Magazin Theatertreffen 2013 - Berliner Festspiele
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Was für ein Reichtum, auf alle Wörter zu verzichten und sich bloß<br />
eines vorzunehmen, ein Wort, zwei Silben: „Murmel“. Es ist die<br />
Mine, die Herbert Fritsch 70 Minuten lang ausbeutet. Was dabei<br />
entsteht, ist eine genuin neue, ist eine eigene Kategorie Kunst.<br />
Vielleicht auch eine neue Religion? Auf jeden Fall wird hier mit<br />
dem Prinzip der Gebetsmühle gearbeitet, mit dem Wiederholungszwang<br />
und seiner Pathologie. Die Grenzen zwischen Religion und<br />
Wahn sind bekanntlich löchrig, und jene zwischen Kunstsinn und<br />
Wahnsinn standen bei Fritsch schon immer offen wie Flügeltüren.<br />
„Murmel Murmel“ ist Aktionskunst zweier geistesverwandter Seelen.<br />
Der eine, der Schweizer Sprachskeptiker und Fluxus-Künstler<br />
Dieter Roth (1930-1998), lieferte mit seinem Ein-Wort-Drama<br />
„Murmel“ 1974 das Dynamit; der andere, der Theaterskeptiker und<br />
darum Theaterwiederentdecker Herbert Fritsch, legt jetzt die Lunte.<br />
Und das unter Beihilfe von Ingo Günther und seinem Marimbaphon,<br />
das den Abend im 6/8-Takt herzrhythmusbeschleunigt.<br />
Doch vergesse keiner dieses Ensemble, das in seiner Verschworenheit<br />
Anachronistisches leistet. Elf „Murmel“-Murmler verzichten<br />
auf den Status der Starselbstdarsteller und verhässlichen sich<br />
durch farblich assortierte Strampler und Masken. Elf Schauspieler<br />
müssen es sein, denn elf ist eine verrückte Zahl, sie ist das Unfassbare,<br />
das man nicht mit Händen begreifen und nicht mit Fingern<br />
zählen kann. Diese elf absolvieren einen an- und abschwellenden<br />
Bocksgesang auf dem Theater und über Theater als geistige und<br />
körperliche Hochleistung. Denn Dieter Roths Bauprinzip, dem<br />
strikt Folge zu leisten ist, darauf legten die Rechtsinhaber Wert,<br />
ist nicht nur antipsychologisch, sondern auch antiszenisch.<br />
Natürlich ist „Murmel Murmel“ nicht nur gut gebaut, sondern<br />
auch gut geklaut. Bei Steve Reich, Barnett Newman und dessen<br />
Bild in vier Variationen „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue?“, bei<br />
Mark Rothko, dem Suprematismus und bei Kasimir Malewitsch. Ja,<br />
„Murmel Murmel“ ist auch eine Bühnen-Antwort auf „Das<br />
Schwarze Quadrat“. Doch wenn bei Fritschs Vor-Bildern in der Bildenden<br />
Kunst immer auch der Wunsch nach Transzendenz durchschimmerte,<br />
wird hier, wird auf dem Theater diesem Bestreben<br />
schweißtreibend entgegengewirkt. Also hält es Fritsch doch nicht<br />
so mit der Religion? Nun, dann zumindest mit dessen bestem Ersatz.<br />
Denn über Struktur, Farbe, Form und Klang hinaus geht es<br />
um Menschen. Unverständlich und unverstanden wie immer.<br />
Daniele Muscionico<br />
14<br />
v.l.n.r.: Werner Eng, Matthias Buss, Axel Wandtke,<br />
Annika Meier, Bastian Reiber, Florian Anderer,<br />
Simon Jensen, Anne Ratte-Polle, Wolfram Koch, Stefan<br />
Staudinger, Jonas Hien<br />
© Thomas Aurin<br />
What luxuriance, to relinquish all words and<br />
to focus on only one, on two syllables:<br />
“Murmel” (murmur). This is the vein that<br />
Herbert Fritsch mines for 70 minutes. What<br />
emerges is a genuinely new, distinctive<br />
category of art. Maybe even a new religion?<br />
The principle of the prayer mill is employed<br />
here, compulsive repetition and its pathology.<br />
It is common knowledge that the borders<br />
between religion and delusion are porous,<br />
and in Fritsch’s work, those between artistry<br />
and lunacy have always been wide open.