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28<br />
Im Interview:<br />
I<br />
n einem Privatclub auf der Portobello Road im Londoner<br />
Stadtteil Notting Hill empfänge Annie Lennox, die<br />
ganz in der Nähe lebt, zum Interview. Am Vorabend<br />
hat die 56-Jährige vor geladenen Gästen aus Medien<br />
und Musikbranche ein halbstündiges Privatkonzert<br />
ihrer größten Hits gegeben, nur Annie am Klavier, mit<br />
toller Stimme. Heute jedoch soll es vor allem um ihr<br />
Weihnachtsalbum „A Christmas Cornucopia“ gehen,<br />
auf dem sie traditionelle Lieder wie „Silent Night“<br />
oder „O Little Town of Bethlehem“ interpretiert.<br />
Annie Lennox:<br />
„Madonna und Lady Gaga berühren mich nicht“<br />
Annie, wie kam es zu der Idee, eine Weihnachtsplatte aufzunehmen?<br />
Annie: „Ich habe dieses Projekt schon seit einigen Jahren geplant. Als mein Vertag mit Sony zu Ende<br />
und ich frei war, da habe ich mich entschlossen, die Weihnachtsplatte anzugehen. Als sie fast fertig<br />
war, habe ich dann meinen neuen Vertrag unterschrieben.“<br />
Das Album ist wirklich hübsch geworden. Doch was bedeutet der Begriff „Cornucopia“?<br />
Annie: „Das ist ein altmodisches Wort, es heißt soviel wie: Füllhorn. Dieses Album umweht ja ein<br />
starkes Gefühl der Nostalgie, also habe ich einen Titel gewählt, der dieses Gefühl unterstreicht.“<br />
Du hast – abgesehen von dem neuen Stück „Universal Child“ – ausschließlich alte Weihnachtslieder<br />
aufgenommen.<br />
Annie: „Richtig. Alle diese Songs sind ein wichtiger Teil meiner Kindheit. Ich habe die meisten<br />
dieser Lieder im Kirchenchor gesungen, seitdem ich sechs Jahre alt war.“<br />
Wie war Weihnachten als Kind für dich?<br />
Annie: „Anders als heute, ganz anders. Überhaupt hat sich mein Leben ja total umgekrempelt.<br />
Ich habe Aberdeen mit 17 verlassen, das war so, als hätte ich mich selbst von meiner Kindheit<br />
abgeschnitten. Ich lebte, bis ich acht Jahre alt<br />
war, mit meinen Eltern in einem kleinen Haus,<br />
anschließend zogen wir in eines dieser wirklich<br />
fürchterlichen Sechziger-Jahre-Hochhäuser.<br />
Das war schrecklich, es gab 13 Stockwerke, vier<br />
Wohnungen pro Etage, und in jeder Wohnung<br />
lebte ein Paar mit einem Kind. Neu für mich<br />
war, dass ich zum ersten Mal ein Badezimmer<br />
in der Wohnung hatte und außerdem Fußbodenzeitung.<br />
Vorher war das Klo im Garten,<br />
und meine Eltern wuschen ihre Wäsche im<br />
Wohnzimmer. Weihnachten war immer meine<br />
Lieblingszeit, wir hatten diesen magischen<br />
Baum, ich liebte die Lichter, die Kerzen, alles.“<br />
Du hast am 25. Dezember Geburtstag...<br />
Annie: „...was ich als Kind natürlich richtig<br />
Mist fand. Aber ich kenne es ja nicht anders,<br />
ich musste mich damit arrangieren, dass mein<br />
Geburtstag immer ein bisschen untergeht. Und<br />
heute bin ich sehr froh darüber.“<br />
Wie wirst du das Fest dieses Jahr verbringen?<br />
Annie: „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.<br />
Wahrscheinlich mache ich mir mit<br />
meinen beiden Töchtern ein paar ruhige, gemütliche<br />
Tage.“<br />
Deine Töchter Lola und Tali sind 19 und 17.<br />
Du bist gerade mit beiden zusammen bei einer<br />
Modeschau von „Dolce & Gabbana“ in<br />
Mailand aufgetreten. Wollen die zwei Models<br />
werden?<br />
Annie: „Tali hat jetzt gerade eine Karriere angefangen<br />
in dieser Welt. Sie modelt für Prada<br />
und viele andere, ich bin sehr stolz auf sie. Zur<br />
Zeit ist sie in Paris, und sie hat das alles ohne<br />
mich geschafft.“<br />
Gebt ihr euch gegenseitig Modetipps?<br />
Annie: „Sie liebt es, meine Sachen zu tragen.<br />
Sie darf das auch, muss die Klamotten aber zurückgeben<br />
(lacht).“<br />
Machst du dir keine Sorgen, ob das harte Modelgeschäft<br />
das richtige für eine 17-Jährige ist?<br />
Annie: „Selbstverständlich beschäftigt mich<br />
das. Auf der anderen Seite kann Tali schon<br />
sehr gut auf sich selbst aufpassen, sie hat eine<br />
starke Persönlichkeit. Sie hat die Schule eher<br />
verlassen als sie eigentlich sollte,aber sie wollte<br />
nicht mehr, sie war es leid. Das war ein Risiko,<br />
aber es war in Ordnung. Sie ist ein kreativer<br />
Mensch, und ich bin der Ansicht, dass kreative<br />
Menschen keine Examen oder Schulabschlüsse<br />
brauchen, um ihre Leidenschaft auszuleben.<br />
Das mag ein bisschen unverantwortlich klingen,<br />
doch ich unterstütze sie und bin glücklich<br />
für sie.“<br />
Als du mit 17 nach London kamest, hast du<br />
bald deine erste Band gegründet...<br />
Annie: „Allerdings hatte ich keinerlei Untersützung<br />
von irgendjemandem. Bei ihr ist das<br />
anders, sie ist ganz anders aufgewachsen, sie<br />
hat mit mir und mit ihrem Vater schon die ganze<br />
Welt gesehen. Die junge Generation ist mit<br />
dieser ganzen Technologie ja sowieso ganz anders<br />
drauf als wir früher, die sind viel cleverer<br />
und abgebrühter. Ich hatte damals gar nichts,<br />
ich hatte nicht einmal Langspielplatte. Ich war<br />
extrem unhip.“<br />
- Und heute?<br />
Annie: „Wurde ich neulich von meinen Mitarbeitern<br />
gezwungen, mir einen Blackberry<br />
anzuschaffen. Ich gewöhne mich langsam<br />
an dieses verdammte Gerät. Meinst du, ich<br />
sollte mit einen Ipad kaufen? Ich glaube, ich<br />
brauche das nicht. Ich lese gerne Bücher und<br />
Zeitschriften. Ich fürchte, mir so einem Gerät<br />
würden meine Augen schlecht.“<br />
Deine ältere Tochter Lola ist auch auf der<br />
„Royal Academy of Music“, an der du damals<br />
studiert hast.<br />
Annie: „Nicht mehr, sie hat aufgehört. Sie will<br />
Sängerin und Songschreiberin werden, die<br />
klassische Ausbildung hat ihr nicht gefallen.“<br />
Ist es heute schwieriger für junge Musiker, sich<br />
durchzusetzen?<br />
Annie: „Ach, es war doch damals, in den<br />
Siebzigern und Achtzigern, schon schwierig.<br />
Es war hart, richtig hart. Das wird heute immer<br />
so verklärt als die gute alte Zeit, aber im<br />
Ernst, was haben wir kämpfen müssen. Heute<br />
ist die Gesellschaft anders drauf, alle sind so<br />
wahnsinnig auf Prominente fixiert, die Medien<br />
können dich fertig machen. Ich beneide diese<br />
jungen Kids wirklich nicht, die es jetzt nach<br />
oben schaffen. Die Medien sind so mächtig<br />
geworden, als junger Mensch hast du keinerlei<br />
Schutz mehr.“<br />
Du hast damals doch selbst mit den Medien gespielt.<br />
Als Sängerin der Euryhtmics oder auch<br />
als Solokünstlerin hast du dir ständig neue<br />
Images, neue Alter Egos zugelegt und sehr fantasievolle<br />
Videos gedreht.<br />
Annie: „Das war etwas anderes. Du sagst es<br />
ja selbst, wir haben mit den Medien gespielt,<br />
nicht die Medien mit uns. Wir haben uns als<br />
einzigartig inszeniert. Heute ist die Kunst viel<br />
homogener, man hat seine Formel, man geht<br />
keine Risiken mehr ein. Ich selbst habe solche<br />
Regeln immer gehasst, sie machen die Kunst<br />
kaputt. Aber: Auch heute gibt es immer noch<br />
wundervolle, einfallsreiche Künstler.“<br />
Wie findest du denn eine Lady Gaga?<br />
Annie: „Hm, ich bin mir nicht sicher, was ich<br />
von ihr halten soll. Gaga wirkt wild und doch<br />
ein bisschen kalt auf mich. Sie ist so Pop, Pop,<br />
Pop. Gleichzeitig wirkt sie wie eine Oberfläche,<br />
die sich ständig neue Folien überzieht. Ich bin<br />
bei ihr nicht sicher, was das alles soll, warum<br />
sie die Dinge macht, die sie macht. Natürlich ist<br />
es große Kunst, bloß weiß ich nicht, ob hinter<br />
der glitzernden Oberfläche außer dem Wunsch<br />
nach viel Geld und Ruhm noch irgendetwas<br />
anderes steckt. Ihre Schockeffekte sind exzellent,<br />
aber sie berühren mich nicht.“<br />
Berührt Madonna dich?<br />
Annie: „Nein, auch nicht. Sie beeindruckt<br />
mich, aber sie erreicht nicht mein Herz.“<br />
Du selbst hast dich auch immer wieder neu erfunden.<br />
Berührst du die Menschen?<br />
Annie: „Das hoffe ich doch. Ich glaube nicht,<br />
dass die Leute von mir ein Album mit altmodischen<br />
Weihnachtsliedern erwartet haben.<br />
Aber sie werden meine Lieder fühlen können.<br />
Ich war nie ein Objekt, ich habe meine Musik<br />
nie als reinen Konsumartikel verstanden.“<br />
Die Songs auf „A Christmas Cornucopia“<br />
werden auch in Gottesdiensten gesungen. Ist<br />
Annie Lennox eine Kirchgängerin?<br />
Annie (lacht): „Um Gottes Willen, nein! Wirklich<br />
nicht. Der Vater einer Freundin von mir<br />
ist Priester, er will mich seit vielen Jahren zum<br />
christlichen Glauben rüberziehen. Und jetzt<br />
wird er wieder einen Versuch starten, wenn er<br />
das Album hört. Es wird ihm nicht gelingen.“<br />
Trotzdem singst du diese christlichen Lieder<br />
wie „Silent Night“.<br />
Annie: „Weil ich sie liebe, unabhängig von<br />
ihrem religiösen Hintergrund. Ich verstehe<br />
das nicht mit den Religionen. Warum können<br />
die nicht alle mtieinander auskommen. Warum<br />
sind nicht in allen Religionen Toleranz,<br />
Respekt, Mitgefühl und wirkliche Nächsten-<br />
liebe vorherrschend. Warum vergreifen sich<br />
Priester an Schutzbefohlenen? Warum gibt es<br />
keine Frauen im Vatikan? Warum ist Homosexualität<br />
so eine furchtbare Sünde? Ich fasse es<br />
oft nicht, wofür dieses Glaubenssystem heute<br />
steht. Warum müssen die kämpfen, warum<br />
müssen sie in Gottes Namen in den Krieg<br />
ziehen?“<br />
Der Papst war kürzlich in London. Hast du<br />
gegen ihn protestiert?<br />
Annie: „Nein, das nicht. Ach, was soll ich mich<br />
da hinstellen und ein Schild hochhalten.<br />
Du engagierst dich sehr stark für die Aidshilfe<br />
und HIV-Aufklärung in Afrika. Ist die Haltung<br />
des Papstes angesichts deines Einsatzes nicht<br />
ein Schlag ins Gesicht für dich?<br />
Annie: „Es ist ein großes Unglück, dass dieser<br />
Mann mit all seiner Macht und seinem Einfluss<br />
solche Statements von sich gibt. Wie kann<br />
ein Mensch, egal welcher Mensch, sagen, dass<br />
die Benutzung von Kondomen Aids verursacht.<br />
Das ist kompletter Unsinn. Vollkommen<br />
gegen alle Logik und gegen alle bewiesenen<br />
Tatsachen. Es ist wirklich traurig.“<br />
Ein Song auf „A Christmas Cornucopia“ ist<br />
neu: „Universal Child“, eine echte Annie-<br />
Lennox-Hymne.<br />
Annie: „Dieser Song ist aus dem Bauch heraus<br />
entstanden, innerhalb eines Tages. „Why“ oder<br />
„There must be an Angel“ gingen seinerzeit<br />
ähnlich schnell. Das Lied ist meine persönliche<br />
Botschaft. Millionen von Kindern haben<br />
keine Perspektive, sie haben kein fließendes,<br />
sauberes Wasser, sie leben in einer Welt voller<br />
Krieg und Tod. Genau wie Jesus damals, der<br />
auch seit seiner Geburt bedroht war.“<br />
Du setzt dich stark für karikative Zwecke ein.<br />
Hast du dein Eindruck, die Lage in der Welt<br />
verbessert sich?<br />
Annie: „Die Probleme sind gigantisch und<br />
scheinen oft unlösbar. Aber hunderttausende<br />
von Menschen machen überall in der Welt<br />
wundervolle Sachen, um das Leben für diese<br />
Menschen zu verbessern. Die meisten bekommen<br />
keine Schlagzeilen. Schlagzeilen bringen<br />
nur wir Prominente, weil der Zeitgeist eben<br />
dementsprechend ist. Also spiele ich dieses<br />
Spiel mit, und leiste meinen bescheidenen Beitrag.<br />
Und der Weg raus aus chronischer Armut<br />
ist Bildung: Die Menschen müssen lesen und<br />
schreiben lernen, das ist die Grundlage für<br />
alles weitere.“<br />
Was planst du als nächstes? Ein Eurythmics-<br />
Comeback vielleicht?<br />
Annie: „Nein, nein, da ist nichts geplant. Ich<br />
lasse mich von meiner Intuition leiten und bin<br />
selbst gespannt, wo sie mich als nächstes hinfü<br />
hrt.“ Steffen Rüth<br />
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