NOVA ET VETERA - Prof. Dr. Johannes Stöhr
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du mich aufrichtig und brüderlich liebst, dann habe Mitleid mit mir wie mit dir selbst und bete für<br />
mich. Wer einen anderen zurechtweist und nicht für ihn betet und seinen Schmerz nicht teilt, ist ein<br />
grausamer Feind, kein liebevoller Arzt, sondern ein lästiger Schwätzer. Wer für einen anderen wie<br />
für sich selbst betet, tut doppelt Gutes. Je mehr brüderliche Liebe einer hat, umso lieber betet er für<br />
den anderen, dass er sich vollkommener bessere und die Augen der Schwachen nicht beleidige. Um<br />
so trauriger wird er daher auch, wenn der andere ihn nicht anhören will und dem Mahnenden Unwillen<br />
zeigt. Jeder ist für den anderen entweder eine duftende Rose oder ein stechender Dorn.<br />
Esto benignus in fratrem temptatum, et ora pro tribulato sicut pro temetipso. Bonum tuum bonum meum<br />
per congratulationem, et malum tuum malum meum per compassionem. Nam omnes fragiles homines sumus,<br />
idcirco pro invicem orare ex caritate tenemur. Nemo alteri improperare potest defectum suum se neglecto;<br />
quia si quis aliquem defectuosum despicit, quasi caecus caecum illudit; et surdus surdo maledicit, et stultus<br />
stultum deridet. Tace de alio tibi non commisso male loqui, sed te ipsum magis respice et corrige quod forefecisti.<br />
Si recte iudicas et proximum emendare intendis, a te ipso incipe. Et tunc procede non commote, sed<br />
modeste et discrete. Si diligis me sincere et fraterne; compatere mihi sicut tibi, et ora pro me. Qui alium<br />
corripit et pro eo non orat nec condolet, crudelis est hostis, non medicus pius, sed onerosus fabulator. Qui pro<br />
alio sicut pro se ipso orat duplex bonum facit. Quanto quis plus habet de bono fraternae caritatis, tanto<br />
libentius pro eo orat ut perfectius se emendet, et oculos infirmorum non offendat. Ideo amplius contristatur si<br />
audire noluerit, et admonenti indignatur. Quilibet est alteri aut rosa redolens, aut spina pungens.<br />
Thomas Hemerken a Kempis (1379/80-1471), Hortulus rosarum, c. 15 (ed. Freiburg 1918)<br />
136. Einer anderen flößt der böse Feind sehr großen Eifer zum Streben nach Vollkommenheit<br />
ein. Dieser Eifer ist etwas ganz Gutes, aber er kann die Schwester soweit führen, dass ihr jeder kleine<br />
Fehler, den sie an ihren Mitschwestern bemerkt, als ein großes Vergehen erscheint, dass sie auf solche<br />
Fehler sorgfältig ihr Augenmerk richtet, um sie der Priorin anzuzeigen. Dabei kann es zuweilen<br />
geschehen, dass sie in ihrem großen Eifer für die Ordensobservanz ihre eigenen Fehler übersieht,<br />
während andere, die nicht wissen, von welcher Absicht ihr Inneres beseelt ist, ihre Sorge übel aufnehmen.<br />
Was aber der böse Feind damit beabsichtigt, ist keineswegs von geringer Bedeutung; er arbeitet<br />
darauf hin, dass die gegenseitige Liebe unter den Schwestern erkalte, was ein großer Nachteil<br />
wäre. Laßt uns darum einsehen, meine Töchter, dass die wahre Vollkommenheit in der Liebe Gottes<br />
und des Nächsten besteht! Je vollkommener wir diese Gebote halten, desto größer wird unsere<br />
Vollkommenheit überhaupt sein. ...<br />
An der gegenseitigen Liebe ist soviel gelegen, dass ich wünschte, ihr möchtet sie nie vergessen.<br />
Denn dadurch, dass wir unbedeutende Dinge an anderen beobachten, die manchmal kaum Unvollkommenheiten<br />
sind, sondern von uns vielleicht nur aus Unwissenheit übel aufgenommen werden,<br />
kann sowohl der eigene Seelenfrieden schwinden, als auch der Frieden anderer gestört werden. Sehet<br />
also, wie teuer eine solche Vollkommenheit zu stehen käme!<br />
Mit der gleichen Versuchung kann sich der böse Feind den Schwestern auch nahen bezüglich der<br />
Priorin; dann aber ist sie umso gefährlicher. Man muss darum wohl zu unterscheiden wissen. Denn<br />
wenn die Priorin Fehler gegen die Regel und die Satzungen begeht, darf man diese nicht immer gut<br />
auslegen; man muss sie vielmehr aufmerksam machen und dem höheren Obern Anzeige erstatten,<br />
wenn sie sich nicht bessert. Ebenso soll man sich auch den Schwestern gegenüber verhalten, wenn<br />
man an ihnen einen bedeutenden Fehler bemerkt. Würde man da aus Furcht, einer Versuchung<br />
nachzugeben, dergleichen Fehler mit Stillschweigen übergehen, so wäre diese Furcht selbst eine<br />
Versuchung. Um aber vom Teufel nicht betrogen zu werden, hüte man sich, mit anderen von solchen<br />
Fehlern zu sprechen; man teile sie, wie schon erwähnt, nur denen mit, die sie bessern können,<br />
sonst könnte sich die Gewohnheit der üblen Nachrede einschleichen, wodurch der böse Feind viel<br />
gewinnen würde. Gott sei Dank ist bei uns, die wir ein so beständiges Stillschweigen beobachten, eine<br />
solche Gefahr nicht vorhanden; allein es ist doch gut für uns, auch in dieser Beziehung auf der<br />
Hut zu sein.<br />
Pone a otra un celo de la perfección muy grande. Esto muy bueno es, mas podría venir de aquí que cualquier<br />
faltita de las hermanas le pareciese una gran quiebra, y un cuidado de mirar si las hacen y acudir a la<br />
priora, y aun a las veces podría ser no ver las suyas; por el gran celo que tiene de la relisión, como las otras no<br />
entienden lo interior y ven el cuidado, podría ser no lo tomar tan bien. Lo que aquí pretende el demonio no es<br />
poco, que es enfriar la caridad y el amor de unas con otras, que sería gran daño. Entendamos, hijas mías, que<br />
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