Bericht des Bundesrates ueber die EU-Osterweiterung und die ...

EU-Osterweiterung:
Wirtschaftliche Auswirkungen
auf die Schweiz
Bericht des Bundesrates
in Erfüllung des Postulats Loepfe 02.3190
vom 16.04.2002: Soziale Marktwirtschaft und EU-
Osterweiterung
Bern, 30.06.2004

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung .....................................................................................................................................2
2. Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum in der erweiterten EU................................5
2.1. Wichtigste zu erwartende Effekte in der EU und in den neuen Mitgliedländern.............5
2.2. Ergebnisse aus bestehenden Studien für die EU.................................................................5
2.2.1. Wirtschaftliche Auswirkungen in den neuen Mitgliedsländern................................5
2.2.2. Auswirkungen auf die Volkswirtschaften des EU-Raums ........................................6
2.2.3. Studien für ausgewählte, mit der Schweiz vergleichbare EU- und EFTA-Länder..9
2.2.4. Aussichten der einzelnen Branchen ..........................................................................11
2.3. Zu erwartende Auswirkungen auf die Schweiz................................................................13
2.3.1. Handelsverflechtung und Entwicklungsdynamik.....................................................13
2.3.2. Branchenstruktur der Exporte....................................................................................14
2.3.3. Institutionell/handelspolitische Aspekte: unvollständige Integration in den
europäischen Binnenmarkt ........................................................................................15
2.3.4. Die Wirtschaftsbeziehungen zu Osteuropa im Lichte der historischen Bedeutung
.....................................................................................................................................16
2.3.5. Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Schweiz ..............................................16
2.4. Zusammenfassung und Schlussfolgerung zu Kapitel 2....................................................18
3. Auswirkungen auf den Schweizer Arbeitsmarkt und die Sozialversicherungen............20
3.1. Ausgangslage ......................................................................................................................20
3.2. Prognose der Zuwanderung ...............................................................................................20
3.3. Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.................................................................................24
3.3.1. Arbeitsangebot in den Herkunftsländern ..................................................................24
3.3.2. Arbeitsnachfrage in der Schweiz...............................................................................25
3.3.3. Zuwanderung und Arbeitslosigkeit...........................................................................26
3.3.4. Auswirkungen auf die Löhne ....................................................................................27
3.4. Auswirkungen auf die Sozialversicherungen....................................................................27
3.4.1. Grundsätzliches ..........................................................................................................27
3.4.2. AHV / IV ....................................................................................................................28
3.4.3. Berufliche Vorsorge...................................................................................................29
3.4.4. Ergänzungsleistungen (EL) .......................................................................................30
3.4.5. Arbeitslosenversicherung (ALV) ..............................................................................30
3.4.6. Kranken- und Unfallversicherung.............................................................................31
3.4.7. Familienzulagen .........................................................................................................32
3.4.8. Sozialhilfe ...................................................................................................................32
3.5. Zusammenfassung und Schlussfolgerung zu Kapitel 3....................................................33
4. EU-Osterweiterung und Auswirkungen auf den Schweizer Franken..............................35
4.1. Die Auswirkungen auf den Euro-Kurs des Frankens.......................................................35
4.2. Voraussetzungen und Zeitpunkt eines Beitritts zur Währungsunion ..............................35
4.3. Auswirkungen auf die Wechselkurse der Neumitglieder.................................................36
5. Literatur .....................................................................................................................................37
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1. Einleitung
Der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur EU und die Integration ihrer Volkswirtschaften
in den europäischen Binnenmarkt werden weitere tiefgreifende Veränderungen in den
Volkswirtschaften der Neumitglieder selbst, aber auch Auswirkungen auf die westeuropäischen
Volkswirtschaften haben: zunächst auf jene der bisherigen EU, dann aber auch auf jene der nicht
voll in den Binnenmarkt integrierten EWR-Länder und schliesslich auf die Schweiz.
Die Schweizer Volkswirtschaft wird grundsätzlich auf zwei Wegen, direkt und indirekt, von den
Auswirkungen der Osterweiterung betroffen: zunächst durch die direkten Handels-, Investitions-
und Wachstumseffekte, die aus dem höheren Wachstum und der steigenden Nachfrage aus den
Neumitgliedern resultieren; dann auch indirekt durch die Stimulierung und ein verstärktes
Wachstum der EU-Volkswirtschaften und deren Auswirkungen auf die Schweizer Wirtschaft.
D a s P o s t u l a t L o e p f e a l s A u s l ö s e r
Mit dieser Begründung, nämlich dass der Integrationsprozess im Osten eine Dynamik entwickeln
wird, welche für die Schweiz in wirtschaftlicher Hinsicht zentrale Auswirkungen haben kann und
dass die strategische Planung in dieser Frage deshalb frühzeitig angegangen werden sollte, reichten
Herr Nationalrat Loepfe und neun Mitunterzeichner am 16. April 2002 das folgende Postulat
ein:
« Soziale Marktwirtschaft und EU-Osterweiterung (P 02.3190)
„Der Bundesrat wird eingeladen, einen Bericht zu verfassen, der die wirtschaftlichen Folgen
e in e r m ö g l i c h e n E U -O s t e r w e i t e r u n g f ü r u n s e r L a n d a u f z e i g t . D i e s e r B e r i c h t s o l l i n s b e s o n d e r e
die Aspekte Arbeitsmarkt, Preise und Konkurrenzfähigkeit der Schweizer KMU-Betriebe im e r -
weiterten Binnenmarkt aufzeigen. Zudem wird die Osterweit erung im Falle einer Übernahme des
E u r o d u r c h d i e n e u e n M i t g l i e d s t a a t e n a u c h E i n f l u s s a u f d e n S c h w e i z e r F r a n k e n h a b e n . D e r B e -
r i c h t s o l l d iesen Aspekt ebenfalls berücksichtigen.“
Nachdem der Bundesrat sich bereit erklärt hatte, das Postulat entgegenzunehmen, hat es der Nationalrat
am 4. Oktober 2002 überwiesen. Mit dem vorliegenden Bericht erfüllt der Bundesrat das
Postulat Loepfe.
B e m e r ku n g e n z u m V o r g e h e n
Bei der Abfassung dieses Berichtes war zunächst festzustellen, dass bislang keine Studien erarbeitet
worden waren, welche in umfassender Weise die möglichen Folgen für die schweizerische
Volkswirtschaft analysieren. Hingegen sind im Auftrag der EU-Kommission und einzelner EU-
Mitgliedländer eine Reihe von Studien zu den Auswirkungen der Osterweiterung auf die EU-
Volkswirtschaft insgesamt sowie auf die Wirtschaft einzelner Mitgliedländer verfasst worden.
Aus diesem Grund werden in der Folge – im wesentlichen auf der Basis der Kommissionsstudien
– zunächst die Konsequenzen für die EU-Volkswirtschaften insgesamt dargelegt. Anschliessend
wird versucht, in Analogie zu den verfügbaren Studien ähnlich gelagerter kleiner offener EU-
Volkswirtschaften und unter Berücksichtigung der institutionellen Sonderstellung der Schweiz
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als Nicht-EU-Mitglied die Handels- und Wachstumswirkungen auf die schweizerische Volkswirtschaft
abzuschätzen.
An diese makroökonomische Betrachtung werden zwei Kapitel zu Bereichen anschliessen, welche
für die Schweiz von besonderem Interesse sind: die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit
auf den Arbeitsmarkt und die Systeme der sozialen Sicherheit und die Auswirkungen der Osterweiterung
auf die Währungslage.
Zusammenfassung und wirtschaftspolitisches Fazit
Der vorliegende Bericht kommt zum Schluss, dass die EU-Osterweiterung gesamtwirtschaftlich
geringe, aber grundsätzlich positive Auswirkungen haben wird für die Schweizer Wirtschaft.
Nur wenige Änderungen ergeben sich im Rechtsrahmen für den Schweizer Aussenhandel mit
Industriegütern, der sich seit Beginn der neunziger Jahre im Rahmen der Handelsverträge mit den
mittel- und osteuropäischen Ländern bereits dynamisch entwickelt hat. Gewisse Anpassungen
sind im Handel mit Agrarprodukten und landwirtschaftlichen Verarbeitungsprodukten nötig. Als
Nicht-Mitglied der Zollunion ist die Schweiz allerdings künftig dem Risiko von Handelsumlenkungen
zugunsten der EU-15 Länder ausgesetzt. Die Bilateralen Verträge I reduzieren jedoch
diese nachteiligen Effekte der Nicht-Mitgliedschaft in der Zollunion. Im Ergebnis wird der Handel
mit der EU und ihren Mitgliedstaaten positive Impulse erfahren, mit positiven Rückwirkungen
auf die Wirtschaftstätigkeit in der Schweiz.
Mit der Ausweitung des EU-Binnenmarktes entsteht ein grösserer einheitlicher Absatzmarkt.
Grosse Firmen werden Skaleneffekte stärker nutzen können, während kleine Firmen sich verstärkt
spezialisieren werden. Kleinere Betriebe in traditionellen verarbeitenden Industrien stehen
schon längere Zeit unter dem Druck der erfolgten Handelsliberalisierung, die günstigere Vorleistungen
und Konsumgüterimporte mit sich bringt. Im Einklang mit den komparativen Vorteilen
des Wirtschaftsstandortes Schweiz werden stark spezialisierte Betriebe in humankapital- und
innovationsintensiven Branchen weiter zulegen können. Exporte hochwertiger Dienstleistungen
dürften auch eine Ausweitung erfahren. Diese strukturellen Anpassungen ergeben nicht nur die
angeführten grundsätzlich positiven Auswirkungen auf die Schweizer Wirtschaft. Marktzugang
dank Handel kann auch Marktzutritt dank Zuwanderung ersetzen.
Angesichts des recht hohen Bildungsstandes in den neuen EU-Staaten werden das Ausmass und
die Qualifikationsstruktur der zuwandernden Bevölkerung aus diesen Ländern primär durch die
Arbeitskräftenachfrage der Unternehmen in der Schweiz bestimmt sein. Die jährliche Zuwanderung
aus diesen Ländern wird auf anfänglich 4'600 Personen geschätzt und dürfte nach einigen
Jahren abflachen. Die erwartete Zuwanderung ist also zahlenmässig moderat und zusätzlich mit
Übergangsfristen und Kontingenten abgesichert. Allfällige negative Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen
Einheimischer werden zunächst durch eine Kontingentierung der Zuwanderung,
einen Inländervorrang sowie systematische Kontrollen der Lohn- und Arbeitsbedingungen
begrenzt. Nach Ablauf der Übergangsregelungen im Jahr 2011 übernehmen die flankierenden
Massnahmen diese Funktion allein. Das Risiko, dass die Aufwendungen der Sozialwerke als Folge
der Osterweiterung erheblich ansteigen, ist gering.
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Die Auswirkungen der Osterweiterung auf den Euro-Kurs des Schweizer Frankens sind schwer
vorauszusagen, jedoch wird nicht erwartet, dass der Euro von der Erweiterung wesentlich beeinflusst
wird.
Die EU-Osterweiterung wird für die Schweiz gesamtwirtschaftlich gesehen positive, umfangmässig
aber begrenzte Auswirkungen haben. Eine dauerhafte Erhöhung des Niveau des Schweizer
BIP um 0,2-0,3% allein aufgrund der Handelsliberalisierung erscheint realistisch. Hinzu dürften
positive Effekte aus der Erweiterung der Personenfreizügigkeit in ähnlicher Höhe treten. Mit der
Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die neuen Mitgliedländer sichert sich die Schweiz
allerdings nicht nur den Wachstumsbeitrag aus der Zuwanderung, sie sichert sich auch den ungeschmälerten
Fortbestand der positiven Auswirkungen der Bilateralen Abkommen I mit den bisherigen
EU-Mitgliedländern.
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2. Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum in der erweiterten EU
2.1. Wichtigste zu erwartende Effekte in der EU und in den neuen Mitgliedländern
Für die Zusammenarbeit der EU mit jedem einzelnen osteuropäischen Land schufen die Europäischen
Verträge von 1993 einen ersten institutionellen Rahmen. Für einen Grossteil der industriellen
Erzeugnisse wurde durch Abbau eines bedeutenden Teils der Zölle und der mengenmässigen
Beschränkungen ein recht weitgehender Freihandel eingeführt. Auch enthielten die Verträge erste
Schritte zur Einführung des freien Dienstleistungsverkehrs. Landwirtschaftliche Erzeugnisse und
die Produkte der Nahrungsmittelindustrie blieben jedoch noch ausgeschlossen. Mit dem Beitritt
wurden sämtliche verbleibenden Hemmnisse abgebaut und insbesondere die zahlreichen technischen
und administrativen Schranken (Zollformalitäten, technische Normen etc.) beseitigt.
Der kürzlich erfolgte EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) wird die
marktwirtschaftliche Erneuerung dieser Volkswirtschaften nun zusätzlich beschleunigen, den
Ressourceneinsatz optimieren, dank besserer Rahmenbedingungen und Entwicklungsperspektiven
die Investitionstätigkeit – aus eigenen Mitteln wie vor allem über ausländische Direktinvestitionen
– verstärken und damit zu höherem wirtschaftlichem Wachstum dieser Volkswirtschaften
führen.
Wenn somit die Neumitglieder selbst zunächst einmal die Hauptnutzniesser sein werden, so wird
sich die Osterweiterung auch auf die Volkswirtschaften des bisherigen EU-Raums in verschiedenster
Weise positiv auswirken und zu höherem Wachstum führen. Zu erwähnen sind die mit
dem höheren Wachstum der Volkswirtschaften der Neumitglieder verbundene verstärkte Nachfrage
nach Exporten des bisherigen EU-Raums, mit positiven Rückwirkungen auch auf die Investitionstätigkeit,
die Verringerung der Transaktionskosten, die zunehmende Beschaffung kostengünstigerer
Vorleistungen (Zwischenprodukte und Ausrüstungen) aus Osteuropa sowie ganz allgemein
der Effizienzgewinn, der mit der Integration der Neumitglieder in den europäischen Binnenmarkt
und einer daraus resultierenden Intensivierung des Wettbewerbs verbunden ist.
Der Prozess der marktwirtschaftlichen Erneuerung und der Annäherung der osteuropäischen
Länder an den Westen hat denn auch bereits deutliche Spuren im internationalen Handel hinterlassen.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich der Handel zwischen West- und Osteuropa
rasch und nachhaltig entwickelt. Von 1989 bis 1999 ist das Volumen der EU-15-Exporte nach
den Neumitgliedern auf das 3,9-fache gewachsen, die Exporte der MOEL nach der EU-15 sind
im selben Zeitraum um das 3,1-fache gestiegen, d.h. mit jährlichen Zuwachsraten von 15% bzw.
12%.
2.2. Ergebnisse aus bestehenden Studien für die EU
2.2.1. Wirtschaftliche Auswirkungen in den neuen Mitgliedländern
Alle verfügbaren Studien kommen zum Schluss, dass der Wachstumsgewinn der osteuropäischen
Volkswirtschaften ungleich höher zu veranschlagen ist als die Stimulierung des Wachstums in
den alten EU-Ländern. Die Gründe hiefür sind offenkundig. Zu erwähnen ist die unterschiedliche
Ausgangslage, indem die wirtschaftlichen Verzerrungen und das Potenzial für strukturelle Reformen
trotz unverkennbarer Fortschritte hier noch besonders gross sind. Hinzu kommen die unterschiedlichen
Grössenordnungen der beiden Partner: Mit einem Anteil der Exporte nach der
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EU-15 von mehr als 60% der Gesamtausfuhr und dem enormen Marktpotenzial des EU-15-
Raums sind die möglichen Handelsgewinne für die MOEL-Volkswirtschaften höher einzuschätzen
als in der alten EU selber. Diese wird zwar von rascher wachsenden Märkten im Osten profitieren,
doch bleiben die gesamtwirtschaftlichen Effekte mit Blick auf einen Anteil der Ost-
Exporte von lediglich rund 5% im Mittel der EU-15-Länder vergleichsweise bescheiden. Eine
wesentliche Rolle spielen schliesslich eine Reihe direkter Wirkungen des Beitritts, wie namentlich
die Transferzahlungen der EU-15, sowie der Wachstumsschub, der von den weiter wachsenden
Direktinvestitionen ausgehen wird.
Eine Studie der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der EU-Kommission (2001a) gelangt
zum Schluss, dass die oben genannten Beitrittswirkungen das jährliche Wachstum der Volkswirtschaften
der Neumitglieder in der Periode 2000 bis 2009 um jährlich bis zu 2 Prozentpunkte erhöhen
können.
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt eine Arbeit von Baldwin, Francois und Portes (1997). Auch
nach ihr werden die Neumitglieder sehr stark von der Osterweiterung und der Integration in den
europäischen Binnenmarkt profitieren. Dank einer verbesserten Ressourcenallokation und kräftigen
Investitionsimpulsen, die vor allem auch aus der Verringerung und dem Wegfall der Risikoprämien
in den Zinssätzen gespiesen werden (wie dies beim EU-Beitritt Spaniens und Portugals
ausgeprägt der Fall war), könnte ihres Erachtens das Bruttoinlandprodukt der Neumitglieder (im
Vergleich zu einem Szenario ohne Beitritt) dauerhaft um bis 18,8% höher ausfallen.
Die Erweiterung wird in den Neumitgliedern auch Kosten verursachen, welche das bedeutende
Gewinnpotenzial in einer ersten Phase reduzieren dürften. Nicht zu unterschätzen, aber schwer zu
quantifizieren, werden zunächst die Kosten der Investitionen sein, welche für die Übernahme des
gesamten Regelwerks des acquis communautaire erforderlich sind. Und nach der Einführung der
Personenfreizügigkeit wird das einstweilen enorme Lohngefälle zwischen West und Ost auch der
Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus den Neumitgliedern in die EU-15 Vorschub leisten.
Diese Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte kann einerseits die Lohnentwicklung in den alten
EU-Mitgliedländern in den betroffenen Branchen dämpfen. Sie wird andererseits das Wachstumspotenzial
der neuen Mitgliedländer in einer ersten Phase ebenfalls etwas beeinträchtigen.
2.2.2. Auswirkungen auf die Volkswirtschaften des EU-Raums
Vorbemerkung
Die verfügbaren Studien gelangen praktisch ausnahmslos zum Schluss, dass die EU-Osterweiterung
– zumal wenn man die direkten Kosten, vor allem die Transferzahlungen, ausklammert –
auch zu insgesamt positiven Wirkungen auf die Volkswirtschaften des bisherigen EU-Raums
führen wird.
Die Ergebnisse der verschiedenen Studien sind untereinander kaum vergleichbar. Die Studien
vermitteln nur zum Teil bezifferte Ergebnisse, die Untersuchungszeiträume sind unterschiedlich,
sie gehen von unterschiedlichen Basisszenarien (Szenario ohne Erweiterung) aus, sie berücksichtigen
unterschiedliche Wirkungsfelder und –mechanismen und verwenden abweichende Untersuchungsmethoden.
Schliesslich weichen auch die Annahmen über die Finanzierung der Erweiterung
ab, was wiederum zwangsläufig zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Netto-
Wirkungen führt.
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Die folgenden Ausführungen beschränken sich deshalb darauf, die Effekte in den wichtigsten
Wirkungsfeldern qualitativ und vor allem in der Richtung der Auswirkung darzulegen. Allfällige
quantitative Angaben können lediglich als sehr indikative Grössen betrachtet werden.
Als wichtigste Wirkungsfelder werden der Eintritt der osteuropäischen Länder in die Zollunion
und die Integration in den Binnenmarkt sowie der Arbeitsmarkt identifiziert. Den Migrations-
und Arbeitsmarktwirkungen wird das zweite Kapitel gewidmet sein.
Auswirkungen von Zollunion und Binnenmarktintegration
Der Abbau sämtlicher tarifärer und nichttarifärer Handelsschranken und die volle Integration der
Neumitglieder in den europäischen Binnenmarkt werden das Wirtschaftswachstum im EU-Raum
über Effizienzgewinne und Investitionsanreize in vielfältiger Weise stimulieren. Die wachsende
Exportnachfrage wird in der EU auch eine Stärkung der Investitionen zur Anpassung der Produktionskapazitäten
an diese höhere Exportnachfrage auslösen, günstigere Vorleistungsbezüge
werden die Produktionskosten senken und der nochmals verstärkte Wettbewerb im Binnenmarkt
wird auch auf Margen und Preise drücken.
Aus Sicht der Kommissionsstudie (2001a) dürfte das Niveau des BIP der EU-15 über den Zeitraum
2000 bis 2009 als Folge dieser Erweiterungsgewinne netto – nach Abzug der Erweiterungskosten
- um 0,5 bis 0,7% steigen, was zu Preisen von 2000 einer Grössenordnung von 50
Milliarden Euro entspricht. Die eine Hälfte dieses Wachstumsgewinns wird aus der Liberalisierung
des Güter- und Dienstleistungshandels und der Intensivierung des Wettbewerbs erwartet, die
andere soll aus den Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Arbeitsmarkt resultieren.
Im Auftrag der EU-Kommission erstellte Fallstudien von Keuschnigg und Kohler (1999) gelangten
für Deutschland und Österreich aus ähnlichen Überlegungen (u.a. Stimulierung der Investitionen
als Folge der steigenden Exportnachfrage, positiver Einfluss der günstigeren Vorleistungsimporte
auf das Gesamtangebot) zu Wachstumsgewinnen in analoger Grössenordnung:
Sie erwarten eine dauerhafte Anhebung des Niveaus des BIP in diesen beiden Ländern um 0,5%
bzw. 1,0%.
Vergleichsweise bescheiden (mit einem dauerhaften Anstieg des Niveaus des BIP um 0,2%)
wird der Wachstumsgewinn der EU-15 in der Studie von Baldwin, Francois und Portes (1997)
veranschlagt; ein Gewinnpotenzial, das durch die unvermeidlichen Kosten der Erweiterung weitgehend
absorbiert werden könnte. Einig sind sich die verschiedenen Studien darin, dass die
Hauptgewinne wahrscheinlich Deutschland und Österreich zukommen werden: Im Falle Deutschlands
wegen der Grösse seiner Volkswirtschaft und wegen seiner starken Anbieterstellung in
Sparten mit hohem Wachstumspotenzial (wie Transportausrüstungen und anderen Investitionsgütern),
in beiden Fällen wegen der geografischen und teilweise auch sprachlich/kulturellen Nähe
zu den Neumitgliedern.
Im Urteil der Kommissionsstudie (2001a) hat die Integration der osteuropäischen Länder im Laufe
der 90er-Jahre den Strukturwandel in verschiedenen Branchen und Regionen vor allem
Deutschlands und Österreichs zunehmend beeinflusst. Tatsächlich war der Handel zwischen der
EU-15 und den MOEL im vergangenen Jahrzehnt in hohem Masse komplementär: während sich
die EU-15 in hochtechnologischen Bereichen spezialisierte, wurden in den MOEL vor allem ma-
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terial- und arbeitsintensive Prozesse forciert. Der hohe Anteil an Zwischenprodukten von mehr
als 50% an ihrer Ausfuhr illustriert denn auch diese verstärkte de facto-Integration der osteuropäischen
Länder in die EU-15. Dies führt die Kommission auch zum Schluss, dass die in den 90er-
Jahren erzielten Handelsgewinne die möglichen Kosten der Anpassung übertreffen.
Kosten der Osterweiterung
Wie andere grundlegende strukturelle Veränderungen verursacht auch die Osterweiterung Anpassungskosten,
welche kurzfristig zumindest einen Teil der positiven Effekte kompensieren können,
bevor sich in der längerfristigen Perspektive die vorstehend dargestellten Gewinne klarer
durchsetzen. In den von der EU-Kommission durchgeführten und mandatierten Studien werden
vor allem drei Bereiche bremsender Einflüsse angesprochen, welche die Erweiterungsgewinne
der EU-15 schmälern können: Die Transferzahlungen an die Neumitglieder, Finanzmarktaspekte,
insbesondere mögliche Auswirkungen auf Zinssätze und Wechselkurs des Euro sowie mögliche
Auswirkungen auf die Systeme der sozialen Sicherheit in der EU-15.
• Die Osterweiterung löst in der EU-15 einen erheblichen Finanzierungsbedarf für Transferzahlungen
an die neuen Mitgliedländer aus, im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik wie
auch aus den Strukturfonds. Diese Kosten werden auf 0,11% des aggregierten Bruttosozialprodukts
der EU-15 veranschlagt. Die möglichen Wachstumswirkungen dieser Transferzahlungen
in den Ländern der EU-15 werden massgebend von der Art ihrer Finanzierung
mitbestimmt: z.B. ob diese über mehr oder weniger verzerrende Steuern oder über die Kürzung
mehr oder minder produktiver Ausgaben erfolgt. Die EU beabsichtigt, die Kosten der
Erweiterung unter Wahrung des in der Agenda 2000 festgelegten Budgetrahmens zu finanzieren.
Die Mehrzahl der Studien gelangen zum Schluss, dass die zusätzlichen Fiskaleinnahmen
als Folge des von der Erweiterung generierten zusätzlichen Wirtschaftswachstums mehr als
ausreichen werden, um die Kosten zu decken.
• Die steigende Nachfrage aus den Neumitgliedern und der Anpassungsbedarf als Folge der
Integration dieser Volkswirtschaften in den europäischen Binnenmarkt werden in der EU-15
die Investitionstätigkeit stimulieren. Höhere Exportdynamik und eine Intensivierung der Investitionstätigkeit
werden im Urteil der Studie der Kommission (2001a) über eine entsprechend
höhere Kapitalmarktnachfrage die Kapitalmarktzinsen vorübergehend nach oben drücken.
Dieser Effekt wird durch steigende Direktinvestitionen der alten EU-Volkswirtschaften
in den neuen Mitgliedländern noch verstärkt. Der Zinsanstieg kann auch den Wechselkurs des
Euro steigen lassen. Zins- und Wechselkursanstieg werden im Urteil der Kommissionsstudie
über die Periode 2000 bis 2010 hinweg negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum
in der EU-15 haben. Der Wachstumseffekt des Investitionsschubs bleibt dabei aber natürlich
klar positiv, tritt der Zinsanstieg doch als Folge der besseren Investitionsbedingungen ein.
• Auswirkungen auf die Systeme der sozialen Sicherheit (vgl. dazu Kapitel 3).
O s t-Erweiterung im Vergleich zur Süd -Erweiterung der 80er -J a h r e
Die Kommission sieht die Ergebnisse ihrer Modellsimulationen für die Osterweiterung (Anstieg
des Niveaus des BIP der EU-15, einschliesslich der Migrationseffekte, um 0,5 – 0,7% netto) bestätigt
durch die volkswirtschaftlichen Konsequenzen der Süderweiterung (mit dem EU-Beitritt
Griechenlands, Portugals und Spaniens), die für die damalige EG-9 ebenfalls vergleichsweise
bescheiden ausgefallen seien.
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Auch wenn die relativen Grössenordnungen von Süd- und Osterweiterung im Verhältnis zur EU-
15 bzw. der EG-9 von 1980 grundsätzlich vergleichbar sind, so bestehen doch eine Reihe bedeutender
Unterschiede:
• Der Status der Marktwirtschaft. Im Gegensatz zu den Volkswirtschaften der Süderweiterung,
die eine lange Tradition als Marktwirtschaften hatten, setzte die Transition von der sozialistischen
Planwirtschaft in Osteuropa erst 1990 ein. Trotz enormer Fortschritte im Reformprozess
verbleiben in diesen Ländern noch bedeutende Probleme zu lösen, bis die vom Europäischen
Rat vom 21./22. Juni 1993 in Kopenhagen identifizierten politischen, wirtschaftlichen
und institutionellen Kriterien für eine Mitgliedschaft ohne Einschränkungen in Form
von Übergangsfristen voll erfüllt sind.
• Das Einkommensgefälle zwischen den osteuropäischen Neumitgliedern und der EU ist ungleich
höher als es bei den Ländern der Süderweiterung war. Erreichte das BIP pro Kopf (zu
Kaufkraftparitäten) in den Ländern der Süderweiterung 1980 immerhin 66% dieser Messgrösse
in der damaligen EG-9, so ist der Rückstand der 12 Beitrittskandidaten (einschliesslich
Rumäniens und Bulgariens) mit einem pro Kopf BIP von lediglich 38% der EU-15 im Jahr
1998 praktisch doppelt so hoch. Dieser enorme Aufholbedarf löst unter dem Titel der Kohäsion
zunächst umfangreiche Transferzahlungen aus – und er verzögerte den Beitritt von Rumänien
und Bulgarien. Werden diese Transfers zur Finanzierung von Investitionen genutzt,
so werden der Wachstumsprozess und die Fortschritte in der Einkommenskonvergenz beschleunigt,
mit wiederum positiven Auswirkungen auf Exporte und Wirtschaftswachstum in
der EU-15.
• Landwirtschaft. Ihre relative Bedeutung entspricht zwar in den osteuropäischen Neumitgliedern
(mit rund 8% des BIP und 17% der Beschäftigung) weitgehend jener in den Ländern der
Süderweiterung 1980. Die Produktivität der osteuropäischen Landwirtschaft, d.h. die Produktion
bezogen auf die eingesetzte Arbeitskraft wie auch auf das bebaute Land, ist jedoch ungleich
niedriger. Auch entspricht die Spezialisierung der osteuropäischen Landwirtschaft sehr
viel stärker jener der EU-15 als dies in der südlichen Landwirtschaft zu Beginn der Süderweiterung
der Fall war.
Das Migrationspotenzial erscheint im Falle der Osterweiterung wegen des höheren Einkommensgefälles
und der geographischen und teils auch sprachlichen Nähe grundsätzlich höher (vgl.
dazu Kapitel 3).
2.2.3. Studien für ausgewählte, mit der Schweiz vergleichbare EU- und EFTA-Länder
Neben der Studie der EU-Kommission (2001a), die sich im wesentlichen mit den Wirkungen der
Osterweiterung auf den Wirtschaftsraum der EU-15 insgesamt befasst, sind verschiedene von der
Kommission oder von Mitgliedländern in Auftrag gegebene Arbeiten auf die direkten Wirkungen
der Osterweiterung in einzelnen Mitgliedländern gerichtet. Die Ergebnisse dieser Studien können
grundsätzlich gewisse Anhaltspunkte auch für die direkten Auswirkungen der höheren Wachstums-
und Nachfragedynamik der Neumitglieder auf die Schweiz vermitteln.
Entsprechend konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen auf Studien zu gleichfalls
kleinen offenen Volkswirtschaften, die mit der Schweiz in der einen oder andern Weise vergleichbar
sind. Es handelt sich um die EU-Mitgliedländer Österreich, die Niederlande und Dänemark
sowie das EFTA-Land Norwegen.
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Die verschiedenen Studien sind untereinander kaum direkt vergleichbar. Zu unterschiedlich sind
sie vor allem hinsichtlich der Untersuchungsmethode, des verwendeten Basisszenarios sowie der
einbezogenen Einflussfaktoren. Auch hier kann es deshalb nur darum gehen, sehr allgemeine
Erkenntnisse über die Art und Richtung der Effekte sowie allenfalls noch eine Vorstellung über
deren mögliche Grössenordnung zu gewinnen.
Österreich
Österreich ist wie die Schweiz eine kleine offene Volkswirtschaft. Die Deutschsprachigkeit erleichtert
den Austausch mit mehreren der bedeutendsten Neumitglieder, in denen Deutsch als
erste Fremdsprache gilt. Daneben unterscheiden sich die Ausgangslagen der beiden Länder teils
erheblich. Mit einem Anteil der Osteuropaexporte von rund 15% ist die Ausrichtung auf die
Neumitglieder sehr viel bedeutender als in der Schweizer Wirtschaft (mit 3% 2003). Angesichts
der gemeinsamen Grenze mit den Oststaaten ist auch das Einwanderungspotenzial in Österreich
deutlich höher.
Keuschnigg und Kohler (1999) sehen die Hauptwirkungen in zwei Richtungen. Zum einen wird
die höhere Importnachfrage der Neumitglieder Exporte und Gesamtnachfrage der österreichischen
Wirtschaft stimulieren. Und die Möglichkeit einer günstigeren Beschaffung von Zwischenprodukten
und Ausrüstungsgütern schafft günstigere Investitionsbedingungen und führt
über eine verstärkte Kapitalakkumulation zu gesteigerter Produktion. Zum andern wird der Zustrom
von Arbeitskräften eine zusätzliche, breit abgestützte Ausweitung des Kapitalstocks in der
Wirtschaft bewirken. Trotz anfänglicher Friktionen am Arbeitsmarkt werden die volkswirtschaftlichen
Effekte der Einwanderung damit längerfristig klar positiv ausfallen. Ebenfalls in die Rechnung
einzubeziehen seien schliesslich höhere Fiskaleinnahmen als Folge der gestärkten gesamtwirtschaftlichen
Dynamik.
Die Untersuchung gelangt zum Ergebnis, dass die Osterweiterung eine dauerhafte Erhöhung des
Niveaus des österreichischen BIP (im Vergleich zu einem Szenario ohne Beitritt) um rund 1%
zur Folge haben werde. Dieses etwa im Vergleich zu den Ergebnissen der Kommissionsstudie für
den gesamten EU-15-Raum recht hohe Resultat erklärt sich zum einen aus den traditionell engen
Beziehungen Österreichs mit den Neumitgliedern und der entsprechend weit überdurchschnittlichen
Ostorientierung seiner Wirtschaft. Es ist aber auch mit auf die Untersuchungsanlage zurückzuführen:
Im Gegensatz zur Kommissionsstudie nehmen Keuschnigg und Kohler die Lage
vor den europäischen Verträgen von 1993 als Ausgangspunkt und beziehen damit die wirtschaftlichen
Folgen der bisherigen Integrationsschritte als Vorbereitung auf den Beitritt mit ein, was
angesichts der Entwicklungsdynamik der vergangenen 10 Jahre zu einem höheren Ergebnis führen
muss.
Dänemark
Als ebenfalls kleine offene Volkswirtschaft mit einem einstweilen relativ bescheidenen Osthandel
(Exportanteil rund 4%) lässt sich Dänemark in mancher Hinsicht mit der Schweiz vergleichen.
In einer im Auftrag der EU-Kommission erarbeiteten Studie gelangen Kristensen und Jensen
(2001) zum Schluss, dass die Nettoeffekte der Erweiterung für die dänische Volkswirtschaft
kurzfristig zwar leicht negativ, längerfristig aber klar positiv ausfallen werden. In der längeren
Frist sollen die positiven Wirkungen der verstärkten Nachfrage aus den neuen Mitgliedländern
und von deren Integration in den Binnenmarkt sowie die Angebotseffekte der verbesserten Faktormobilität
(von Arbeit und Kapital) die in einer ersten Phase dominierenden Kosten der Erwei-
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terung (vor allem die zur Finanzierung erforderliche Steuererhöhung) mehr als ausgleichen. Konkret
soll das Niveau des dänischen BIP dauerhaft um mehr als 1% angehoben werden. Dies stellt
im Quervergleich der Schätzungen einen hohen Wert dar.
Neben Gemeinsamkeiten bestehen zwischen Dänemark und der Schweiz auch strukturelle und
institutionelle Unterschiede, welche die Nettoeffekte der Osterweiterung mitbestimmen dürften.
Einerseits wiegen die Kosten der Erweiterung im Falle Dänemarks wohl besonders schwer, u.a.
weil es unter dem Titel der gemeinsamen Agrarpolitik geringere Transferzahlungen erhalten
wird. Andererseits wird die Schweiz – weil nicht Mitglied der Zollunion und nicht voll in den
Binnenmarkt integriert – nicht im selben Mass in den Genuss einer Verringerung der Transaktionskosten
im Austausch mit den Neumitgliedern gelangen können.
Niederlande
Eine praktisch identische Ausrichtung auf die Volkswirtschaften Osteuropas (Exportanteil 3%)
weisen die Niederlande auf. Allerdings ist die Exportabhängigkeit ihrer Wirtschaft höher als diejenige
der Schweiz. In einer Studie im Auftrag der Regierung errechnen Lejour, Mooij und Nahuis
(2001) trotzdem nur eine dauerhafte Anhebung des holländischen BIP pro Kopf von 0,15% als
Folge der Osterweiterung. Dabei beziehen sie die Wirkungen des Eintritts der Neumitglieder in
die Zollunion und deren Binnenmarktintegration sowie die Effekte der Einführung der Personenfreizügigkeit
mit ein. Hingegen berücksichtigen sie in ihren Berechnungen das mutmasslich stärkere
Wachstum und die entsprechend höhere Importnachfrage der Neumitglieder nach holländischen
Exportprodukten nicht, was zum Teil das vergleichsweise bescheidene Gesamtergebnis
erklärt.
Norwegen
Unter den EFTA-Partnern ist lediglich eine Studie des norwegischen Aussenministeriums bekannt.
Die Untersuchung kommt zum Schluss, dass sich die Erweiterung auch für Norwegen positiv
auswirken werde, ohne aber die erwarteten Gewinne zu beziffern. Die Hauptgewinne werden
aus einer engeren Zusammenarbeit zwischen Norwegen und den Neumitgliedern vorab in
den vom EWR-Vertrag abgedeckten Bereichen erwartet. Da sich Norwegen und die Schweiz
sowohl hinsichtlich Wirtschaftsstruktur als auch in Bezug auf den Binnenmarktzugang (EWR-
Mitgliedschaft Norwegens) erheblich unterscheiden, wären die Ergebnisse dieser Studie nur sehr
eingeschränkt auf die Schweiz zu übertragen.
2.2.4. Aussichten der einzelnen Branchen
Die wichtigsten Zweige unserer westeuropäischen Volkswirtschaften werden von der Osterweiterung
in unterschiedlichem Masse profitieren. Neben Gewinnern wird es auf Branchenebene auch
Verlierer der Binnenmarktintegration der Neumitglieder geben. Bei allen Vorbehalten erlauben
die verfügbaren Studien doch gewisse Tendenzaussagen über die möglichen Auswirkungen auf
die wichtigsten Bereiche.
Gewinner und Verlierer in der Industrie
Sieht man vom Landwirtschaftssektor ab, bei dem unter den EU-15-Mitgliedern nur im Falle der
Niederlande ein positiver Wachstumsimpuls als Folge der Osterweiterung unterstellt wird (Lejour,
de Mooij und Nahuis, 2001), so lassen die Untersuchungsergebnisse für die wichtigsten
Industriezweige überwiegend positive Erweiterungseffekte erwarten.
11

Sämtliche Studien sehen positive Erweiterungswirkungen in den Investitionsgüterbereichen der
Maschinen und Apparate, der Elektroindustrie, von landwirtschaftlichen Maschinen und von
Transportausrüstungen. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der makroökonomischen Untersuchungen,
welche ein höheres Wachstum in den Neumitgliedern wesentlich aus der intensiveren
Investitionstätigkeit erwarten.
Nach der Fallstudie von Keuschnigg, Keuschnigg und Kohler (1999) für Deutschland zählt auch
die chemisch-pharmazeutische Industrie zu den ersten Gewinnern der Osterweiterung.
Auf den ersten Blick nicht unbedingt naheliegend ist das Ergebnis, dass vor allem in Österreich
wie auch in Deutschland die Textil- und die Bekleidungsindustrie zu den mutmasslichen Gewinnern
der Erweiterung gezählt werden. Zwar handelt es sich um traditionelle Osteuropa-Exporte
dieser Länder. Die Hauptursache liegt indessen darin, dass es sich dabei um traditionell besonders
stark belastete und reglementierte Handelsströme handelt, deren volle Liberalisierung zu erheblichen
Handelsumlenkungen (trade diversions) zugunsten des Intra-EU-Handels führen könnte.
Die Angebotswirkung (niedrigere Produktionskosten) der günstigeren Beschaffung von Vormaterialien
und von Ausrüstungen dürfte die gegenteiligen Effekte der Beseitigung der Handelsschranken
und des entsprechend intensiveren Wettbewerbs auf die westlichen Unternehmen mehr
als ausgleichen und so ein stärkeres Wachstum dieses Sektors auch in den alten Mitgliedländern
der EU zulasten anderer Wirtschaftsräume (auch der Schweiz ?) bewirken.
Eher zu den Verlierern gezählt werden neben der Landwirtschaft auch die Nahrungsmittelindustrie
und der Bergbau. In der nachstehenden Übersicht sind die Branchenergebnisse für einige
Länder gemäss den genannten Studien zusammengestellt.
Entwicklung der Produktion ausgewählter Industriezweige als Folge der Erweiterung
Österreich Deutschland Italien Dänemark Niederlande
Nahrungsmittel - - -
Agrarprodukte - - +
Transportausrüstungen + - + + +
Landwirtschafts- und Industriemaschinen + +
Maschinen und Elektroindustrie + + + + +
Textilien + + +
Leder + +
Bekleidung +
Chemische Erzeugnisse +
Metallwaren + + + -
Landwirtschaft
Von besonderem Interesse sind naturgemäss die Auswirkungen auf die Landwirtschaft. Zum einen
verbleibt bei landwirtschaftlichen Produkten und landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen
auch nach den Europäischen Verträgen von 1993 ein grosses Abbaupotenzial an
12

Handelshemmnissen. Der hohe Beschäftigungsanteil der Landwirtschaft in manchen Neumitgliedern,
die niedrige Produktivität und eine Spezialisierung, die zur EU-Landwirtschaft eher substitutiv
denn komplementär erscheint: all dies lässt nicht nur in den Neumitgliedern selber, sondern
auch in der EU-15 fühlbare Auswirkungen erwarten.
Der Abbau des Agrarschutzes im Westen und der Zugang zu den EU-Landwirtschaftssubventionen
dürften eine Ausweitung der östlichen Agrarproduktion und der Netto-Ausfuhren nach der
EU-15 zur Folge haben. Allerdings ist damit zu rechnen, dass Budgetzwänge und die WTO-Bestimmungen
über den Agrarhandel auf die Dauer Druck auf eine generelle Verringerung der Agrarstützung
durch die gemeinsame Agrarpolitik ausüben werden.
Die Folgerungen der verfügbaren Studien sind kontrovers. Die EU-Kommission (2001a) erwartet
eine leichte Verteuerung der Agrarexporte der Neumitglieder, weil die Teilnahme an der gemeinsamen
Agrarpolitik den Landwirten aus dem Osten ermögliche, die von der EU festgelegten Interventionspreise
zu erzielen. Im Gegensatz dazu erwarten die Autoren der erwähnten Länderstudien
zu Deutschland und Österreich, dass die höhere Agrarproduktion der Neumitglieder Druck
auf die Weltmarktpreise der jeweiligen Sparten ausüben werde. Sie erwarten nicht, dass die EU
ihre einheimischen Produzenten gegen diese Preiserosion abschirmen werde. Entsprechend würden
die Agrarpreise nach der Erweiterung in der EU-25 allgemein sinken. Einen längerfristigen
Preisrückgang erwarten auch Kristensen und Jensen in ihrer Fallstudie zu Dänemark.
Der Einfluss auf den EU-Agrarsektor darf indessen nicht überschätzt werden. Zum einen sind die
erreichten Qualitätsstandards in den Neumitgliedern einstweilen noch deutlich niedriger, zum
andern hat sich das Preisgefälle zwischen der EU-15 und den Neumitgliedern in den vergangenen
Jahren bereits deutlich verringert. Der Überschuss der EU-15 im Agrarhandel mit den Neumitgliedern
wird denn auch massgebend der höheren Qualität und weniger den EU-
Agrarsubventionen zugeschrieben. Die gesamtwirtschaftlichen Wirkungen auf die EU-15 werden
auch durch die bereits bescheidene und weiter abnehmende Bedeutung des Agrarsektors (1,5%
des BIP und rund 4% der Beschäftigung) relativiert.
2.3. Zu erwartende Auswirkungen auf die Schweiz
Die EU-Kommission schätzt das zusätzliche Wachstum in der EU-15, das durch die Osterweiterung
ausgelöst wird, bis 2010 auf 0,5 - 0,7%. Diese Anhebung des Niveaus des BIP wird je zur
Hälfte aus den Migrationseffekten als Folge der Realisierung der Personenfreizügigkeit einerseits
und den Handelsintegrations- und Wettbewerbswirkungen andererseits erwartet.
Bei der Frage, inwieweit diese Ergebnisse auch auf die Schweiz zu übertragen sind, gilt es verschiedene
Umstände zu berücksichtigen, so insbesondere die Ausgangslage (heutige Handelsverflechtung
und bisherige Entwicklungsdynamik in den 90er-Jahren), die Branchenstruktur sowie
– nicht zuletzt – institutionell/handelspolitische Gegebenheiten wie die geringere Integration
der Schweiz in den Binnenmarkt.
2.3.1. Handelsverflechtung und Entwicklungsdynamik
Wenn der Handel (gemeint ist das Mittel aus Exporten und Importen) der EU-15 mit den mittel-
und osteuropäischen Ländern Ende der 90er-Jahre rund 1% des nominellen BIP erreichte, so
13

machte der Güteraustausch der Schweiz mit den 10 Neumitgliedern 2003 0,9% (Exporte) bzw.
0,6% (Importe) aus. Der Grad der Ostausrichtung der EU-15-Volkswirtschaften ist indessen ausserordentlich
unterschiedlich. Der EU-15-Durchschnitt wird durch Deutschland und vor allem
durch Österreich nach oben gezogen, in den übrigen Ländern liegt er niedriger.
Zwischen 1989 und 1999 wuchsen die Osteuropaexporte der EU auf das 3,9-fache, die Importe
um das 3,1-fache. Die Schweizer Güterausfuhren nach den osteuropäischen Transformationsländern
wuchsen von 1990 bis 2003 auf das 3,5-fache, unsere Einfuhren aus diesem Raum wuchsen
auf das 5-fache.Wenn die Gesamtdynamik des Schweizer Osthandels mit jener der Mitgliedländer
der EU-15 somit vergleichbar ist, so ergeben sich in den Handelsrichtungen Unterschiede.
Die Schweiz vermochte bislang in etwas bescheidenerem Masse von den rasch wachsenden
Märkten im Osten zu profitieren, scheint aber die Möglichkeiten der Beschaffung günstiger Vorleistungen
(Ausgangsmaterialien und Ausrüstungen) und der Verlagerung gewisser Produktionsprozesse
in nahe gelegene Standorte bislang konsequent zu nutzen.
Ihren Handelsbilanzüberschuss mit den MOEL vermochte die Schweiz zwischen 1995 und 2002
von CHF 1 Mrd. auf CHF 1.2 Mrd. zu erhöhen, während für die EU-15 eine Zunahme von EUR
2.1 Mrd. auf EUR 17.6 Mrd. resultierte. Gemessen an ihrer Grösse startete die Schweiz somit von
einem sehr hohen Niveau. Allerdings zeigt sich auch in dieser Kennziffer, dass Schweizer Unternehmen
die Chancen auf den dynamischen MOEL-Märkten weniger weitergehend wahrgenommen
haben als ihre Konkurrenz aus der EU-15.
2.3.2. Branchenstruktur der Exporte
Die Schweizer Exporte nach den osteuropäischen Ländern wurden im Jahr 2003 ausgeprägt von
chemischen Erzeugnissen (43% der Ausfuhr, davon allein Pharmazeutika 32%) sowie von Investitionsgütern
(Maschinen und Apparate sowie Instrumente, zusammen 30%) dominiert. Vor allem
die Pharmaausfuhren profitierten von einem ausserordentlich rasch wachsenden Markt, sind sie
doch von 1990 bis 2003 auf mehr als das 9-fache gestiegen. Uneinheitlich und insgesamt deutlich
weniger günstig präsentiert sich die Entwicklung der Investitionsgüterausfuhren. Während die
Exporte der Elektroindustrie, mit einem Anteil von heute 9% an der Gesamtausfuhr, auf das 5fache
stiegen, vermochten die Exporte des allgemeinen Maschinenbaus (mit einem Gewicht von
heute noch 13,9%) über den ganzen Zeitraum nur gerade um 51% zuzulegen. Einen enormen
Aufschwung nahmen die Kunststoffexporte, die sich im Laufe des Jahrzehnts mehr als verzehnfachten,
deren Bedeutung indessen mit einem Anteil von 2,5% noch begrenzt ist. Leicht überdurchschnittliche
Zuwächse verzeichneten schliesslich die (in der EU-15 mehrheitlich ebenfalls
zu den „Gewinnern“ gezählten) Textil- und Bekleidungs- sowie die Metallwarenexporte.
14

Handel mit den osteuropäischen Transformationsländern 1) 1990 - 2003
1 9 9 0
Warenartgruppe(n) Importe
Exporte Importe
1000 CHF Anteil % 1000 CHF Anteil % 1000 CHF Anteil % 1000 CHF Anteil % % %
2)
2 0 0 3
Wachstum 90-03
Exporte Importe
Exporte
Exporte/Importe total 3'523'683 100.0 2'453'603 100.0 1'020'873 100.0 493'153 100.0 245.2 397.5
Zubereitete oder verarbeitete Nahrungsmittel 49'706 1.4 35'933 1.5 14'833 1.5 17'878 3.6 235.1 101.0
Textilien, Bekleidung, Schuhe 146'134 4.1 170'626 7.0 35'324 3.5 46'898 9.5 313.7 263.8
Papier, Papierwaren und Grafische Erzeugnisse 101'692 2.9 39'897 1.6 31'430 3.1 8'101 1.6 223.5 392.5
Kunststoffe 86'888 2.5 52'558 2.1 7'733 0.8 4'402 0.9 1023.6 1094.0
Chemikalien und verwandte Erzeugnisse 1'519'473 43.1 166'646 6.8 284'918 27.9 97'968 19.9 433.3 70.1
Pharmazeutische Produkte, Vitamine, Diagnostika 1'110'848 31.5 65'476 2.7 118'074 11.6 14'978 3.0 840.8 337.1
Metalle 281'241 8.0 225'645 9.2 51'596 5.1 58'956 12.0 445.1 282.7
Metallwaren 235'031 6.7 174'054 7.1 45'987 4.5 17'432 3.5 411.1 898.5
Maschinen, Apparate, Elektronik 913'462 25.9 805'927 32.8 429'540 42.1 34'934 7.1 112.7 2207.0
Maschinenbau 489'941 13.9 198'474 8.1 324'363 31.8 18'106 3.7 51.0 996.2
Apparate der Elektroindustrie und Elektronik 317'632 9.0 369'304 15.1 62'196 6.1 6'304 1.3 410.7 5758.3
Präzisionsinstrumente, -apparate und -geräte 135'041 3.8 33'030 1.3 61'559 6.0 2'045 0.4 119.4 1515.2
Uhren 59'612 1.7 2'614 0.1 15'929 1.6 198 0.0 274.2 1220.2
Quelle: OZD
1) Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen
2) 1990 ohne die baltischen Staaten, die damals noch unter der Sowjetunion erfasst waren
Wenn die Schweizer Exportindustrie somit in einige ausserordentlich dynamische Märkte gestossen
ist und die sich bietenden Marktchancen auch konsequent wahrnimmt (so insbesondere im
Pharmasektor), so werden die Perspektiven dadurch etwas beeinträchtigt, dass unsere Anbieter im
Bereich der Ausrüstungsgüter weniger erfolgreich zu sein scheinen. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen,
dass sich die Marktchancen für einzelne Branchen – ausgehend von unterschiedlichen
Anfangsniveaus – unterschiedlich dynamisch entwickelt haben.
2.3.3. Institutionell/handelspolitische Aspekte: unvollständige Integration in den europäischen
Binnenmarkt
Durch den Beitritt der acht ostmitteleuropäischen Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen,
Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien zur EU werden die zwischen diesen Staaten und
der Schweiz im Rahmen der EFTA bestehenden Freihandelsabkommen und bilateralen Abkommen
über weitere Agrarprodukte durch das Freihandelsabkommen Schweiz-EG von 1972 und die
sieben sektoriellen Abkommen von 1999 ersetzt werden.
Im Bereich der Industrieprodukte werden sich dadurch keine Veränderungen im bilateralen Verhältnis
ergeben, da beiderseits bereits zollfreier Marktzutritt besteht. Kaum Veränderungen dürfte
es auch hinsichtlich Investitionsschutz, Schutz des geistigen Eigentums, Wettbewerbsbestimmungen
und Schutzklauseln geben, da die Regelungen der EFTA-Freihandelsverträge mit denen
des EG-Freihandelsvertrages im wesentlichen gleichwertig sind. Im Bereich der Agrarprodukte
werden die bisher zwischen der Schweiz und den MOEL bestehenden Präferenzen im Ausmass
der effektiv getätigten wechselseitigen Handelsflüsse bilateral weitergeführt. Für Agrarprodukte
und verarbeitete Landwirtschaftsprodukte aus der Schweiz ergeben sich zum Teil deutliche Zollreduktionen
für Ausfuhren in diejenigen Neumitglieder, die heute relativ hohe Einfuhrzölle anwenden
und künftig den gemeinsamen Zolltarif der EG übernehmen werden. In den Bereichen
Dienstleistungen, öffentliches Beschaffungswesen und Technische Handelshemmnisse sind für
die Schweiz klare Vorteile durch die Osterweiterung zu erwarten.
Da die Schweiz mit den beiden Beitrittskandidaten Zypern und Malta bisher keine Freihandelsbeziehungen
unterhielt, wird sich deren EU-Beitritt positiv auf die bilateralen wirtschaftlichen
Beziehungen auswirken, wenn auch aufgrund des geringen Handelsvolumens nur in sehr begrenztem
Ausmass.
15

Die Schweiz wird somit nach der Osterweiterung von einem in der Substanz weitgehend gleichwertigen
institutionellen Rahmen im Handelsverkehr mit den Neumitgliedern profitieren.
Die weitergehenden Vorteile der Integration der Neumitglieder in den Binnenmarkt werden ihr
als Nicht-EU-Mitglied hingegen verwehrt bleiben. Dies gilt für die Reduktion der Transaktionskosten
(Zollunion statt Freihandelsregelung), es gilt aber vor allem auch für die positiven Angebotswirkungen
des im Binnenmarkt intensiveren Wettbewerbs. Dazu wird die Schweiz vermehrt
der Gefahr von Handelsumlenkungen (trade diversion effects) ausgesetzt sein, indem Mitglieder
eines voll integrierten Wirtschaftsraums die Tendenz haben können, Handel bevorzugt mit Partnern
aus dem eigenen Integrationsraum zu treiben. Dies gilt beispielsweise für den Textilsektor,
wo die Studien zu Österreich und Deutschland entsprechende Handelsumlenkungsgewinne zugunsten
der erweiterten EU-25 und zulasten der aussenstehenden Wirtschaftsräume – hier u.U.
auch der Schweiz - erwarten.
2.3.4. Die Wirtschaftsbeziehungen zu Osteuropa im Lichte der historischen Bedeutung
Die Phase der Liberalisierung und der marktwirtschaftlichen Neuorientierung der osteuropäischen
Volkswirtschaften ist noch ausserordentlich kurz. Auch einkommensmässig ist die Ausgangslage
der Neumitglieder als Handelspartner sehr bescheiden: das BIP pro Kopf von 12 Kandidatenländern
betrug 1998 nur gerade 38% des EU-15-Mittels. In dieser Lage besteht die Gefahr,
dass das Entwicklungspotenzial dieser Volkswirtschaften und dessen Auswirkungen auf die
Nachfrage nach Exportprodukten aus dem Westen unterschätzt wird. Entsprechende Anhaltspunkte
kann die historische Bedeutung Osteuropas als Handelspartner liefern, deren sich heute
kaum mehr jemand bewusst ist.
Handelsdaten der League of Nations zeigen auf, dass 1928 Österreich 35% und auch die Schweiz
beinahe 10% ihrer gesamten Exporte nach Osteuropa lieferten – davon die Schweiz allein 6%
nach der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn. Die damalige Bedeutung der osteuropäischen
Volkswirtschaften erhellt auch daraus, dass die Tschechoslowakei 1928 ein Exportvolumen aufwies,
das in Europa nur gerade von England, Deutschland und Frankreich klar übertroffen wurde.
Auch Polen vermochte damals noch die Bedeutung etwa der Schweiz als Exportland zu egalisieren.
Diese historische Betrachtung führte Baldwin (1993) zum Schluss, dass mit der fortschreitenden
Liberalisierung des Handels und der Integration dieser Volkswirtschaften diese Märkte für
Westeuropa noch sehr stark an Bedeutung gewinnen würden. Ein Teil dieser Erwartung hat sich
inzwischen realisiert, doch verbleibt nach wie vor ein enormes und womöglich immer noch unterschätztes
Aufholpotenzial.
2.3.5. Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Schweiz
Informationen über die bisherige Entwicklung der schweizerischen Wirtschaftsbeziehungen zu
Osteuropa vermittelt eine Studie, welche die KOF/ETHZ im Auftrag des seco erstellt hat (Hollenstein,
2001). Ziel dieser Studie war die Ermittlung der möglichen Konsequenzen der nach der
Öffnung intensivierten wirtschaftlichen Beziehungen zu Osteuropa für den Wirtschaftsstandort
Schweiz und für die Erreichung der globalen wirtschaftspolitischen Ziele (Wachstum, Beschäftigung,
Einkommensverteilung, Preisstabilität). Ihre Ergebnisse lassen auch Schlussfolgerungen
hinsichtlich der Konsequenzen des EU-Beitritts der osteuropäischen Volkswirtschaften als letzten
Integrationsschritt zu.
16

In der Studie wird eine deskriptive Auswertung zweier in den Jahren 1993 und 1997 durchgeführter
Unternehmensbefragungen in der Industrie zum Osteuropaengagement den Ergebnissen
einer zweiten, breiter abgestützten ökonometrisch ausgerichteten Analyse gegenübergestellt, welche
Informationen einer 1998/99 im Rahmen des NF-Schwerpunktprogramms „Zukunft der
Schweiz“ durchgeführten Internationalisierungserhebung nutzt.
In der Diskussion über die Internationalisierung der Schweizer Wirtschaft ist die Öffnung Osteuropas
nicht nur hinsichtlich der sprunghaften Veränderung der Rahmenbedingungen mit ihren
erhöhten Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit sowie bezüglich der geografischen und kulturellen
Nähe dieser Wirtschaftsregion von besonderer Bedeutung. Dieser Raum bietet überdies
verhältnismässig billige, aber sehr gut qualifizierte Arbeitskräfte. Damit können auch humankapitalintensive
Bereiche der Wirtschaft, die bisher gegenüber der Konkurrenz aus Ländern mit tiefem
Lohnniveau relativ gut geschützt waren, unter einen erhöhten Anpassungsdruck geraten. Zudem
entstehen gleichsam „vor der Haustür“ – und damit vermutlich in besserer Reichweite der
schweizerischen KMU – neue Absatzmärkte mit einem beträchtlichen Potenzial.
Zentraler Untersuchungsgegenstand war entsprechend die Frage, ob das wachsende Osteuropaengagement
Produktionen am Standort Schweiz ersetze (Produktionsverlagerung, „Substitutionshypothese“)
oder ob vielmehr dank der Ostöffnung die wirtschaftlichen Aktivitäten im Inland
ergänzt und erweitert werden („Komplementaritätshypothese“). Im weiteren galt es zu klären, in
welcher Weise eine internationalisierungsbedingte Veränderung der Arbeitsteilung die Qualifikationsstruktur
der Arbeitsnachfrage tangiert.
Im Hinblick auf das gesamtwirtschaftliche Wachstumsziel ist die Einschätzung der Studie eindeutig:
Trotz der Kostennachteile schweizerischer Firmen haben die Osteuropa-Investitionen die
Wirtschaftsaktivitäten am Standort Schweiz per Saldo ergänzt und erweitert (Dominanz der
Komplementaritäts- über die Substitutionseffekte). Dies bedeutet, „dass die Intensivierung dieser
Wirtschaftsbeziehungen im Laufe der neunziger Jahre das Wachstum in der Schweiz gestützt hat.
Allerdings gilt dies nicht für sämtliche Branchen. Insbesondere arbeitsintensive und sachkapital-
und/oder rohstoffintensive Aktivitäten in der Industrie sind in den neunziger Jahren unter Anpassungsdruck
geraten, was in einem generell rezessiven Umfeld zu zahlreichen Schliessungen von
Betrieben oder Betriebsteilen führte.“
Im Industriesektor zählt die deskriptive Analyse – im Einklang mit den komparativen Vorteilen
des Wirtschaftsstandorts Schweiz – humankapital- und innovationsintensive Branchen wie Chemie,
Elektronik/Instrumente, Maschinen, Elektrotechnik eindeutig zu den Gewinnern. Dasselbe
gilt auch für die keiner nennenswerten Konkurrenz aus Osteuropa gegenüberstehende Uhrenindustrie.
Verlierer sind – ebenfalls der Aussenhandelstheorie entsprechend – arbeitsintensiv produzierende
Branchen wie Bekleidung und Sonstige Industrie (Möbel, Spiel-/Sportwaren, usw.)
sowie sachkapital- und rohstoffintensive Branchen wie Holz, Metallerzeugung und Papier. Eine
mittlere Position nehmen die sachkapitalintensive Textilindustrie sowie die hinsichtlich Faktoreinsatz
nicht klar einzuordnenden Branchen Metallverarbeitung und Kunststofferzeugnisse ein.
Nach Grössenklassen betrachtet, zeigt sich, dass grosse Unternehmen eine günstigere Chancen/Risiko-Relation
aufweisen als kleinere Firmen. Dabei sind die Unterschiede primär auf unterschiedliche
Exportmöglichkeiten zurückzuführen, während der Konkurrenzdruck alle Grössenklassen
in einem ähnlichen Ausmass trifft.
17

In einer längerfristigen Perspektive – und unter Berücksichtigung indirekter Beschäftigungseffekte,
die namentlich infolge internationalisierungsbedingter Produktivitätsgewinne der Weltwirtschaft
auftreten – schliesst die Studie negative Auswirkungen der Osteuropa-Investitionen
auf die inländische Beschäftigung weitgehend aus.
Zur Frage der Auswirkungen auf die Qualifikationsstruktur der Beschäftigung gelangt die Studie
zum Schluss, „dass die verstärkte Aktivität schweizerischer Firmen in Osteuropa hauptsächlich
zu Lasten arbeitsintensiver und sachkapital- und/oder rohstoffintensiver Aktivitäten in der Industrie
geht, und dass die humankapital- und innovationsintensiven Industriebranchen und der
Dienstleistungssektor die wesentlichen Gewinner darstellen. Infolgedessen bewirken Osteuropa-
Engagements eine Verschiebung der Arbeitsnachfrage in Richtung hochqualifizierter Arbeitskräfte.“
Die Studie trat nicht auf die Wirkungen der Personenfreizügigkeit ein, da diese erst jetzt schrittweise
eintreten wird.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit der Ausweitung des EU-Binnenmarktes ein
grösserer einheitlicher Absatzmarkt entsteht, in dem grosse Firmen Skaleneffekte werden stärker
nutzen können, während kleine Firmen sich verstärkt spezialisieren werden. Kleinere Betriebe in
traditionellen verarbeitenden Industrien stehen schon längere Zeit unter dem Druck der erfolgten
Handelsliberalisierung, die günstigere Vorleistungen und Konsumgüterimporte mit sich bringt.
Im Einklang mit den komparativen Vorteilen des Wirtschaftsstandortes Schweiz werden stark
spezialisierte Betriebe in humankapital- und innovationsintensiven Branchen weiter zulegen können.
Exporte hochwertiger Dienstleistungen dürften auch eine Ausweitung erfahren. Diese strukturellen
Anpassungen ergeben nicht nur die angeführten, grundsätzlich positiven Auswirkungen
auf die Schweizer Wirtschaft. Marktzugang dank Handel kann auch Marktzutritt dank Zuwanderung
ersetzen.
2.4. Zusammenfassung und Schlussfolgerung zu Kapitel 2
1. Der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur EU und die Integration ihrer Volkswirtschaften
in den europäischen Binnenmarkt werden weitere tiefgreifende Veränderungen
in den Volkswirtschaften der Beitrittsländer haben.
2. Auswirkungen ergeben sich auch für die westeuropäischen Volkswirtschaften: zunächst auf
jene der bisherigen EU, dann aber auch auf jene der nicht voll in den Binnenmarkt integrierten
EWR-Länder und schliesslich auf die Schweiz.
3. Die Schweizer Volkswirtschaft wird direkt und indirekt von den Auswirkungen der Osterweiterung
tangiert: direkt durch die direkten Handels-, Investitions- und Wachstumseffekte,
die aus dem höheren Wachstum und der steigenden Nachfrage aus den Beitrittsländern resultieren;
indirekt durch die Stimulierung und ein verstärktes Wachstum der EU-
Volkswirtschaften und deren Auswirkungen auf die Schweizer Wirtschaft; hinzu kommen
die Wachstumswirkungen der Zuwanderung als Folge der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit
auf die neuen Mitgliedländer (vgl. Kapitel 3).
18

4. Hauptnutzniesser werden die Beitrittsländer selber sein: Die marktwirtschaftliche Erneuerung
wird beschleunigt und dank besserer Rahmenbedingungen und besseren Entwicklungsperspektiven
wird die Investitionstätigkeit – aus eigenen Mitteln wie vor allem auch
über ausländische Direktinvestitionen – gestärkt. Nach Studien der EU-Kommission und externer
Forscher können diese Beitrittswirkungen das jährliche Wachstum der Beitrittsländer
über das laufende Jahrzehnt hinweg um bis zu 2 Prozentpunkte p.a. anheben und damit bis
2010 eine Anhebung des Niveaus ihres BIP um eine Grössenordnung von 20% bewirken.
5. In der EU-15 wird die wachsende Exportnachfrage eine Stärkung der Investitionen zur Anpassung
der Produktionskapazitäten auslösen. Günstigere Vorleistungsbezüge werden die
Produktionskosten senken und der nochmals verstärkte Wettbewerb im Binnenmarkt wird
auf Margen und Preise drücken. Laut EU-Kommission dürfte das Niveau des BIP der EU
über den Zeitraum 2000 bis 2009 nach Abzug der Erweiterungskosten um 0,5 bis 0,7% steigen.
Die eine Hälfte dieses Wachstumsgewinns wird aus der Liberalisierung des Güter- und
Dienstleistungshandels und der Intensivierung des Wettbewerbs erwartet, die andere soll aus
den Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Arbeitsmarkt resultieren.
6. Die für die EU-15 ermittelten Wachstumseffekte dürften im Falle der Schweiz als Nicht-
EU-Mitglied die obere Grenze der wahrscheinlichen Auswirkungen bilden. Die Schweiz
kann zwar ähnlich – wenn auch nicht ganz so ausgeprägt – wie Österreich und Deutschland
von den Vorzügen der geografischen und sprachlich/kulturellen Nähe zu den Beitrittsländern
profitieren, was eine Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen begünstigt. Als
Nicht-Mitglied der EU und ihrer Zollunion wird sie neu im Verhältnis zu den EU-Ländern
jedoch auch einem gewissen Risiko von Handelsumlenkungen ausgesetzt sein.
7. Unter Ausklammerung der Migrationseffekte und ausgehend von den für die EU erwarteten
Effekten erscheint eine dauerhafte Erhöhung des BIP der Schweiz von 0,2 – 0,3% als
Wachstumsgewinn der Osterweiterung als realistische Grössenordnung.
19

3. Auswirkungen auf den Schweizer Arbeitsmarkt und die Sozialversicherungen
3.1. Ausgangslage
Acht Mittel- und Osteuropäische Länder sind am 1. Mai 2004 der EU beigetreten. 1 Es handelt
sich dabei um die drei baltischen Staaten - Estland, Lettland und Litauen-, Polen, die Republiken
Tschechien und Slowakei, Ungarn und Slowenien, welche oft unter der Bezeichnung "MOEL-8"
zusammengefasst werden. In diesen Ländern leben 74 Mio. Menschen, was ca. 20% der EU-
Bevölkerung vor ihrer Erweiterung entspricht. Bulgarien und Rumänien, mit weiteren 30 Mio.
Einwohnern, hoffen bis 2007 betreten zu können (zusammen: MOEL-10). Mittlerweile ist auch
Kroatien Beitrittskandidat und strebt gleichfalls für 2007 eine Mitgliedschaft an, ohne dass dies
in den nachfolgenden Ausführungen berücksichtigt werden konnte. Zusammen kennen die 3
Kandidatenländer eine Bevölkerungszahl von 34.2 Mio. oder 10% der EU-15.
Die EU-15 hat mit den neuen Mitgliedern flexible Übergangsvereinbarungen getroffen, die es
den alten Mitgliedstaaten gestatten, die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den neuen Mitgliedstaaten
bis spätestens 30. April 2011 zu begrenzen.
Gemäss bilateralen Abkommen der Schweiz mit der EU-15 findet die Personenfreizügigkeit nicht
automatisch Anwendung auf neu beitretende Staaten der EU. Eine Verweigerung dieser Grundfreiheit
würde aber das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU-15 und damit die übrigen
bilateralen Abkommen der Schweiz gefährden. Ziel der Schweiz war es daher, vergleichbare Bedingungen
wie die fünfzehn bisherigen EU-Staaten bzgl. Übergangsfristen zugesprochen zu erhalten.
Diese konnten mit der EU mittlerweile ausgehandelt werden.
Im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung stellt sich u.a. die Frage, welche Zuwanderung
durch die Personenfreizügigkeit ausgelöst würde und welches die kurz- und langfristigen Effekte
einer allfälligen Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt, d.h. auf die Beschäftigung, die Arbeitslosigkeit
oder die Lohnentwicklung, wären. Abgeleitet aus den Arbeitsmarkteffekten stellt sich
zudem die Frage nach der Wirkung auf die Schweizer Sozialversicherungen.
3.2. Prognose der Zuwanderung
Die Frage des Migrationspotentials aus Mittel- und Osteuropäischen Ländern wurde für die
Schweiz bislang nicht im Detail untersucht. Zwei Studien, welche anlässlich des Integrationsberichts
des Bundesrates 1999 erstellt wurden, beschäftigten sich mit den Auswirkungen einer
Personenfreizügigkeit der Schweiz mit der EU-15 auf den Arbeitsmarkt. Die Frage einer EU-
Erweiterung wurde dabei nur am Rande behandelt. 2
Darüber hinaus gibt es heute jedoch verschiedene Studien zu den erwarteten Auswirkungen einer
EU-Osterweiterung auf die Staaten der EU-15. Je nach angewandter Methodik wird die Zuwanderung
in die EU-15 aus den MOEL-8 auf 140'000 – 240'000 Personen pro Jahr geschätzt.
1 Zypern und Malta zählen zusammen rund 1 Mio. Einwohner und sind der EU ebenfalls am 1. Mai 2004 beigetreten.
Sie werden in der Folge ausgeklammert, da sie nicht zur EU-Osterweiterung gezählt werden und daher in den meisten
Analysen fehlen. Ihre Bedeutung ist auch bzgl. der vorliegenden Fragestellung vernachlässigbar.
2 vgl. Straubhaar (1999) und Weber (1999).
20

Unter Einbezug von Rumänien und Bulgarien (MOEL-10) beträgt die Spannweite der Schätzungen
200'000 – 790'000. 3 Mit dieser Grössenordnung liegen die Schätzungen der Zuwanderung
über den Werten, welche man bei der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft nach Süden
beobachtete. Die grosse Spannbreite von Ergebnissen zeigt aber auch, wie schwierig eine Abschätzung
ist. Gewisse Autoren erachten derartige Schätzungen wegen der notwendigen Annahmen
und Analogieschlüsse gar als „unseriös und gefährlich“ (vgl. Dustmann, 2001).
Als erklärende Faktoren bei der Prognose der Zuwanderung aus Osteuropa in die EU-15 spielen
folgende Elemente eine Rolle:
• Die Länder weisen einen bedeutenden Bevölkerungsbestand auf (MOEL-10 > 100 Mio.)
• Das Gefälle in den pro Kopf Einkommen ist erheblich, was Anreize zur Migration schafft.
Die Konvergenz der Einkommen ist zudem zu langsam, als dass sich die Differenz rasch verringern
würde. Das BIP pro Kopf der 10 neuen EU-Mitgliedstaaten betrug 2002 (zu Kaufkraftparitäten)
rund 46% des Niveaus der EU-15. 4
Weitere erklärende Faktoren der Migration und deren geografischer Verteilung auf die EU-15
sind
• die Arbeitsmarktsituation in den Herkunfts- und vor allem den Aufnahmeländern
• der Bestand der bereits in der EU-15 ansässigen Bevölkerung aus den Beitrittsländern bzw.
existierende soziale Netzwerke (sog. Ketten-Migration)
• die geografische, kulturelle und sprachliche Nähe der Herkunftsländer zu den Zielländern.
Eine von der EU-Kommission in Auftrag gegebenen Studie liefert Prognosen zur Zuwanderung
in einzelne Länder der EU-15, welche sich unter gewissen vereinfachenden Annahmen auch auf
die Schweiz übertragen lassen. Natürlich gelten auch hier alle methodischen Vorbehalte, welche
man gegenüber solchen Untersuchungen generell machen muss.
Gemäss den Schätzungen der Europäischen Kommission (2000), beträgt die erwartete Zuwanderung
in die EU-15 bei unverzüglicher Einführung der Personenfreizügigkeit für die MOEL-10
pro Jahr 335'000 Personen, bzw. 120'000 Arbeitskräfte (200'000 resp. 70'000 davon MOEL-8).
Auf 30 Jahre hinaus wird das Migrationspotential der MOEL-10 auf 3.9 Millionen Personen geschätzt,
was rund 4% der Bevölkerung der Herkunftsländer bzw. 1% der Bevölkerung der EU-15
entspricht. 5
Zur Abschätzung der Verteilung auf die verschiedenen EU-Länder geht die Europäische Kommission
(2000) in ihren Simulationen davon aus, dass sich die Zuwanderung proportional zu den
bereits im entsprechenden EU-Land wohnhaften Bürgern der MOEL-10 verhält. Gemäss seinen
Schätzungen lebten 1998 gut 850'000 Personen aus den MOEL-10 in der EU-15, wovon 65% auf
Deutschland und 12% auf Österreich entfielen. Entsprechend hätten Deutschland und Österreich
unter dieser Annahme mit 65 bzw. 12% der Zuwanderung zu rechnen. Bezieht man die Schweiz
in diese Berechnungen mit ein – 1998 lebten rund 20'000 Personen aus den MOEL-10 bei uns –
3 vgl. Europäische Kommission (2001b), sowie die darin zitierte Literatur.
4 Zur Illustration: Bei einem um systematisch 2%-Punkte höheren Wirtschaftswachstum wären 22 Jahre nötig, um
auf 71% des pro Kopf Einkommens der EU-15 zu gelangen (heutige relative Position Griechenlands und Portugals).
5 Sensitivitätsanalysen ergeben Schätzungen der Zuwanderung zwischen 2.9 und 4.5 Millionen Personen.
21

würde bei Anwendung der gleichen Schätzmethode ein Anteil von 2,3 % der Zuwanderung auf
unser Land entfallen. Aus den per 1.5.2004 beigetretenen 8 Staaten aus Mittel- und Osteuropa ist
unter den geschilderten Modellannahmen und ohne Einbezug von Übergangsfristen eine zusätzliche
jährliche Zuwanderung von rund 4600 Personen bzw. rund 1600 Arbeitskräften in die
Schweiz zu erwarten. Käme es, wie für 2007 vorgesehen, zu einem Beitritt von Rumänien und
Bulgarien, wäre mit einer weiteren Erhöhung der Zuwanderung um rund 3100 Personen bzw.
1100 Arbeitskräften pro Jahr zu rechnen. Auf Grund der Konvergenz der Lebensverhältnisse innerhalb
der EU würden sich die Migrationssaldi sukzessive verringern. Im Verlauf von rund 30
Jahren würde sich der Bestand der Personen aus den MOEL-10 in der Schweiz von gegenwärtig
20'000 auf gut 90'000 erhöhen.
Wenn diese Projektionen auch mit grosser Unsicherheit verbunden sind, lässt sich doch aus ihnen
folgern, dass die zusätzlich zu erwartende Zuwanderung als Folge der EU-Erweiterung für den
Schweizer Arbeitsmarkt nicht unbedeutend ist. Zum Vergleich: zwischen 1980 und 2000 belief
sich die Netto-Zuwanderung gemäss Zentralem Ausländerregister (ZAR) pro Jahr insgesamt auf
durchschnittlich knapp 28'000 Personen, wovon rund 7’700 erwerbstätig waren. 6 Rund ein Fünftel
stammte aus dem EU/EFTA Raum, wobei die Bedeutung der Zuwanderung aus Nicht-
EU/EFTA Staaten laufend und insbesondere in den 90er Jahren stark zunahm. In den Jahren
1991-1993 verzeichnete die Schweiz eine Netto-Zuwanderung von jährlich über 40'000 Personen
von ausserhalb des EU/EFTA-Raums. Mit der konjunkturellen Schwächephase verringerte sich
die Zuwanderung in der Folge und pendelte sich bei gut 20'000 Personen pro Jahr ein. Bezogen
auf diese Grössenordnung würde die Zuwanderung aus den neuen EU-Mitgliedsländern damit 23
Prozent (MOEL-8) bzw. 39 Prozent (MOEL-10) ausmachen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass
ein Anstieg der Zuwanderung aus den neuen Mitgliedstaaten der EU die Zuwanderung aus anderen
Ländern teilweise substituieren dürfte, wobei das Ausmass dieses Effektes von der Entwicklung
und der Qualifikationszusammensetzung der Zuwanderung aus Drittstaaten und den MOEL-
10 abhängen wird.
6 Netto-Zuwanderung: Niedergelassene und Jahresaufenthalter, inkl. Umwandlungen von einer Saisonnier- in eine
Daueraufenthaltsbewilligung.
22

Grafik 1: Netto-Migration aus dem EU/EFTA-Raum und aus Drittstaaten, 1974-2000
(Niedergelassene und Jahresaufenthalter, inkl. Umwandlungen vom Saisonnier- in einen Daueraufenthaltsstatus)
60'000
40'000
20'000
0
-20'000
-40'000
-60'000
-80'000
1974
1976
1978
1980
Quelle: Zentrales Ausländerregister
1982
1984
1986
1988
23
1990
1992
EU/EFTA Nicht-EU/EFTA
Neben dem quantitativen Ausmass der Zuwanderung ist für den Schweizer Arbeitsmarkt auch
von Bedeutung, in welchem Zeitraum diese erfolgen würde. Mitte der 90er Jahre hat in der
Schweizerischen Ausländerpolitik ein bedeutender Wandel stattgefunden. Mit der Einführung
eines Zweikreisemodells, wurde die Zuwanderung aus Nicht-EU/EFTA-Staaten (sogenannte
Drittstaaten) auf gut qualifizierte Arbeitskräfte beschränkt. Arbeitskräfte aus EU/EFTA Staaten
dagegen wurden mit Blick auf die spätere Personenfreizügigkeit bevorzugt behandelt. Diese Strategie
mit der EU/EFTA-Personenfreizügigkeit auf der einen und der kontingentierten und auf
qualifizierte Arbeitskräfte beschränkten Zulassungspolitik gegenüber Drittstaaten auf der anderen
Seite wird bis heute weiter verfolgt. Auf die Entwicklung der Zuwanderungsströme hat sich diese
Änderung der Ausländerpolitik bislang jedoch erst teilweise ausgewirkt. Die nach wie vor relativ
hohe Netto-Zuwanderung aus Nicht-EU/EFTA-Staaten in den letzten Jahren ist zum Teil eine
„Nachwirkung“ der hohen Zuwanderung während der 90er Jahre. Über 40% der Zuwanderung
betrifft gegenwärtig den sog. Familiennachzug und lediglich rund ein Viertel unterliegt einem
Kontingent für die Arbeitskräftewanderung. Denkbar ist, dass die Zuwanderung in die Schweiz
aus Nicht-EU/EFTA-Staaten mit der Zeit abflacht, wenn die heutige, relativ restriktive Zulassungspolitik
weiter verfolgt wird. In diesem Fall könnte eine zusätzliche Zuwanderung aus den
MOEL-10 unter Umständen bis zu einem gewissen Grad die Zuwanderung aus anderen, südosteuropäischen
Nicht-EU-Staaten substituieren.
Geht man von den zwischen der Schweiz und der EU ausgehandelten Übergangsfristen aus, welche
bis 2011 gelten sollen, so fällt die Einführung der vollen Personenfreizügigkeit für die
Schweiz ziemlich genau in eine Phase, in der unser Land aus demografischen Gründen mit einer
Abflachung (ab 2010) bzw. einem Rückgang der Erwerbsbevölkerung (ab 2015) zu rechnen hät-
1994
1996
1998
2000

te. Aus demografischen Gesichtspunkten fiele die volle Verwirklichung der Personenfreizügigkeit
mit den neuen EU-Mitgliedsländern damit in eine Phase, in der eine gewisse Zuwanderung
durchaus erwünscht sein könnte. Durch die über 7 Jahre hinweg progressiv ansteigenden Kontingente
wird die erwartete Zuwanderung angemessen über die Zeit verteilt.
3.3. Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
Abschätzungen des Migrationspotentials sind mit grosser Unsicherheit verbunden. Aus ökonomischer
Sicht lässt sich zudem argumentieren, dass eine Prognose der quantitativen Zuwanderung
letztlich weniger wichtig ist als die Abschätzung der Auswirkungen auf Arbeitsmarkt, Sozialversicherungen
und die Volkswirtschaft insgesamt, also bspw. auf die Beschäftigungs- und Lohnentwicklung,
auf die Höhe der Arbeitslosigkeit, auf die Finanzierung der Sozialversicherungen
und auf das gesamtwirtschaftliche Wachstum.
Aus ihrer reichen Erfahrung als Zuwanderungsland hat die Schweiz die wichtige Lehre ziehen
können, dass für ihre Volkswirtschaft vor allem die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte
vorteilhaft ist. Die Rekrutierung wenig qualifizierter Arbeitskräfte führte zwar zu einer kurzfristig
hohen Flexibilität des Arbeitsmarktes, verursachte auf lange Sicht aber auch erhebliche strukturelle
Probleme. Diese kamen in den 90er Jahren mit dem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit
deutlich zum Vorschein. Vereinfacht gesagt ist eine Migrationspolitik für die Schweizer Volkswirtschaft
dann am vorteilhaftesten, wenn die Rekrutierung von qualifizierten Arbeitskräften erleichtert
wird und keine Massenzuwanderung wenig qualifizierter Arbeitskräfte erfolgt. Zur Abschätzung
diesbezüglicher Chancen und Risiken der EU-Osterweiterung sind verschiedene Aspekte
von Bedeutung.
3.3.1. Arbeitsangebot in den Herkunftsländern
Interessant ist, dass sich die MOEL-8 bezüglich Qualifikationsstruktur nicht sehr stark von den
bedeutenden westlichen Zielländern Deutschland, Österreich und auch der Schweiz unterscheiden.
7 Der Anteil der 25-64-Jährigen ohne Ausbildung auf Sekundarstufe II liegt in all diesen
Ländern in ähnlicher Grössenordnung, während der Anteil an Personen mit einer Ausbildung
nach der Sekundarstufe II in den MOEL-8 rund halb so hoch ist. Ganz anders stellt sich die Situation
in den Ländern Südeuropas dar, wo zwischen 49% (Griechenland) und 80% (Portugal) der
erwachsenen Bevölkerung lediglich die Schule auf Primar- oder Sekundarstufe I besucht haben.
Von der „Angebotsseite“ her wäre daher damit zu rechnen, dass Zuwanderer aus den MOEL-8
einen vergleichsweise hohen Bildungsstand aufweisen. Allerdings ist gleichzeitig anzumerken,
dass ein hohes Bildungsniveau der Bevölkerung noch kein Garant dafür ist, dass diese Personen
auch entsprechend ihren Qualifikationen eingesetzt würden. Natürlich könnten sie auch minder
qualifizierte Tätigkeiten verrichten, womit die Arbeitsnachfrage in den Zielländern letztlich entscheidender
wäre als die Beschaffenheit des Arbeitsangebots.
7 Informationen sind nur für Polen, die Tschechische Republik, Ungarn und die Slowakei verfügbar.
24

Grafik 2: Höchste abgeschlossene Ausbildung der 25-64jährigen Bevölkerung, 2001, Anteile
in %
GRE
ITA
ESP
PRT
CZE
SVK
POL
HUN
SCHWEIZ
DEU
AUT
0 20 40 60 80 100
keine nach-obligatorische Schulbildung Tertiärstufe
Quelle: OECD (2002)
3.3.2. Arbeitsnachfrage in der Schweiz
25
MOEL-8
typische Zielländer
Süd-
EU15
In den letzten Jahrzehnten verzeichnete die Schweiz eine stetig wachsende Nachfrage nach höher
qualifizierten Arbeitskräften und einen Verlust von Arbeitsplätzen mit geringen Qualifikationserfordernissen.
Langfristig ist im Zuge der technologischen Entwicklung mit einer Fortsetzung
dieses Trends zu rechnen. Die Zuwanderung spielte in der Schweiz jedoch stets sowohl für die
Rekrutierung hoch- als auch wenig qualifizierter Arbeitskräfte eine bedeutende Rolle, wobei die
Bedeutung der Migration hochqualifizierter Arbeitskräfte wegen der Verschiebung der Arbeitskräftenachfrage
und der Neuausrichtung der Schweizer Ausländerpolitik (Mitte der 90er Jahre)
nach und nach an Bedeutung gewann.
Bei der Rekrutierung hoch-qualifizierter Arbeitskräfte wird die EU-Osterweiterung für den
Schweizer Arbeitsmarkt positiv zu bewerten sein, da die Schweiz in diesem Bereich sehr kompetitiv
ist. Gerade den KMU war und ist die Personenfreizügigkeit mit der EU eines der wichtigsten
Anliegen. Problematischer ist diese Politik allenfalls für die Herkunftsländer, da sie einen gewissen
„brain-drain“ zu befürchten haben.
Angesichts der langfristigen Trends der Arbeitskräftenachfrage in der Schweiz in Richtung gut
qualifizierter Arbeitskräfte, ist heute und in Zukunft nicht mehr mit einer massenhaften Zuwanderung
von unqualifizierten Arbeitskräften zu rechnen. Dennoch werden gewisse Branchen, wie
bspw. die Landwirtschaft, das Bau- und Gastgewerbe, einzelne Industriezweige sowie das Gesundheitswesen
zunächst noch unqualifizierte, relativ „billige“ Arbeitskräfte anwerben können.
Unter der heutigen Ausländerpolitik gegenüber Drittstaaten ist dies auf legalem Weg praktisch
nicht mehr möglich. Innerhalb der EU/EFTA bestehen keine besonderen Qualifikationserfordernisse,
doch bekunden die Schweizer Firmen Mühe, in diesem Wirtschaftsraum im grossen Stil

wenig qualifizierte Arbeitskräfte zu den gewünschten Löhnen zu rekrutieren. Offenbar sind die
Lohndifferentiale gegenüber diesen Ländern bereits zu gering, als dass eine Zuwanderung in die
Schweiz für potentielle Migrantinnen und Migranten genügend attraktiv wäre.
Wegen der deutlich grösseren Lohndifferentiale gegenüber den neuen EU-Mitgliedstaaten dürften
die Migrationspotentiale aus diesen Ländern noch deutlich höher sein, womit Schweizer Unternehmen
bei der Anwerbung von qualifizierten wie auch unqualifizierten Arbeitskräften entsprechend
noch erfolgreicher sein dürften. Die Vermutung, dass Arbeitskräfte aus Osteuropa in der
Schweiz auch unqualifizierte Arbeit verrichten werden, liegt trotz tendenziell sinkender Nachfrage
nahe. So beschäftigte die Schweizer Landwirtschaft im Jahr 2002 bspw. 3'500 Praktikantinnen
und Praktikanten, welche zum grossen Teil aus den MOEL und dabei hauptsächlich aus
Polen stammten. Mittelfristig schätzt der Schweizerische Bauernverband den Bedarf an Arbeitskräften
aus Drittstaaten auf 5'000 bis 6'000 mit einer Aufenthaltsdauer von durchschnittlich 6
Monaten. Die Chancen, diesen Bedarf in den MOEL decken zu können, wird als relativ hoch eingeschätzt.
Auch das Gastgewerbe dürfte versuchen, in den MOEL Servicepersonal zu rekrutieren.
Da die Arbeitslosigkeit in dieser Branche überdurchschnittlich hoch ist, wird hier ein besonderes
Augenmerk darauf zu richten sein, dass hier ansässige Stellensuchende weiterhin vermittelt werden
können und die Arbeits- und Lohnbedingungen nicht erodieren. Auch das Baugewerbe wird
versuchen, sich die EU-Osterweiterung zu Nutze zu machen und Saison- sowie andere Arbeitskräfte
zu rekrutieren. Abschätzungen über die quantitative Bedeutung sind heute jedoch kaum
möglich. Im Pflegebereich sollen heute vor allem qualifizierte Arbeitskräfte fehlen. Es ist denkbar,
dass die EU-Osterweiterung auch in diesem Bereich eine gewisse Abhilfe schaffen kann.
Obwohl sich die Möglichkeiten zur Rekrutierung von wenig qualifizierten Arbeitskräften durch
die EU-Osterweiterung im Prinzip erweitern, ist gleichzeitig zu bedenken, dass die Personenfreizügigkeit
nur schrittweise eingeführt wird und dass danach die flankierenden Massnahmen zur
Personenfreizügigkeit greifen werden. Letztere sollen verhindern, dass die üblichen Lohnbedingungen
ansässiger Arbeitskräfte durch Zuwanderung systematisch unterboten werden, womit sich
deren Lohn- und Arbeitsbedingungen verschlechtern würden. Den Möglichkeiten der Unternehmen,
ihre Kosten durch tiefere Löhne zu senken, sind durch diese Massnahmen daher auch klar
Grenzen gesetzt. Gleichzeitig ist eine Verschärfung der Gesetzgebung zur Bekämpfung der
Schwarzarbeit geplant, welche ein Ausweichen in die Illegalität verhindern soll.
3.3.3. Zuwanderung und Arbeitslosigkeit
In der Vergangenheit war die Zuwanderung in die Schweiz immer eng an die Arbeitskräftenachfrage
gebunden, wie die Untersuchungen für die Schweiz im Rahmen des Integrationsberichts
von 1999 gezeigt haben. 8 Dieser Zusammenhang wird auch für die Migration zwischen der
Schweiz und der erweiterten EU bestehen bleiben, da das Recht auf einen längeren Aufenthalt in
der Schweiz an den Besitz einer Stelle geknüpft ist. Die Personenfreizügigkeit stellt für den Arbeitsmarkt
ein flexibilisierendes Element dar, indem die Unternehmen in Phasen der Expansion
ein höheres Arbeitskräftepotential mobilisieren können. In Zeiten schwacher Konjunktur bricht
die Zuwanderung zumeist ab und nimmt damit eine gewisse Pufferfunktion wahr. Vorbei sind
allerdings die Zeiten, da die Schweiz in ökonomischen Abschwungphasen mit einer raschen
Rückwanderung rechnen konnte, auch wenn bei den nicht-residenten Erwerbstätigen (Saisontätigkeiten,
Grenzgängerbeschäftigung) gewisse Puffer bleiben. Über einen Konjunkturzyklus hin-
8 vgl. Weber (1999)
26

weg dürfte eine verstärkte Zuwanderung aus Osteuropa bezüglich der Arbeitslosigkeit neutral
sein, sofern der Anteil an unqualifizierten Zuwanderern relativ gering ist. Dank der breiteren
Rekrutierungsbasis und den daraus resultierenden Wachstumsimpulsen könnte insgesamt gar eine
tiefere strukturelle Arbeitslosigkeit resultieren.
3.3.4. Auswirkungen auf die Löhne
Die Sorge um allfällige negative Auswirkungen auf Löhne und Arbeitsbedingungen (Stichwort
„Lohn- und Sozialdumping“) war bereits bei den bilateralen Abkommen I ein wichtiges Thema.
Der Bundesrat reagierte darauf mit den sogenannten flankierenden Massnahmen, deren Wirksamkeit
er gestützt auf die bei der Einführung gemachten Feststellungen noch optimieren will.
Sie werden bei der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen Mitgliedstaaten zusätzliche
Bedeutung erlangen, da aufgrund der grossen Einkommensdifferenzen die Bereitschaft der
Personen aus diesen Ländern relativ gross sein wird, die in der Schweiz üblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen
tatsächlich zu unterbieten. Zunächst wird dies durch die schrittweise Einführung
der Personenfreizügigkeit verhindert, welche eine Kontingentierung der Zuwanderung, den
Inländervorrang sowie eine systematische Kontrolle der Einhaltung der üblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen
vorsieht. Nach Ende der Übergangsfrist werden weiterhin die flankierenden
Massnahmen Missbräuche im Bereich der Lohn- und Arbeitsbedingungen verhindern. Von Bedeutung
werden solche Massnahmen insbesondere dann, wenn die Zuwanderung wenig qualifizierter
Arbeitskräfte höher als erwartet ausfallen sollte.
Im Bereich der höheren Qualifikationen ist eine Erhöhung der Konkurrenz und eine Verringerung
der chronischen Arbeitskräfteknappheit erwünscht und nicht mit negativen sozialen Auswirkungen
verbunden, die einen Staatseingriff erfordern würden. Gerade aus der Verringerung der teilweise
chronischen Arbeitskräfteknappheit erwachsen der Schweizer Volkswirtschaft wichtige
ökonomische Vorteile in Form zusätzlicher Investitionen und Arbeitsplätze.
3.4. Auswirkungen auf die Sozialversicherungen
3.4.1. Grundsätzliches
Die zwischenstaatliche Koordinierung der Gesetzgebung zur sozialen Sicherheit ist untrennbar
mit den Bestimmungen zur Personenfreizügigkeit verbunden. Sie garantiert, dass migrierende
Arbeitskräfte weder direkte noch indirekte Benachteiligungen in der sozialen Sicherheit erleiden
und stellt damit eine unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Personenfreizügigkeit
dar. Aus diesem Grund ist sie auch Bestandteil des Personenfreizügigkeitsabkommens
der Schweiz mit der EU-15 bzw. des Zusatzprotokolls über die Ausdehnung dieses Abkommens
auf die neuen EU-Länder.
Eine Koordinierung von Sozialversicherungsvorschriften mit den Mitgliedstaaten der EU-15 findet
heute auf Grund des Personenfreizügigkeitsabkommens in den Bereichen Krankheit (inkl.
Nichtberufsunfälle) und Mutterschaft, Invalidität, Alter, Tod (Hinterlassenenleistungen), Berufsunfälle
und Berufskrankheiten, Arbeitslosigkeit und Familienleistungen statt. Nicht erfasst ist der
Fürsorgebereich.
Die wichtigsten Grundprinzipien der Koordinierung sind:
27

1) Versicherungspflicht: Die Versicherungspflicht richtet sich grundsätzlich nach den gesetzlichen
Bestimmungen des Landes in dem eine Person erwerbstätig ist. 9
2) Gleichbehandlung: Personen, die die Staatsangehörigkeit einer anderen Vertragspartei besitzen,
haben das Recht auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Staates, dessen
Recht anwendbar ist.
3) Zusammenrechnung der Versicherungszeiten: Versicherungs- und/oder Beitragszeiten, die in
anderen Vertragsstaaten zurückgelegt wurden, werden, wo nötig, für die Erfüllung von Leistungsansprüchen
berücksichtigt.
4) Leistungsexport: Geldleistungen sind bei Wohnort der Person in einem anderen Vertragsstaat
ohne Einschränkungen auszuzahlen.
5) Prorata-System: Renten werden im Verhältnis zur Versicherungsdauer der leistungsberechtigten
Person im entsprechenden Land gewährt.
Aus diesen Grundsätzen, welche auch auf die neuen EU-Mitgliedstaaten Anwendung finden werden,
ergeben sich für die verschiedenen Zweige des Schweizerischen Sozialversicherungssystems
unterschiedliche Auswirkungen, wobei auf die wichtigsten davon in den folgenden Unterkapiteln
kurz eingegangen werden soll. Bei der Abschätzung möglicher Auswirkungen wird von einem
Grundszenario ausgegangen, bei dem die Schweiz als Folge der Personenfreizügigkeit eine Netto-Zuwanderung
aus den MOEL erfährt.
3.4.2. AHV / IV
Für eine im Umlageverfahren finanzierte Sozialversicherung wie die Alters- und Hinterlassenenversicherung
(AHV) ist es von Vorteil, wenn die Zahl der Beitragszahler im Vergleich zu den
Leistungsbezügern hoch ist. Entsprechend wirkt sich eine Zuwanderung von erwerbstätigen, beitragszahlenden
Ausländerinnen und Ausländern zunächst positiv auf das System aus. Gegenwärtig
liegt der von ausländischen Versicherten erbrachte Anteil der Lohnbeiträge zur Finanzierung
der AHV mit 25% denn auch um rund 50% höher als ihr Anteil an den bezogenen Geldleistungen
von 14%. 10
Mittel- und langfristig ist natürlich zu berücksichtigen, dass Beitragszahlungen auch Ansprüche
auf Geldleistungen begründen. Allerdings werden diese gekürzt, wenn eine Person nicht die volle
Beitragszeit erfüllt hat. Beiträge an ausländische Rentenversicherungen und der Zeitraum, in dem
diese geleistet wurden, können weder auf die AHV übertragen noch auf andere Weise in der
schweizerischen Versicherung berücksichtigt werden. Diese Regelungen gelten aufgrund der
Sozialversicherungsabkommen der Schweiz mit fünf der zehn neuen EU-Staaten bereits heute.
Personen, welche in fortgeschrittenem Alter in die Schweiz einwandern und in der Schweiz keine
volle Beitragsdauer mehr erwerben können, erhalten von der AHV daher lediglich eine Teilrente,
welche eine allfällige Teilrente aus dem Herkunftsland des Versicherten ergänzt.
9 Spezielle Regelungen bestehen für Personen, die in mehreren Ländern gleichzeitig arbeiten oder sich im Auftrag
eines Arbeitgebers in einem anderen Vertragsstaat aufhalten (sog. Entsandte).
10 Quelle: Bericht in Erfüllung des Postulates 99.3096 Wyss vom 17. März 1999, „Leistungsexporte. Finanzielle
Sicherung von AHV und IV. Zahlen für das Jahr 2000. Das Verhältnis zwischen Beiträgen und Geldleistungen ist
einerseits dadurch geprägt, dass die ausländische Bevölkerung wegen der laufenden Zuwanderung eine günstigere
Altersstruktur aufweist. Andererseits spielen noch vielfältige weitere Einflüsse eine Rolle (Plafonierung der rentenbildenden
Einkommen, geknickte Rentenformel, Abzüge bei Beitragslücken und Ergänzung aus ausländischen Quellen,
Einbürgerungen usw.), was generalisierende Aussagen zu Umverteilungen zwischen Schweizern und Ausländern
verbietet.
28

Ob sich eine vermehrte Zuwanderung aus Mittel- und Osteuropa für die AHV vorteilhaft oder
nachteilig auswirkt ist eine empirische Frage, und lässt sich hier nicht definitiv beantworten. Entscheidende
Parameter sind dabei einerseits die präzise Formel zur Berechnung von Teilrenten,
das Alter zum Zeitpunkt der Zuwanderung und die Höhe des für die AHV massgeblichen Verdienstes.
Die Bilanz für die AHV fällt dabei umso positiver aus, je höher der Verdienst einer Person
ist, da AHV-Beiträge auf dem gesamten Lohneinkommen erhoben werden, die AHV-Renten
aber plafoniert sind. Über diesen Mechanismus findet in der AHV im Prinzip eine Umverteilung
von oben nach unten statt.
Ein zweiter, potentiell bedeutender Parameter ist das Alter einer Person zum Zeitpunkt der Zuwanderung.
Bei Personen in fortgeschrittenem Alter ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass sie
aufgrund einer zu geringen AHV-Teilrente und einer zu kurzen Aufbauzeit für eine ausreichende
zweite oder allenfalls dritte Säule, später auf EL angewiesen sein wird. Eine Besonderheit, die es
im vorliegenden Fall zu beachten gilt ist, dass EL im Gegensatz zu AHV-Renten nicht exportiert
werden können. Sie entfallen damit, wenn eine Person in einen anderen Vertragsstaat auswandert
und also bspw. in das Herkunftsland zurückkehrt.
Zusammengefasst sind von einer stärkeren Zuwanderung für die AHV kurz- und mittelfristig
positive Auswirkungen zu erwarten, da der Anteil der Beitragszahler im Verhältnis zu den Rentenbezügern
ansteigt. Besonders erwünscht wäre dieser Effekt ab 2015, wenn sich die demografischen
Probleme in der Schweiz voraussichtlich akzentuieren werden. Mittel- und langfristig dürfte
die Auswirkungen auf die AHV in etwa neutral sein. Tendenziell positiver fallen sie aus, je
mehr junge und/oder gut qualifizierte Personen zuwandern. Negativer wären die Folgen, je mehr
ältere und/oder unqualifizierte Personen in die Schweiz kommen.
Im Falle der Invalidenversicherung (IV) ist es a priori sehr schwierig, die Auswirkungen einer
stärkeren Zuwanderung aus den MOEL abzuschätzen. Zwar ist auch die IV eine umlagefinanzierte
Versicherung, bei der laufende Beiträge zur Finanzierung der Leistungen herangezogen
werden. Allerdings ist hier die demografische Komponente, welche bei der AHV eine wichtige
Rolle spielt, von geringerer Bedeutung. Ein negativer Einfluss auf die IV wäre dann zu gewärtigen,
wenn die Zuwanderung konzentriert in Berufsgruppen mit hohem Invaliditätsrisiko erfolgen
würde. Um in diesem Fall allerdings einen kausalen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und
Leistungen der IV zu etablieren, müsste nachgewiesen werden, dass die Beschäftigung in den
betreffenden Berufsgruppen ohne zusätzliche Zuwanderung tatsächlich geringer wäre und es sich
nicht um eine Substitution von einheimischen durch zugewanderte Arbeitskräfte handelt. Da die
Wahrscheinlichkeit eine IV Rente zu beziehen mit dem Alter zunimmt, würden junge Einwanderer
sich zunächst günstig auswirken. Aufgrund der heute verfügbaren Daten lässt sich die Frage
nicht abschliessend beurteilen. Auch gibt es keine Evidenz dafür, dass sich allfällige Zuwanderer
aus den neuen EU-Mitgliedstaaten bzgl. ihrer Anspruchsmentalität von der heutigen Wohnbevölkerung
der Schweiz unterscheiden.
3.4.3. Berufliche Vorsorge
Im Bereich der beruflichen Vorsorge (Zweite Säule) wirkt sich eine verstärkte Zuwanderung nur
dann positiv oder negativ aus, wenn es sich bei den zugewanderten Personen um versicherungstechnisch
besonders „gute“ bzw. „schlechte Risiken“ handelt. Als gute Risiken gelten in der
zweiten Säule bspw. ledige Männer, da ihre Lebenserwartung geringer ist als diejenige von Frau-
29

en und keine Ehegatten- oder Waisenrenten zu bezahlen sind. „Schlechte Risken“ wären demgegenüber
bspw. Leute mit überdurchschnittlichem Invaliditätsrisiko. Welches Risikoprofil die zukünftig
zuwandernden Personen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich der beruflichen
Vorsorge aufweisen ist heute kaum abschätzbar, doch fehlen auch Anhaltspunkte, dass sie generell
eine Hochrisikogruppe darstellen.
Allfällige, in ein ausländisches System der beruflichen Vorsorge eingezahlte Beiträge, werden in
der schweizerischen beruflichen Vorsorge nicht berücksichtigt und generieren damit auch keinen
Rentenanspruch. Allerdings sind Vorsorgesysteme nach dem Kapitaldeckungsverfahren in den
MOEL-10 ohnehin noch nicht weit verbreitet oder erst vor relativ kurzem eingeführt worden
(z.B. 1999 in Polen für jüngere Arbeitnehmende).
3.4.4. Ergänzungsleistungen (EL)
Zuwanderer, die bei der Einreise in die Schweiz bereits älter sind, sich deswegen nur eine unzureichende
schweizerische Altersvorsorge aufbauen können, und nur geringe Altersleistungen aus
dem Ausland erhalten, könnten bei Verbleiben in der Schweiz nach Erreichen des Rentenalters
bei Bedarf Ergänzungsleistungen beanspruchen. Die Zahl solcher Fälle dürfte im Falle von Personen
aus den neuen EU-Mitgliedstaaten relativ gering sein, weil die betreffenden Personen es
dank der Möglichkeit, die erworbenen schweizerischen (Teil)Renten der ersten und zweiten Säule
im Heimatland zu beziehen, in aller Regel vorziehen werden, dorthin zurückzukehren.
Im Jahr 2002 bezogen insgesamt 11.5% der AHV-Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz EL.
Der entsprechende Anteil lag bei Ausländerinnen und Ausländern mit 23.8% mehr als doppelt so
hoch wie bei Schweizerinnen und Schweizern (10.4%). Gemessen an allen AHV-
Leistungsbezügern (inkl. derjenigen, welche AHV-Renten im Ausland beziehen und damit keinen
Anspruch auf EL haben) erhielten Ausländerinnen und Ausländer im Jahr 2002 jedoch 16%
der Ergänzungsleistungen, was genau ihrem Anteil an den Geldleistungen aus der AHV von
15.9% entsprach. Gemäss dieser Rechnung lösen Ausländerinnen und Ausländer heute nicht
mehr Kosten in Form von EL aus als Schweizerinnen und Schweizer, wenn man die Streichung
der EL bei ihrer Rückwanderung berücksichtigt.
Bei den Ergänzungsleistungen zur IV ist im Jahr 2002 festzustellen, dass ausländische IV-
Bezüger seltener EL beziehen (22.6%) als Schweizer Staatsangehörige (26.7%). Unter Berücksichtigung
der Tatsache, dass rund 28% der IV-Leistungen an Ausländerinnen und Ausländer im
Ausland entrichtet werden (Stand Januar 2003), ist der Anteil von ausländischen IV-Bezügern
(inkl. derjenigen im Ausland) mit EL sogar noch geringer.
Gemäss den geltenden Bestimmungen mit der EG dürfen Bezüger von ausländischen Renten nur
dann in die Schweiz einreisen, wenn sie über genügende Mittel verfügen. D.h. ihre ausländische
Rente einschliesslich anderer Mittel muss über dem Betrag liegen, der eine Anspruchsberechtigung
auf Ergänzungsleistungen ergibt.
3.4.5. Arbeitslosenversicherung (ALV)
Die Koordinationsregeln für Sozialversicherungen im Personenfreizügigkeitsabkommen mit der
EU-15 finden auch auf die Arbeitslosenversicherung Anwendung und werden somit auch für
Bürgerinnen und Bürger aus den MOEL gelten. Eine Änderung bedeutet dies für die Schweiz
30

insofern, als Zuwanderer aus der EU im Falle der Erwerbslosigkeit das Aufenthaltsrecht nicht
verlieren, wie dies bei Kurzaufenthaltern nach Ablauf des Arbeitsvertrages heute noch der Fall
ist. Einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung erhalten sie unter den gleichen Voraussetzungen
wie Inländerinnen und Inländer (Prinzip der Gleichbehandlung). In einem EU-Land geleistete
Beitragszeiten werden angerechnet (Zusammenrechnung der Beitragszeiten, oder sog. „Totalisierung“).
Des weiteren besteht die Möglichkeit, Arbeitslosenentschädigung während dreier Monate
in ein EU-Land zu exportieren, sofern sich die Person im EU-Zielland der öffentlichen Arbeitsvermittlungsstelle
zur Stellensuche zur Verfügung stellt (Leistungsexport). Für Kurzaufenthalter
wurde mit der EU eine Übergangsfrist bis 2011 ausgehandelt, während der die Zusammenrechnung
der Beitragszeiten nicht angewendet wird und den Herkunftsstaaten die Beiträge ihrer
Kurzaufenthalter an die Arbeitslosenversicherung rückerstattet werden.
Zusätzliche Kosten könnten der ALV dann erwachsen, wenn nach Ablauf der Übergangsfrist
relativ viele Kurzaufenthalter aus den neuen EU-Mitgliedstaaten in die Schweiz kommen und
hier Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung stellen würden. Dieses Risiko ist einerseits dadurch
begrenzt, dass die Nachfrage nach solchen Arbeitskräften in den letzten Jahren relativ stark zurückgegangen
ist (vgl. Ausführungen unter 2.3.2). Zudem wurde mit der letzten AVIG-Revision
die Mindestbeitragsdauer für den Bezug von Arbeitslosenentschädigung von 6 auf 12 Monate
innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jahren erhöht, womit (ohne Totalisierung) ein einzelner
Saisonaufenthalt nicht zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung berechtigt.
Neben der Problematik der unterjährigen Beschäftigung hat die ALV generell dann mit zusätzlichen
Kosten zu rechnen, wenn es sich bei den Zuwanderern um spezielle Risikogruppen handelt.
Kostspielig würde es demnach für die ALV insbesondere, wenn viele unqualifizierte Personen
zuwandern würden, deren Arbeitslosenrisiko strukturell relativ hoch liegt.
Ein drittes Risiko wird zuweilen im sogenannten „Arbeitslosenversicherungstourismus“ gesehen,
also der Möglichkeit, dass ein hoher Standard bei der Arbeitslosenversicherung selber einen positiven
Anreiz für die Zuwanderung ausüben könnte. Verschiedene Faktoren sprechen allerdings
dafür, dass diese Anreize zu gering sind, um effektiv wirksam zu werden: Erstens liegen die Leistungen
der Schweizer ALV in einem ähnlichen Rahmen wie in anderen europäischen Ländern,
insbesondere wenn man den unterschiedlichen Lebenshaltungskosten Rechnung trägt. Zum zweiten
ist zu betonen, dass arbeitslose Personen innerhalb der EU keine Freizügigkeit geniessen.
Aufenthalt wird einerseits Personen gewährt, die eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, andererseits
nichterwerbstätigen Personen, wenn sie den Nachweis der genügenden finanziellen Mittel erbringen.
Für Arbeitssuchende ist das Aufenthaltsrecht grundsätzlich auf 6 Monate beschränkt, wobei
ein Export von Arbeitslosenentschädigung während dreier Monate möglich ist.
3.4.6. Kranken- und Unfallversicherung
Im Bereich der Kranken- und Unfallversicherung ist einerseits die Versicherungspflicht von Bedeutung.
Gemäss Freizügigkeitsabkommen sind in der schweizerischen Krankenversicherung in
der Schweiz erwerbstätige Personen sowie deren Familienangehörige versicherungspflichtig,
auch wenn sie im Ausland wohnen. Dieser Grundsatz wird nach der EU-Osterweiterung auch für
die MOEL gelten. Im Personenfreizügigkeitsabkommen wurden allerdings mit verschiedenen
Ländern Ausnahmen vereinbart. Je nachdem ist eine Befreiung vom Versicherungsobligatorium
möglich, wenn ein Nachweis für die Versicherung im Wohnland erbracht wird oder es werden
31

Familienangehörige ausschliesslich im Wohnland versichert. Letzteres soll nach dem Zusatzprotokoll
zum Personenfreizügigkeitsabkommen namentlich für Ungarn gelten.
Anderseits werden die MOEL für Fälle eines vorübergehenden Aufenthalts im Ausland, in die
zwischenstaatliche Leistungsaushilfe in der Kranken- und Unfallversicherung einbezogen. Die
allfälligen Zinskosten, welche aufgrund der Leistungsbevorschussung durch die schweizerische
Verbindungsstelle entstehen, gehen zu Lasten des Bundes. Der diesbezügliche Aufwand dürfte
sich in sehr bescheidenen Grenzen halten.
Die EU-Osterweiterung sollte für die Schweizer Krankenversicherung im Prinzip nur begrenzte
finanzielle Auswirkungen haben. Es gibt heute keine Gründe davon auszugehen, dass Personen
aus den MOEL bzgl. Krankheiten besondere Risiken aufweisen. Auch auf der Prämienseite unterliegen
allfällige Zuwanderer aus den MOEL den gleichen Bedingungen wie hier ansässige
Personen. Sofern Zuwandererfamilien in der Schweiz mehrheitlich tieferen Einkommensschichten
angehören, dürften sie allenfalls häufiger von Prämienverbilligungen profitieren. Soweit es
um Personen im Ausland geht, die in der Schweiz krankenversichert sind (Familienangehörige
von hier Erwerbstätigen), haben die bisherigen Erfahrungen mit den Mitgliedstaaten der EU-15
gezeigt, dass die tatsächliche Inanspruchnahme der Prämienverbilligungen durch solche Personen
nur einen sehr geringen Prozentsatz der ursprünglich geschätzten Kosten ausmacht. Es kann damit
gerechnet werden, dass es sich in den Beziehungen mit den MOEL grundsätzlich gleich verhält.
3.4.7. Familienzulagen
Die Erweiterung des Freizügigkeitsabkommens dürfte auf die bundesrechtlichen Familienzulagen
in der Landwirtschaft keine Auswirkungen haben. Dies einerseits, weil die Anzahl Betriebe in
diesem Bereich stetig sinkt und andererseits weil bei künftigen Anstellungen von Personen aus
den Oststaaten, diese zu Lasten der angestellten Personen aus anderen EU-Ländern erfolgen werden.
Allfällige Mehrkosten im Bereich der kantonalen Familienzulagen (zugunsten der in den MOEL
wohnhaften Familienangehörigen der in der Schweiz erwerbstätigen Staatsangehörigen der
MOEL) sind nicht bezifferbar. Nach den meisten kantonalen Regelungen werden jedoch Familienzulagen
bereits heute auch für Kinder mit Wohnsitz in diesen Ländern ausgerichtet.
3.4.8. Sozialhilfe
Die Sozialhilfe ist nicht Bestandteil der Koordinierung der Schweiz mit der EU. Kantone und
Gemeinden sind daher grundsätzlich frei in der Definition von Leistungshöhe und Bezugsvoraussetzungen.
Allerdings haben sich die Institutionen an die Gleichbehandlungspflicht gemäss Bundesverfassung
zu halten, wonach u.a. niemand auf Grund der Herkunft, der Rasse, der Sprache
oder der Religionszugehörigkeit diskriminiert werden darf (BV Art. 8 Abs.2).
Gleichzeitig ist zu sagen, dass es für Sozialhilfeempfänger in der EU keine Personenfreizügigkeit
gibt. Wie erwähnt ist bei Erwerbspersonen Voraussetzung, dass Zuwanderer in der Schweiz eine
Stelle besitzen. Ein zweites Kriterium für einen längeren Aufenthalt in der Schweiz ist (sowohl
für Erwerbs- wie auch für Nichterwerbspersonen), dass sie nicht von Sozialhilfe abhängig sind.
32

Das Risiko, dass der Sozialhilfe durch die EU-Osterweiterung erhebliche zusätzliche Kosten erwachsen
würden oder dass gar die Sozialleistungen selbst die Zuwanderung verstärken könnten,
ist als relativ gering einzuschätzen, sofern nicht im grossen Stil unqualifizierte Arbeitskräfte einwandern,
bei denen das Risiko einer späteren Sozialhilfeabhängigkeit gross ist. Dass dieses Risiko
wiederum relativ gering ist, wurde an früherer Stelle bereits mehrfach ausgeführt.
3.5. Zusammenfassung und Schlussfolgerung zu Kapitel 3
1. Durch die EU-Osterweiterung ist die Bevölkerungszahl der EU im Jahr 2004 um 74 Mio.
gestiegen und sie wird 2007 voraussichtlich um weitere 30 Mio. Einwohner zunehmen. Die
EU-Kommission schätzt das Migrationspotenzial aus den MOEL-10 in die EU-15 auf jährlich
335'000 und innerhalb von 30 Jahren auf 3.9 Mio. Personen (davon rund 1/3 Erwerbspersonen).
80% der Zuwanderung soll sich voraussichtlich auf Deutschland und Österreich
konzentrieren.
2. Eine Hochrechnung der Ergebnisse für die EU-15 auf die Schweiz ergibt eine geschätzte
Zuwanderung aus den MOEL-8 von anfänglich 4'600 Personen pro Jahr bei späterer Abflachung
(ohne Übergangsfristen). Bei einer weiteren Ausdehnung der Personenfreizügigkeit
auf Rumänien und Bulgarien (vorgesehener EU-Beitritt 2007) wäre mit einer zusätzlichen
Zuwanderung von 3'100 Personen pro Jahr zu rechnen. Eine Zuwanderung in dieser Grössenordnung
wäre für die Schweiz nicht ungewöhnlich.
3. Die zu erwartenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind nicht dramatisch und fallen
umso positiver aus, je höher das Qualifikationsniveau der zuwandernden Arbeitskräfte ist.
Die Arbeitskräftenachfrage der Unternehmen wird unter Personenfreizügigkeit für das Ausmass
und die Qualifikationsstruktur der zuwandernden Bevölkerung bestimmend sein. Eine
Furcht vor einer massenhaften Zuwanderung wenig qualifizierter Arbeitskräften ist unbegründet,
da eine entsprechende Nachfrage in der Schweiz fehlt. Zudem ist das durchschnittliche
Qualifikationsniveau in den neuen Mitgliedstaaten vergleichsweise hoch. Sollte die Zuwanderung
wenig qualifizierter Personen wider Erwarten hoch sein, könnten negative Auswirkungen
auf die Löhne der Einheimischen mit Hilfe der flankierenden Massnahmen begrenzt
werden.
4. EU-Staaten haben die Möglichkeit, die Zuwanderung während maximal sieben Jahren zu
beschränken. Ein solches oder ähnliches Instrument ist für die Schweiz wichtig, um die Freizügigkeit
für die Bürgerinnen und Bürger der neuen Mitgliedstaaten schrittweise einführen
und sich gegenüber unerwarteten Entwicklungen absichern zu können, denn Prognosen zur
Zuwanderung sind immer als sehr unsicher einzustufen. Bei Anwendung einer Übergangsfrist
bis ins Jahr 2011, wie dies im Zusatzprotokoll vorgesehen ist, wird die volle Umsetzung
der Personenfreizügigkeit in eine Phase fallen, in der sich die Erwerbsbevölkerung in der
Schweiz aus demografischen Gründen rückläufig entwickeln wird. Eine gewisse Lockerung
der Zuwanderungsbeschränkung könnte dann ohnehin sinnvoll sein.
5. Die Zuwanderung von Personen im erwerbsfähigen Alter und deren Familien wirkt sich auf
die umlagefinanzierte AHV kurz- und mittelfristig positiv aus, indem sie das Verhältnis von
Beitragszahlern zu den Rentenbezügern günstig beeinflusst. Langfristig ist zu beachten, dass
sich Zuwanderer durch ihre Beiträge Ansprüche auf Rentenleistungen erwerben und diese bei
Rückkehr ins Heimatland dorthin überwiesen werden müssen. Mit fünf der 10 neuen EU-
Staaten gilt diese Regelung aufgrund der bestehenden Sozialversicherungsabkommen bereits
33

heute. Langfristig fällt die Bilanz der Zuwanderung für die AHV umso positiver aus, je höher
das Erwerbseinkommen ist. Weitgehend unklar ist die Wirkung der EU-Osterweiterung auf
die IV, da über die Risikostruktur allfälliger Zuwanderer aus den MOEL nichts bekannt ist.
6. Innerhalb des Systems der beruflichen Vorsorge (2. Säule) ist auf Grund der EU-Osterweiterung
nicht mit zusätzlichen Kosten oder Erträgen zu rechnen. Die Renten werden entsprechend
der Beitragsdauer in der Schweiz festgesetzt.
7. Zuwanderer, die bei der Einreise bereits älter sind, sich deswegen nur eine unzureichende
schweizerische Altersvorsorge aufbauen können, und nur geringe Altersleistungen aus dem
Ausland erhalten, könnten bei Verbleiben in der Schweiz nach Erreichen des Rentenalters allenfalls
Ergänzungsleistungen beanspruchen. Die Zahl solcher Fälle dürfte aber bescheiden
sein, weil die betreffenden Personen es dank der Möglichkeit, die erworbenen schweizerischen
(Teil-)Renten der ersten und zweiten Säule im Heimatland zu beziehen, es häufig vorziehen
werden, dorthin zurückzukehren. Eine Einreise von Rentenbezügern aus den MOEL
ist auf jeden Fall nur unter Nachweis von genügenden Mitteln möglich.
8. In der Arbeitslosenversicherung dürften auf Grund der EU-Osterweiterung dann zusätzliche
Kosten entstehen, wenn viele unqualifizierte und temporär Angestellte Personen aus den
MOEL zuwandern würden. Beide Gruppen weisen ein überdurchschnittliches Arbeitslosenrisiko
auf und gehören damit zu den „Netto-Bezügern“ der ALV. Aufgrund der strukturellen
Veränderungen des Schweizer Arbeitsmarktes, des schrittweisen Vorgehens bei der Einführung
der vollen Personenfreizügigkeit, sowie der Möglichkeit, die Zuwanderung von „billigen“
Arbeitskräften über die flankierenden Massnahmen bis zu einem gewissen Grad zu regulieren,
ist dieses Risiko als gering einzustufen.
9. Im Bereich der Kranken- und Unfallversicherung sind wegen der EU-Osterweiterung nur
punktuell Mehraufwendungen bei den Prämienverbilligungen zu erwarten.
10. Das Risiko, dass die Aufwendungen für die Sozialhilfe als Folge der EU-Osterweiterung erheblich
ansteigen, ist gering. Zum einen geniessen Sozialhilfeempfänger in der EU keine
Personenfreizügigkeit. Zum anderen ist auch das Risiko, dass viele unqualifizierte Personen
aus den MOEL zuwandern würden als relativ gering einzuschätzen.
34

4. EU-Osterweiterung und Auswirkungen auf den Schweizer Franken
4.1. Die Auswirkungen auf den Euro-Kurs des Frankens
Die Auswirkungen der EU-Erweiterung auf den Eurokurs des Frankens sind schwer vorauszusagen.
Es ist möglich, dass die grössere Heterogenität, die mit den neuen Mitgliedern auf die EU
zukommt, von den Finanzmärkten als Belastung für den Euro gesehen wird und den Euro tendenziell
schwächt. Es ist aber ebenso möglich, dass die Erweiterung der EU-Wirtschaft einen
solchen Wachstumsschub verleiht, dass dies den Euro tendenziell stärkt.
Aus heutiger Sicht sind es vor allem drei Gründe, die dafür sprechen, dass die EU-Erweiterung
den Euro kaum stark erschüttern wird. Erstens ist die Gruppe der Neumitglieder im Vergleich
zum Total der erweiterten EU relativ klein. Gemessen am BIP macht der Anteil gerade etwa 5
oder 6% aus. Es ist dies das selbe Argument der unterschiedlichen Grössenordnungen, das bereits
dafür spricht, dass die Integration in den europäischen Binnenmarkt die Volkswirtschaften der
Beitrittsländer sehr viel stärker stimulieren wird als den Wirtschaftsraum der EU-15. Zweitens ist
die Euro-Einführung in den Beitrittsländern an einen Prozess geknüpft und setzt die Erfüllung
von Bedingungen voraus, so dass sie, wenn sie in einigen Jahren vollzogen wird, die Märkte sicher
nicht überraschen wird. Drittens hat die EZB bereits klar gemacht, dass die EU-Erweiterung
für sie kein Grund ist, ihre Politik zu ändern.
4.2. Voraussetzungen und Zeitpunkt eines Beitritts zur Währungsunion
Die neuen EU-Mitgliedstaaten sind vertraglich verpflichtet, der europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion (WWU) beizutreten, sofern und sobald alle Bedingungen dafür erfüllt sind. Dabei
unterliegen diese Länder denselben Bedingungen für den WWU-Beitritt wie die bisherigen
Mitglieder: Sie müssen einen hohen Grad an dauerhafter wirtschaftlicher Konvergenz im Verhältnis
zur Euro-Zone aufweisen. Dies wird anhand der sogenannten „Maastrichter Konvergenzkriterien“
beurteilt. Die vier wichtigsten Kriterien sind: Preisstabilität; eine auf die Dauer tragbare
Finanzlage der öffentlichen Hand, d.h. ein Budgetdefizit von höchstens 3% des BIP und eine
Staatsverschuldung von höchstens 60% des BIP, jedoch unter Berücksichtigung gewisser Sonderfaktoren;
eine vorgängige, zweijährige Teilnahme am europäischen Wechselkursmechanismus
(WKM II) als Kriterium der Tragbarkeit eines festen Wechselkurses zum Euro; sowie ein angemessenes
Niveau der langfristigen Zinsen.
Aufgrund ihrer wachstumsbedingt eher hohen Leistungsbilanzdefizite, einer teils durch die Kosten
des Transitionsprozesses bedingten schwierigen Lage der öffentlichen Finanzen sowie tendenziell
höherer Inflationsraten dürfte es den Neumitgliedern grundsätzlich schwerer fallen als
den „alten“ EU-Volkswirtschaften, die Maastricht-Kriterien zu erfüllen. Umgekehrt könnte eine
forcierte Sanierungspolitik zur Erfüllung der haushaltspolitischen Maastricht-Kriterien den wirtschaftlichen
Aufholprozess der Neumitglieder zumindest in einer ersten Phase behindern.
Die Voraussetzungen und Interessenlagen der einzelnen Neumitglieder in Bezug auf einen frühen
WWU-Beitritt unterscheiden sich teils beträchtlich. So nehmen einige der kleinen Neumitglieder
faktisch bereits am WKM II teil, indem sie fixe Wechselkurse zum Euro eingeführt haben. Ein
relativ rascher Übergang zum Euro könnte für diese Länder auch ökonomisch sinnvoll sein, weil
ihre sehr kleinen Währungsräume für externe Schocks besonders anfällig sind. Für die grösseren
Volkswirtschaften wie Polen, Ungarn oder Tschechien dagegen, die gegenwärtig ein sauberes
35

oder administriertes Floating ihrer Währungen pflegen, kann sich die Lage sowohl in bezug auf
die Möglichkeiten als auch hinsichtlich der ökonomischen Rationalität eines raschen WWU-
Beitritts durchaus anders präsentieren.
4.3. Auswirkungen auf die Wechselkurse der Neumitglieder
Etwas einfacher als die Folgen der EU-Erweiterung für den Euro sind die Wirkungen auf die
Wechselkurse der Neumitglieder zu beurteilen.
Die heutige Situation stellt sich so dar, dass das Pro-Kopf-Einkommen der neuen EU-
Mitgliedsländer deutlich unter dem Durchschnitt der EU-15 liegt, gleichzeitig aber auch die Aussicht
besteht, dass es den neuen Mitgliedern gelingen wird, diese Lücke schrittweise zu reduzieren.
Damit dürften auch die realen Wechselkurse dieser Länder allmählich steigen. Wo der nominelle
Wechselkurs gegenüber dem Euro noch mehr oder weniger flexibel ist, kann dies über eine
Veränderung des nominellen Wechselkurses gehen. So standen die Wechselkurse der Neumitglieder
bereits in der jüngeren Vergangenheit häufig unter Aufwertungsdruck. Wo der nominelle
Wechselkurs fest ist (d.h. insbesondere auch nach der Einführung des Euro), wird die reale Aufwertung
gegenüber den anderen EU-Ländern aus einer über dem EU-Durchschnitt liegenden Inflation
resultieren. Die Begründung für die reale Aufwertung liefert der sog. Balassa-Samuelson-
Effekt. 11
Auf den Wechselkurs des Euro gegenüber Drittwährungen wie dem Franken dürfte der Balassa-
Samuelson-Effekt hingegen keinen wesentlichen Effekt haben. Im Unterschied zu den Neumitgliedern
wird das Pro-Kopf-Einkommen der EU-25 mit der Erweiterung zunächst fallen, bevor es
sich wieder schrittweise verbessert (immer im Vergleich zu einer hypothetischen Situation ohne
EU-Erweiterung). Der Euro könnte somit zunächst schwächer werden, bevor er wieder stärker
wird. Aufgrund der eingangs erwähnten Gründe (relativ geringer Anteil der Neumitglieder am
BIP der EU; EU-Erweiterung war lange beschlossen und deshalb auch von den Märkten antizipiert),
ist jedoch zu erwarten, dass sich dies im Wechselkurs kaum klar und eindeutig erkennbar
niederschlagen wird.
11 Dieser lässt sich wie folgt erklären. Der Beitritt von Ländern mit relativ tiefem Pro-Kopf-Einkommen zum integrierten
Markt der EU bewirkt in den betreffenden Ländern Produktivitätsgewinne, die sich vor allem im Exportsektor
manifestieren. Damit werden die Löhne nicht nur im Exportsektor, sondern auch im Binnensektor steigen. Der
Lohnanstieg im Binnensektor ist darauf zurückzuführen, dass die beiden Sektoren auf dem Arbeitsmarkt Konkurrenten
sind, so dass die Löhne im Binnensektor mit jenen im Exportsektor Schritt halten müssen. Da der Binnensektor
nicht die Produktivitätsgewinne des Exportsektors aufweist, muss er, um profitabel zu bleiben, seine Preise relativ zu
jenen des Exportsektors erhöhen. Nun kann das Verhältnis zwischen den Preisen des Binnen- und des Exportsektors
(genauer: das Verhältnis der Preise der international nicht-gehandelten Güter zu den Preisen der international gehandelten
Güter) als Mass des realen Wechselkurses betrachtet werden. Es ergibt sich damit das Ergebnis, dass die im
Exportsektor der Beitrittsländer zu erwartenden deutlichen Produktivitätsgewinne in diesen Ländern zu einer realen
Aufwertung der Währung führen.
36

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