Neues und Altes vom Antisemitismus in Europa. Eine Langzeitstudie ...

Weitere Magazine

Empfehlungen

Info

Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien Zum Antisemitismus in beiden deutschen Staaten bis 1989 (Hier sollen nur einige Aspekte angerissen werden; verwiesen sei auf einschlägige neuere Literatur. 8 ) Unmittelbar nach Ende des 2. Weltkrieges herrschte in Deutschland in weiten Kreisen der Bevölkerung große Unsicherheit im Umgang mit all dem, was mit „den Juden“ zusammenhing. Das fing häufig schon mit der Überlegung an, ob man nach dem inflationären und fast ausschließlich nur abwertenden Gebrauch des Wortes „Jude“ im „3. Reich“ dieses Wort überhaupt weiter verwenden durfte, ohne gleich als alter (oder junger neuer) Nazi beargwöhnt zu werden. Diese Unsicherheit hatte viele Facetten: Progressive Verleger hatten Zweifel, ob beispielsweise Sachbücher über die Architekturgeschichte von Synagogen nicht der Verbreitung von Antisemitismus neu Vorschub leisten würden. Besonders viel über Judentum zu reden, das war in den Reihen der Arbeiterbewegung weitgehend verpönt, eher nebensächlich, und dies nicht nur bei ihrem kommunistischen Teil. Schließlich stand die „Klassenfrage“ an erster Stelle und alle Kapitalisten, jüdische und nichtjüdische, wurden als Hauptfeinde ausgemacht. Allerdings wurde auf den die stalinistischen Grundlagen der Gesellschaft in den Ländern des so genannten sozialistischen Weltsystems auch bald wieder einen ganz anderer Feind ins Visier genommen, der angeblich bis in die eigenen Reihen vorgedrungen war: die Symbiose von Zionismus und Imperialismus. (Verwiesen sei nur auf die Prozesse gegen den „Judenfreund“ Paul Merker in der DDR und den Schauprozeß gegen Rudolf Slansky und andere in der Tschechoslowakei.) Das gewählte Vokabular hatte damals durchaus Ähnlichkeiten mit dem „Stürmer“-Jargon von der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ eines Joseph Goebbels . In der langen Zeit des Kalten Krieges spielte auch der Umgang mit antisemitischen Erscheinungen in der BRD wie der DDR eine nicht zu unterschätzende, wenn gleich nicht die zentrale Rolle in der politisch-ideologischen Auseinandersetzung. Beispielsweise hatten die verständlichen Sympathien von Linken in Ost und West für die nationalen Befreiungsbewegungen im Nahen Osten fast automatisch eine antiisraelischantiimperialistische Komponente, wobei in diesem Zusammenhang einzelne antisemitische Äußerungen weniger Beachtung und gar nur selten strikte Zurückweisung erfuhren. Auch der Massenmord an den europäischen Juden wurde im Kalten Krieg unter aktuellpolitischem Kalkül ideologisch ge- und mißbraucht. In der DDR galten lange Zeit nur die SS und die großen deutschen Konzerne als die Haupttäter des Holocaust Die Verstrickung großer Teile der deutschen Bevölkerung in die tagtägliche Durchsetzung der Richtlinien der antijüdische Politik der Nationalsozialisten wurde zu Gunsten einer raschen antifaschistischen Erziehung und Umerziehung möglichst breiter Kreise der Bevölkerung zunächst in den Hintergrund gestellt. 9 In der BRD wurde - ungeachtet der Tatsache, daß wichtige Funktionsträger des NS-Regimes in neuen Ämtern wirkten oder zumindest unbestraft blieben - gegenüber Israel eine durchaus aufrichtig gemeinte, wirtschaftlich, finanziell und politisch 8 Siehe u. a.: Ulrike Offenberg: „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR 1945-1990, Berlin 1998; Angelika Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Berlin 1997; Wir sind da. Juden in Deutschland nach 1945. Eine Dokumentation in vier Teilen von Richard Chaim Schneider, Bayrischer Rundfunk 2000. 9 Es ist nicht Gegenstand dieses Textes, die vielen wissenschaftlichen und künstlerischen Aktivitäten in der DDR zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust ausführlich darzustellen. Verwiesen sei auf Walter Schmidt: Jüdisches Erbe in der DDR (Vortragsmanuskript), Berlin 1998. 4
Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung - Seminarmaterialien untersetzte Wiedergutmachungspolitik betrieben. Die Tatsache, welchen tiefen Schock die Ausstrahlung des amerikanischen Holocaust-Fernsehfilms 10 auf breite Kreise der BRD- Bevölkerung hatte, bezeugt allerdings auch weit verbreitetes Unwissen und rüttelte nicht wenige Linke auf. Mancher Vater oder Großvater fand unter dem Weihnachtsbaum das in der DDR erschienene Braunbuch 11 vor, aufgeschlagen jene Seite, die von seiner persönlichen Verstrickung in das NS-Regime Zeugnis ablegte. Ich bin mir hierin nicht sicher: Noch ein anderer Aspekt soll genannt werden. Eine differenzierte Analyse des Verbreitungsgrades gediegenen Wissens in den verschiedenen Bevölkerungsschichten und Altersgruppen der DDR-Bevölkerung über die NS-Zeit, die antijüdische Grundkomponente der NS-Politik eingeschlossen, wäre wohl noch zu leisten bzw. verdiente eine Vertiefung. Zumindest habe ich in über zehn Jahren politischer Bildungsarbeit mit Jugendlichen im Land Brandenburg und in Berlin bei ihnen viel Interesse, aber auch sehr häufig eine erschreckend große Unkenntnis darüber gefunden, was die Geschichte der Juden und ihres Zusammenlebens mit Nichtjuden einmal ausgemacht hatte. Zum Antisemitismus in Europa und in anderen Regionen heute Zur OSZE-Konferenz zum Antisemitismus, Berlin, April 2004 (Siehe dazu den Artikel im Rundbrief.) Ergänzend seien hierzu nur zwei Bemerkungen gemacht. 1. Seit Anfang der 90er Jahre richtet die PDS im Deutschen Bundestag an den Innenminister monatlich eine Anfrage zu neuen Erkenntnissen über rechtsextremistische Gewalttaten, die Zahl deren Opfer sowie die Zahlen der Festnahmen in diesem Zusammenhang. 12 Wir alle sind aufgerufen, Petra ständig über solche Vorkommnisse zu informieren. Die Vermutung liegt nahe, daß unsere Zahlen leider höher liegen werden als die des Bundesinnenministeriums. 2. .Der Sprecherrat der AG Rechtsextremismus / Antifaschismus beim Parteivorstand der PDS bittet um die Übermittlung aller bekanntwerdenden lokalen Aktivitäten und Dokumente zum Thema für unsere Materialsammlung. Zu überlegen ist, wie solche Nachrichten in bestimmten Abständen als gebündeltes Paket von der PDS an die zuständige OSZE-Stelle in Warschau und an die Europäische Union herangetragen werden könnten. Einige Bemerkungen zu vier ausgewählten Ländern und der Region Naher Osten. Beispiel Frankreich Frankreich hat gegenwärtig - wie eine Reihe anderer europäischer Länder auch, bei weitem aber nicht alle - besonders klare Strafrechtsbestimmungen zur Ahndung antisemitischer Taten und Äußerungen. Das verdient höchste Anerkennung. Die auch auf der OSZE-Konferenz in Berlin Ende April 2004 geäußerte Behauptung, Antisemitismus wird heute nur durch die Migranten aus arabischen Ländern, aus ehemaligen 10 Siehe: Friedrich Knilli / Siegfried Zielinski (Hrsg): Holocaust zur Unterhaltung. Anatomie eines internationalen Bestsellers, Berlin 1982. 11 Siehe: Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik. Staat Wirtschaft Armee Verwaltung Justiz Wissenschaft, Berlin 1965. 12 Siehe Petra Pau: Anfrage zu rechtsextremistischer Gewalt im April 2004. In: Rundbrief 2+3/2004, S. 55-57. 5
Seite 1 und 2: Horst Helas Rosa-Luxemburg-Stiftung
Seite 3: Rosa-Luxemburg-Stiftung -Gesellscha
Seite 7 und 8: Rosa-Luxemburg-Stiftung -Gesellscha

Neues und Altes vom Antisemitismus in Europa. Eine Langzeitstudie ...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Template löschen?

Als Template speichern?