Magazin Theatertreffen 2013 - Berliner Festspiele
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dIe MIsstrauensselIGen<br />
Über die diesjährige auswahl<br />
Christine Wahl<br />
Wenn sieben Theaterkritiker ihr wählerisches Auge auf insgesamt 423 Aufführungen<br />
werfen, herrscht natürlich – dies zur allgemeinen Vorurteilsbestätigung<br />
vorab – in mindestens 400 Fällen herzliche Zwietracht. In dieser schönen Differenz<br />
liegt schließlich der Legitimationssinn und -zweck von Jurys! Bevor man<br />
sich allerdings en detail die Köpfe heiß redet, besteht gewöhnlich zumindest in<br />
einem Punkt relative Einigkeit: Man weiß, was man gesehen hat – zum Beispiel<br />
die Vergegenwärtigung einer Ibsen’schen Bürgermeisterfigur in Richtung Klaus<br />
Wowereit oder die Teilzerlegung des Wiener Burgtheaters zum Zwecke künstlerischen<br />
Biwakbaus für zeitgenössische Robinson-Crusoe-Insulaner. Hingebungsvoll<br />
gestritten wird dann in aller Regel darüber, ob Klaus Wowereit die<br />
Ibsen’schen Komplexitätsansprüche erfüllt (bzw. umgekehrt) und welche Exportschäden<br />
österreichischen Hochkulturzeltlagern im Berlin-Fall drohen.<br />
In diesem Jahr gab es allerdings eine Inszenierung, bei der das signifikant anders<br />
war. Als wir aus Jérôme Bels „Disabled Theater“ kamen, fanden wir uns – noch im<br />
Foyer – unversehens in der intensivsten Kontroverse wieder, was da eigentlich auf<br />
der Bühne überhaupt stattgefunden hatte. Dabei könnte der Abend an der bloßen<br />
Ereignisoberfläche klarer kaum sein: Elf Schauspieler des Schweizer Theaters<br />
Hora – sämtlich Akteure mit Down-Syndrom oder Lernbehinderung – treten nach<br />
entsprechender Aufforderung durch einen seitlich platzierten Sprecher respektive<br />
Regie-Stellvertreter einzeln an die Rampe, nennen ihren Namen, ihren Beruf und<br />
ihre Behinderung, tanzen je ein Solo zu selbst gewählter Musik (wobei vor allem<br />
Michael Jackson und Hansi Hinterseer zum Einsatz kommen) und äußern schließlich<br />
ihre eigene Meinung zu der Show, in der sie gerade mitwirken.<br />
War hier nun – so in etwa unsere Diskussion – das (Integrations-)Theater als moralische<br />
Anstalt über uns gekommen? Hatten wir einen Beitrag zum immergrünen<br />
Themenkomplex „Authentizität“ gesehen? Oder vielmehr ein Lehrstück über unsere<br />
eigene Wahrnehmungs-Disability – die sich zum Beispiel darin äußern könnte,<br />
Schauspieler mit 47 Chromosomen per se für authentischer zu halten als welche<br />
mit 46? Oder musste man am Ende ganz und gar jenem Darsteller Recht geben,<br />
der auf der Bühne selbst die Vokabel „Freakshow“ ins Spiel gebracht hatte?<br />
Hinter den Benutzeroberflächen<br />
„Disabled Theater“ erschließt sich – das kann man drehen und wenden, wie man<br />
will – nicht allein auf der Ebene der Phänomene, sondern erst im Nachdenken<br />
über die eigenen Rezeptionsgewohnheiten, die man – irgendwo unterhalb des<br />
Spiralblocks – stets mit sich herumträgt, wenn man in den Zuschauerräumen<br />
zwischen Anklam und Zürich Platz nimmt. Normalerweise blühen diese unausgesprochenen<br />
Prämissen – jeder halbwegs ehrliche Zuschauer weiß das – dort<br />
relativ unbehelligt vor sich hin. „Disabled Theater“ katapultiert sie nun aufgrund<br />
seiner besonderen Darsteller in einer Art und Weise ins Bewusstseinszentrum,<br />
auf die der Begriff alternativlos tatsächlich mal zutrifft: Sofern man die Veranstaltung<br />
nicht vorzeitig verlässt, hat man gar keine andere Chance, als sich in<br />
Dauerhinterfragungen seines eigenen Tuns zu verstricken.