Armut und Bildung - bei der Arbeitnehmerkammer Bremen
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Barbara Schygulla später, „als ich hier angefangen<br />
hab, hab ich gedacht, das gibt’s doch<br />
gar nicht.“ Vorher hat sie im Viertel gear<strong>bei</strong>tet.<br />
Ein so massives Bedürfnis nach Nähe,<br />
nach ungeteilter Aufmerksamkeit gab es dort<br />
kaum. Im Kin<strong>der</strong>garten Carl-Severing-Straße in<br />
<strong>der</strong> Vahr ist das an<strong>der</strong>s. „Wir sind hier nicht<br />
erziehungsergänzend, son<strong>der</strong>n wir bauen die<br />
Familienar<strong>bei</strong>t hier auf“, seufzt Schygulla,<br />
„<strong>und</strong> wir fangen jeden Morgen von vorne an.“<br />
Mit Medien „vollgestopft“ seien die Kleinen,<br />
erzählt Schygullas Kollegin Ulrike Diekmann,<br />
„zu Hause in jedem Zimmer eine Glotze <strong>und</strong><br />
die läuft immer.“ Kein W<strong>und</strong>er, dass die Kin<strong>der</strong><br />
nicht wissen, dass die Milch von <strong>der</strong> Kuh<br />
kommt, ein Baum Wurzeln <strong>und</strong> Zweige hat –<br />
o<strong>der</strong> was ein Apfel ist. „In den Familien wird<br />
auch wenig zugehört“, sagt Diekmann, „ich<br />
hab mittags immer Elefantenohren.“ Aber die<br />
Eltern, ergänzt Barbara Schygulla, „sind genauso<br />
bedürftig wie ihre Kin<strong>der</strong>.“ Wenn <strong>der</strong><br />
Kin<strong>der</strong>garten zum Fest lädt, dann kommen sie<br />
alle. Regelmäßig, mit Kuchen, mit Salat, mit<br />
Chips, „als großzügig fallen uns vor allem die<br />
Eltern auf, die beson<strong>der</strong>s wenig haben.“<br />
In Barbara Schygullas Gruppe sollen die Kin<strong>der</strong>,<br />
die bald zur Schule kommen, heute Ostereier<br />
malen. In den Umriss eines großen Eis<br />
soll jedes Kind ein Muster zeichnen. Birgül malt<br />
Kreise <strong>und</strong> abwechselnd Herzen. „Toll“, sagt<br />
die Erzieherin. Gökay krakelt mit einem Stift<br />
wild in seinem Ei herum, bis es voller Farbe<br />
ist. „Mit Muster!“, sagt Schygulla, „Gökay! Du<br />
bist ein Schulkind!“ Die Erzieherin schüttelt<br />
still den Kopf. Viele können auch das vermeintlich<br />
Leichte nicht, was von ihnen gefor<strong>der</strong>t<br />
wird. Eigentlich sollten die Vorschulkin<strong>der</strong><br />
auch ihren Namen schreiben können. Martin<br />
kann’s – auf seine Weise. Er schreibt ihn perfekt<br />
spiegelverkehrt. Immer. Die umgekehrte<br />
Version behält er einfach nicht. „Die haben<br />
auch einen riesengroßen Fernseher zu Hause“,<br />
sagt Barbara Schygulla <strong>und</strong> streicht dem Jungen<br />
über die blonden Haare, „mehr fällt mir<br />
dazu nicht mehr ein.“<br />
Ein paar Kilometer weiter im Bremer Osten, in<br />
Tenever, ruft Ursula Machlus: „Auf, ihr süßen<br />
kleinen Pinguine!“ Die Pinguin-Gruppe des<br />
Kin<strong>der</strong> gartens An<strong>der</strong>nacher Straße tanzt. „Wir<br />
wollen eine Reise machen <strong>und</strong> die geht nach<br />
Madrid“, singt es aus dem Rekor<strong>der</strong> <strong>und</strong> Yusuf,<br />
Zerdest, Hasan, Mutlu, Anthony <strong>und</strong> Viktor<br />
laufen kichernd im Takt voreinan<strong>der</strong>. Es ist ihr<br />
Lieblingslied. Und wie die Kleinen da so tanzen,<br />
da scheint zumindest diese Welt mit ihren bunten<br />
Glasperlen, ihren sanft schwingenden<br />
Mobiles, den Bil<strong>der</strong>büchern <strong>und</strong> mitreißenden<br />
Lie<strong>der</strong>n in Ordnung. „Dieses Kind wird nächste<br />
Woche abgeschoben, zusammen mit seiner<br />
Mutter, <strong>der</strong> Vater darf bleiben“, sagt Ursula<br />
Machlus <strong>und</strong> deutet auf einen <strong>der</strong> kleinen Tänzer.<br />
„Er hier“, sagt sie <strong>und</strong> zeigt auf einen<br />
an<strong>der</strong>en, „ist sehr müde <strong>und</strong> gestern bestimmt<br />
wie<strong>der</strong> nicht ins Bett gekommen.“ 18<br />
Kin<strong>der</strong> hat sie in ihrer Gruppe, über die Hälfte<br />
<strong>der</strong> Eltern sei ar<strong>bei</strong>tslos, oft seien die Mütter<br />
krank, oft gehe es in den Familien um die Folgen<br />
von Alkohol, Drogen, Medikamenten. Die<br />
Kin<strong>der</strong> hätten oft wenig zu essen, <strong>und</strong> wenn<br />
sie mit ihnen zur Toilette gehe, dann entdeckt<br />
Ursula Machlus öfter mal, dass die Unterhose<br />
uralt ist o<strong>der</strong> ganz fehlt. „Ursula, guck mal“,<br />
ein Mädchen zeigt ihre Stecktafel, darauf<br />
sorgfältig eingesteckt ein grüner <strong>und</strong> ein gelber<br />
Perlenstecker. „W<strong>und</strong>erschön, ganz toll“,<br />
sagt Ursula Machlus. „Ursula, ich muss Pipi“,<br />
kräht ein an<strong>der</strong>es. „Und wo sind deine Hausschuhe,<br />
mein Schatz?“ Ursula Machlus liebt<br />
ihre Pinguine. Sie reicht nicht, das weiß sie.<br />
Aber was soll sie tun – „so viel <strong>Armut</strong>, so<br />
hohe Belastungen“, sagt sie, „<strong>und</strong> wie toll<br />
doch diese Kin<strong>der</strong> sind.“<br />
*Die Namen aller Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
wurden geän<strong>der</strong>t.<br />
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