Werkstatt Frieden & Solidarität - Friedenswerkstatt Linz
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12 Erster Weltkrieg guernica 5/2004<br />
Geschichte<br />
Vor 90 Jahren begann der erste Weltkrieg<br />
Der erste Weltkrieg unterschied sich hinsichtlich seiner territorialen Ausdehnung, der Zahl der beteiligten Staaten, der Kriegsziele, der Rolle<br />
des Hinterlandes, des massenhaften Einsatzes der Technik und der Zahl der Opfer qualitativ von allen anderen vorangegangenen Kriegen. Er<br />
war die „Ursache aller Ursachen“, die „Urkatastrophe“, die „Ursünde des 20. Jahrhunderts“, ein Ereignis, dessen Ergebnisse die Entwicklung<br />
der Menschheit bis heute bestimmen.<br />
Von Univ.-Prof. Dr. Hans Hautmann<br />
Militärkamarilla schmiedete<br />
„Präventivkriegspläne“.<br />
Als am 28. Juni 1914 der serbische<br />
Gymnasiast Gavrilo Princip den<br />
österreichisch-ungarischen Thronfolger<br />
Franz Ferdinand und seine<br />
Frau in Sarajevo erschoss, erregte<br />
das Attentat nur für wenige Tage<br />
Aufsehen. Die europäische Öffentlichkeit<br />
ging bald wieder zur Tagesordnung<br />
über und war davon überzeugt,<br />
dass die Schüsse in der bosnischen<br />
Landeshauptstadt keine<br />
schwerwiegenden Folgen nach sich<br />
ziehen würden. Hatten in den Jahren<br />
vorher nicht weit gefährlichere Krisen<br />
die internationalen Beziehungen<br />
erschüttert, ohne dass es zu einem<br />
Krieg zwischen den Großmächten<br />
gekommen war? Selbst in der Habsburgermonarchie<br />
ließ die Ermordung<br />
des allseits unbeliebten Erzherzogs<br />
Franz Ferdinand die Menschen<br />
unberührt.<br />
Während man sich wieder dem<br />
Hauptgesprächsthema, der Klage<br />
über die sommerliche Hitzewelle,<br />
zuwandte, schürzte sich jedoch unter<br />
der Oberfläche, in den Kabinetten<br />
in Wien und Berlin, der Knoten<br />
für die Katastrophe. Die österreichisch-ungarischeMilitärkamarilla<br />
und der sie ermunternde deutsche<br />
Imperialismus sahen im Attentat<br />
die erwünschte Gelegenheit, den<br />
Krieg gegen Serbien vom Zaun zu<br />
brechen. Seit dem Jahr 1903 war die<br />
Vernichtung des serbischen Staates<br />
und die Errichtung der Hegemonie<br />
auf dem Balkan das Hauptziel der<br />
Großbourgeoisie und der adlig-klerikal-militaristischen<br />
Kreise der Donaumonarchie<br />
gewesen. Generalstabschef<br />
Conrad von Hötzendorf,<br />
ein Günstling Franz Ferdinands,<br />
schmiedete von 1907 an unentwegt<br />
Präventivkriegspläne mit der Absicht,<br />
die Auseinandersetzung mit<br />
dem hinter Serbien stehenden Russland<br />
auszutragen, solange das Zarenreich<br />
sich von der Niederlage gegen<br />
Japan und von den Auswirkungen<br />
der Revolution von 1905 noch<br />
nicht erholt hatte. Österreich-Ungarn<br />
war aber ökonomisch und militärisch<br />
zu schwach, um seine Aggressionsziele<br />
auf dem Balkan aus<br />
eigener Kraft erreichen zu können.<br />
Es war auf die Unterstützung durch<br />
den deutschen Imperialismus angewiesen.<br />
Weltkrieg als Fortsetzung des<br />
Kampfes um Kolonien, Rohstoffe,<br />
Absatzmärkte und Kapitalanlagen.<br />
Die landläufige Geschichtsschreibung<br />
über den Ausbruch<br />
des ersten Weltkrieges will<br />
weismachen, dass alle beteiligten<br />
Mächte in ihn mehr oder minder ungewollt<br />
„hineingeschlittert“ seien.<br />
Oft wird auch die „Geheimdiplomatie“<br />
und das „persönliche Versagen“<br />
einzelner „frivol verblendeter“ Politiker<br />
und Militärs verantwortlich gemacht.<br />
In Wahrheit entstand der erste<br />
Weltkrieg aufgrund der tiefen<br />
Widersprüche zwischen den impe-<br />
rialistischen Mächten. Er war die<br />
militärische Fortsetzung ihres jahrzehntelangen<br />
erbitterten Kampfes<br />
um Kolonien, Rohstoffquellen, Absatzmärkte,<br />
Kapitalanlagesphären<br />
und strategische Stützpunkte. Dieser<br />
Konkurrenzkampf hatte sich durch<br />
die ungleichmäßige ökonomische<br />
Entwicklung der einzelnen kapitalistischen<br />
Länder verschärft.<br />
Zwischen den Großmächten war<br />
seit dem Beginn der Ära des Imperialismus,<br />
dem Krieg der USA gegen<br />
Spanien im Jahr 1898, nach und<br />
nach ein neues ökonomisches, politisches<br />
und militärisches Kräfteverhältnis<br />
entstanden, dem der territoriale<br />
und wirtschaftliche status quo<br />
nicht mehr entsprach. Die Neuaufteilung<br />
der Welt, die nur durch einen<br />
Krieg möglich war, wurde von allen<br />
imperialistischen Mächten von langer<br />
Hand vorbereitet. Dabei trat der<br />
junkerlich-bürgerliche deutsche Imperialismus<br />
besonders angriffslustig<br />
auf, weil er bei der Aufteilung der<br />
Welt zu spät gekommen war und der<br />
preußische Militarismus dem gesellschaftlichen<br />
Leben in Deutschland<br />
in besonders krasser Form den<br />
Stempel aufdrückte. Der deutsche<br />
Imperialismus entwickelte sich ökonomisch<br />
schneller und dynamischer<br />
als der seiner Hauptkonkurrenten<br />
Großbritannien und Frankreich und<br />
begann beide auf wichtigen Gebieten<br />
vom Weltmarkt zu verdrängen.<br />
Die Größe seiner Kolonien und Einflusssphären<br />
stand aber in keinem<br />
Verhältnis zu seinem Expansionspotenzial<br />
und seiner Raubgier. Seit<br />
dem Ende des 19. Jahrhunderts forderte<br />
er immer aggressiver einen<br />
„Platz an der Sonne“, mit anderen<br />
Worten: die radikale Neuaufteilung<br />
der Welt mit gewaltsamen Mitteln<br />
zu seinen Gunsten. Dabei stieß er<br />
mit den Interessen des englischen,<br />
französischen und russischen Imperialismus<br />
zusammen.<br />
Die Zuspitzung der Gegensätze<br />
zwischen den Großmächten und den<br />
beiden Bündnisblöcken Entente und<br />
Mittelmächte ging in den Jahren vor<br />
1914 mit einem Aufschwung der internationalen<br />
Arbeiterbewegung und<br />
einem Anwachsen des Befreiungskampfes<br />
der kolonialen und abhängigen<br />
Länder gegen die imperialistische<br />
Fremdherrschaft einher. Russland,<br />
Deutschland und Österreich-<br />
Ungarn befanden sich am Vorabend<br />
großer Klassenauseinandersetzungen.<br />
Deshalb sahen die herrschenden<br />
Kreise dieser Staaten in der Entfesselung<br />
eines Krieges zugleich ein<br />
Mittel, die inneren Schwierigkeiten<br />
zu überwinden und den revolu-<br />
tionären Massenkampf zu lähmen.<br />
Kriegsentscheidung fiel in Berlin.<br />
Den Diplomaten des Ballhausplatzes<br />
und dem k. u. k. Armeeoberkommando<br />
war klar, dass der Krieg<br />
gegen Serbien unweigerlich den<br />
Mechanismus der imperialistischen<br />
Bündnisse in Gang setzen und den<br />
großen Krieg auslösen musste, denn<br />
hinter Serbien stand Russland. Dieses<br />
Risiko konnte man nicht eingehen,<br />
solange man sich nicht der Unterstützung<br />
durch das Deutsche<br />
Reich rückversichert hatte. Die Entscheidung<br />
über Krieg und <strong>Frieden</strong><br />
fiel daher nicht in Wien, sondern in<br />
Berlin. Nach Beratungen am 5. und<br />
6. Juli 1914 in Potsdam stellte die<br />
deutsche Regierung Wien den<br />
berüchtigten „Blankoscheck“ aus,<br />
und der deutsche Generalstab, der<br />
durch die forcierten Rüstungsprogramme<br />
Frankreichs und Russlands<br />
seinen militärischen Vorsprung auf<br />
einigen Gebieten gefährdet sah, stachelte<br />
den österreichisch-ungarischen<br />
Generalstab zum Losschlagen<br />
an.<br />
Am 23. Juli 1914 übergab Österreich-Ungarn<br />
an Serbien ein Ultimatum,<br />
das mit Absicht unannehmbar<br />
formuliert war und mit der Souveränität<br />
Serbiens unvereinbare, die nationale<br />
Würde beleidigende Forderungen<br />
enthielt. Ihre Ablehnung<br />
nahm die Wiener Regierung zum<br />
Vorwand, Serbien am 28. Juli 1914<br />
den Krieg zu erklären. Daraufhin er-<br />
folgte am 30. Juli die Mobilmachung<br />
der russischen Streitkräfte,<br />
die wiederum der deutschen Regierung<br />
als Anlass diente, Russland am<br />
1. August 1914 den Krieg zu erklären.<br />
In der Endphase der Krise, die<br />
den Konflikt Deutschlands mit<br />
Frankreich und, nach dem deutschen<br />
Überfall auf das neutrale Belgien,<br />
den Kriegseintritt Großbritannien<br />
nach sich zog, sahen die herrschenden<br />
Kreise in Deutschland und<br />
Österreich-Ungarn aus innenpolitischen<br />
Motiven ihr Hauptziel darin,<br />
dem zaristischen Russland die Verantwortung<br />
für den Ausbruch des<br />
Krieges zuzuschieben. Die Führer<br />
der deutschen und österreichischen<br />
Sozialdemokratie griffen die Propaganda<br />
von der Notwendigkeit der<br />
„Vaterlandsverteidigung“, der Bewahrung<br />
der „höheren deutschen<br />
Kultur“ vor der „zaristischen Barbarei“<br />
sofort auf, konnten sie doch<br />
damit ihre Burgfriedenspolitik wirkungsvoll<br />
bemänteln. Wie alle anderen<br />
Parteien der II. Internationale<br />
mit Ausnahme der russischen Bol-<br />
schewiki, der serbischen und der<br />
bulgarischen Sozialdemokraten sagten<br />
sie sich von den feierlich beschworenen<br />
Antikriegsbeschlüssen<br />
der Kongresse von Stuttgart (1907)<br />
und Basel (1912) los. Mit dem<br />
Überbordwerfen der Prinzipien des<br />
proletarischen Klassenkampfes und<br />
Die landläufige Geschichtsschreibung über den Ausbruch des ersten Weltkrieges will<br />
weismachen, dass alle beteiligten Mächte in ihn mehr oder minder ungewollt<br />
„hineingeschlittert“ seien. In Wahrheit entstand der erste Weltkrieg aufgrund der<br />
tiefen Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten. Er war die<br />
militärische Fortsetzung ihres jahrzehntelangen erbitterten Kampfes um Kolonien,<br />
Rohstoffquellen, Absatzmärkte, Kapitalanlagesphären und strategische Stützpunkte.<br />
Über 10 Millionen Tote, mehr als 20 Millionen<br />
Verwundete und Verkrüppelte und mehrere Millionen<br />
während des Krieges an Hunger und Seuchen<br />
Gestorbene waren die Bilanz des ersten Weltkriegs.<br />
der internationalen <strong>Solidarität</strong> gaben<br />
die Reformisten den Herrschenden<br />
die Sicherheit im Inneren des Landes,<br />
die sie für einen Eroberungskrieg<br />
nach außen brauchten. Ganze<br />
Tintenmeere wurden in der Julikrise<br />
1914 und danach verspritzt, um den<br />
Krieg als gerechten, „heiligen Verteidigungskrieg“<br />
hinzustellen, seinen<br />
räuberischen Charakter zu verschleiern<br />
und die Volksmassen dazu<br />
zu motivieren, sich freiwillig an<br />
falschen, gegen ihre ureigensten Interessen<br />
gerichteten Fronten gruppieren<br />
zu lassen. Dass das gelang,<br />
war einer der größten Triumphe, den<br />
Herrschende in der Geschichte je<br />
feiern, und eine der bittersten Niederlagen,<br />
die Beherrschte je erleiden<br />
mussten.<br />
Nach wie vor aktuelle Bedeutung.<br />
Der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn<br />
und Serbien im Sommer<br />
1914 ging in einen weltweiten<br />
Krieg über, der mehr als vier Jahre<br />
dauerte und zuletzt 33 Staaten der<br />
Erde umfasste. Er vernichtete gewaltige<br />
gesellschaftliche Reichtü-<br />
mer und hatte für die Völker Europas<br />
unermessliche Opfer, Not und<br />
Verelendung zur Folge. Millionen<br />
Soldaten wurden für die Weltherrschaftspläne<br />
und Profitinteressen einer<br />
kleinen Schicht von Monopolund<br />
Bankherren, Großgrundbesitzern,<br />
reaktionären Politikern und<br />
Militärs auf den Schlachtfeldern<br />
hingemordet und verstümmelt. Über<br />
10 Millionen Tote, mehr als 20 Millionen<br />
Verwundete und Verkrüppelte<br />
und mehrere Millionen während des<br />
Krieges an Hunger und Seuchen Gestorbene<br />
waren die Bilanz der Jahre<br />
von 1914 bis 1918.<br />
Der erste Weltkrieg erschütterte<br />
die kapitalistische Ordnung zutiefst.<br />
1917/18 standen die Volksmassen<br />
gegen die Herrschenden auf, stürzten<br />
sie in einem Land, Russland, und<br />
brachten sie in mehreren anderen,<br />
darunter Deutschland, Österreich,<br />
Ungarn und Italien, an den Rand des<br />
Abgrunds.<br />
In einer Zeit, in der die Bush-<br />
Administration in den USA alles<br />
daransetzt, imperialistische Ziele<br />
gewaltsam unter dem Vorwand zu<br />
verfolgen, die zivilisierte Menschheit<br />
vor den Gefahren des „Terrorismus“<br />
zu bewahren, wäre es verfehlt,<br />
die Beschäftigung mit dem ersten<br />
Weltkrieg als eine Sache anzusehen,<br />
die nur die akademische Geschichtswissenschaft<br />
etwas angeht. Das<br />
Wissen um seine Ursachen, seinen<br />
Verlauf und seine Folgen hat für die<br />
<strong>Frieden</strong>sbewegung in aller Welt aktuelle<br />
politische Bedeutung.<br />
Der Autor:<br />
Dr. Hans Hautmann<br />
(ao. Univ.-Prof. am Institut für<br />
Neuere Geschichte und Zeitgeschichte<br />
der Universität <strong>Linz</strong>)