Magazin Theatertreffen 2013 - Berliner Festspiele
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Seit der Geburt des Neoliberalismus Anfang des Jahrtausends wird<br />
Brechts Wirtschaftsklassiker gerne gespielt und möglichst nahe<br />
an die Gegenwart gerückt. Keiner lässt die „Heilige Johanna“ auf<br />
den ersten Blick älter aussehen als Sebastian Baumgarten in Zürich.<br />
Ein Pianist links vor der Bühne umklimpert sie virtuos mit<br />
jazzigen Rhythmen, Brechts sonst immer etwas antiquiert tönende<br />
Blankverse klingen dazu wie ein Libretto aus den 1920er Jahren.<br />
Die Wirtschafts-Männer tragen Halbmasken wie aus einer alten<br />
Ruth-Berghaus-Inszenierung, die ihnen nicht nur alles Individuelle<br />
aus dem Gesicht wischen, sondern auch die gröbsten Gefühlsregungen<br />
tilgen. Dabei sehen die Kings of Cool unrettbar lächerlich<br />
aus mit ihren Cowboyhüten und grotesken Kostümen.<br />
Den Gegenspielern von Chicagos Fleischkönig und Wallstreet-Insider<br />
Mauler geht es nicht besser. Die schwarzen Strohhüte von der<br />
Heilsarmee schmücken wagenradgroße Sombreros zu Fantasieuniformen,<br />
in denen sie aussehen wie uniformierte Fledermäuse. Und<br />
die Armen erscheinen als schrilles Zeichenkonzert aus möglichst<br />
dissonanten Herkunftssignalen. Frau Luckerniddle (Isabelle Menke)<br />
ziert ein krauslig schwarzer Haarmop zu edelstem Schuhwichs-<br />
Blackfacing, kombiniert mit schotterhartem Osteuropäer-Deutsch.<br />
Die Sache der Arbeiter hat in Sebastian Baumgarten ebenso wenig<br />
einen Anwalt wie die der Unternehmer. Und Johanna, die erst zwischen<br />
ihnen vermitteln will, bevor sie sich für den Kampf entscheidet,<br />
wird auch nicht zur Nachahmung empfohlen. Yvon Jansen<br />
mit Nickelbrille verströmt allen Charme einer strengen Gemeinschaftskundelehrerin<br />
und wird es nie zur Klassenkampf-Heroine<br />
bringen. Da erscheint Samantha Slift als das wesentlich attraktivere<br />
Role Model. Carolin Conrad macht aus Maulers Makler eine<br />
sexy Strippenzieherin, die ihren Fleischkönig um den Finger wickelt,<br />
alle anderen vom Teller wischt und auch sonst die beschränkten<br />
Verhältnisse zum Tanzen bringt.<br />
Sebastian Baumgarten folgt Szene für Szene getreulich Brechts<br />
Vorlage, und je weiter er sie wegrückt, umso näher erscheint die<br />
alte Geschichte. Erst ganz zum Schluss wendet sich das alte Lehr-<br />
in ein grelles Gegenwartsstück. Die Kostüme haben sich unmerklich<br />
in enge Trikots verwandelt – rot für die Arbeiter, blau für die<br />
Unternehmer. Und statt wie bei Brecht Johannas scheinheilige<br />
Kanonisierung als Aufruf zum Widerstand zu deuten, wird sie hinterrücks<br />
abgeknallt, alle freuen sich über die tote Spaßbremse und<br />
rocken ab: Klassenkampf war gestern, heute sitzen Arbeitgeber<br />
und -nehmer fröhlich in einem Boot. Im Hintergrund leuchten die<br />
Stars and Stripes, blau auf rot, davor wird getanzt, blau mit rot.<br />
Der Markt, das sind wir. Franz Wille<br />
26<br />
Markus Scheumann, Yvon Jansen<br />
© Tanja Dorendorf / T+T Fotografie<br />
At first glance, nobody makes Brecht’s<br />
“Saint Joan” look older than Sebastian<br />
Baumgarten in Zurich. A piano player’s jazzy<br />
rhythms pervade her; Brecht’s blank verse<br />
sounds like a libretto straight from the<br />
1920s. But the further away the production<br />
pushes the script, the more the old story<br />
seems to come closer. The laws of supply<br />
and demand have not changed; morals and<br />
intelligence are mostly used to secure one’s<br />
own interests. The difference is that a solution<br />
is no longer in sight. Only at the end<br />
does the outward appearance of Baumgarten’s<br />
production reach the here and now.