Kollektives Arbeitsrecht - Alpmann Schmidt
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1. Teil: Das Koalitions-, Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht<br />
abgeschlossen werden können. Zum anderen muss gewährleistet werden, dass nur<br />
in begründeten Fällen unter Beachtung der Arbeitskampfregeln gestreikt wird, was<br />
beim Fehlen der gewerkschaftlichen Organisation nicht der Fall ist. 303<br />
(6) Zahlreiche weitere Anforderungen an die Rechtmäßigkeit eines Streiks<br />
kann man unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zusammenfassen.<br />
304<br />
,,Arbeitskämpfe müssen zwar nach unserem freiheitlichen Tarifvertragssystem möglich<br />
sein, um lnteressenkonflikte über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im äußersten<br />
Falle austragen und ausgleichen zu können. In unserer verflochtenen und<br />
wechselseitig abhängigen Gesellschaft berühren aber Streik wie Aussperrung nicht<br />
nur die am Arbeitskampf unmittelbar Beteiligten, sondern auch Nichtstreikende und<br />
sonstige Dritte sowie die Allgemeinheit vielfach nachhaltig. Arbeitskämpfe müssen<br />
deshalb unter dem obersten Gebot der Verhältnismäßigkeit stehen. Dabei sind die<br />
wirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen und das Gemeinwohl darf nicht<br />
offensichtlich verletzt werden. ... Arbeitskämpfe dürfen nur insoweit eingeleitet und<br />
durchgeführt werden, als sie zur Erreichung rechtmäßiger Kampfziele und des nachfolgenden<br />
Arbeitsfriedens geeignet und sachlich erforderlich sind. Jede Arbeitskampfmaßnahme<br />
– sei es Streik, sei es Aussperrung – darf ferner nur nach Ausschöpfung<br />
aller Verständigungsmöglichkeiten ergriffen werden; der Arbeitskampf muss<br />
also das letzte mögliche Mittel (ultima ratio) sein. ... Die Mittel des Arbeitskampfes<br />
dürfen ihrer nach nicht über das hinausgehen, was zur Durchsetzung des erstrebten<br />
Zieles jeweils erforderlich ist. ... Der Arbeitskampf ist deshalb nur dann rechtmäßig,<br />
wenn und solange er nach Regeln eines fairen Kampfes geführt wird.“ 305<br />
Im Einzelnen ist hervorzuheben:<br />
(a) Verhältnismäßigkeit bezüglich des ,,Ob“ des Streiks<br />
Vor Streikbeginn müssen alle Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft<br />
sein, insbesondere ein vorgesehenes Schlichtungsverfahren<br />
durchgeführt werden. 306 Dies ist vorliegend geschehen.<br />
Das Ultima-ratio-Prinzip gilt auch für Warnstreiks im Zuge der Kampftaktik der<br />
,,Neuen Beweglichkeit“. 307 Allerdings müssen die Tarifverhandlungen nicht zuvor<br />
,,offiziell“ für gescheitert erklärt werden. 308 Die Tarifvertragsparteien können vielmehr<br />
das vorläufige Scheitern auch dadurch erklären, dass sie zu einem Warnstreik<br />
aufrufen, obwohl ein neuer Verhandlungstermin vereinbart worden ist. 309<br />
Es gibt keine staatliche Pflicht zur Durchführung einer Urabstimmung vor einem Arbeitskampf.<br />
Dementsprechend begründet nach h.M. das satzungswidrige Unterlassen<br />
einer Urabstimmung vor Streikbeginn nicht die Rechtswidrigkeit des Streiks,<br />
303 Vgl. BAG NZA 1996, 389 ff.; AP Nr. 106 zu Art. 9 GG „Arbeitskampf“; Brox/Rüthers, AK; Rdnr. 132; Kissel<br />
§ 25 Rdnr. 1 ff.; Schaub § 193 Rdnr. 51; MünchArbR/Otto § 285 Rdnr. 69 ff.; a.A. ArbG Gelsenkirchen AuR<br />
1998, 427; Däubler, AK, Rdnr. 110 f.; 127; Zachert AuR 2001, 401 ff. unter Hinweis auf Art. 6 Ziff. 4 der Europäischen<br />
Sozialcharta sowie Schutz von ad-hoc-Koalitionen durch Art. 9 Abs. 3 GG.<br />
304 Vgl. dazu BAG NZA 2003, 866, 869 @ ; MünchArbR/Otto § 285 Rdnr. 119 ff.; Erfk/Dieterich Art. 9 GG<br />
Rdnr. 123 ff.; Kissel §§ 29–32.<br />
305 Vgl. dazu BAGE-GS-23, 306 ff.; MünchArbR/Otto § 285 Rdnr. 124 ff.<br />
306 BAG NZA 2003, 734, 739 @ ; 866, 869 @ ; Löwisch/Rumler in Löwisch 170.11; Schaub § 197 Rdnr. 1 ff.<br />
307 BAG JZ 1989, 85 m.Anm. Löwisch/Rieble unter Aufgabe von BAGE 46, 322.<br />
308 Vgl. BAG NZA 2003, 866, 869 @ ; Däubler, Ratgeber, Rdnr. 141.<br />
309 Zustimmend Hohenstatt/Schaude DB 1989, 1566; a.A. MünchArbR/Otto § 285 Rdnr. 103: keine förmliche,<br />
aber ausdrückliche Erklärung des Scheiterns erforderlich; kritisch gegenüber der darin erblickten ,,Aufweichung“<br />
des Ultima-ratio-Prinzips Rüthers DB 1990, 113; Rüthers/Bakker ZfA 1992, 199 ff.; vgl. dazu auch<br />
Weller AuR 1989, 325; Buchner BB 1989, 1334.