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Krieg und Frieden

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IX<br />

Ein Uhr nachts war schon vorüber, als Pierre aus dem Haus seines Fre<strong>und</strong>es<br />

trat. Es war eine Petersburger Juninacht, in der es nicht dunkel wird. Pierre<br />

setzte sich mit der Absicht, nach Hause zu fahren, in eine Droschke. Aber je<br />

mehr er sich dem Ziel seiner Fahrt näherte, um so stärker empfand er die<br />

Unmöglichkeit, in dieser Nacht einzuschlafen, die mehr einem Abend als<br />

einem Morgen ähnlich war. In den menschenleeren Straßen konnte man weit<br />

entlangsehen. Unterwegs erinnerte sich Pierre, daß sich an diesem Abend der<br />

Abrede gemäß die gewöhnliche Spielgesellschaft bei Anatol Kuragin hatte<br />

versammeln sollen; nach dem Spiel pflegte man dann tüchtig zu zechen <strong>und</strong><br />

zuletzt mit Pierres Lieblingsamüsement zu schließen.<br />

»Es wäre doch recht nett, wenn ich zu Kuragin führe«, dachte er. Aber<br />

sofort fiel ihm auch das Ehrenwort ein, das er dem Fürsten Andrei gegeben<br />

hatte, sich heute nicht zu Kuragin zu begeben.<br />

Aber im nächsten Augenblick überkam ihn, wie das bei labilen Menschen<br />

so zu gehen pflegt, ein so leidenschaftliches Verlangen, diese ihm so<br />

wohlbekannten Ausschweifungen noch einmal durchzukosten, daß er sich<br />

doch entschloß hinzufahren. Und sogleich schoß ihm auch der Gedanke durch<br />

den Kopf, daß das gegebene Ehrenwort ja nichts zu bedeuten habe, da er schon<br />

vor dem Gespräch mit dem Fürsten Andrei dem Fürsten Anatol gleichfalls sein<br />

Ehrenwort gegeben hatte, zu ihm zu kommen. Und endlich sagte er sich, daß<br />

all solche Ehrenworte eigentlich doch nur konventionelle Dinge ohne rechten<br />

vernünftigen Sinn seien, namentlich wenn man erwäge, daß er vielleicht<br />

morgen schon sterben oder ihm sonst etwas Außerordentliches zustoßen<br />

werde, so daß es dann für ihn nichts Ehrenhaftes oder Unehrenhaftes mehr<br />

gebe. Derartigen Überlegungen, durch die all seine Entschlüsse <strong>und</strong> Vorsätze<br />

über den Haufen gestoßen zu werden pflegten, gewährte Pierre nicht selten<br />

Raum. Er fuhr zu Kuragin.<br />

Als er nicht weit von der Gardekavalleriekaserne bei dem großen von<br />

Anatol bewohnten Haus vorgefahren war, stieg er die erleuchteten Stufen vor<br />

dem Portal <strong>und</strong> dann im Haus die Treppe hinauf <strong>und</strong> trat in die offene Tür. Im<br />

Vorzimmer war niemand; leere Flaschen, Mäntel <strong>und</strong> Überschuhe bildeten<br />

einen wüsten Wirrwarr; es roch nach Wein; von weiterher war Reden <strong>und</strong><br />

Geschrei zu hören.<br />

Das Spiel <strong>und</strong> das Abendessen waren schon beendet; aber die Gäste noch<br />

nicht gegangen. Pierre warf seinen Mantel ab <strong>und</strong> trat in das erste Zimmer, wo<br />

noch die Überreste des Abendessens auf dem Tisch standen <strong>und</strong> ein Diener, in<br />

dem Glauben, daß ihn niemand sehe, heimlich austrank, was noch in den<br />

Gläsern war. Aus dem dritten Zimmer erscholl wüster Lärm, Lachen, das<br />

Geschrei bekannter Stimmen <strong>und</strong> das Gebrüll eines Bären. Acht junge Männer<br />

drängten sich, aufgeregt redend, um ein geöffnetes Fenster. Drei andere tollten<br />

mit einem jungen Bären umher, welchen einer an der Kette hierhin <strong>und</strong> dorthin<br />

schleppte, um die andern zu erschrecken.<br />

»Ich wette h<strong>und</strong>ert für Stevens!« rief einer.<br />

»Aber nicht festhalten!« rief ein anderer.

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