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Esslingen 1-3

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<strong>Esslingen</strong> Pliensauvorstadt<br />

Stadt 2030<br />

Bürger sein heute – Bürger sein 2030<br />

Forschungsverbund <strong>Esslingen</strong> 2030 (Hg.)


Für die Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar:<br />

Stadtplanungs- und Stadtmessungsamt<br />

Oberbaudirektor Dipl.-Ing. Frank Eberhard Scholz<br />

Dipl.-Geogr. Petra Schmettow<br />

Für den Baustein Sozialkulturelle Strukturen:<br />

Weeber und Partner Institut für Stadtplanung und Sozialforschung<br />

Dr. phil. Rotraut Weeber, Dorothee Baumann, M.A.<br />

Annette Tavella Brommundt, Dipl.-Soz. Marcus Butz<br />

Für den Baustein Physische Strukturen:<br />

ORplan Arbeitsgemeinschaft für Orts- und Regionalplanung,<br />

Städtebau und Architektur<br />

Prof. Dipl.-Ing. Wolfgang Schwinge<br />

Dipl.-Ing. Maren Harnack, MSc<br />

Für den Baustein Politische und Verwaltungsstrukturen:<br />

Institut für Sozialforschung und Sozialplanung Stuttgart/Nürnberg<br />

(IfSS)<br />

Prof. Dr. Sylvia Greiffenhagen, Katja Neller, M.A.,<br />

S. Isabell Thaidigsmann, M.A., Dr. rer. soc. Regine Jautz<br />

Das diesem Bericht zugrundeliegende Vorhaben wurde<br />

mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und<br />

Forschung unter den Förderkennzeichen 19W 1068 A,<br />

19W 1068 B, 19W 1068 C und 19W 1068 D gefördert.<br />

Die Verantwortung für den Inhalt liegt bei den Autoren.


<strong>Esslingen</strong> Pliensauvorstadt<br />

Stadt 2030<br />

Bürger sein heute – Bürger sein 2030<br />

Forschungsverbund <strong>Esslingen</strong> 2030 (Hg.)<br />

Stadtplanungs- und Stadtmessungsamt der Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar<br />

Weeber und Partner Institut für Stadtplanung und Sozialforschung<br />

ORplan Arbeitsgemeinschaft für Orts- und Regionalplanung, Städtebau und Architektur<br />

Institut für Sozialforschung und Sozialplanung, Stuttgart/Nürnberg (IfSS)


Stadt 2030<br />

„Bürger sein heute – Bürger sein 2030“, so lautete das Motto<br />

für den erfolgreichen Beitrag der Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar<br />

zum Ideenwettbewerb „Stadt 2030“ des Bundesministeriums<br />

für Bildung und Forschung. In dem Esslinger Stadtteil Pliensauvorstadt<br />

entwickelte der interdisziplinäre Forschungsverbund<br />

gemeinsam mit den Bewohnern Leitbilder für die Bürgerrolle<br />

in der Zukunft. Mehr als 200 Pliensauvorstädter und Esslinger<br />

Bürger nahmen in Langzeitwerkstätten, den sogenannten<br />

Cafés, an diesem Prozess teil. Die Diskussion orientierte sich<br />

an den drei Bausteinen des Projekts: den sozialkulturellen<br />

Strukturen eines künftigen Zusammenlebens, den politischen<br />

und Verwaltungsstrukturen einer künftigen Bürgerstadt und<br />

der physischen Gestalt einer künftigen Stadtteilidentität.<br />

ESSLINGEN 2030 1


Grußwort<br />

Oberbürgermeister Dr. Jürgen Zieger<br />

Mit der Vorlage dieses Abschlussberichtes und den darin formulierten<br />

Ergebnissen und Empfehlungen stellt sich die Frage,<br />

ob es denn gelungen ist, den seinerzeit am „Runden Tisch“<br />

und in der „Zukunftswerkstatt“ begonnenen Diskurs in der<br />

Pliensauvorstadt fortzusetzen; ob sich denn BürgerInnen<br />

haben finden lassen, die bereit waren, sich Gedanken über die<br />

Zukunft des Zusammenlebens in ihrem Stadtteil und ihrer<br />

Stadt zu machen; die Lust darauf hatten, ihre Rolle als Bürger-<br />

Innen neu zu denken?<br />

Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig: Mehr als 200 Bürger-<br />

Innen haben über ein Jahr in mehr als 30 Cafés ihre Vorstellungen<br />

und Ideen eingebracht, haben diskutiert, mitgearbeitet<br />

und damit ihr Interesse an der Gestaltung und Entwicklung<br />

von Zukunft unterstrichen.<br />

Hierüber freue ich mich und danke allen für Ihr großes Engagement.<br />

Für die Bewältigung der vor uns stehenden schwierigen Aufgaben<br />

zeigt dieser so erfolgreiche Prozess zweierlei:<br />

Zum einen gelingt es, im Stadtteil die BürgerInnen auch bei<br />

vermeintlich abstrakten Themen konkret zu mobilisieren.<br />

Zum anderen ist dies ein weiterer Schritt auf dem Wege zur<br />

Bürgerkommune <strong>Esslingen</strong>, in der der Einzelne sich stärker als<br />

bisher beteiligt, an der Gestaltung von Zukunft in seiner Stadt<br />

mitwirken und auch mehr Verantwortung übernehmen will.<br />

Als Oberbürgermeister begrüße ich dies sehr und appelliere<br />

deshalb<br />

· an alle BürgerInnen <strong>Esslingen</strong>s, sich künftig in ähnlicher<br />

Weise einzubringen und<br />

· an die Kommunalpolitik, diesen Gestaltungswillen auch<br />

aufzugreifen und nach Möglichkeit zu unterstützen.<br />

Mein Dank gilt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung<br />

und dem Deutschen Institut für Urbanistik, die durch<br />

die Ausschreibung, finanzielle Unterstützung und inhaltliche<br />

Begleitung des Forschungsvorhabens erst die Voraussetzung<br />

für diesen erfolgreichen Diskussionsprozess geschaffen<br />

haben. Insbesondere danken möchte ich jedoch dem ganzen<br />

Projektteam – den externen Partnern ebenso wie den Mitarbeitern<br />

des Stadtplanungs- und Stadtmessungsamtes – für<br />

ihre hochmotivierte und engagierte Arbeit. Dem vorliegenden<br />

Bericht und seinen Ergebnissen wünsche ich eine breite und<br />

fruchtbare Resonanz im politischen Raum, aber auch in der<br />

Wissenschaft ganz im Interesse einer gemeinsamen positiven<br />

Gestaltung unserer Zukunft.<br />

ESSLINGEN 2030 3


4 ESSLINGEN 2030 1 2 3 4 5 6 7 8<br />

© 2003<br />

Forschungsverbund <strong>Esslingen</strong> 2030<br />

<strong>Esslingen</strong> am Neckar/Stuttgart<br />

Gestaltung:<br />

Zimmermann Visuelle Kommunikation<br />

Auflage: 250 Stück<br />

Inhalt<br />

1 Bürger sein heute – Bürger sein 2030 7<br />

2 Der Ort des Diskurses 11<br />

2.1 Pliensauvorstadt – ein Stadtteil mit Geschichte 12<br />

2.2 Die Pliensauvorstadt als physischer Raum 17<br />

2.3 Die Pliensauvorstadt als Ort des Sozialen und<br />

der Kultur 21<br />

2.4 Die Pliensauvorstadt als Teil der politischen<br />

und verwalteten Stadt 26<br />

3 Leitbilder – Bilder, die leiten 29<br />

3.1 Zur Funktionsweise und Generierung<br />

von Leitbildern 30<br />

3.2 Zur Legitimität von Leitbildern am Beginn des<br />

21. Jahrhunderts 33<br />

4 Die Wege zu den Leitbildern 35<br />

4.1 Das Café als Ort und Methode 37<br />

4.2 Weitere Methoden 43<br />

4.3 Ziele, Hypothesen, Methoden und Ergebnisse 49<br />

5 Sozialkulturelle Strukturen 55<br />

5.1 Einleitung 56<br />

5.2 Generationen und privates Leben 57<br />

5.2.1 Entwicklungslinien und Herausforderungen 57<br />

5.2.2 Generationen und privates Leben – Diskurs 72<br />

5.3 Migration und Integration 80<br />

5.3.1 Entwicklungslinien und Herausforderungen 80<br />

5.3.2 Migration und Integration – Diskurs 89<br />

5.4 Teilhabe und Stadtteilleben 97<br />

5.4.1 Entwicklungslinien und Herausforderungen 97<br />

5.4.2 Teilhabe und Stadtteilleben – Diskurs 108<br />

5.5 Zusammenfassung und Kommentar 119<br />

5.5.1 Generationen und privates Leben 119<br />

5.5.2 Migration und Integration 121<br />

5.5.3 Teilhabe und Stadtteilleben 124<br />

5.5.4 Leitbilder zwischen Konsens und Kontroverse,<br />

Hoffnungen und Zweifeln 128<br />

6 Die gebaute Stadt 135<br />

6.1 Zum Begriff des Leitbilds im Städtebau 136<br />

6.2 Wohnort Vorstadt 142<br />

6.2.1 Wohnort Vorstadt. Zum Stand der Diskussion 143<br />

6.2.2 Das Café „Wohnort Vorstadt“ –<br />

Mieter und Hausbesitzer 146<br />

6.2.3 Das Café „Wohnort Vorstadt“ –<br />

türkischstämmige Frauen 152<br />

6.2.4 Wohnort Vorstadt.<br />

Konflikte und Handlungsfelder 159<br />

6.2.5 Handlungsempfehlungen zur Zukunft<br />

des Wohnorts Vorstadt 162<br />

6.3 Wem gehört das Draußen? 164<br />

6.3.1 Wem gehört das Draußen?<br />

Zum Stand der Diskussion 165<br />

6.3.2 Das Café „Wem gehört das Draußen?“ –<br />

Frauen um 30 168<br />

6.3.3 Das Café „Wem gehört das Draußen?“ –<br />

Jugendliche 173<br />

6.3.4 Wem gehört das Draußen?<br />

Konflikte und Handlungsfelder 181


6.3.5 Handlungsempfehlungen zur Zukunft<br />

des Draußen 186<br />

6.4 Die Sehnsucht nach der Mitte 188<br />

6.4.1 Die Sehnsucht nach der Mitte.<br />

Zum Stand der Diskussion 188<br />

6.4.2 Das Café „Mitte“ 193<br />

6.4.3 Die Sehnsucht nach der Mitte.<br />

Konflikte und Handlungsfelder 203<br />

6.4.4 Handlungsempfehlungen zur Zukunft der Mitte 208<br />

6.5 Die Zukunft der gebauten Stadt 209<br />

6.5.1 Hat die Vorstadt Perspektive? 209<br />

6.5.2 Die Pliensauvorstadt als Wohnort 210<br />

6.5.3 Zukunft des öffentlichen Raums 211<br />

6.5.4 Kann es eine Mitte geben? 213<br />

7 Politische und Verwaltungsstrukturen 219<br />

7.1 Wer ist ein Bürger? 221<br />

7.2 Bürger und Politik 226<br />

7.2.1 Kognitive Orientierungen und ihre Relevanz 226<br />

7.2.2 Leitbilder aus der Demokratietheorie 227<br />

7.2.3 Die Situation in der Pliensauvorstadt:<br />

Ausgewählte politische Einstellungen 229<br />

7.2.4 Leitbilder aus dem lokalen Diskurs 231<br />

7.2.5 Wege zum Leitbild „Mehr politisches Interesse<br />

und mehr politisches Engagement“ 236<br />

7.2.6 Leitbild und Wege: ein Vergleich 241<br />

7.2.7 Fazit: Die Kombination verschiedener<br />

Maßnahmen als Voraussetzung für<br />

die Erreichung des Leitbilds 242<br />

7.3 Lokale Demokratie und politische Institutionen 245<br />

7.3.1 Die aktive Zukunftsgestaltung der Politik 245<br />

7.3.2 Überlegungen und Leitbilder aus dem<br />

wissenschaftlichen Diskurs:<br />

Zukunftsfähige Demokratie gestalten 246<br />

7.3.3 Die Situation in der Pliensauvorstadt 250<br />

7.3.4 Leitbilder aus dem lokalen Diskurs 252<br />

7.3.5 Wege zu den Leitbildern 260<br />

7.3.6 Fazit: Probleme, Voraussetzungen und Chancen 262<br />

7.4 Die Kommunale Verwaltung im Jahr 2030 264<br />

7.4.1 Bürger und Verwaltung 264<br />

7.4.2 Der Stand der Diskussion 266<br />

7.4.3 Die Esslinger Verwaltungsreform –<br />

Verwaltung 2000 plus 270<br />

7.4.4 Einschätzungen und Leitbilder<br />

aus dem lokalen Diskurs 274<br />

7.4.5 Wege zu den Leitbildern 280<br />

7.4.6 Fazit: Viel Konsens, aber in einzelnen Punkten<br />

noch Klärungsbedarf 283<br />

7.5 Das kommunale Kräftedreieck aus Bürgern,<br />

Verwaltung und politischen Gremien 284<br />

7.5.1 Der Stand der wissenschaftlichen Diskussion 284<br />

7.5.2 Die Situation in <strong>Esslingen</strong> 290<br />

7.5.3 Leitbilder aus dem lokalen Diskurs 291<br />

7.6 Handlungsempfehlungen für den Baustein<br />

Politische und Verwaltungsstrukturen 297<br />

8 Ergebnisse und Bewertungen 309<br />

8.1 Leitbilder aus dem Diskurs 310<br />

8.2 Thesen des Antrags – Bilanz 2003 313<br />

8.3 Auf dem Weg nach 2030 329<br />

8.4 Bürger sein 2030 335<br />

ESSLINGEN 2030 5


6 ESSLINGEN 2030


1<br />

Bürger sein heute –<br />

Bürger sein 2030<br />

ESSLINGEN 2030 7


8 ESSLINGEN 2030<br />

BÜRGER SEIN HEUTE<br />

1<br />

BÜRGER SEIN 2030<br />

„Wird die Stadt der Zukunft freundlichere Gefühle in ihren<br />

Bewohnern wecken können als die Gebilde, die wir heute Stadt<br />

nennen? Freundliche Gefühle soll heißen: man empfindet sich<br />

beheimatet, ist angesprochen und angeregt. Die eigene Stadt<br />

hat eine sinnlich wahrnehmbare Gestalt, die sie von anderen<br />

Städten unterscheidet. Zu ihr stellt sich ein besonderes<br />

affektives Band her.“<br />

Alexander Mitscherlich am 12.03.1972 in Stuttgart<br />

„Rethinking citizenship – die Bürgerrolle neu denken“ hieß<br />

der erfolgreiche Beitrag der Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar zum<br />

Forschungswettbewerb „Stadt 2030“ des Bundesministeriums<br />

für Bildung und Forschung im Jahr 2000. Er sah vor, diese Bürgerrolle<br />

exemplarisch an einem Stadtteil, der Pliensauvorstadt,<br />

zu überprüfen. Funktions- und Bedeutungsverluste im Zuge<br />

des ökonomischen Strukturwandels hat dieser Stadtteil bis<br />

heute nicht überwunden und war dabei seit jeher Zu- und<br />

Durchwandererstation, die besondere Lasten – auch für die<br />

Stadt insgesamt – zu tragen hatte.<br />

Unter den ausgewählten Förderstädten ist <strong>Esslingen</strong> in die<br />

Gruppe der wachsenden bzw. konsolidierten Mittelstädte eingeordnet.<br />

Entsprechend der Antragsidee steht in der beabsichtigten<br />

Leitbilddiskussion der Themenkomplex „Integration/<br />

Gleichheit“ im Vordergrund der Betrachtung. Im Forschungsantrag<br />

haben die Stadt <strong>Esslingen</strong> und ihre Verbundpartner<br />

sich dann mit dem neuen Titel „Bürger sein heute – Bürger<br />

sein 2030“ auf den im Projekt vorgegebenen Zeithorizont<br />

bezogen.<br />

Zentrale Idee des Vorhabens war es, diese Zukunftsdimension<br />

und die Leitbilder, nach denen sich die Zukunft gestalten<br />

sollte, im Diskurs mit den Bürgern der Pliensauvorstadt zu<br />

entwickeln, sie dem Diskurs der Bürger selbst zu überlassen.<br />

Dass die soziale Integration die zentrale Zukunftsaufgabe der<br />

Pliensauvorstadt und der Stadt <strong>Esslingen</strong> insgesamt sein<br />

würde und dass gleichzeitig eine zunehmende Polarisierung<br />

der Stadtgesellschaft zur größten Gefahr für die Bürgerstadt<br />

selbst werden könnte, war bereits aus den Beiträgen der an der<br />

Zukunftswerkstatt Pliensauvorstadt im Mai 2000 beteiligten<br />

Initiativen deutlich geworden. In <strong>Esslingen</strong> lässt sich dieser<br />

Gegensatz vereinfachend mit Talstadt vs. Höhenstadt beschreiben.<br />

Die Probleme, die in diesem Zusammenhang angesprochen<br />

wurden, resultieren einerseits aus der Zunahme von funktionalen<br />

und Lagewertdisparitäten zwischen der Altindustrievorstadt<br />

und der historischen Kernstadt sowie zwischen der<br />

Pliensauvorstadt und den „besseren“ Stadtteilen in den<br />

Höhenlagen an der Peripherie andererseits. Wir unterstellten,


dass die Integrationskraft der historischen Einheit „Stadt“ im<br />

polyzentrischen Verdichtungsraum dabei nachlässt, weil Individuen<br />

und Gruppen sich zunehmend regional orientieren und<br />

gleichzeitig kleinräumige Umfeldsysteme an Bedeutung gewinnen.<br />

Hinzu kommt offensichtlich, dass Teile der Bevölkerung die<br />

Anmeldung und Durchsetzung von Interessen wenig oder gar<br />

nicht trainiert haben und stattdessen in das Abhängigkeitsverhältnis<br />

der Alimentierung in nahezu allen Bereichen der sozialen<br />

Daseinsvorsorge zurückzufallen scheinen. Diese Gruppen<br />

haben zunehmende Schwierigkeiten, bürgerschaftliches<br />

Selbstverständnis und Selbstwertgefühl zu entwickeln. Andererseits<br />

haben gerade sie sehr konkrete Zukunftserwartungen<br />

für ihr persönliches Leben im Stadtteil und sehr deutliche Vorstellungen<br />

im Hinblick auf die jeweiligen Verantwortlichkeiten<br />

bei der Schaffung und Sicherung der Rahmenbedingungen für<br />

diese Zukunft, wie aus der Vielzahl der Einzel- und Gruppengespräche<br />

dieses Diskurses deutlich geworden ist.<br />

Das Projekt „Stadt 2030 <strong>Esslingen</strong>-Pliensauvorstadt – Bürger<br />

sein heute – Bürger sein 2030“ ist ein Gemeinschaftsprojekt<br />

der Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar und ihrer drei Partner im<br />

Forschungsverbund. Es wird daher im folgenden ein Gemeinschaftsbericht<br />

über das Ergebnis des Forschungsvorhabens<br />

vorgelegt.<br />

Die jeweilige inhaltliche Einzelverantwortung der Wissenschaftspartner<br />

während der Arbeit und im Stadtteil bezieht<br />

sich auf die drei „Bausteine“ genannten Dimensionen der<br />

Leitbilder einer Stadt 2030<br />

· die sozialkulturelle Dimension (Baustein „sozialkulturelle<br />

Strukturen“) des Instituts für Stadtplanung und Stadtforschung<br />

Weeber + Partner, im Kapitel 5;<br />

· die physische Dimension (Baustein „physische Strukturen“)<br />

des Büros ORplan, Arbeitsgemeinschaft für Orts- und<br />

Regionalplanung, Städtebau und Architektur, im Kapitel 6;<br />

· der politisch-administrativen Dimension („politische und<br />

Verwaltungsstrukturen“) des Instituts für Sozialforschung<br />

und Sozialplanung IfSS, im Kapitel 7.<br />

Die übrigen Abschnitte sind eine Gemeinschaftsleistung des<br />

interdisziplinären Forschungsverbundes. Die Koordination der<br />

Teilprojekte und die Kommunikation mit den Bewohnern des<br />

Stadtteils, den Stadtteilgremien, den Verwaltungsdienststellen<br />

und zur Projektbegleitung des Deutschen Instituts für Urbanistik<br />

lag dabei in der Verantwortung des Stadtplanungs- und<br />

Stadtmessungsamts der Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar.<br />

Am Ende eines Projekts, das als eineinhalbjähriger Erkenntnisprozess<br />

begriffen werden sollte, der über die planungswissenschaftlichen<br />

und planungstheoretischen Ergebnisse hinaus<br />

für alle Beteiligten Teilhabe an der Zukunftsorientierung<br />

des Stadtteils bedeutet hat, steht die Überzeugung, dass es<br />

für Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichem<br />

sozialen Status künftig möglich sein muss, ihr<br />

Leben unter gleichwertigen Lebensbedingungen zu führen.<br />

Es muss dafür Sorge getragen werden, dass sich die städtischen<br />

Lebensbedingungen nicht noch weiter auseinanderentwickeln,<br />

als dies gegenwärtig zu beobachten ist. Darüber<br />

hinaus muss durch gezielte Förderung den fortschreitenden<br />

Segregationstendenzen entgegengewirkt werden.<br />

Wir empfehlen eine Fortsetzung des Partizipationsprozesses,<br />

wie er über den Leitbilddiskurs des Projekts in einer bislang<br />

so nicht erreichten Breite eingeleitet worden ist. Der Bürger<br />

muss Experte seiner eigenen Lebensbedingungen werden,<br />

Co-Programmierer der Gestaltung seines Lebensraums, der in<br />

Teilhabe und Mitverantwortung mitentscheidet, was bleiben<br />

soll, wie es ist und was zu verändern sei, auch wenn eben dieser<br />

Bürger unter den gegenwärtigen Bedingungen noch wenig<br />

Engagement, Artikulationskraft und Durchsetzungsfähigkeit<br />

gegenüber konkurrierenden Interessen entwickelt.<br />

Sowohl gleichwertige Lebensbedingungen trotz unterschiedlicher<br />

Herkunft und unterschiedlichem Status, als auch<br />

die prinzipielle Anerkennung der Kompetenz für die eigene Lebensgestaltung<br />

trotz zunächst geringer Durchsetzungsfähigkeit<br />

sieht das Forschungsteam als notwendige Voraussetzung<br />

für ein funktionierendes demokratisches System und eine<br />

städtische Bürgergesellschaft an. Die Emanzipation vor allem<br />

der benachteiligten Teile der Stadt und ihrer Bewohner zu fördern<br />

und sie in eine stärkere Mitverantwortung und Mitbe-<br />

ESSLINGEN 2030 9


10 ESSLINGEN 2030<br />

BÜRGER SEIN HEUTE<br />

1<br />

BÜRGER SEIN 2030<br />

stimmung der örtlichen Belange hineinzuführen wird damit erneut<br />

zum Auftrag verantwortlichen politischen Handelns. Auf<br />

dem Weg zur Stadt 2030 muss es vor diesem Hintergrund in<br />

letzter Konsequenz darin münden, den Stadtteilen, die stärker<br />

als andere von belasteten Lebensbedingungen geprägt sind<br />

und deren Bewohner schlechter als andere ihre Interessen im<br />

politischen Raum zu artikulieren vermögen, eine besondere<br />

Förderung angedeihen zu lassen.<br />

Im Rahmen des Projekts Stadt 2030 <strong>Esslingen</strong>-Pliensauvorstadt<br />

waren mehr als 200 Bewohner der Pliensauvorstadt und<br />

anderer Stadtteile am Diskurs über die Leitbilder der Zukunft<br />

beteiligt. Ihrem Einsatz, ihrer Phantasie und ihrer seriösen<br />

Kompetenz bekundet das Projektteam ausdrücklich Anerkennung<br />

und Respekt. Mit dem Dank für den außerordentlichen<br />

zeitlichen Aufwand, den diese Menschen in das Projekt eingebracht<br />

haben, ist auch die Feststellung verbunden, dass ohne<br />

sie das Vorhaben gar nicht möglich gewesen wäre. Dank gilt<br />

auch der Vielzahl der weiteren Gesprächspartner und Kooperanten<br />

des Projekts, den Mitgliedern des Forschungsbeirats<br />

als wichtigstem Korrektiv unserer Arbeit, den Mitgliedern des<br />

Bürgerausschusses und des Runden Tisches aus dem Stadtteil,<br />

den Mitarbeitern der Stadtverwaltung und den Vertretern<br />

von Parteien und Verbänden, Initiativen und sozialen Einrichtungen,<br />

den Kolleginnen und Kollegen der anderen Projekte<br />

zur Stadt 2030, mit denen wir uns ausgetauscht haben, zuerst<br />

denen aus Stadt und Region Stuttgart, und der Projektbegleitung<br />

des difu – Deutsches Institut für Urbanistik – sowie dem<br />

Projektträger TÜV-Akademie Rheinland GmbH.<br />

Ebenso wenig wie Alexander Mitscherlich vor 31 Jahren hat<br />

der vorliegende Bericht abschließende Antworten auf die Fragen<br />

nach der Zukunft der Stadt. Die zeitliche Dimension im<br />

Blick zurück ist aber vergleichbar, und damit wird begreifbar,<br />

dass Mitscherlich, wie jeder vor ihm auch, letztlich doch (nur)<br />

eine Station auf dem Wege beschreibt.


2 Der Ort des Diskurses<br />

2.1<br />

2.2<br />

2.3<br />

2.4<br />

Pliensauvorstadt – ein Stadtteil mit Geschichte<br />

Die Pliensauvorstadt als physischer Raum<br />

Die Pliensauvorstadt als Ort des Sozialen und der Kultur<br />

Die Pliensauvorstadt als Teil der politischen und verwalteten Stadt<br />

ESSLINGEN 2030 11


12 ESSLINGEN 2030<br />

DER ORT DES DISKURSES 2.1<br />

2.1<br />

Pliensauvorstadt –<br />

ein Stadtteil mit Geschichte<br />

Das Projekt <strong>Esslingen</strong> 2030 hat exemplarisch in einem Stadtteil,<br />

der Pliensauvorstadt stattgefunden. Um Ergebnisse und<br />

Schlüsse verständlich zu machen und auf andere Orte und<br />

Akteure übertragen zu können, ist es nötig, zumindest eine<br />

grobe Vorstellung von diesem Ort zu haben.<br />

Die Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar, in unmittelbarer Nachbarschaft<br />

zur Landeshauptstadt Stuttgart gelegen, wurde vor<br />

mehr als 1200 Jahren erstmals urkundlich erwähnt und hat<br />

heute etwa 90 000 Einwohner. Noch heute bezieht die Stadt<br />

ihre Identität auf ihre Geschichte als Freie Reichsstadt, die<br />

insbesondere von den Staufern durch zahlreiche Stiftungen,<br />

sakrale und weltliche Bauten gefördert wurde. Die mittelalterliche<br />

Kernstadt wurde in bemerkenswerter Geschlossenheit<br />

durch die Jahrhunderte erhalten und im letzten Viertel<br />

des zwanzigsten Jahrhunderts durch umfassende Sanierungsmaßnahmen<br />

aufgewertet.<br />

Die Stadt steht aber auch für die Industriegeschichte Württembergs;<br />

sie war im ausgehenden 19./20. Jahrhundert die am<br />

stärksten industrialisierte Stadt des Königreichs. Auch heute<br />

wird das Wirtschaftsleben noch stark von der Industrie bestimmt,<br />

Schwerpunkt sind Automobil- und Zulieferindustrie.<br />

Weltbekannte Firmen wie DaimlerChrysler und Festo sind in<br />

<strong>Esslingen</strong> ansässig. Im Stadtgebiet arbeiten rund 49 000 Menschen,<br />

etwa 4500 Studenten sind an den Hochschulen für<br />

Technik und Sozialwesen eingeschrieben.<br />

In der Morphologie der Stadt sind neben der historischen<br />

Kernstadt zwei Lagen deutlich zu unterscheiden – die Halbhöhen-<br />

und Höhenlagen mit ökonomisch, ökologisch und sozial<br />

gehobenem Status und die Tallagen. Unter den Orten mit<br />

Tallage stellt sich die Pliensauvorstadt, der Ort, an dem <strong>Esslingen</strong><br />

den Dialog über eine künftige Vorstellung von Stadt geführt<br />

hat, problematisch dar.<br />

Die Pliensauvorstadt ist ein relativ junger Stadtteil der<br />

Stadt <strong>Esslingen</strong>. Sie liegt vor den Toren des mittelalterlichen<br />

Esslinger Stadtkerns und ist ab 1865 als Mischgebiet am südlichen<br />

Ende der Pliensaubrücke entstanden, die bis 1973 der<br />

einzige Neckarübergang war. Sie war immer Auffangbecken<br />

für Zuwanderer und ist auch gegenwärtig durch einen deutlich<br />

überdurchschnittlichen Anteil von Einwohnern ausländischer<br />

Herkunft, aber auch durch überdurchschnittliche Anteile an<br />

Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern gekennzeichnet. In<br />

der Pliensauvorstadt wurde das partizipatorische Experiment<br />

des Esslinger Projekts exemplarisch durchgeführt, weil gerade<br />

hier nicht diejenigen wohnen, die sich gewöhnlich als Bürger<br />

der Stadt in die städtische Gesellschaft einbringen.<br />

Ein Blick auf vier – unterschiedlich lange – Zeitabschnitte<br />

macht wesentliche Charakteristika des Stadtteils deutlich.


2.1.1 Richtstatt, Zollhaus und Lagerplatz der Fahrenden<br />

Das südliche Flussufer war erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts<br />

Teil der Esslinger Gemarkung, denn die feuchte Aue<br />

hatte für die (Wein)bauern nur geringe wirtschaftliche Bedeutung.<br />

Waren und Menschen mussten über die Pliensaubrücke<br />

in die Stadt kommen und konnten am äußeren Brückentor<br />

leicht kontrolliert werden. Wer die Stadt nicht betreten durfte,<br />

konnte am linken Ufer für eine gewisse Zeit lagern. Noch heute<br />

wird der Stadtteil in <strong>Esslingen</strong> als „Zigeunerinsel“ bezeichnet.<br />

Die alten Gewannnamen „Hauptwasen“ und „Galgenwasen“<br />

verweisen außerdem auf Hinrichtungen, die hier vollstreckt<br />

wurden.<br />

Stadtansicht <strong>Esslingen</strong>s am Ende des<br />

17. Jahrhunderts<br />

ESSLINGEN 2030 13


14 ESSLINGEN 2030<br />

Lederfabrik Roser<br />

Evangelische Südkirche<br />

Restaurant und Versammlungslokal<br />

„Paradies“<br />

DER ORT DES DISKURSES<br />

2.1<br />

2.1.2 Fabriken und Arbeiter für die Esslinger Industrialisierung<br />

Ohne die vorzüglichen Standortfaktoren auf dem Gebiet der<br />

heutigen Pliensauvorstadt wäre die Industrialisierung in<br />

<strong>Esslingen</strong> möglicherweise nicht so stürmisch verlaufen. Die<br />

freie und ebene Fläche, die Nähe zum Wasser, zur Brücke<br />

und zur Eisenbahn ließen hier eine der damals größten und<br />

am schnellsten wachsenden Esslinger Stadterweiterungen<br />

entstehen. Seit dem Jahr 1865, als erstmals Bauland verkauft<br />

wurde, entstanden hier Fabriken, die neu gegründet<br />

oder aus der Altstadt verlagert wurden. Es waren überwiegend<br />

störende, mit Geruchsbelästigungen verbundene Produktionsstätten<br />

(Leder, Seife, Gießerei), deren Gebäude zum<br />

Teil noch heute das Stadtbild prägen. Nach dem Ersten Weltkrieg<br />

wurden weitere Fabriken gegründet, unter anderem die<br />

Maschinenfabrik Bohner & Köhle, deren Gelände heute<br />

brach liegt und als „Schandfleck“ für Diskussionsstoff im<br />

Stadtteil sorgt.<br />

Zusammen mit den Fabrikgebäuden und Fabrikantenvillen<br />

wurde in der Pliensauvorstadt vor allem Wohnraum für die<br />

stark anwachsende Arbeiterschaft geschaffen. Die Wohnungen<br />

wiesen im Vergleich zu den meist kleinen, dunklen und<br />

schlecht beheizbaren Wohnungen der Altstadt einen relativ<br />

hohen Standard auf. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts kamen<br />

verstärkt Geschossbauten der Esslinger Baugenossenschaft,<br />

der Esslinger Wohnungsbaugesellschaft und später der<br />

Flüchtlingswohnungsbaugesellschaft hinzu, die heute das<br />

Bild des Stadtteils prägen.<br />

Formal blieb die Pliensauvorstadt bis 1950 ein Teil der<br />

Innenstadt und erhielt erst spät eigenständige öffentliche Einrichtungen.<br />

Im Jahr 1909 wurde eine Pfarrstelle eingerichtet,<br />

1913 die Pliensaugrundschule eröffnet und im Jahr 1926 die<br />

evangelische Südkirche eingeweiht. Dieser, vom Stuttgarter<br />

Architekt Martin Elsaesser geplante Sakralbau ist eines der<br />

bedeutendsten Werke des Expressionismus im süddeutschen<br />

Raum.<br />

An <strong>Esslingen</strong>s Ruf als Hochburg der württembergischen Arbeiterbewegung<br />

hatte besonders auch die Pliensauvorstädter<br />

Arbeiterschaft einen erheblichen Anteil. Von Anfang an wohnten<br />

hier vorwiegend Arbeiter und entsprechend hoch fielen<br />

bei allen Wahlen die Stimmenanteile der Arbeiterparteien<br />

aus. SPD und KPD erreichten zusammen jeweils annähernd 75<br />

Prozent; zeitweilig lagen die Kommunisten bei der Stimmenauszählung<br />

sogar vor den Sozialdemokraten. Auch die Gewerkschaften<br />

waren im Stadtteil stark verwurzelt. Mehrere<br />

große Streikbewegungen der Stadt <strong>Esslingen</strong> nahmen hier<br />

ihren Ausgang, oft von einer der Arbeiterkneipen, in denen<br />

häufig berühmte sozialdemokratische Redner zu Gast waren.<br />

Vor dem Hintergrund fehlender öffentlicher Einrichtungen und<br />

Plätze hatten diese Versammlungslokale als Treffpunkte und<br />

Kommunikationsorte eine besondere Bedeutung.<br />

Seit der ersten großen Wirtschaftskrise <strong>Esslingen</strong>s am Ende<br />

des 19. Jahrhunderts und der darauf folgenden Radikalisierung<br />

der Arbeiterbewegung nahm die Entfremdung zwischen<br />

dem Arbeiterstadtteil Pliensauvorstadt und dem bürgerlichen<br />

<strong>Esslingen</strong> jenseits des Neckars, die das Verhältnis zwischen<br />

der Stadt <strong>Esslingen</strong> und der ‚falschen’ Uferseite des Neckars<br />

schon immer geprägt hatte noch einmal zu.


2.1.3 Ein eigener Stadtteil nach dem Krieg<br />

In den Jahren von 1950 bis 1970 wuchs die Fläche der Pliensauvorstadt<br />

noch einmal um fast das Doppelte an. <strong>Esslingen</strong> hatte<br />

kaum kriegsbedingte Zerstörungen hinzunehmen und in der<br />

Pliensauvorstadt konnten in den Kriegsjahren sogar noch mehr<br />

als Hundert neue Mietwohnungen errichtet werden 1. Entsprechend<br />

groß war der Zustrom an Evakuierten und Heimatvertriebenen<br />

nach <strong>Esslingen</strong> und besonders in die Pliensauvorstadt 2.<br />

Es war wahrscheinlich die Zwangsräumung gerade dieser,<br />

während des Krieges erbauten und frisch bezogenen Wohnungen,<br />

weshalb die Einquartierung „der Letten“ in der Erinnerung<br />

der Pliensauvorstädter noch heute eine besondere Rolle spielt.<br />

Einem Beschluss der amerikanischen Militärregierung zufolge<br />

mussten im Herbst 1945 für rund 3000 lettische Displaced<br />

Persons innerhalb von zwei Tagen 335 Wohnungen<br />

geräumt werden, was ungefähr einem Viertel des damaligen<br />

Stadtteils entsprach. Die rund 1300 Esslinger Bewohner wurden<br />

in andere Haushalte und in Sammellager einquartiert.<br />

Von der Zwangsräumung waren, da es sich um Gebäude der<br />

Esslinger Wohnungsbaugesellschaft handelte, vor allem kinderreiche<br />

Familien, Flüchtlinge und vereinzelt auch politisch<br />

Verfolgte betroffen, was nicht zur Akzeptanz der Maßnahme<br />

beitrug, zumal die ausquartierten Esslinger erst 1950 wieder<br />

in ihre Wohnungen zurückkehren konnten 3.<br />

Zwischen 1950 und 1961 wuchs die Zahl der Pliensauvorstädter<br />

vor allem durch Flüchtlinge und Vertriebene um dreißig Prozent<br />

auf 8636 Einwohner an. Für 1956 ist bekannt, dass die Pliensauvorstadt<br />

fast zur Hälfte von Heimatvertriebenen bewohnt<br />

wurde, die ihre eigene Kultur, Religion, Dialekte und Bräuche<br />

mitbrachten 4. Als ein Ergebnis dieser Zuwanderung wurde 1966<br />

die katholische Kirche St. Elisabeth eingeweiht 5.<br />

Räumungsplan für Displaced Persons.<br />

Als Displaced Persons wurden im Sprachgebrauch<br />

der Alliierten Menschen bezeichnet,<br />

die während der NS-Herrschaft<br />

Zwangsarbeiter waren und die weder in<br />

ihre Heimat zurück konnten noch wollten.<br />

Bis zur Ausreise in ein Drittland standen<br />

sie unter der Verwaltung der Alliierten. In<br />

<strong>Esslingen</strong> handelte es sich um Zwangsarbeiter<br />

aus Lettland sowie um Bürger der<br />

kurzzeitig existierenden Republik Lettland,<br />

die vor dem Vormarsch der Roten Armee<br />

nach Westen flüchteten.<br />

1 Esslinger Wohnungsbau GmbH 1986,<br />

S. 24 ff.<br />

2 Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 1991, S. 147 ff.<br />

3 Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 1991, S. 148<br />

und S. 389 ff.<br />

4 Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 1989, S. 59<br />

5 Ottersbach, Ziehr 2001, S. 141<br />

ESSLINGEN 2030 15


16 ESSLINGEN 2030<br />

DER ORT DES DISKURSES<br />

2.1<br />

2.1.4 Den Anschluss verloren – und wieder gewonnen?<br />

Nach 1961 nahm die Bevölkerungszahl kontinuierlich wieder<br />

ab. Die kleinen Zwei- und Dreizimmerwohnungen wiesen zum<br />

Zeitpunkt ihrer Entstehung noch einen vergleichsweise hohen<br />

Wohnstandard auf, waren aber für einkommensstärkere<br />

Schichten ab Mitte der sechziger Jahren immer weniger<br />

attraktiv. Noch in den siebziger Jahren hatten einige Gebäude<br />

nur Gemeinschaftsbäder im Keller. Die Wohnungsgesellschaften<br />

hatten den richtigen Zeitpunkt für Erneuerung verpasst und<br />

die Pliensauvorstadt verlor als Wohnstandort in Konkurrenz<br />

zu anderen Stadtteilen an Attraktivität. In freiwerdende Mietund<br />

Sozialwohnungen zogen seit den siebziger Jahren verstärkt<br />

Gastarbeiter ein, schon 1976 lag der Ausländeranteil<br />

höher als in der Gesamtstadt.<br />

Für viele Esslinger ist die Pliensauvorstadt bis heute die<br />

„falsche“ Neckarseite, ein Stadtteil, den man nicht kennt und<br />

dessen Bedeutung für <strong>Esslingen</strong> nicht deutlich wird. So fällt<br />

es leicht, hier Einrichtungen vorzusehen, die man – wie zu Zeiten,<br />

als die Stadtmauer noch stand – nicht in der Stadt haben<br />

wollte. In der Pliensauvorstadt befinden sich heute ein Asylbewerberheim<br />

und ein Wohnheim für Jugendliche. Ein Verein<br />

für die Wiedereingliederung Obdachloser verwaltet einige<br />

Wohnungen im Stadtteil. In den neunziger Jahren wurden Planungen,<br />

das neue Amtsgericht auf der Gewerbebrache der ehemaligen<br />

Firma Bohner&Köhle unterzubringen, wieder fallengelassen,<br />

was im Stadtteil große Enttäuschung hervorgerufen<br />

hat. Die Pliensauvorstadt hat ihre Entwicklung dennoch wieder<br />

in die eigenen Hände genommen: In Zusammenhang mit Konflikten<br />

um den Jugendtreff gründete sich ein Runder Tisch. In<br />

einer Zukunftswerkstatt im Mai 2000 konnte der Stadtteil<br />

eigene Vorstellungen entwickeln und wirksam in die Stadtöffentlichkeit<br />

tragen.


2.2<br />

2.2.1<br />

Die Pliensauvorstadt als physischer Raum<br />

Die Lage im Verhältnis zur Stadtmitte und anderen Stadtteilen<br />

Die Pliensauvorstadt ist in alle Richtungen abgetrennt, begrenzt<br />

und nicht mit dem Rest der Stadt verbunden. Nach Norden<br />

bilden die Eisenbahnhauptverkehrstrecke von Stuttgart<br />

nach München, der Neckar und die autobahnähnlich ausgebaute<br />

Bundesstraße 10 eine starke Zäsur zur historischen<br />

Stadtmitte. Nach Süden hin steigt die Topografie zur Filderebene<br />

an und der Hang ist nur entlang der Straße nach Zollberg<br />

kontinuierlich bebaut. Der Eisberg schiebt sich im Osten<br />

so weit an den Neckar heran, dass für die Bebauung nur ein<br />

schmaler Zwickel südlich der B 10 zur Verfügung steht. Von<br />

Westen her gesehen bildet der Stadtteil im Grunde den Esslinger<br />

Stadtrand, denn die weiter westlich gelegenen Ortsteile<br />

Weil und Brühl sind so stark von heterogenen Nutzungen<br />

und von Marginalisierung geprägt, dass sie kaum als gleichwertige<br />

Nachbarn in Betracht gezogen werden können. Mit<br />

den anderen Ortsteilen im Neckartal verbindet die Pliensauvorstadt<br />

die Beeinträchtigung der Wohnqualität durch dichte<br />

Bebauung, Lärm und Luftverschmutzung.<br />

ESSLINGEN 2030 17


18 ESSLINGEN 2030<br />

Villen am südlichen Neckarufer<br />

Westliche Stadtteilgrenze 1953<br />

<strong>Esslingen</strong>s erste Hochhäuser<br />

DER ORT DES DISKURSES<br />

2.2<br />

2.2.2 Die Bauphasen des Stadtteils – wie aus dem Lehrbuch<br />

Als 1865 am südlichen Brückenkopf mit dem Bau der Vorstadt<br />

begonnen wurde, bildeten Fabriken, die Villen der Fabrikbesitzer<br />

und erste Mietwohnungen der Arbeiterschaft den Nukleus<br />

des Stadtteils. Zwischen 1904–1910 entstanden am<br />

südlichen Neckarufer sogar in einer der damals besten Lagen<br />

<strong>Esslingen</strong>s zehn Villen im „altdeutschen Baustil“. Ihre besondere<br />

Lagequalität war die Nähe zur grünen Talaue an der Allee<br />

nach Sirnau, fern von innerstädtischer Enge und Umweltbelastung.<br />

Von dieser räumlichen Qualität ist heute in unmittelbarer<br />

Nachbarschaft zur stark befahrenen Bundesstraße nichts<br />

geblieben. Ansonsten ist der östliche und älteste Bereich traditionell<br />

von relativ dichter, drei- bis viergeschossiger nutzungsgemischter<br />

Blockrandbebauung geprägt. Zum sich südlich<br />

anschließenden Hang wird die Bauweise wieder weniger<br />

dicht und repräsentativere Einzelhäuser prägen das Straßenbild.<br />

Zwischen den Weltkriegen und sogar noch während des<br />

zweiten Weltkrieges wurde in der Pliensauvorstadt Wohnraum<br />

für Arbeiter und Angestellte geschaffen, aus dieser Zeit<br />

stammt überwiegend Mietwohnungsbau mit heute einfachen<br />

und kleinen Wohnungen niedrigen Wohnstandards.<br />

Die Zwischenkriegs- und die ältesten Nachkriegsgebäude<br />

führen die Tradition des straßenbegleitenden Geschosswohnungsbaus<br />

noch fort, allerdings schon mit breiterer und begrünter<br />

Abstandsfläche zur Straße. Beim Bau der ersten vier<br />

zehngeschossigen Punkthochhäuser <strong>Esslingen</strong>s, zwischen<br />

1953 bis 1954 in der Pliensauvorstadt errichtet, wurden innovative<br />

und rationelle Techniken angewendet. Zusammen mit<br />

der Wohnbebauung um die Schubartanlage herum sind sie<br />

geradezu prototypisch für den Städtebau nach dem Leitbild der<br />

„gegliederten und aufgelockerten Stadt“. Südlich schließen<br />

Reihenhäuser in privatem Eigentum an. Zwischen 1970 und<br />

1975 entstanden am westlichen Rand des Stadtteils drei weithin<br />

sichtbare Punkthochhäuser.<br />

Nach dem Ausbau der Bundesstraße 10 gegen Ende der<br />

fünfziger Jahre wurde das verkehrsgünstig gelegene Gewerbegebiet<br />

entlang des nördlichen Gebietsrandes erschlossen<br />

und bebaut.<br />

Bis Anfang der neunziger Jahre blieben in der Mitte des<br />

Stadtteils dreieinhalb Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche,<br />

die sogenannte Breite, frei von Bebauung. An ihrem westlichen<br />

Rand wurden dann Mitte der neunziger Jahre drei mehrspännige<br />

Geschossbauten als Mietwohnungen des sozialen<br />

Wohnungsbaus errichtet, für die die Architekten 1999 den<br />

Hugo-Häring-Preis erhielten. Allerdings entzündete sich im<br />

Stadtteil an der unsensiblen und einseitigen Belegungspraxis<br />

Kritik. Noch heute liegen zweieinhalb Hektar Ackerland mitten<br />

im Wohngebiet, deren Überbauung eine Chance böte, die Teilräume<br />

städtebaulich zu verbinden.


2.2.3 Wie wirkt der Stadtteil heute?<br />

Weil sich die Pliensauvorstadt in ihren physischen Merkmalen<br />

deutlich von anderen Stadtteilen <strong>Esslingen</strong>s unterscheidet,<br />

stärkt dies die Außenseiterrolle, die sie innerhalb der Gesamtstadt<br />

einnimmt.<br />

Sie ist von der Kernstadt <strong>Esslingen</strong>s nicht nur durch die Bundesstraße,<br />

die Eisenbahn und den Neckar getrennt, sondern ist<br />

mit der Altstadt und den anderen Esslinger Stadtteilen nur<br />

sehr schlecht vernetzt. Von der Altstadt her ist die Pliensauvorstadt<br />

für Autofahrer nur durch Beschilderung auffindbar<br />

und nur über eine einzige Brücke zu erreichen, die den östlichsten<br />

Rand des Stadtteils mit der inneren Ringstraße verbindet.<br />

Folgt man dann dem Verlauf der Hauptstraße, verlässt<br />

man die Pliensauvorstadt, ehe man den Kernbereich auch nur<br />

gesehen hat. Diese Durchfahrt wird von unattraktiven Nutzungen<br />

flankiert, unter anderem säumen ein Sexshop, ein einstöckiges<br />

Lebensmittellädchen und ein Parkplatz das kurze<br />

Straßenstück.<br />

Für Fußgänger gibt es nur die Verbindung über die Pliensaubrücke,<br />

und auch diese ist nicht besonders attraktiv. Die<br />

Pliensaubrücke war ursprünglich die Fortsetzung von <strong>Esslingen</strong>s<br />

Hauptgeschäftsstraße, der Pliensaustraße. Im Zuge der<br />

Sicherung des Bahnübergangs wurde der nördliche Brückenkopf<br />

verlängert und erhielt eine Rampe, die diese Verbindung<br />

unterbricht und stattdessen parallel zum Innenstadtring verläuft.<br />

Der Eindruck, den diese Konstruktion an den Fußgänger<br />

vermittelt, ist unattraktiv und abweisend.<br />

Auf der Pliensauvorstädter Seite des Brückenkopfes ist die<br />

Orientierung ebenfalls schwierig: Der Fußgänger steht auf einer<br />

überdimensionierten Kreuzung ohne eindeutige räumliche<br />

Begrenzung. Es gibt zwei Pavillons aus den achtziger Jahren,<br />

Der Stadteingang für Fußgänger<br />

ESSLINGEN 2030 19


20 ESSLINGEN 2030 DER ORT DES DISKURSES<br />

Stuttgarter Straße<br />

Verkehrsberuhigter Bereich<br />

Gewerbebrache Bohner & Köhle<br />

2.2<br />

in einem befindet sich ein türkischer Supermarkt, im anderen<br />

ein Döner-Imbiss. Die andere Straßenseite ist nur durch Unterführungen<br />

zu erreichen, die schlecht gepflegt und unwirtlich<br />

wirken.<br />

Wenn man sich von der Pliensaubrücke in den Stadtteil hineinbegibt,<br />

bleibt der Eindruck einer ungepflegten, desolaten<br />

Umgebung zunächst bestehen. Besonders entlang der Stuttgarter<br />

Straße, die die Hauptstraße der Pliensauvorstadt ist,<br />

fällt der schlechte Zustand der Bordsteine und Beläge ins<br />

Auge. Dieser Bereich war Ende der siebziger Jahre nicht in das<br />

14-Städte-Programm einbezogen worden, in dessen Zusammenhang<br />

in einem Gebietsteil der Straßenraum aufgewertet<br />

und verkehrsberuhigt wurde. Hinzu kommen verfallende, ehemals<br />

industriell genutzte Gebäude und Grundstücke und,<br />

auch in den neueren Gebäuden, leerstehende Geschäftsräume.<br />

In unmittelbarer Nähe zur Stuttgarter Straße befinden sich<br />

die größten Bestände des Mietwohnungsbaus, der in den<br />

dreißiger und fünfziger Jahren von institutionellen Trägern errichtet<br />

wurde. Hier zeigen sich ähnliche Probleme, auch wenn<br />

bei der derzeitigen angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt<br />

keine Leerstände auftreten. Dennoch: Hier ist die Fluktuation<br />

hoch, der gemeinschaftliche Freiraum nur mäßig<br />

attraktiv, die Häuser wirken abweisend und abgenutzt. Die<br />

Wohnungen sind zum Teil stark überbelegt, was auch daran<br />

liegt, dass es sich hauptsächlich um Zwei- und Dreizimmerwohnungen<br />

handelt und passender Wohnraum für große Familien<br />

fehlt.<br />

Demgegenüber gibt es in den südlichen Randlagen auch<br />

attraktive Wohngebiete und gepflegte Häuser, deren Bewohner<br />

mit ihrem Wohnumfeld zufrieden sind. Aber diese bestimmen<br />

nicht das Bild, das Außenstehende von der Pliensauvorstadt<br />

haben, gerade auch, weil dieser Teil der Pliensauvorstadt mit<br />

dem Rest <strong>Esslingen</strong>s so schlecht vernetzt ist, dass er von Auswärtigen<br />

kaum wahrgenommen wird (werden kann).<br />

In diesem Bereich treten die beiden Kirchen des Stadtteils<br />

als städtebauliche Dominanten in Erscheinung. Obwohl es<br />

sich bei der evangelischen Südkirche von Martin Elsaesser sogar<br />

um ein Baudenkmal von überörtlicher Bedeutung handelt,<br />

sind diese Bauten außerhalb des Stadtteils kaum bekannt,<br />

und sie werden nicht ortsprägend wirksam.<br />

Das gleiche gilt für das Kulturzentrum Dieselstraße, das im<br />

Gewerbegebiet am Nordrand des Stadtteils liegt und sich über<br />

<strong>Esslingen</strong> hinaus regional orientiert. Auch diese Einrichtung<br />

wird in ihrer Bedeutung nicht mit dem Stadtteil in Verbindung<br />

gebracht.<br />

Nach dem Wegfall der ehemals identitätsstiftenden Industrie<br />

in den siebziger Jahren bleibt der Stadtteil auf den von<br />

außen überwiegend mit dem „Sozialen Wohnungsbau“ in Verbindung<br />

gebrachten Wohnstandort beschränkt. Dessen Qualitäten,<br />

die vor allem in einer großzügigen Durchgrünung gesehen<br />

werden, reichen aber offensichtlich für eine positive<br />

Imagebildung nicht aus.


2.3<br />

2.3.1<br />

Die Pliensauvorstadt als Ort<br />

des Sozialen und der Kultur<br />

Ein Familienstadtteil mit vielen Kindern und Ausländern<br />

Mit ein paar Daten aus der amtlichen Statistik, besonders<br />

aber durch die Antworten aus der repräsentativen Bewohnerbefragung<br />

lässt sich ein Bild der Bewohner zeichnen: Wer lebt<br />

dort, wie setzen sich die Haushalte zusammen? Woher stammen<br />

die Bewohner? Wie äußern sich Bindungen an den Ort? Soweit<br />

nicht andere Quellen angegeben wurden, stammen alle Daten<br />

aus der repräsentativen Befragung, die Ende 2001 und Ende<br />

2002 in der Pliensauvorstadt durchgeführt wurde.<br />

In der Pliensauvorstadt leben heute rund 5700 Menschen. Es<br />

ist ein Stadtteil, in dem mit einem Anteil von 59 Prozent vergleichsweise<br />

viele Familien mit Kindern wohnen. Die Zahl der<br />

Kinder unter 15 Jahren ist im Verhältnis zur Esslinger Gesamtstadt<br />

besonders hoch. Nimmt man aber die Haushalte als<br />

Maßstab, dann sind Haushalte mit Kindern mit 37 Prozent freilich<br />

eine Minderheit – wie in fast allen Städten – denn zwei<br />

Drittel sind Haushalte ohne Kinder, etwa zu gleichen Teilen<br />

Paare oder allein Lebende.<br />

Die Zahl der Haushalte allein Erziehender mit mindestens<br />

einem Kind liegt in der Pliensauvorstadt bei 6,7 Prozent und<br />

damit ein Prozent höher als in <strong>Esslingen</strong> und drei Prozent<br />

höher als in den bevorzugten Höhenstadtteilen 6.<br />

Bevölkerung im April 2000 nach Lebensformtypen in Deutschland<br />

Allein Erziehende und<br />

Kind ohne Partner 7%<br />

Paar und Kinder 47%<br />

2% Sonstige<br />

17% Allein Lebende<br />

27% Paar ohne Kinder<br />

Personen in den befragten Haushalten nach Lebensformtypen<br />

in der Pliensauvorstadt<br />

Allein Erziehende und<br />

Kinder ohne Partner 4% 2% Wohngemeinschaften<br />

Paar und Kinder 56%<br />

12% Allein Lebende<br />

26% Paar ohne Kinder<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt 2002<br />

Quelle: Repräsentative Bürgerbefragung,<br />

Weeber+Partner 2001/2002<br />

6 Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 1999<br />

ESSLINGEN 2030 21


22 ESSLINGEN 2030<br />

Quelle: Repräsentative Bürgerbefragung,<br />

Weeber+Partner 2001/2002<br />

Migrationshintergrund: Relevant ist die<br />

Herkunft und nicht die Staatsangehörigkeit.<br />

Also zählen in der Befragung neben<br />

Aussiedlern auch Menschen dazu, die<br />

ohne deutschen Pass geboren wurden,<br />

aber innerhalb der letzten zehn Jahre<br />

eingebürgert wurden.<br />

7 Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 2002<br />

8 Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 1998, S. 22, 26<br />

9 Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 1989, S. 59, 67<br />

10 Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 2002<br />

11 Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 2000<br />

DER ORT DES DISKURSES<br />

2.3<br />

Haushalte in der Pliensauvorstadt nach Lebensformtypen<br />

Allein Erziehende 3% Wohngemeinschaften<br />

ohne Partner 3%<br />

Paar und Kinder 34%<br />

30% Allein Lebende<br />

30% Paar ohne Kinder<br />

Zur Bevölkerung in der Pliensauvorstadt gehören heute besonders<br />

viele Menschen ohne deutschen Pass. 35 Prozent der<br />

Einwohner in der Pliensauvorstadt sind Ausländer, in <strong>Esslingen</strong><br />

sind es 21 Prozent und wenn man in vier beispielhafte<br />

Höhenstadtteile <strong>Esslingen</strong>s geht, dann sinkt der Wert auf<br />

sechs Prozent 7. Noch deutlich höher liegt die Zahl nach der repräsentativen<br />

Bewohnerbefragung, hier gaben rund die Hälfte<br />

der Männer und vierzig Prozent der Frauen an, einen Migrationshintergrund<br />

zu haben.<br />

Fast die Hälfte der Pliensauvorstädter Kinder unter 15 Jahren<br />

hat einen ausländischen Pass, in ganz <strong>Esslingen</strong> nur rund ein<br />

Viertel und in den Höhenstadtteilen acht Prozent. Sechzig Prozent<br />

der Schüler der in der Pliensaugrundschule und 74 Prozent<br />

der Hauptschüler im Stadtteil stammen aus Migrantenfamilien<br />

8.<br />

Diese Struktur hat Tradition im Stadtteil. Im Jahr 1956 waren<br />

41 Prozent der Einwohner Heimatvertriebene aus Schlesien,<br />

Pommern und dem Sudetenland. Heute stellen sie einen<br />

großen Teil der alten Menschen in der Pliensauvorstadt. In der<br />

Folge der Anwerbeabkommen mit den Ländern Süd- und Südosteuropas<br />

kamen neue Zuwanderer in den Stadtteil. Bereits<br />

1988 lag der Ausländeranteil in der Pliensauvorstadt um neun<br />

Prozentpunkte über dem von <strong>Esslingen</strong> 9.<br />

Unter den Ausländern sind heute die Türken die größte Einzelgruppe,<br />

sie stellen einen Anteil von zehn Prozent der gesamten<br />

Einwohner der Pliensauvorstadt, gefolgt von den Griechen<br />

mit acht Prozent, den Menschen aus Ex-Jugoslawien mit sieben<br />

Prozent und den Italienern mit fünf Prozent 10.<br />

Dass ein großer Teil der Bewohner zu den wirtschaftlich und<br />

sozial Benachteiligten gehört, belegen die folgenden Daten:<br />

Der Anteil der Sozialhilfeempfänger betrug Ende 2000<br />

sechseinhalb Prozent und lag damit in <strong>Esslingen</strong> an zweithöchster<br />

Stelle. Für die Gesamtstadt gelten vier Prozent und<br />

in den Höhenstadtteilen liegt der Wert nur bei einem Prozent<br />

11. In der Pliensauvorstadt nahm er auch im letzten Jahr<br />

zu, während es in den übrigen Stadtteilen eine leicht rückläufige<br />

Entwicklung gab. Innerhalb des Stadtteils konzentrieren<br />

sich die Sozialhilfeempfänger in den zentraleren Lagen. Auch<br />

die Zahl der Wohngeldempfänger ist überdurchschnittlich.<br />

Nur ein kleiner Teil der Erwachsenen in der Pliensauvorstadt<br />

hat weiterführende Schulen besucht, bei fast der Hälfte ist die<br />

Volks- oder Hauptschule höchster Schulabschluss. Das Abitur<br />

hat nur ein Zehntel gemacht (repräsentative Bewohnerbefragung).


2.3.2 Örtliche Bindungen: Wohnen, Aktionsräume und Identifikation<br />

Mit dem Slogan „Die Stadt ist die Region“ wird der Trend zu<br />

immer großräumiger werdenden Verflechtungen und Lebensräumen<br />

der Menschen in den Stadtregionen beschrieben.<br />

Daher stellt sich die Frage, welche Rolle <strong>Esslingen</strong> und die<br />

Pliensauvorstadt als Bezugsraum heute noch spielen.<br />

Zwar ist die Pliensauvorstadt stark geprägt von Menschen<br />

mit Migrationshintergrund, das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass immerhin jeder zehnte Bewohner seit der<br />

Geburt in der Pliensauvorstadt lebt. Das trifft noch stärker auf<br />

die Jüngeren zu, von denen sogar jeder Fünfte in <strong>Esslingen</strong> geboren<br />

wurde.<br />

Auch beim Wohnen gibt es eine große Beständigkeit. Zwar<br />

sind ein Viertel – überwiegend jüngere – in den letzten Jahren<br />

in die Pliensauvorstadt zugezogen, aber rund die Hälfte von<br />

ihnen hat vorher schon in einem anderen Stadtteil <strong>Esslingen</strong>s<br />

gelebt.<br />

Wer in der Pliensauvorstadt wohnt, tut dies lange. Auch in<br />

nächster Zukunft ist keine übermäßige Fluktuation zu erwarten,<br />

denn viele wollen auch in der Pliensauvorstadt bleiben.<br />

Nur vier Prozent wollen so bald wie möglich ausziehen, 13 Prozent<br />

in absehbarer Zeit. Als die wichtigsten Auszugsgründe<br />

wurden der Wunsch nach besserer Wohnqualität genannt,<br />

aber auch, dass die jetzige Nachbarschaft nicht gefällt. Die<br />

Jüngeren sind weniger zufrieden mit ihrem Stadtteil und ihrer<br />

Wohnsituation, sie ziehen häufiger um und auch am ehesten<br />

aus der Pliensauvorstadt fort.<br />

Die Bindung an den Wohnort hat aber nur wenig Auswirkung<br />

auf den Aktionsraum. Einkaufen, Ausgehen und Arbeiten<br />

spielen sich weitgehend außerhalb der Pliensauvorstadt ab,<br />

hauptsächlich in <strong>Esslingen</strong> und teilweise in der Region. Auch<br />

der Freundeskreis ist oft nicht mehr mit dem Stadtteil verknüpft,<br />

besonders bei den Jüngeren. Dennoch ist das Interesse<br />

am Stadtteilleben groß.<br />

Etwas mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen arbeiten in<br />

<strong>Esslingen</strong>. Männer arbeiten fast genau so häufig in Stuttgart<br />

oder der Region (45 Prozent), bei den erwerbstätigen Frauen<br />

ist die Orientierung auf die Region geringer. Für den Lebensmitteleinkauf<br />

gehen mehr als ein Drittel in die Innenstadt und<br />

die großen Verbrauchermärkten in der Region. Auch hier gilt:<br />

besonders die Jüngeren kaufen wenig vor Ort ein.<br />

Während die über sechzigjährigen fast alle guten Freunde<br />

oder Bekannten in der Pliensauvorstadt haben, liegt der<br />

Freundes- und Bekanntenkreis bei den Jüngeren häufig außerhalb<br />

des Stadtteils. In der Freizeit werden am häufigsten Kulturveranstaltungen<br />

aufgesucht, die ja überwiegend in der Innenstadt<br />

stattfinden; dennoch binden Elternveranstaltungen<br />

in Kindergarten und Schule sowie kirchliche Aktivitäten an<br />

den Stadtteil und werden von vierzig Prozent zumindest gelegentlich<br />

besucht. Und gut die Hälfte der Pliensauvorstädter<br />

sagt von sich, dass sie sich für alles interessieren, was sich im<br />

Stadtteil tut. Die Pliensauvorstädter sind gut informiert, denn<br />

mehr als die Hälfte liest auch regelmäßig die Esslinger Zeitung<br />

und immerhin noch etwas mehr als ein Drittel interessiert sich<br />

für die Esslinger Kommunalpolitik.<br />

Emotionale Bindungen sind allerdings hauptsächlich auf<br />

die Stadt <strong>Esslingen</strong> orientiert. Bei den Jüngeren hängt das<br />

Herz deutlich stärker an <strong>Esslingen</strong> als an der Pliensauvorstadt,<br />

nur die älteren Befragten sind sowohl „Vorstädter“ als<br />

auch „Esslinger“. Annähernd die Hälfte nennt <strong>Esslingen</strong> als<br />

Antwort auf die Frage „Was betrachten Sie als ihre Heimat?“,<br />

Mehr als die Hälfte der Befragten lebt<br />

länger als zehn Jahre in der Pliensauvorstadt,<br />

über zwei Drittel leben sogar<br />

schon länger als zehn Jahre in <strong>Esslingen</strong>.<br />

In der Pliensauvorstadt ein Haus oder<br />

eine Wohnung zu kaufen wäre immerhin<br />

für 44 Prozent der Befragten erste Wahl.<br />

Der Rest bevorzugt andere Stadtteile von<br />

<strong>Esslingen</strong>.<br />

Die Gaststätten in der Pliensauvorstadt<br />

sind wenig attraktiv. Die Älteren suchen<br />

sie noch am ehesten auf. Jüngere gehen<br />

ganz selten in der Pliensauvorstadt in<br />

eine Gaststätte, fast zwei Drittel von<br />

ihnen bevorzugen die Esslinger Innenstadt.<br />

ESSLINGEN 2030 23


24 ESSLINGEN 2030 DER ORT DES DISKURSES<br />

„Was betrachten Sie als Ihre Heimat?“<br />

Nur etwa jeder Zehnte nennt<br />

die Pliensauvorstadt und bei<br />

17 Prozent ist es Deutschland.<br />

Stuttgart, die Region oder<br />

Baden-Württemberg spielen<br />

kaum eine Rolle.<br />

2.3<br />

bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass formal 35 Prozent<br />

Ausländer sind.<br />

Mehr als zwei Drittel fühlen sich stark mit der Pliensauvorstadt<br />

verbunden – auch hier wieder eher die Älteren: Von den<br />

unter vierzigjährigen fühlen sich 43 Prozent stark oder sehr<br />

stark mit der Pliensauvorstadt verbunden, bei den über sechzigjährigen<br />

sind es fast doppelt so viele.<br />

Nach außen wirkt der Stadtteil schlechter als ihn die Bewohner<br />

selbst sehen. Knapp die Hälfte der Befragten meint,<br />

dass die Pliensauvorstadt von außen Stehenden als eine<br />

schlechte Wohngegend eingeschätzt wird, ebenso viele sehen<br />

sie als normale Wohngegend, aber nur sehr wenige als gute<br />

Wohngegend.


2.3.3 Bindungen von Menschen mit und ohne Migrationsbiografie<br />

In der Verbundenheit mit dem Stadtteil sind Unterschiede zwischen<br />

den Menschen mit und denen ohne Migrationsbiografie<br />

auszumachen. Die Bindung ist bei befragten Migranten überdurchschnittlich<br />

stark, aber sie nehmen in geringerem Umfang<br />

an Angeboten und Aktivitäten teil.<br />

Fast zwei Drittel der Migranten geben an, dass sie häufig<br />

Kontakt zu Leuten anderer Nationalität haben, das trifft bei<br />

den nicht zugewanderten Deutschen nur auf knapp ein Drittel<br />

zu. Besonders unter den jüngeren Befragten gibt es viel Kontakt<br />

zu Leuten anderer Nationalität und Kultur, unter den Älteren<br />

sind diese Kontakte seltener. Auch sagen nur 38 Prozent<br />

der hier geborenen Deutschen, dass sie „sehr viele gute<br />

Freunde und Bekannte in der Pliensauvorstadt“ haben, fast die<br />

Hälfte der Migranten stimmt aber dieser Aussage zu. So ist es<br />

kein Wunder, dass zwei Drittel der Befragten mit Migrations-<br />

hintergrund sehr gern in der Pliensauvorstadt leben, bei den<br />

anderen sind das nur 43 Prozent. Wenn die Familien die Möglichkeit<br />

hätten, sich ein Haus oder eine Wohnung zu kaufen,<br />

würden mehr als die Hälfte der Migranten sich etwas in der<br />

Pliensauvorstadt suchen, bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund<br />

nur 38 Prozent.<br />

Aber: Die Migranten nehmen am sozialen und kulturellen<br />

Leben weniger teil. Das ist nur bei religiösen Veranstaltungen<br />

anders: Sie werden, im Vergleich zu den Nicht-Migranten, von<br />

einem etwas größeren Teil der zugewanderten Menschen regelmäßig<br />

oder gelegentlich besucht. Insgesamt trifft auch für<br />

die Migranten zu, dass mehr als die Hälfte nicht mehr aktiv religiös<br />

eingebunden sind.<br />

Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund<br />

ist in sozialen Gruppen,<br />

Initiativen und in Sportvereinen meist<br />

um etwa die Hälfte geringer als der Anteil<br />

der einheimischen Befragten. Museum,<br />

Konzerte, Theater, Kino, Vorträge besuchen<br />

nur 38 Prozent der Migranten regelmäßig<br />

oder gelegentlich, bei den Einheimischen<br />

sind es 64 Prozent.<br />

Kinder von Migranten nehmen dagegen<br />

das örtliche Angebot stärker wahr. Das<br />

Jugendhaus im Stadtteil wird von 31 Prozent<br />

der Kinder aus Migrantenfamilien<br />

oft oder gelegentlich besucht, bei den<br />

Kindern aus Familien ohne Migrationsbiografie<br />

sind es nur 25 Prozent. Sportvereine<br />

werden von allen Kindern ähnlich<br />

häufig besucht, allerdings nutzen Kinder<br />

aus Migrantenfamilien häufiger die<br />

Sportangebote in der Pliensauvorstadt.<br />

ESSLINGEN 2030 25


26 ESSLINGEN 2030<br />

Die vergleichsweise starke Stellung der<br />

kommunalen Verwaltung gegenüber den<br />

kommunalpolitischen Gremien, die dieses<br />

Modell ohnehin kennzeichnet, wird<br />

in der Süddeutschen Ratsverfassung Baden-Württembergs<br />

noch einmal verstärkt.<br />

Der Bürgermeister vereinigt in<br />

seiner Person drei Funktionen, die ihn –<br />

im Vergleich zu Kommunalverfassungen<br />

anderer Bundesländer – mit einer ungeheuren<br />

Machtfülle ausstatten: Chef der<br />

Verwaltung, Vorsitzender des Gemeinderates<br />

und seiner Ausschüsse, Repräsentant<br />

der Gemeinde nach ‚innen’ und ‚außen’,<br />

hinzu kommt noch sein Recht, ohne Abstimmung<br />

mit dem Gemeinderat so genannte<br />

Eilentscheidungen zu treffen.<br />

Dass der Bürgermeister durch direkte<br />

Volkswahl gewählt wird, verleiht ihm –<br />

und verpflichtet ihn gleichzeitig dazu –<br />

eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber<br />

dem Rat, vor allem auch seiner eigenen<br />

Fraktion (wenn er einer Partei angehört;<br />

in Baden-Württemberg sind fast die Hälfte<br />

der Verwaltungschefs parteilos).<br />

DER ORT DES DISKURSES<br />

2.4<br />

2.4.1<br />

2.4<br />

Die Pliensauvorstadt als Teil der<br />

politischen und verwalteten Stadt<br />

Kommunale Selbstverwaltung in Baden-Württemberg<br />

<strong>Esslingen</strong>s Kommunalpolitik wird durch die ‚Süddeutsche<br />

Ratsverfassung’ geprägt, ein spezifisches Modell kommunaler<br />

Selbstverwaltung, das außer Baden-Württemberg, mit<br />

geringfügigen Variationen, auch Bayern und ostdeutsche<br />

Bundesländer kennzeichnet. Zudem kennt Baden-Württemberg<br />

das Modell der Bürgerausschüsse als eine von allen<br />

Einwohnern des Stadtteils gewählte Vertretung. Um die spezifische<br />

Situation in der Pliensauvorstadt zu verstehen,<br />

muss man also die Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung<br />

kennen.<br />

Lokale Politik ist in Deutschland, wie schon der Begriff der<br />

‚kommunalen Selbstverwaltung‘ andeutet, traditionell stark<br />

verwaltungsdominiert. Bei einem großen Teil der kommunalen<br />

Aufgaben handelt es sich um ‚weisungsgebundene Aufgaben’<br />

ohne jeden eigenen Gestaltungsspielraum durch die<br />

Kommune (so genannte ‚Pflichtaufgaben nach Weisung‘ wie<br />

zum Beispiel Sozialhilfe oder ‚staatliche Aufgaben‘ wie Polizeiaufgaben,<br />

in denen die Kommunen als staatliche Unterbehörde<br />

fungieren). Handlungsspielraum für lokale Politik im<br />

engeren Sinn gibt es bei den ‚weisungsfreien Aufgaben‘, unterschieden<br />

nach sogenannten ‚Pflichtaufgaben ohne Weisung’,<br />

die durch die Kommune erledigt werden müssen, aber<br />

in der Art und Weise der Erledigung gestaltet werden können<br />

(Beispiel Schulen), und den ‚freiwilligen Aufgaben‘, die ganz<br />

allein dem Belieben der Kommune unterliegen (Beispiel<br />

Schwimmbad, Bibliothek). Nur bei den weisungsfreien Aufgaben<br />

entscheidet der Gemeinderat, bei den weisungsgebundenen<br />

Aufgaben trifft allein der Bürgermeister als Verwaltungschef<br />

alle Entscheidungen, allerdings eng an die Vorgaben<br />

höherer Politikebenen gebunden.<br />

Kommunalpolitik ist also in Baden-Württemberg entweder<br />

voll identisch mit kommunaler Verwaltung oder doch stark dominiert<br />

durch die kommunale Verwaltung. Aus diesem Grund<br />

müssen bei einer Betrachtung der Kommunalpolitik im Jahr<br />

2030 im siebten Kapitel sowohl die Strukturen der kommunalen<br />

Verwaltung als auch der kommunalpolitischen Gremien in<br />

den Blick kommen.<br />

Eine weitere Besonderheit Baden-Württembergs stellen die<br />

‚Bürgerausschüsse‘ dar. Sie entstanden seit 1948 und verstehen<br />

sich als Foren bürgerschaftlicher Meinungsbildung. Sie<br />

gestalten das kommunale Leben in <strong>Esslingen</strong> durch ihre ehrenamtliche<br />

Vertretung von Stadtteilbelangen maßgeblich mit.<br />

Aufgabenstellung, Zusammensetzung, Arbeitsweise und Rechte<br />

der Bürgerausschüsse sind in einem Statut bzw. in einer „Vereinbarung<br />

über die Zusammenarbeit der Bürgerausschüsse<br />

mit Gemeinderat und Verwaltung“ geregelt. Es besteht eine<br />

Anhörungs- sowie eine Informationspflicht des Gemeinderates<br />

bzw. der Verwaltung gegenüber den Bürgerausschüssen,<br />

wenn deren Bezirke von wichtigen Angelegenheiten betroffen<br />

sind. Über den Bürgerausschussvorsitzenden können Eingaben<br />

an den Oberbürgermeister gerichtet werden. Insgesamt<br />

gibt es in <strong>Esslingen</strong> zehn Bürgerausschüsse. Die Mitglieder<br />

werden von den jeweiligen Stadtteilbewohnern alle drei Jahre<br />

im Rahmen einer Bürgerversammlung gewählt.


2.4.2 Politische Artikulation in der Pliensauvorstadt<br />

Das ist der Rahmen, innerhalb dessen die Pliensauvorstädter<br />

ihre politischen Interessen artikulieren können. Wie stellen<br />

sich nun die politischen Willensbekundungen anhand von<br />

Wahlbeteiligung und Wahlergebnissen dar?<br />

Die Daten zur Landtagswahl 2001 zeigen den vergleichsweise<br />

geringen Anteil der Wahlberechtigten in der Pliensauvorstadt<br />

auf – während in ganz <strong>Esslingen</strong> zwei Drittel der Einwohner<br />

zur Wahlurne gehen konnten, lag der Anteil in der<br />

Pliensauvorstadt bei knapp der Hälfte. Der Grund liegt im relativ<br />

hohen Anteil von nicht-wahlberechtigten Ausländern und<br />

dem hohen Anteil von Jugendlichen unter 18 Jahren. Vom<br />

Wahlrecht haben aber in den Wahlen der letzten zehn Jahre<br />

(Bundestags- , Landtags- und Gemeinderatswahlen) nur sehr<br />

wenige Pliensauvorstädter Wähler Gebrauch gemacht. Am<br />

niedrigsten fiel die Wahlbeteiligung an der Gemeinderatswahl<br />

1999 mit 34,9 Prozent aus. Bei den letzten Landtagswahlen<br />

2001 gingen im Durchschnitt wieder zwei Drittel der Esslinger<br />

Wahlberechtigten zur Wahl, aber nur die Hälfte der Pliensauvorstädter<br />

12.<br />

Zudem sank die Beteiligung an den Landtagswahlen zwischen<br />

1992 und 2001 in der Pliensauvorstadt überdurchschnittlich.<br />

Die Pliensauvorstädter Einwohner bestimmen also<br />

kaum die Zusammensetzung der Parlamente.<br />

Wahlberechtigung<br />

Wahlbeteiligung<br />

46,7%<br />

50,1%<br />

66,1%<br />

66,3%<br />

Teilnahme an Landtagswahl 2001<br />

Quelle: Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 2001<br />

Pliensauvorstadt<br />

<strong>Esslingen</strong><br />

0% 20% 40% 60% 80% 100%<br />

Die Wahlergebnisse zeigen, dass der Stadtteil immer noch von<br />

seiner Vergangenheit als Hochburg der SPD zehrt, denn egal,<br />

ob Bundestags-, Landtags- oder Gemeinderatswahl, die SPD<br />

erhielt immer einen höheren Stimmenanteil als im gesamtstädtischen,<br />

Landes- bzw. Bundesvergleich. Das bedeutet<br />

zwar nicht, dass sie bei allen Wahlen die stärkste Kraft war,<br />

aber die jeweilige Abweichung nach oben – in Relation zu den<br />

gesamtstädtischen Wahlergebnissen – ist auffällig.<br />

Wenn es nach den wählenden Pliensauvorstädtern ginge,<br />

dann wären häufiger die Republikaner vertreten, als sie<br />

tatsächlich Einzug in die Parlamente halten konnten. So gingen<br />

1992 in der Landtagswahl sogar ein Fünftel der Wählerstimmen<br />

an die Republikaner – die Rechtsextremen haben<br />

seither aber wieder viel an Einfluss verloren. Für die Grünen<br />

und der FDP stimmen in der Pliensauvorstadt in allen Wahlen<br />

immer nur verhältnismäßig wenig Wähler.<br />

Die Pliensauvorstädter fallen also durch ihre anhaltend geringe<br />

Wahlbeteiligung und den hohen, aber zugleich auch<br />

stark schwankenden Stimmanteil für die Republikaner auf.<br />

Andere<br />

2%<br />

1%<br />

Rep.<br />

8%<br />

5,5%<br />

FDP/DVP<br />

Grüne<br />

SPD<br />

CDU<br />

5%<br />

7,5%<br />

6%<br />

7,5%<br />

42,5%<br />

39,5%<br />

36%<br />

39%<br />

Pliensauvorstadt<br />

<strong>Esslingen</strong><br />

0% 20% 40% 60% 80%<br />

Stimmenverteilung bei Landtagswahl 2001<br />

Quelle: Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 2001<br />

Auch die (rein ehrenamtlichen) Mitglieder<br />

des Gemeinderates werden in Baden-<br />

Württemberg durch das Volk direkt gewählt.<br />

Die Bürger haben dabei durch die<br />

Möglichkeiten des Kumulierens (der Häufung<br />

von Stimmen auf einen Kandidaten) und<br />

des Panaschierens (der Wahl von Kandidaten<br />

aus verschiedenen Listen) großen Einfluss<br />

auf die Zusammensetzung des Gremiums.<br />

Dieser Wahlmodus wird zwar als sehr demokratisch<br />

gelobt, führt allerdings dazu,<br />

dass vor allem Personen gewählt werden,<br />

die einen hohen Bekanntheitsgrad haben<br />

und denen die Bürger einen gewissen Vertrauensvorsprung<br />

einräumen. Sie gehen<br />

mehrheitlich Berufen nach, die ihnen vergleichsweise<br />

wenig Zeit für ihr Ehrenamt<br />

lassen (Einzelhändler, Ärzte und sonstige<br />

Freiberufler, Angehörige sozialer Berufe)<br />

und üben häufig weitere Ehrenämter aus,<br />

die gleichfalls sehr zeitintensiv sein können.<br />

Mit dem statistisch messbar knappen<br />

Zeitbudget der Mehrheit der baden-württembergischen<br />

Gemeinderatsmitglieder<br />

wächst der ohnehin immer gegebene Informationsvorsprung<br />

der hauptamtlichen Verwaltung<br />

gegenüber den ehrenamtlichen<br />

Ratsmitgliedern zwangsläufig noch stärker.<br />

12 Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 2001<br />

ESSLINGEN 2030 27


28 ESSLINGEN 2030 DER ORT DES DISKURSES<br />

Literatur zu Kapitel 2<br />

2<br />

Esslinger Wohnungsbau GmbH 1986 (Hg.): Eine Broschüre zum 50-jährigem<br />

Jubiläum der Esslinger Wohnungsbau GmbH. <strong>Esslingen</strong>.<br />

Ottersbach, Christian; Ziehr, Claudius 2001: <strong>Esslingen</strong> am Neckar.<br />

Ein kunsthistorischer Stadtführer. <strong>Esslingen</strong>.<br />

Statistisches Bundesamt 2002 (Hg.): Leben und arbeiten in Deutschland.<br />

Wiesbaden.<br />

Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 1989 (Hg.): Vierzig Jahre statistische Zahlen<br />

über <strong>Esslingen</strong> am Neckar. <strong>Esslingen</strong>.<br />

Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 1991 (Hg.): Von Weimar bis Bonn. <strong>Esslingen</strong><br />

1919–1949. <strong>Esslingen</strong>.<br />

Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 1998 (Hg.): Sozialbericht für <strong>Esslingen</strong>.<br />

<strong>Esslingen</strong>.<br />

Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 1999: Kommunalstatistik.<br />

Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 2000: Kommunalstatistik.<br />

Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 2001: Kommunalstatistik.<br />

Stadt <strong>Esslingen</strong> am Neckar 2002: Kommunalstatistik.


3 Leitbilder –<br />

Bilder, die leiten<br />

3.1<br />

3.2<br />

Zur Funktionsweise und Generierung von Leitbildern<br />

Zur Legitimität von Leitbildern am Beginn des 21. Jahrhunderts<br />

ESSLINGEN 2030 29


30 ESSLINGEN 2030<br />

1516 wurde Thomas Morus Schrift „Utopia“<br />

veröffentlicht, in der ein auf einer Insel<br />

gelegener idealer Staat beschrieben wird.<br />

1 Schmals 1992<br />

2 Steinmüller u. a. 2000, S. 9<br />

3 Enzensberger, zit. nach Schmals 1992<br />

3.1<br />

LEITBILDER – BILDER, DIE LEITEN<br />

3.1<br />

Zur Funktionsweise und Generierung von Leitbildern<br />

Gesellschaftliche Wirklichkeit steht stets in Abhängigkeit von<br />

materiellen, aber auch von ideellen, symbolischen Faktoren.<br />

Wie Menschen ihre Welt wahrnehmen, wie sie sich die Welt<br />

wünschen und welche Hoffnungen und Ängste sie mit der Zukunft<br />

verbinden, orientiert ihr Handeln und wirkt so auf die<br />

Gegenwart und die gesellschaftliche Entwicklung. Einerseits<br />

geht es im Projekt „<strong>Esslingen</strong> 2030“ um gesellschaftliche<br />

Tendenzen und plausible Erwartungen für die Stadt im Jahr<br />

2030, andererseits aber auch um Ziele, die anzustreben sind<br />

und die das Handeln leiten können. Im Fokus steht die Bewertung<br />

von Zukunftsszenarien und die Erarbeitung positiv<br />

besetzter Visionen. Ausgangspunkt sind die spezifischen örtlichen<br />

Gegebenheiten in einem Stadtteil, von besonderem Interesse<br />

sind daher die Wahrnehmungen und Erwartungen der<br />

Akteure vor Ort. Welche möglichen Entwicklungen sind im Sinne<br />

der Betroffenen bzw. Beteiligten und welche Entwicklungen<br />

laufen ihren Wünschen zuwider? Wo ist also mit Zuspruch<br />

und Engagement zu rechnen und wo mit Unzufriedenheit und<br />

Widerstand?<br />

Angeknüpft wird dabei an eine alte Tradition – der kritische<br />

Blick auf die Gegenwart und der Entwurf einer besseren Zukunft<br />

macht den Kern der Reihe von berühmt gewordenen<br />

Utopien aus, die in der Vergangenheit entwickelt wurden. Neben<br />

Visionen vom neuen Menschen und von vernünftigeren<br />

oder gerechteren sozialen Verhältnissen finden sich in den<br />

Utopien Entwürfe idealer Städte und Räume.<br />

„Denken in Utopien, utopische Vorstellungen scheinen so<br />

alt zu sein wie menschliches Denken, die Antizipation des Vorstellbaren,<br />

Gewünschten oder Verbotenen selbst. Utopien<br />

sind mit E. Bloch ,begriffene Hoffnung‘. Sie stellen Zukunfts-<br />

projektionen und alternative Denkansätze gegenüber dem<br />

lebensbedrohlichen Alltag der Gesellschaft dar. Der ,Staat‘<br />

von Platon, ,Utopia‘ von Th. Morus, der ,Sonnenstaat‘ von T.<br />

Campanella, das ,Haus Salomon‘ von F. Bacon, ,Richelieu‘ –<br />

die Idealstadt des gleichnamigen französischen Kardinals im<br />

17. Jahrhundert – von J. Lermercier, das ,Manifest der kommunistischen<br />

Partei‘ von K. Marx, die ,Charta von Athen‘ u.a. von<br />

Le Corbusier, die sich im ,Diskurs um Verständigung bemühende<br />

Kommunikationsgemeinschaft‘ von J. Habermas oder die<br />

Idee einer ,Zivil-Gesellschaft‘ in der Denktradition von A.<br />

Gramsci zeichnen eine lange Kette der utopischen Phantasieproduktion,<br />

gesellschaftliche Kritik, ,menschliche Hoffnungen‘,<br />

Träume, Prophezeiungen und Wünsche nach. Sie vermittelt<br />

uns ein historisches Bild der Auseinandersetzung mit<br />

Macht, Herrschaft und Gewalt einerseits, mit sozialer Gerechtigkeit,<br />

sozialer Gleichheit oder Toleranz andererseits.“ 1<br />

In der Zukunftsforschung, der „wissenschaftlichen Befassung<br />

mit möglichen, wünschenswerten und wahrscheinlichen<br />

Zukunftsentwicklungen und Gestaltungsoptionen sowie deren<br />

Voraussetzungen in Vergangenheit und Gegenwart“ 2, wird<br />

seit dem 19. Jahrhundert die Tradition der Utopien fortgeführt,<br />

nun aber basierend auf einem empirischen Wissenschaftsverständnis.<br />

Die Szenarien der Zukunftsforschung befassen sich<br />

nicht mehr rein normativ mit dem, was sein soll, sondern beziehen<br />

sich auf, durch die Analyse der Gegenwart, als wahrscheinlich<br />

anzunehmende Entwicklungen, ohne sich allerdings<br />

der Wertung zu enthalten.<br />

Heute ist vielfach von Utopieverlust oder dem Ende der Utopien<br />

die Rede, anstelle von optimistischem Gestaltungswillen<br />

wird „melancholiereiche Ratlosigkeit“ 3 diagnostiziert. Diese


Skepsis gegenüber utopischen Entwürfen resultiert aus<br />

historischen Erfahrungen – dem Umschlagen von Utopie in<br />

Dogmatismus, Totalitarismus und Terror 4. Argumentiert wird<br />

auch, die Aufsplitterung der Gesellschaft in vielfältige Milieus<br />

oder Lebensstilgruppen mit unterschiedlichen Werthaltungen<br />

stehe gesellschaftsumspannenden Entwürfen mit Breitenwirkung<br />

entgegen – an die Stelle der „großen Erzählungen“<br />

von früher, die Allgemeingültigkeit für sich in Anspruch<br />

nahmen, seien die vielen „kleinen Erzählungen“ aus der subjektiven<br />

Perspektive bestimmter Akteure und Akteursgruppen<br />

getreten 5.<br />

Auf der anderen Seite stehen Bemühungen, das utopische<br />

Potential zu reaktivieren und zu demokratisieren. Waren es<br />

früher intellektuelle Eliten, die ihre Zukunftsvisionen einem<br />

Lesepublikum mitteilten und um Anhänger warben, gibt es<br />

heute Bemühungen, zukunftsweisende Konzepte durch demokratische<br />

Aushandlungsprozesse zu gewinnen. Um solche<br />

Diskussionen in Gang bringen zu können, kommt seit den<br />

sechziger Jahren beispielsweise die von Robert Jungk entwickelte<br />

Methode der Zukunftswerkstatt zum Einsatz. Einen<br />

Diskurs anzustoßen, war auch der zentrale Ansatz unseres<br />

Forschungsprojekts. Die dabei besonders spannende Frage<br />

ist, ob sich die „kleinen Erzählungen“ einer pluralistischen<br />

Gesellschaft zu gemeinsamen Zukunftsentwürfen bündeln<br />

lassen, die hinreichend konkret sind, um Handeln und Planen<br />

orientieren zu können.<br />

Eine zentrale Rolle spielt dabei der Begriff des „Leitbilds“.<br />

Dieser Begriff ist nicht unumstritten. Er wird breit gestreut<br />

und zunehmend in variierenden Kontexten verwendet. Konjunktur<br />

bekam er zusätzlich durch den Jahrtausendwechsel,<br />

der den Blick „nach vorne“ öffnete. Positive Implikationen<br />

dieser Formulierung sind eine gewisse „Neugier“ und „kreative<br />

Unruhe“, sowie Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, aber<br />

auch negative Assoziationen wie Angst und Unsicherheit verbinden<br />

sich mit dem Blick in die Zukunft 6. Bemängelt wird die<br />

„spürbare Diskurs-Differenz“, d.h. eine mangelnde inhaltliche<br />

Präzision des Leitbildbegriffes 7. Deutliche Kritik wird auch in<br />

Bezeichnungen wie „Leerformel“ u. ä. deutlich. Eine wichtige<br />

Konsequenz daraus ist, dass der Begriff des Leitbilds nicht unbedacht<br />

verwendet und der sowohl rationale als auch emotionale<br />

Gehalt nicht unterschätzt werden sollte 8.<br />

Mit Hilfe von Leitbildern wird – eine erste Annäherung an<br />

den begrifflichen Gehalt – versucht, einen Blick in die Zukunft<br />

zu tun, der über die konkrete Ziel- und Maßnahmenebene hinausgeht.<br />

In der Literatur findet sich analog zur beschriebenen<br />

Begriffsdiffusion eine Bandbreite verschiedener Funktionen<br />

und Wirkungsweisen von Leitbildern. Diese können folgendermaßen<br />

zusammengefasst werden:<br />

· Strukturierung und Bündelung von Denk- und Handlungsprozessen<br />

· Beschreibung „utopischer“, langfristiger Perspektiven (bzw.<br />

Visionen) und des Weges der Umsetzung<br />

· Erleichterung von Kommunikations- und Vermittlungsprozessen<br />

· Ausschluss von anderen „Vorstellungswelten“ durch die kognitive<br />

Fixierung bestimmter Vorstellungen in einem Leitbild<br />

· Definition eines Sinnzusammenhanges, eines „Korridors“<br />

· Kollektive Prägung bestimmter Vorstellungen für die Zukunft<br />

· Beeinflussung der Denkmuster der Beteiligten<br />

· Prüf- und Kontrollfunktion für zukünftige Prozesse<br />

· Zielbestimmung, Wegbestimmung, Ressourcenbestimmung<br />

Leitbilder zu entwickeln und damit Zukunft zu gestalten ist<br />

keine einfache Aufgabe, sondern mit großen Anforderungen<br />

verbunden: Verschiedene Bedürfnisse und Ansprüche unterschiedlicher<br />

Individuen und Gruppen sollen berücksichtigt<br />

und zufriedengestellt werden. Die Leitbilddiskussion muss<br />

sich von Alltagskontexten und -problemen loslösen und gültige<br />

Leitbilder hinterfragen.<br />

Soziale und politische Probleme bzw. Aufgabenstellungen<br />

sind in unseren Köpfen meist in einer bestimmten Weise definiert<br />

sowie mit bestimmten Lösungswegen verbunden.<br />

„Wer über die Zukunft spricht, spricht über die Gegenwart“ 9.<br />

Diese heute fassbaren Leitbilder sind umso stabiler, je stärker<br />

sie von den beteiligten Akteuren akzeptiert werden. Teil<br />

des Prozesses zur Findung von Leitbildern war im Projekt<br />

4 Lyotard 1987 S. 30, S. 77 ff.<br />

5 Lyotard 1987 S. 35<br />

6 Knieling 1999<br />

7 Marz/Dierkes 1992, S. 1<br />

8 Vgl. hierzu ausführlich Knieling 1999<br />

9 Merkur 55/2001, Vorwort, S. 745<br />

ESSLINGEN 2030 31


32 ESSLINGEN 2030 LEITBILDER – BILDER, DIE LEITEN<br />

10 Steinmüller u.a. 2000, S. 10<br />

11 Vgl. zu weiteren Städtebeispielen z. B.<br />

Hill 1994<br />

12 Knieling 1999, S. 8<br />

3.1<br />

„<strong>Esslingen</strong> 2030“ also auch der Versuch, sich schrittweise von<br />

bekannten Strukturen, Denkweisen und Leitbildern zu entfernen<br />

und/oder diese weiterzuentwickeln (vergleiche zur Methodik<br />

Kapitel 4). Dies fällt Akteuren, die sich in verschiedenen Planungs-<br />

und Forschungszusammenhängen mit vergleichbaren<br />

Thematiken befassen, also Experten aus dem Bereich der Wissenschaft,<br />

politischen und Verwaltungseliten sowie Angehörigen<br />

der sogenannten „Partizipationselite“ („Aktivbürger“, die<br />

zum Beispiel in Lokale-Agenda-Prozesse eingebunden sind)<br />

wesentlich leichter als Personen, die aufgrund einer schlechteren<br />

Ausstattung mit Ressourcen wie Bildung und Kapital<br />

noch wesentlich stärker auf das „Hier und Jetzt“, das heißt die<br />

Bearbeitung existenzieller Probleme, konzentriert sind als<br />

Menschen mit höherem Bildungsniveau, Einkommen und sonstiger<br />

guter Ressourcenausstattung. Gerade die neuere, kommunikativ<br />

und partizipativ orientierte Zukunftsforschung hat<br />

sich jedoch neben der Einbeziehung von „Entscheidern“ und<br />

Experten auch die Beteiligung der von den Auswirkungen der<br />

erarbeiteten Planungen direkt Betroffenen, also auch der eher<br />

benachteiligten Gruppen, auf die Fahnen geschrieben: „Die<br />

direkte und indirekte Einbeziehung von Betroffenen und Beteiligten<br />

in die wissenschaftliche Erarbeitung von Zukunftsstudien<br />

und Zukunftsprojekten sowie von Entscheidern und<br />

Akteuren verschiedener Praxisbereiche, hauptsächlich aus<br />

Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wird immer mehr zu einem<br />

besonderen Kennzeichen der Zukunftsforschung“ 10. Diese<br />

Überlegungen liegen auch dem Forschungsdesign des Projektes<br />

„<strong>Esslingen</strong> 2030“ zugrunde (Details siehe Kapitel 4.). Beispiele<br />

aus anderen Städten (z. B. das Projekt „Trier 2020“)<br />

zeigen, dass der Einbeziehung und Mitwirkung der Bürger<br />

heute ein wesentlich höherer Stellenwert zugemessen wird 11<br />

als noch vor einigen Jahren.<br />

Natürlich muss hinterfragt werden, welche akteurspezifischen<br />

Motive hinter den gefundenen Leitbildern und Visionen<br />

stehen. Eine wichtige Aufgabe ist es zudem zu prüfen, inwieweit<br />

die Leitbilder überhaupt politikfähig sind, und inwiefern<br />

der „Spagat“ zwischen Konsensfähigkeit, aber Beliebigkeit<br />

des Leitbildes und hohem Konfliktpotential, aber großem Kon-<br />

kretisierungsgrad des Leitbildes gelingen kann. Auch die<br />

Spannung zwischen den Polen eines Leitbilds mit utopischen,<br />

langfristigen Perspektiven einerseits und der Orientierung auf<br />

konkrete Problemlagen und Entscheidungszwänge, die den<br />

Alltag kommunaler Gremien bestimmen, andererseits muss<br />

bewältigt werden.<br />

Leitbilder setzen sich nach einer Definition von Knieling aus<br />

drei Bestandteilen zusammen: Dem Leitbildprozess, dem Leitbild<br />

in Wort und/oder Bild als Produkt dieses Prozesses und<br />

der anschließenden Konkretisierung in Form von Zielen und<br />

Maßnahmen 12. In dem Leitbildprozess <strong>Esslingen</strong> 2030 konnten<br />

wir daneben zwei weitere Ebenen ausmachen: Es gibt den<br />

Leitbildern übergeordnete Werte und Prinzipien, auf die sich<br />

unsere Gesprächspartner vor allem dann verständigen konnten,<br />

wenn die Leitbilddiskussion sehr kontrovers verlief. Und es<br />

gibt Merkmale von Leitbildern, die unterhalb der Leitbildebene<br />

konsensfähig sind, ohne schon ein Programm zu implizieren,<br />

über das unter Umständen wiederum intensiv gestritten wird.<br />

Dabei stellen sich die folgenden Fragen: Inwiefern sind die<br />

bisherigen Muster und Strukturen überhaupt veränderbar?<br />

Inwieweit lassen sich gestalterische Optionen ausmachen?<br />

Welche Akteure und Instrumente können wirkungsvoll bei der<br />

Umsetzung mitwirken? Wie verbindlich – offen – abstrakt kann<br />

bzw. muss schließlich ein adäquates Leitbild für den Stadtteil<br />

sein?


3.2<br />

Zur Legitimität von Leitbildern am Beginn des 21. Jahrhunderts<br />

Am Beginn des 21. Jahrhunderts, das bereits in wenig mehr als<br />

zwei Jahren eine ganze Reihe von Krisen vertrauter Werte und<br />

Strukturen erlebt hat, scheint nahezu alles gegen eine<br />

kohärente, langfristig nachhaltige Leitbilddiskussion auf den<br />

zentralen Feldern von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu<br />

sprechen. Eine Diskussion über die Bedingungen künftigen<br />

Wohlstands ist offensichtlich, wie die lähmende Reformdebatte<br />

der letzten Monate und Jahre belegt, ebensowenig möglich,<br />

wie eine offene Auseinandersetzung über die Verteilung<br />

von Lasten und Erträgen. Stattdessen werden bereits die im<br />

Geiste eines „muddling through“ versuchten (Schönheits-)<br />

Reparaturen an bestehenden Ordnungen zu unversöhnlichen<br />

Streitfeldern.<br />

Ganzheitliche Gesellschaftsentwürfe oder auch nur Teilmodelle<br />

für einzelne Gesellschaftsbereiche sind nicht erst mit<br />

dem Zusammenbruch der staatsmonopolistischen Systeme in<br />

Osteuropa diskreditiert worden. Sie wurden bereits durch die<br />

Konsequenzen radikaler Entwicklungen einiger Randlinien der<br />

68er Revolte in Deutschland und anderen europäischen Ländern<br />

in eine gesellschaftliche Grauzone gedrängt. Nicht zuletzt<br />

vor diesem Hintergrund ist vielleicht zu erklären, dass<br />

heute gerade namhafte Vertreter der 68er Bewegung als Exponenten<br />

des „muddling through“ gelten müssen.<br />

Der moderne Städtebau hatte in seiner Vision von der gebauten<br />

Stadt noch Mitte der 60er Jahre in euphorischer Fortschrittsbegeisterung<br />

jedes soziale Problem durch Operationalisierung<br />

für lösbar erklärt 13. Seine umfassende gesellschaftliche<br />

Diskreditierung mündete zunächst in der Verweigerung<br />

alles Neuen. Die Erkenntnis von den Grenzen des<br />

Wachstums, eine Rückbesinnung auf Ort und Geschichte im<br />

Sinne des Genius Loci und die damit verbundene Rückkehr zur<br />

individuellen Vergangenheit und persönlichen Erinnerung ließ<br />

sich mit der Idee des großen Entwurfs nicht verbinden.<br />

Da die Stadt aber nicht nur von Gesellschaft und Politik geprägt<br />

wird sondern immer auch von ihren physischen Strukturen,<br />

ist ein Bild von der Stadt allenfalls vorübergehend entbehrlich.<br />

So verwundert es nicht, dass sich bereits kurz nach<br />

der Verweigerung der abschließenden Zukunftserklärungen<br />

der Moderne auch in Architektur und Städtebau ein neues<br />

Leitbild bzw. eine neue Leitbildsammlung in die öffentliche<br />

Diskussion geschoben hat, die sich im Unterschied zu den<br />

großen Entwürfen als „Postmoderne“ bezeichnete. Wesentliches<br />

Element dieser Ideen ist – grob vereinfacht – die Abkehr<br />

von einer durch rigide Rationalität begründeten Homogenität,<br />

Funktionalität und Ordnung, die unweigerlich in „Terrorismus“<br />

mündet 14. Die Werte der Moderne werden nicht in Frage<br />

gestellt, sondern ihnen soll endlich Geltung verschafft werden<br />

15. Gleichwohl wird letztlich auch das neue Leitbild einer<br />

Komplexität im Widerspruch bald zu einer Randerscheinung<br />

des 20. Jahrhunderts.<br />

Dort, wo mit dem Etikett postmodern ganzheitliche Ansprüche<br />

entwickelt werden, wie etwa in der Bewegung des<br />

New Urbanism, verkommt es in der Praxis häufig zu einer geschickten<br />

Werbebotschaft.<br />

Die seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte<br />

Theorie der fraktalen Logik, die viele Felder der<br />

Wissenschaft und des täglichen Lebens beeinflusst hat, hat<br />

bis heute kaum Eingang in die Planungs- und Verwaltungspraxis<br />

gefunden. Stattdessen sind dort noch immer lineare,<br />

einschichtige Strategien die bevorzugten Methoden der<br />

Stadtvision für 1990 aus dem Jahr 1969<br />

13 Giedion 1976, S. 486 ff.<br />

Wolman 1965<br />

14 Lyotard 1987, S. 30<br />

Lyotard 1987, S. 77 ff.<br />

15 Lyotard 1987, S. 26<br />

Welsch 1993 S. 6<br />

ESSLINGEN 2030 33


34 ESSLINGEN 2030 LEITBILDER – BILDER, DIE LEITEN<br />

16 Baumann 1999, S. 30<br />

17 Lyotard 1987, S. 47<br />

18 Lyotard 1987, S. 35<br />

3.2<br />

Problemlösung, obwohl die zunehmende Komplexität dieser<br />

Probleme weithin bewusst ist. Inwieweit sich dies aus dem<br />

seit zehn Jahren anhaltenden Erfolg einer neoliberalen Wirtschaftsordnung<br />

erklärt, die sich im Zuge der Globalisierung<br />

solcher Strategien bedient und sie befördert, wird nach dem<br />

offensichtlichen Scheitern auch dieses Modells in den nächsten<br />

Jahren noch diskutiert werden 16.<br />

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts begründet sich die Legitimität<br />

einer erneuten Leitbilddiskussion in der Hauptsache mit<br />

der Feststellung, dass die Werte der Moderne – Aufklärung,<br />

Humanismus, Emanzipation und ihre Ziele, wie Chancengleichheit,<br />

Selbstverwirklichung, Bildung und Wohlfahrt<br />

offensichtlich nach wie vor nur unzureichend eingelöst sind,<br />

ja für einzelne Gruppen in der Gesellschaft wieder ferner zu<br />

rücken scheinen. Eben jene Postmoderne hatte mit dem Verweis<br />

auf die im Reformentwurf der Moderne unterbewerteten,<br />

ja teilweise sogar geleugneten Merkmale der Heterogenität,<br />

Differenzierung und Individualität bereits auf diesen Umstand<br />

aufmerksam machen wollen.<br />

Das Ende der großen Erzählungen darf nun aber nicht dazu<br />

führen, die „große Erzählung vom Niedergang der großen Erzählungen<br />

zu akkreditieren“ 17. Es ist ein Missverständnis, zu<br />

glauben, dass es keine glaubhaften Erzählungen mehr geben<br />

könne. „Ihr Niedergang hindert Milliarden von kleinen und<br />

weniger kleinen Erzählungen nicht daran, weiterhin den Stoff<br />

täglichen Lebens zu weben“ 18. Nunmehr, mit dem Ende des<br />

Booms der New Economy, den fortschreitenden Segregationstendenzen,<br />

nicht nur bei den Privatvermögen, sondern ebenso<br />

im Bildungsbereich, in der Arbeitswelt, in den individuellen<br />

Selbstverwirklichungschancen insgesamt, hat der Leitbilddiskurs<br />

zunächst einmal die Aufgabe, Austauschs- und Integrationsplattform<br />

zu werden. Bezogen auf das Projekt <strong>Esslingen</strong><br />

2030 heißt das: Am Beginn des 21. Jahrhunderts werden die<br />

Leitbilder nicht mehr in erster Linie durch ihre Inhalte legitimiert,<br />

sondern vielmehr durch den Prozess ihrer Entstehung<br />

und ihrer Erarbeitung.<br />

Literatur zu Kapitel 3<br />

Baumann, Zygmunt 1999: Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg<br />

Dierkes, Meinolf; Marz, Lutz; Hoffmann, Ute 1992: Leitbild und Technik,<br />

Berlin.<br />

Giedion, Sigfried 1976: Raum, Zeit, Architektur. Basel u.a.<br />

Hill, Hermann (Hrsg.) 1994: Die begreifbare Stadt. Wege zum Dialog mit<br />

dem Bürger, Köln u.a.<br />

Knie, Andreas 1998: Die Macht der Gewohnheit: „Schließen“, „Leitbilder“<br />

und „Institutionen als Kategorien einer sozialwissenschaftlichen Technikforschung“,<br />

in: Esser, Josef/Fleischmann, Gerd/Heimer, Thomas (Hrsg.):<br />

Soziale Schließung im Prozeß der Technologieentwicklung. Leitbild,<br />

Paradigma, Standard, Frankfurt a.M./New York, S. 36ff.<br />

Knieling, Jörg 2000: Leitbildprozesse und Regionalmanagement, Frankfurt<br />

a.M. u.a.<br />

Lyotard, Jean-François 1987: Postmoderne für Kinde. Briefe aus den Jahren<br />

1982 – 1985. Wien<br />

Lyotard, Jean-François 1979/ 1999: Das postmoderne Wissen. Wien<br />

Marz, Lutz; Dierkes, Meinolf, 1992: Leitbildprägung und Leitbildgestaltung:<br />

Zum Beitrag der Technikgenese – Forschung für eine prospektive<br />

Technikfolgen-Regulierung, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für<br />

Sozialforschung.<br />

Merkur 55/2001: Themenheft Zukunft denken. Nach den Utopien.<br />

Steinmüller, Karlheinz ; Kreibich, Rolf; Zöpel, Christoph 2000:<br />

Zukunftsforschung in Europa. Ergebnisse und Perspektiven, Baden-Baden.<br />

Welsch, Wolfgang 1993: unsere postmoderne Moderne. Berlin<br />

Wolman, Abel 1965: The Metabolism of Cities. In: Scientific American<br />

vol. 213 S. 179 ff.

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