Lächelnde Lügner - Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Vor wenigen Tagen erregte Marius Reiser,<br />
Professor für Neues Testament am Fachbereich<br />
Katholische Theologie der <strong>Universität</strong><br />
Mainz, großes Aufsehen, indem<br />
er ankündigte seinen Lehrstuhl zum Ende<br />
des Wintersemesters aus Protest gegen<br />
den Bologna-Prozess aufzugeben. Wir<br />
sprachen mit ihm über seine Motive und<br />
mögliche Alternativen.<br />
In der öffentlichen Erklärung Ihres<br />
Rückzugs üben sie deutliche Kritik<br />
am jetzigen Hochschulsystem und<br />
führen viele allgemeine Beispiele an,<br />
wie die Umstellung auf Bachelor und<br />
Master die universitäre Lehre und Forschung<br />
gefährdet. Welche konkreten<br />
Erfahrungen haben Sie als Lehrender<br />
gemacht, die Sie zu diesem Schluss<br />
kommen lassen?<br />
Eine gewisse Verschulungstendenz ist an<br />
den <strong>Universität</strong>en schon lange zu beobachten.<br />
Das hängt damit zusammen, dass<br />
die Abiturienten immer seltener die notwendigen<br />
Voraussetzungen für ein akademisches<br />
Studium mitbringen. Ich muss<br />
sozusagen immer weiter unten anfangen<br />
und versuchen, die schulischen Mängel<br />
auszugleichen. An bestimmte Referatsthemen,<br />
die ich noch vor zehn Jahren mit<br />
dem Hinweis vergeben konnte, die Studierenden<br />
mögen sich die Literatur selbst<br />
zusammensuchen, ist heute nicht mehr<br />
zu denken. Aber muss man diese Tendenzen<br />
noch unterstützen? Bald wird ein<br />
Theologiestudium nur noch das vermitteln<br />
können, was der Religionsunterricht<br />
vor zwanzig Jahren geboten hat.<br />
Hatten Sie Möglichkeiten den Bologna-Prozess<br />
zu beeinflussen?<br />
Natürlich mußte ich mich an den konkreten<br />
Plänen für ein Curriculum an unserer<br />
Fakultät beteiligen. Aber das vorgegebene<br />
Raster ließ wenig Freiheit zu<br />
und erschien mir zunehmend unsinnig.<br />
Selbst mit Mogeln und Etikettenschwindel<br />
ist da nicht viel zu machen. Die Pläne<br />
stammen von Leuten, die, zumindest was<br />
mein Fach betrifft, nicht wissen, worum es<br />
geht. Alle Einsprüche blieben ohne jede<br />
Resonanz.<br />
An unserer <strong>Universität</strong> versuchen einige<br />
Institute, die Anforderungen der Bologna-Beschlüsse<br />
so weit wie möglich<br />
auszulegen, um Nachteile für Lehre<br />
und Forschung abzuwenden. Glauben<br />
Sie, dass solche Maßnahmen innerhalb<br />
der universitären Selbstverwaltung die<br />
Widerstand ist möglich<br />
Ein Gespräch mit Bologna-Kritiker Marius Reiser<br />
„Vertretmühlung“ der <strong>Universität</strong>en<br />
lindern bzw. stoppen können?<br />
Wenn man die Zwangsjacke erst einmal<br />
angezogen hat, kann man sich nicht mehr<br />
gut bewegen.<br />
Warum haben sich ihre Kollegen und<br />
Studenten so wenig gewehrt?<br />
Die Kollegen glauben zumeist, sie könnten<br />
sich irgendwie durchlavieren. Alternativen<br />
zu seinem Beruf hat ein Professor<br />
sehr wenige. Und außerdem hörte man<br />
von Anfang an das leidige Lied: „Wir können<br />
ja doch nichts machen.“ Die Studierenden,<br />
die noch nach der alten Ordnung<br />
studieren, sind froh um ihre Freiheit und<br />
kümmern sich wenig um das, was danach<br />
kommt. Deswegen ist bisher leider so gut<br />
wie nichts geschehen.<br />
Ist ein BA/MA-System grundsätzlich<br />
schädlich oder liegt Ihre Kritik eher in<br />
der konkreten Umsetzung begründet?<br />
Schließlich könnte man annehmen,<br />
dass die USA mit Ihrem BA/MA-System<br />
nicht gerade schlecht fahren.<br />
Das BA/MA-System und die akademischen<br />
Verhältnisse in den USA sind mit unseren<br />
kaum vergleichbar. Wir müssen von unseren<br />
Voraussetzungen im Schulsystem<br />
und den hier herrschenden Berufsfeldern<br />
ausgehen. Alles andere ist Ablenkung von<br />
den eigentlichen Problemen. Tatsache ist,<br />
dass unser Diplom weltweit anerkannt war<br />
und hohes Ansehen genoß. Jetzt schaffen<br />
wir es ohne Grund ab.<br />
Wenn die <strong>Universität</strong>en unseren Begriff<br />
von Bildung prägen, wohin driftet<br />
dieser Begriff im 21. Jahrhundert? Und<br />
was geht dabei verloren?<br />
Unter Bildung hat man bisher eine gewisse<br />
Weltkenntnis verstanden, dazu<br />
Kenntnisse in klassischer Literatur, auch<br />
Weltliteratur, die Fähigkeit, gesellschaftliche<br />
Entwicklungen<br />
in größere geschichtliche Zusammenhänge<br />
zu stellen und<br />
in schwierigen Sachfragen<br />
begründet zu argumentieren.<br />
Außerdem galten gewisse humanistische<br />
Werte wie Wahrhaftigkeit,<br />
soziale Gerechtigkeit<br />
und persönliche Freiheit<br />
als selbstverständlich. All<br />
das wird gegenwärtig immer<br />
mehr in Frage gestellt und<br />
behindert. Auch die Freude<br />
an geistigen Auseinandersetzungen<br />
und Abenteuern ver-<br />
misst man schon jetzt an der <strong>Universität</strong>.<br />
Auch die Fähigkeit zu sachlicher Kritik,<br />
ja das Interesse daran, nimmt selbst bei<br />
Kollegen spürbar ab.<br />
Was war die Intention ihres Schrittes<br />
und wie nahmen Sie das öffentliche<br />
Echo wahr?<br />
Zunächst wollte ich meinen Entschluß,<br />
von einem öffentlichen Amt zurückzutreten,<br />
auch öffentlich begründen. Der überwältigende<br />
Zuspruch überzeugt mich<br />
jedoch, daß die Unzufriedenheit noch<br />
zum Widerstand und zum organisierten<br />
Einsatz für das Gute, das uns genommen<br />
werden soll, führen kann. Es ist nicht zu<br />
spät.<br />
Interview: Sören Christian Reimer<br />
Anm. der Redaktion: Aufgrund der vielen<br />
Anfragen konnte uns Professor Reiser<br />
nur ein schriftliches Interview geben.<br />
Die ausführliche Begründung Reisers<br />
zu seinem Rückzug aus dem universitären<br />
Leben erschien am 20. Januar<br />
in der „FAZ“ und kann auf „faz.de“<br />
nachgelesen werden.<br />
FOTO: PRIVAT<br />
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