10.10.2013 Aufrufe

HdM - BOA - Baden-Württembergisches Online-Archiv

HdM - BOA - Baden-Württembergisches Online-Archiv

HdM - BOA - Baden-Württembergisches Online-Archiv

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Projekte und Reports<br />

Ein Günter-Grass-Kongress in Paris<br />

Prof. Ph. D. Volker<br />

Wehdeking 1<br />

1 Professor Volker Wehdeking hat in Yale über ein<br />

Thema der Germanistik und Amerikanistik promoviert,<br />

ist seit 1984 Professor für Literaturwissenschaft<br />

und Medien an der <strong>HdM</strong> und seit 1999 Gast im Maison<br />

Heinrich Heine Paris. Sein Thema ist der »Mentalitätswandel<br />

in der deutschen Literatur zur Einheit<br />

seit 1990«. Darüber hat er zwei Fachbücher geschrieben.<br />

Der Vortrag in Paris erscheint in französischer<br />

Übersetzung im Heft 142, Avril-Juin 2002 von Allemagne<br />

d’ aujourd’hui.<br />

34<br />

An einem kalten aber schönen Dezemberwochenende<br />

2001 fand auf dem Campus der Pariser Cité<br />

Universitaire ein Günter-Grass-Kongress mit<br />

internationaler Beteiligung im Heinrich-Heine-<br />

Haus statt. Mein Part dabei war der Einführungsvortrag:<br />

Wie machte sich Günter Grass’ wichtiger<br />

Roman über die deutsche Wiedervereinigung, Ein<br />

weites Feld (1995), im Kontext der Berlin-Romane<br />

seit 1990, und was war das Einmalige seiner Perspektive<br />

im Vergleich mit so großen Autoren-Namen<br />

aus der bundesrepublikanischen und Post-<br />

DDR-Schreibtradition der um 1940 Geborenen.<br />

Dazu zählen Monika Maron, Brigitte Burmeister,<br />

Wolfgang Hilbig, Klaus Schlesinger, Peter Schneider<br />

und der große alte Mann der Niederländischen<br />

Literatur, Cees Nooteboom (geb. 1933), der<br />

sein Leben zwischen Holland und Berlin teilt und<br />

mit Allerseelen (1999) einen bilderreichen, melancholischen<br />

Berlin-Roman aus der Kameraperspektive<br />

seines Helden, eines Fotographen und Journalisten<br />

schrieb. Und wie steht es um die jungen<br />

Wilden in Deutschland, jene ›Pop‹-Autoren<br />

Thomas Brussig, (Sonnenallee, 1999), Sven Regener<br />

(Herr Lehmann, 2001) und Norman Ohler<br />

(Mitte, 2001), die ihre Berlin-Erfahrung mit dem<br />

Erwachsenwerden in den 80er und 90er Jahren<br />

verbinden? Letztere wollen aus der ›großen‹ Ereignisgeschichte<br />

der mémoire collective aussteigen<br />

zugunsten liebevoller Alltagsszenarien zwischen<br />

Schelmenroman, Pennäler- und Drifter-<br />

Romantik und Drogenszene. Grass hingegen<br />

konnte in einmaliger Geschichtsdichte und Tiefenschärfe<br />

bis zurück ins erste Gründerjahr der<br />

deutschen Nation 1871 seinen wiedergeborenen<br />

Fontane-Helden – »wir vom <strong>Archiv</strong> nannten ihn<br />

Fonty« - zwischen der West- und Ostperspektive<br />

ansiedeln und noch dazu die Perspektive ›von<br />

unten‹ auf die nicht zu vergessenden Opfer der<br />

<strong>HdM</strong>aktuell<br />

großen Geschichtsumbrüche ausdehnen. Auch<br />

wenn er am Ende des fast 800-Seiten-Romans<br />

diese gigantische Geschichtscollage mit einem<br />

Schuss versöhnlicher Zukunftsperspektive aus der<br />

Sicht von Fontys französischer Tochter Madeleine<br />

ausklingen lässt, die den Deutschen die Wiedervereinigung<br />

aus französisch-deutscher Freundschaft<br />

und natürlichem Patriotismus von Herzen<br />

gönnt: Grass schildert die ersten zwei Jahre nach<br />

dem Fall der Mauer aus der Sicht des Skeptikers<br />

und warnt vor allem nationalen Überschwang.<br />

Dies also war mein Thema in einem Kongress,<br />

der acht Vorträge zum Leben des Autors (von Olivier<br />

Mannoni samt seiner neuen umfangreichen<br />

französischen Grass-Biographie vorgestellt) und<br />

zu diesem Mammutroman mit einer abschließenden<br />

Lesung des einstigen Grass-Freundes Hans<br />

Joachim Schädlich verband. Da Grass eher gegen<br />

den Willen von Schädlich die zweite wichtige<br />

Erzählfigur, den Stasi-Spitzel Hoftaller/Tallhover<br />

aus dessen gleichnamigem Roman (Tallhover,<br />

1986) wiederbelebt und übernommen hatte, zerbrach<br />

beider Freundschaft über dieser ›Anleihe‹<br />

und gab der abendlichen, unterkühlt vorgetragenen<br />

Lesung ein zusätzliches Element der Spannung<br />

und ein Thema bei der Aussprache, die<br />

Theo Buck (Aachen) leitete.<br />

Buck war von der ästhetischen Qualität als<br />

renommierter Grass-Kenner ebenso wenig angetan,<br />

wie dessen namhafter Werkherausgeber, Volker<br />

Neuhaus (Köln) das anspielungsreiche Werk<br />

lobte und subtil die intertextuellen Bezüge herausarbeitete,<br />

so dass beider Dialog die übergroße<br />

Zuschauermenge bestens unterhielt und anregte.<br />

Da der größte Saal der Tagungsstätte normalerweise<br />

bis zu 150 Personen aufnehmen kann, und<br />

an diesem Tag, dem Nobelpreisträger zu Ehren<br />

und weil es um das Staatsexamen vieler französischer,<br />

angehender Deutsch-Lehrender ging, sogar<br />

über 200 Leute gedrängt, zum Teil auf dem Parkett-Boden<br />

vor der kleinen Vortragsbühne saßen,<br />

war die Diskussion belebt und verlief auch die<br />

Lesung höchst erfolgreich. Man merkte, wie auch<br />

anlässlich der Pariser Buchmesse des Vorjahrs,<br />

als Grass und Christoph Hein mit dem französischen<br />

Verdienstorden ›Pour le mérite‹ ausgezeichnet<br />

worden waren, und man den Berlin-Roman

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!