bevor<br />
man ihr bescheidene Deutschkenntnisse<br />
vermitteln könne.<br />
„Brücken“ bauen und begehen<br />
Im Workshop „Altenhilfe“ ist ein bedeutsamer<br />
Fakt deutlich geworden:<br />
In der Türkei gibt es kein „strukturiertes“<br />
Ehrenamt wie bei uns. Ein<br />
Mittel, um doch zum Ziel zu kommen:<br />
Mit einzelnen Personen oder<br />
Vereinen „Brücken“ bauen und<br />
diese nutzen. (Darüber hatte „im<br />
blick“ bereits im Heft 4/2009 berichtet,<br />
im Beitrag über die Regionaltagungen<br />
für die Räte in Aalen.)<br />
Das könne nicht von oben her angeordnet<br />
werden. Es müsse im Dorf,<br />
im Ort, im Stadtteil praktiziert werden.<br />
Hilfreich dabei: Gemeinsam<br />
Feste feiern, Frauenschwimmen,<br />
Artikel/Interviews in „Migrantenmedien“,<br />
Sprachcafé und Lernangebote<br />
als eine Art Frühstückstreff<br />
(Früher lief das unter: „Wir sprechen<br />
Deutsch und trinken Tee“. <strong>Der</strong><br />
neue Titel komme wohl besser an,<br />
weil nicht das Deutschlernen im<br />
Vordergrund stehe.). Kontakte zu<br />
den Türken lassen sich bevorzugt<br />
über deren Vereine und die Moscheen<br />
knüpfen.<br />
Auch die „Einheimischen“<br />
motivieren<br />
Klar geworden ist aber auch, dass<br />
es nicht ausreicht nur „die anderen“<br />
zu motivieren. Es sei unbedingt<br />
notwendig, bei deutschen<br />
Heimbewohnern die Offenheit<br />
für Muslime zu fördern. Selbstverständlich<br />
müsse man beim Essensangebot<br />
Rücksicht nehmen.<br />
Über einzelne Personen (jüngere<br />
türkische Frauen) habe man beispielsweise<br />
in Sindelfingen einen<br />
„ehrenamtlichen Besuchsdienst für<br />
ältere muslimische Frauen“ (zusammen<br />
mit dem geronto-psychiatrischen<br />
Fachbereich des Landratsamts)<br />
schaffen können. Es gebe<br />
schon die „Migranten-Anlaufstelle<br />
Karlsruhe“. Hauptsächlich werden<br />
rechtliche und finanzielle Fragen<br />
gestellt („Wo gibt es Heime und<br />
wäre ein Aufenthalt auch in der alten<br />
Heimat möglich?“). Auf Dauer<br />
ein Muss: Muttersprachliche Sozialarbeiter<br />
und muttersprachliches<br />
Personal im Heim, Informationen<br />
zu Hilfsangeboten auch über die<br />
Ärzte und Apotheker verbreiten<br />
und über die Kinder, die ihre Eltern<br />
sensibilisieren sollen. „Aufsuchende<br />
Hilfe“ (mit Sprachkenntnissen)<br />
werde bald zum Alltagsgeschäft gehören<br />
müssen.<br />
Fazit: Es müssen noch bedeutend<br />
mehr Brücken - nicht nur angedacht<br />
- sondern geschlagen und wechselseitig<br />
begangen werden.<br />
Hans-Jörg Eckardt<br />
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