zb_gesellschaft 28 zahnärzteblatt 02 2009 Gewalt an Kindern und Frauen Warum der Zahnarzt nicht schweigen sollte
Foto: dpa Dipl. Stomatologe Gerald Flemming, Vorstandsreferent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern (seine Praxis betreibt er in Schwerin), lässt in einem großen Hotelsaal in der Hanse- und Ostseestadt Rostock, Bilder von misshandelten Patienten, Kindern, Frauen, alten Menschen, an die Wand werfen. Seine Zuschauer und Zuhörer: Zahnärzte, Journalisten, Standespolitiker. Fachleute aus ganz Deutschland hören zu, wie Flemming davon spricht, dass sich viel zu wenige Zahnärzte ausreichend mit körperlichen Merkmalen auseinander setzen, die, so der Referent, belegen, dass ein Patient falsch ernährt, geschlagen, körperlich gequält oder misshandelt wurde. Flemming in Rostock: „Die Polizei und die Staatsanwaltschaft brauchen unsere Hinweise. Verbrechen können nur aufgedeckt, Misshandlungen nur gestoppt werden, wenn wir sie melden.“ Der Zahnarzt aus Schwerin weiß um die rechtlichen Fragen. Die Schweigepflicht des Mediziners ist zweifach normativ verankert, berufsrechtlich und strafrechtlich. Die Heilberufsgesetze der Länder, die Berufsordnung der Zahnärztekammern, zuletzt auch der § 203 StGB machen es dem Zahnarzt oder dem Arzt nicht leicht, ein, wie es so schön heißt „zum persönlichen Lebensreich gehörendes fremdes Geheimnis“, welches ihm anvertraut wurde, Unbefugten zu offenbaren. Das Gesetz spricht von Freiheitsstrafe, von Geldstrafe. Die Schweigepflicht, so scheint es, ist umfassend, denn grundsätzlich darf ein Zahnarzt oder ein Arzt seine professionelle Diskretion nur nach einer ausdrücklichen Entbindung durch den Patienten brechen. Was aber, wenn eine Patientin über die Ursachen einer Verletzung am Kiefer falsche Angaben macht, um einen gewalttätigen Mann zu schützen? Was, wenn die Eltern eines Kindes Verletzungen ihres Buben oder ihres Mädchens verschleiern? Wie zb_gesellschaft geht ein Zahnarzt mit solchen Verschleierungen um? Wer mit dem Bundeskriminalamt in Wiesbaden und dem Landeskriminalamt in Mainz spricht, lernt: Es kann berufsrechtlich gerechtfertigt sein, die Schweigepflicht zu brechen. Immer dann nämlich, wenn es zum Schutz eines höherwertigen Rechtsgutes notwendig ist. In der Fachtagung „Gewalt gegen Frauen“ informiert ein Anwalt: „Ausdrücklich spricht das Strafrecht vom Tatbestand der rechtfertigenden Nothilfe und zwar im § 34 StGB. Niemand handelt rechtswidrig, wenn einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben begegnet wird, um die Gefahr von einem anderen abzuwenden.“ Kurz: Ist Gefahr im Verzug, spricht nicht wenig dafür, die Schweigepflicht sofort zu brechen, um die Polizei oder die Staatsanwaltschaft zu informieren. Die Kriminalstatistiker wissen, allein in Deutschland werden jährlich je einhunderttausend Einwohnern vier bis zehn Kinder misshandelt. Mehrere hundert von ihnen erleiden dabei vehemente quälende Verletzungen, an denen sie letzten Endes sterben. Kriminologen vermuten, die Dunkelziffer sei noch viel höher. Die Journalistin Martina Lenzen- Schulte, die das Thema Kindesmisshandlung für die Frankfurter Allgemeine Zeitung recherchierte und ihrer Arbeit den vielsagenden Titel „Ein Schweigekartell der Grausamkeiten?“ gab, schreibt: „Erstaunlich zahnärzteblatt 02 2009 29