1998, 24. Jahrgang (pdf) - Studienkreis Rundfunk und Geschichte

Briesen: Berfin im System der deutschen Medienstandorte 13
standorte: Es spiegelt die Tatsache, daß .im
deutschsprachigen Raum die Gegenüberstellung
von kultureller Metropole und extremer Provinz
niemals vorhanden gewesen ist, selbst nicht unter
den Bedingungen starker wirtschaftlicher
Konzentrationsbemühungen und politischer
Steuerungsversuche.
Zusammenfassung
Versucht man die hier nur oberflachlieh skizzierten
Entwicklungen im Bereich der Zeitungen und
Zeitschriften zusammenzufassen, ergibt sich ein
zumindest nach dem Kenntnisstand der historischen
Geographie oder geschichtlichen Raumwissenschaft
bekanntes Bild. 4 6 Mit Bezug auf die
Zentrenentwicklung in Deutschland wird in diesem
Kontext zumeist von einer nur unvollständigen
oder unabgeschlossenen Hauptstadtwerdung
Berlins ausgegangen. Entsprechungen jener
hohen, aber nicht überragenden Stellung
Berlins lassen sich auch für andere Bereiche
wirtschaftlicher, kultureller oder politischer Aktivitäten
angeben: etwa die Standorte von Großkonzernen,
Banken (bis 1914), bedeutsamen
Opernhäusern, Theatern, Universitäten, Kunstakademien,
politischen Verbanden, bedeutenden
Persönlichkeiten usw.
Unverkennbar jedoch gab es seit dem frühen
19. Jahrhundert eine zentripetale Tendenz zugunsten
Berlins. Sie wurde zum einen durch politische
Zäsuren maßgeblich beeinflußt, so etwa
den Zusammenschluß von rheinischem Bürgertum
und preußischer Staatsmacht nach 1848,
der Fixierung der deutschen Nationalbewegung
auf Preußen, der von der Forschung immer noch
viel zu wenig beachteten Ereignisse von 1866/67
sowie natürlich der Reichsgründung und der politischen
Katastrophen der Jahre 1914 bis 1945.
Alle diese Entwicklungen waren mit der gestiegenen
Zentralitat Berlins im politischen und damit
auch kulturellen Bereich verbunden. Zum
anderen ergaben sich wichtige Effekte aus dem
Wachstum der Berliner Agglomeration und einem
Prozeß der Selbstverstärkung von kultureller,
wirtschaftlicher und politischer Zentralitat. Es
ist sogar einer der signifikantesten Prozesse in
der historischen Perspektive, daß die Position
Berlins im kulturellen Zentrensystem kontinuierlich
seit dem frühen 19. Jahrhundert wuchs,
Mitte des Jahrhunderts war bereits eine hohe
Zentralitat erreicht. Sie prägte sich seitdem weniger
durch weitere Entzugseffekte aus, als
vielmehr dadurch, daß Berlin in der Weiter- und
Neuentwicklung von Medien der Massenkommunikation
ein unbestrittenes Innovationszentrum
für den deutschsprachigen Raum bildete,
etwa für neue Zeitschriften und Zeitungsformen,
aber auch für Hörfunk, Film und schließlich
Fernsehen.
Betrachtet m ;3"' abschließend, in welchen
langfristigen Zeiträumen sich die Umwandlungen
des deutschen Städtesystems und des Systems
der Medienstandorte zwischen dem Anfang des
19. Jahrhunderts und dem Zusammenbruch
1945 vollzogen, so sind vorsichtige Äußerungen
auch über die Zukunft durchaus statthaft. Da
d.urch die weitere Beschleunigung der Kommunikationstechniken
sich die Bedeutung der Produktion
von Massenmedien »vor Ort« noch weiter
relativieren dürfte - dieser Faktor ging in seiner
Bedeutung ja bereits seit der Jahrhundertwende
zurück - dürfte relativ unwahrscheinlich
sein, daß Berlin im Zeitalter von Internet, Mobiltelefonen,
Globalisierung und ICE im Medienbereich
selbst nur jene (quantitative) Bedeutung
wiedererlangen dürfte, die es in den er Jahren
auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung besaß.
Interessanter ware danach zu fragen, inwieweit
sich die deutsche Hauptstadt wieder zu einem
Zentrum neuer Technologien entwickeln könnte.
Anmerkungen
* Überarbeiteter Vortrag , gehalten auf der Jahrestagung
des Studienkreises Rundfunk und Geschichte
am 11. September 1997 in Potsdam.
1 Vgl. Kurt Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert.
Berlin 1966.
2 Dazu grundlegend vor allem Kurt KoszykNolker
Schulze (Hrsg.): Die Zeitung als Persönlichkeit.
Festschrift für Karl Bringmann. Düsseldorf 1982;
Jürgen Wilke: Nachrichtenauswahl und Medienrealität
in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie
zur Verbindung von historischer und empirischer
Publizistikwissenschaft. Berlin 1984; Peter Steinbach:
Die Zähmung des Massenmarktes. 3 Bde .
Frankfurt am Main 1990; Walter Hömberg (Hrsg .):
Zeit, Raum, Kommunikation . München 1992.
3 Dazu vor allem Hans-Heinrich Blotevogel: Untersuchungen
zur Entwicklung des deutschen Städtesystems
im lndustriezeitalter. Polarisierung und
Dezentralisierung in der Entwicklung der höherrangigen
Zentren und ausgewählter kultureller
Stadtfunktionen. Bochum 1980, S. 155-222. Siehe
vor allem auch Detlef Briesen: Berlin - Die überschätzte
Metropole. Über das System deutscher
Hauptstädte zwischen 1850 und 1940. ln : Gerhard
Brunn/Jürgen Reulecke (Hrsg.): Metropolis
Berlin. Berlin im Vergleich europäischer Hauptstädte
1870 bis 1939. Bonn 1992, S. 39-77; ders.:
Weltmetropole Berlin? Versuch, sich einem deutschen
Mythos über die Zeit zwischen den Weitkriegen
empirisch zu nähern. ln: Brunn/Reutecke
(Hrsg.): Metropolis Berlin, S. 151-186; ders.: Berlin,
die überschätzte Metropole. Über das System
der deutschen Hauptstädte von 1850 bis 1940.
Bonn 1992.