Dokumentation herunterladen | PDF 4,84 MB - Evangelische Kirche ...
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III.<br />
Was hat das Ganze nun mit Inklusion und Integration<br />
zu tun, und vor allem mit ihrem Wechselverhältnis,<br />
das auf Toleranz zielen soll? Fassen wir die Elemente<br />
zusammen, die ganz offensichtlich für die inhaltlichen<br />
Füllungen von ‚Integration‘ und ‚Inklusion‘ aus dem zur<br />
zedaqah Dargestellten Konsequenzen abwerfen: Im<br />
Wortfeld ‚Gemeinschaftstreue‘ zeigten sich als Motive,<br />
die für ‚Inklusion‘ und ‚Integration‘ wichtig sind:<br />
• ein Sinn für Ungerechtigkeit, der immer wieder neu<br />
ein Gespür entwickelt für Verwerfungen in einer<br />
Gesellschaft,<br />
• das Achten auf formale und inhaltliche Minimalbedingungen<br />
guten, gerechten Rechts, inkl. Beteiligungs-<br />
und Zugangsmöglichkeiten dazu,<br />
• eine vorrangige Option für Arme, Benachteiligte, Unterdrückte,<br />
Entrechtete oder für vulnerable Gruppen<br />
• eine dieser Option korrespondierende anwaltschaftliche<br />
Intention, die Lage dieser Menschen und Menschengruppen<br />
zu verbessern,<br />
• die Bereitschaft, sie zu befähigen, für sich selbst<br />
sprechen zu können,<br />
• Gemeinwohlbilder, in denen sich diese Gemeinschaftstreue<br />
realisiert,<br />
• Zielvisionen, auf die hin sie wirken soll,<br />
• Solidaritätspflichtigkeiten als Dialektik von Geben<br />
und Nehmen,<br />
• eine aus dieser kultursprachlichen Praxis sich speisende<br />
Sensibilität für Dankbarkeit,<br />
• verbunden mit Differenzbewusstsein und Ambiguitätssensibilität,<br />
selbstständig hinter dem Gemeinschaftsangebot<br />
Gottes und seiner Treue zurückzubleiben,<br />
auf ihn angewiesen zu bleiben und so<br />
immer wieder neu auf die Spurensuche von Ungerechtigkeitseffekten<br />
und Umkehrwegen (bei sich<br />
und anderen) zu achten.<br />
Mit diesen doch sehr gehaltvollen Aspekten des zedaqah-Wortfeldes<br />
können zunächst einmal Integrations-<br />
und Inklusionssemantiken wie -praktiken kritisch<br />
überprüft werden. Hat man sie im Blick, dann können<br />
im Ringen um Semantik und Pragmatik komparative<br />
Vorteile für die betroffenen Menschen, aber auch – so<br />
wage ich zu behaupten – für die beteiligten Gruppen<br />
und Gesellschaften identifiziert werden. Die Reflexion<br />
auf die biblische Gemeinschaftstreue dürfte – trotz<br />
der schon anfänglich festgehaltenen tiefgreifenden<br />
Differenz zwischen der vormodern kultursprachlichen<br />
Praxis der biblischen Lebenswelt und der Moderne –<br />
gezeigt haben: ohne Vorstellungen des guten Lebens<br />
oder ohne Visionen von Gemeinwohl greifen de facto<br />
und de jure Ideen von Inklusion oder Integration nicht.<br />
Denn wenn es solche Zielvisionen nicht gibt, stellt sich<br />
selbstverständlich sofort die Frage: Wie und warum<br />
soll in was inkludiert oder integriert werden? Inklusion<br />
und Integration verkämen zu Leerformeln, wenn es<br />
nicht – zumindest – minimalinhaltliche, ggf. aber auch<br />
in Konkurrenz zueinanderstehende Vorstellungen von<br />
gelingende(re)m Leben gäbe. Andererseits muss aber<br />
auch konstatiert werden: In der funktional ausdifferenzierten,<br />
weltanschaulich pluralen und in dieser Komplexität<br />
wiederum zu a-modernen Re-Hybridisierungen<br />
neigenden Gesellschaft muss jede einheitliche und mit<br />
umfassendem Anspruch auftretende Gemeinwohlvision<br />
zum Scheitern verurteilt sein. Dies messerscharf analysiert<br />
zu haben, ist und bleibt eines der Verdienste der<br />
Systemtheorie von Niklas Luhmann.<br />
Entsprechend schwierig ist es, trotz der umfangreichen<br />
Kriteriologie, die sich aus dem Wortfeld zedaqah<br />
für ‚Inklusion‘ und ‚Integration‘ ergibt, eine<br />
Verhältnisbestimmung der beiden Begriffe abzuleiten.<br />
Sie ergibt sich nicht automatisch aus dem biblischen<br />
Befund selbst, aber kann sehr wohl auf einzelne Dimension<br />
des zuvor Dargestellten zurückgreifen. Die<br />
dabei unvermeidliche hermeneutische Kombinatorik<br />
erscheint mir deshalb zwar kontingent, aber nicht<br />
willkürlich.<br />
Im Einzelnen: Zwar fehlt der Gesellschaft die eine Vision<br />
von Gesellschaft. DIE gesellschaftliche Integrationsfunktion<br />
gibt es nicht mehr. Deshalb sollten auch<br />
<strong>Kirche</strong>n und Theologien sehr vorsichtig sein, an diesem<br />
doch sehr plausiblen gesellschaftstheoretischen<br />
Befund vorbei eine holistische Konzeption gelingenden<br />
Lebens zu vertreten. Das kommt im bestem Fall<br />
als unterkomplexe Naivität, im schlimmsten Fall als<br />
bornierte Dreistigkeit daher. Aber im Laufe der letzten<br />
Jahrhunderte, spätestens seit den Revolutionen an der<br />
Schwelle der Neuzeit zur Moderne, haben sich einige<br />
Standards etabliert, die sich für die hier noch zur Verhandlung<br />
stehende Frage der Verhältnisbestimmung<br />
von ‚Inklusion‘ und ‚Integration‘ bewährt haben. Konkret<br />
rekurriere ich auf das, was ich heuristisch das Ineinander<br />
von völkerrechtlich etablierten Menschenrechten,<br />
von ideen- und politikgeschichtlichen Menschenwürde-<br />
und Menschenrechtsideen und von einem Menschenrechtsethos<br />
nenne, das der Soziologie Hans Joas auf<br />
die Formel der „Sakralität der Person“ bringt. Gerade<br />
letzterer Punkt ist mir wichtig: Die theoretisch und in<br />
diversen Verfassungen festgehaltene prinzipielle Bedeutung<br />
der Menschenrechte und der ihnen zugrunde<br />
liegenden Idee einer allen Menschen unabhängig von<br />
irgendwelchen Eigenschaften oder Zugehörigkeiten<br />
zu bestimmten Gruppen zukommenden Menschenwürde<br />
hat sich ja spätestens zu dem Zeitpunkt in das<br />
kollektive Gedächtnis weiter Teile der Menschheit eingepflanzt,<br />
als die Grausamkeiten der Diktaturen und<br />
Kriege des 20. Jahrhundert die Überzeugung wachsen<br />
ließ: „So dürfen Menschen nicht mit Menschen<br />
umgehen!“ Nicht also die reine Theorie, sondern ein<br />
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