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Magazin Theatertreffen 2013 - Berliner Festspiele

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Ein schweigsames Paar im Schlafabteil. Mit dem Nachtzug geht es<br />

von Paris nach Wien, doch die eigentliche Reise führt hinein in den<br />

Kopf der Ich-Erzählerin. Diese Frau löst sich auf – und wir lesen<br />

mit: Fetzen von Erinnerungen und erlittenen Verletzungen, Versatzstücke<br />

aus Träumen und Traumata versucht sie, in ihrer Kladde<br />

schreibend zu bändigen, um sich ihrer selbst zu vergewissern. Ob<br />

es sich bei ihr um die hochsensible Autorin Friederike May röcker<br />

selbst handelt, ist zweitrangig, eigentlich sogar egal. Denn sie ist<br />

bei Katie Mitchell kein literarischer Fall. Aus Mayröckers feministischer<br />

Einfühlungsepik macht die britische Regisseurin eine stupende<br />

Studie sehr heutiger Identitätszuschreibungen.<br />

Die Erzählung von 1984 ist auf dem Buchmarkt längst vergriffen,<br />

man kann also nicht ohne Weiteres nachlesen, was wirklich geschrieben<br />

steht auf den hundert Seiten. Es gibt keine Wahrhaftigkeitsüberprüfung,<br />

keine Verbindlichkeiten – auch darum geht es.<br />

„Im Grunde habe ich mein Leben vorüberziehen lassen wie einen<br />

Traum“, notiert die Ich-Erzählerin. Das wird zum Leitmotiv dieser<br />

schmerzvoll schönen Inszenierung.<br />

Die Welt zieht vorüber hinterm Fenster: erst der Pariser Hauptbahnhof,<br />

dann Felder und Berge; bis es dunkel ist und Ruhe einkehren<br />

sollte. Doch so wie die Ich-Erzählerin durch ihr Leben<br />

„streunt und stromt“, so streunt und stromert Julia Wieninger<br />

schlaflos durch die Gänge des Zuges. Wir sehen ihre traurigen<br />

Blicke, und wir sehen, was sich vor ihrem inneren Auge abspielt.<br />

In einem Breitbandfilmset aus Waggonkulissen und Kamerafluchten<br />

reproduzieren emsige Darsteller jene „Erinnerungsblitze“, die<br />

dann als faszinierendes Kino über den Köpfen der Schauspieler<br />

projiziert werden. Auch jede unmittelbare Handlung wird zum<br />

Close-up stilisiert. Das Making-of soll allerdings anders als sonst<br />

im Videotheater nicht dekonstruieren und desillusionieren. Im Gegenteil:<br />

Es geht um das bewusste Heraufbeschwören und Herstellen<br />

von Bildern: von Einbildungen und eben auch Fremdbildern.<br />

Denn der suggestive Life-Live-Stream ergibt scheinbar kohärent<br />

das Leben, wie es die Protagonistin in ihrem Stream of Consciousness<br />

zu (ver)fassen sucht. Das ist berührend, beklemmend – aber<br />

auch perfide. Denn Vorsicht: Was uns Zuseher ergriffen glauben<br />

lässt, wir hätten eine Biografie erfasst, sind doch nur ein paar<br />

Gesten, Blicke, stereotype Schlaglichter auf Ehefrust und Vaterkomplex.<br />

Wenn das in unseren Augen schon reicht, ein Leben zu<br />

bedeuten – dann gute Nacht. Vasco Boenisch<br />

24<br />

Julia Wieninger, Nikolaus Benda,<br />

Ruth Marie Kröger (unten links)<br />

© Stephen Cummiskey<br />

A silent couple in a sleeping car from Paris to<br />

Vienna. But the real journey leads into the<br />

mind of the first-person narrator. The woman<br />

is going to pieces – and we are there to<br />

follow the score: shreds of memories, which<br />

she tries to restrain by writing them down,<br />

to make sure of herself. On a broadband film<br />

set, bustling performers reproduce these<br />

“flashes of memory” in fascinating moments<br />

of live cinema. These seem to coherently<br />

reveal the protagonist’s life as she<br />

seeks to take hold of it in her stream of<br />

consciousness.

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