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bauchtänzerInnen In ägyPten - Norient

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schWErpunkt<br />

14<br />

megafon nr. 363, Januar 2012<br />

SA, 14.1.12, 20.00 uhr, rEitSchulEkiNo<br />

ParadIso:<br />

nordIrland e<strong>In</strong>Mal anders<br />

iM NordiriSchEN dErry Will dEr MuSikEr<br />

roy ArbucklE EiNEN tANzbAll vErANStAltEN.<br />

zErStrittENE protEStANtEN uNd kAtholikEN<br />

SollEN WiEdEr zuSAMMEN tANzEN.<br />

EiNE odE AN MENSchlichE SEhNSüchtE<br />

Martin alioth ist<br />

irland-korrespondent<br />

der neuen<br />

zürcher zeitung und<br />

großbritannienkorrespondent<br />

von<br />

schweizer radio drs<br />

«Vor 1968 hatten wir eine Zukunft»,<br />

sagte mir der damals 77-jährige<br />

Pam Mitchell lapidar. Sein Grossvater<br />

war im Fountain-Quartier von<br />

Derry auf die Welt gekommen. Die<br />

presbyterianische Kirche am Rande<br />

des Viertels trägt die tiefsinnige<br />

<strong>In</strong>schrift: «Die Hölle hat keine Ausgänge,<br />

der Himmel braucht keine.»<br />

Das war 2007, ein Jahr, bevor der<br />

von der BBC in Auftrag gegebene<br />

Film «Paradiso» erschien (Regie:<br />

Alessandro Negrini, Produzentin:<br />

Margot Harkin).<br />

Das Fountain-Quartier ist ein<br />

greifbares Monument für den Irrsinn<br />

des Nordirlandkonflikts. Hier,<br />

am Fusse der trutzigen Festungsmauern,<br />

scharen sich die letzten<br />

Protestanten auf der Westseite des<br />

majestätischen Flusses Foyle, der<br />

durch Derry fliesst. Rund 300 sind<br />

noch übrig in diesem traurigen Reservat,<br />

umgeben von sieben Meter<br />

hohen Gitterzäunen; in den Siebzigerjahren,<br />

bevor die gewaltsame<br />

Segregation von katholischen und<br />

protestantischen Wohnvierteln so<br />

richtig begonnen hatte, waren es<br />

noch zweitausend; die meisten<br />

überquerten seither den Foyle zur<br />

Waterside, wo sie unter ihresgleichen<br />

leben konnten.<br />

Der Titel des Films erinnert an<br />

eine längst verschwundene Kneipe<br />

dieses Namens im Fountain-<br />

Quartier. «Des armen Mannes<br />

Paradies», sagt der Musiker Roy<br />

Arbuckle, dessen phantastischen<br />

Hirngespinste dem Film seinen<br />

roten Faden geben. Alles an dieser<br />

bezaubernden Geschichte bürstet<br />

wider den Strich. Feurige Tango-<br />

Musik für den windigen Nordwesten<br />

Europas? Protestanten als Opfer?<br />

Protestanten, die tanzen und singen?<br />

Die haben doch spröde, streng<br />

und philisterhaft zu sein. Mitnichten.<br />

Arbuckle, der verschmitzten<br />

Sentenzen nicht abgeneigt ist: «Sie-<br />

ger schreiben Geschichte, Verlierer<br />

schreiben Lieder.» So ein Satz aus<br />

protestantischem Mund erzwingt<br />

einen Neustart der Festplatte.<br />

Der Film kommt als Dokumentation<br />

daher, aber wenn jede Fiktion<br />

so leichtfüssig wäre, hätten wir alle<br />

mehr Spass. Wir dürfen zuschauen,<br />

wie Arbuckle versucht, seine Tanzkapelle<br />

aus den Sechzigerjahren zu<br />

neuem Leben zu erwecken. Damals<br />

tanzten Protestanten und Katholiken<br />

noch zusammen. Aber er, der<br />

es doch eigentlich besser wissen<br />

müsste, wird übermütig: er will einen<br />

Tanzabend organisieren, zu<br />

dem auch die Katholiken kommen<br />

können, die in Derry die überwältigende<br />

Mehrheit ausmachen, und<br />

1921 dem falschen Land zugeteilt<br />

wurden. Dafür mussten sie büssen.<br />

Mit Diskriminierung, Wahl-Manipulation<br />

und dergleichen. Jetzt sind sie<br />

die Sieger. Der Schauplatz dieses<br />

Experiments wird im Film stets<br />

volkstümlich als «Mem» bezeichnet.<br />

Nur ein einziges Mal erhält die<br />

Halle ihren richtigen Namen: «Apprentice<br />

Boys Memorial Hall», ein<br />

hübsches Beispiel von Backstein-<br />

Gotik in der Altstadt. Die Apprentice<br />

Boys sind die Derry-Variante des<br />

sinistren, protestantischen Oranier-<br />

Ordens, der erfolglosen aber peinvollen<br />

Belagerung von Derry durch<br />

den letzten katholischen König auf<br />

dem englischen Thron, Jakob II., im<br />

Jahre 1689 verpflichtet. Dahin, ins<br />

Hauptquartier der Kolonisatoren,<br />

sollen die Katholiken der Bogside<br />

und des Creggan nun tanzen kommen?<br />

Vom verständlichen Trotz und<br />

dem Starrsinn der letzten Mohikaner<br />

des Fountain-Estate (die es<br />

durchaus auch gibt) ist in diesem<br />

Film nichts zu spüren. Wehmut<br />

und Nostalgie? Gewiss. Aber auch<br />

Schiffsladungen von Optimismus,<br />

Lebensfreude, Humor und schierer<br />

Menschlichkeit. Der Umstand,<br />

dass es echte Menschen sind,<br />

verleiht dem Film seinen Zauber;<br />

wer könnte die betagten Schwestern<br />

May Hamilton und Kathleen<br />

McKane erfinden, die es bei jedem<br />

Tangofetzen in den Gliedern juckt?<br />

Ich bin weder Filmkritiker noch literarisch<br />

beschlagen, aber das ist<br />

magischer Realismus. Aus dem angeblich<br />

kühlen Norden – mit einem<br />

italienischen Regisseur.<br />

> MArtiN Alioth <<br />

schWErpunkt<br />

megafon nr. 363, Januar 2012 15

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