Mit Herz und Humor - Damit sie Leben in Fülle haben
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<strong>Mit</strong> <strong>Herz</strong> <strong>und</strong> <strong>Humor</strong><br />
Locher, Peter:<br />
<strong>Mit</strong> <strong>Herz</strong> <strong>und</strong> <strong>Humor</strong>: Erzählungen aus dem <strong>Leben</strong> P. Joseph Kentenichs/Peter<br />
Locher. – Vallendar-Schönstatt: Patris Verlag, 1981.<br />
ISBN 3-87620-066-0<br />
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Patris Verlag GmbH, Postfach 1162, 56171 Vallendar<br />
Telefon: 0261/60409-13 Fax 0261-67 1192,<br />
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Rückseitentext <strong>und</strong> Vorwort des Buches:<br />
Der Abstand zu großen Menschen br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e Gefahr mit sich: Dass die „großartigen<br />
Züge“ ihrer Persönlichkeit sich e<strong>in</strong>seitig <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong> der Er<strong>in</strong>nerung<br />
schieben. Hier wird der Versuch gemacht, an E<strong>in</strong>zelszenen aus dem <strong>Leben</strong> P. Kentenichs<br />
se<strong>in</strong>e tiefe Menschlichkeit, se<strong>in</strong>en <strong>Humor</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong> allem den ruchlosen Übergang<br />
von Natürlichkeit zu tiefer Gottgeb<strong>und</strong>enheit anschaulich zu machen.<br />
E<strong>in</strong> solch personeller Kontakt ist noch ganz besonders für die Fortsetzung der Sendung<br />
Pater Kentenichs wichtig. Aus der <strong>Mit</strong>te se<strong>in</strong>es Wesens heraus war er Erzieher<br />
<strong>und</strong> Vater. Alles, was er schuf, sollte dazu dienen, den heutigen Menschen dort<br />
abzuholen, wo er ist <strong>und</strong> ihn im Prozeß e<strong>in</strong>es organischen Wachstums zur Ganzh<strong>in</strong>gabe<br />
an Gott zu führen. Solches geschieht aber nur <strong>in</strong> den konkreten E<strong>in</strong>zelvollzügen<br />
des täglichen <strong>Leben</strong>s, <strong>in</strong> der spontanen Begegnung mit dem <strong>Mit</strong>menschen,<br />
<strong>in</strong> der orig<strong>in</strong>ellen Bewältigung der vielen unberechenbaren Umstände <strong>und</strong><br />
Vorfälle des Alltags.<br />
Das vorliegende Büchle<strong>in</strong> will diese orig<strong>in</strong>elle Menschlichkeit Pater Kentenichs<br />
auffangen, bewahren <strong>und</strong> – <strong>in</strong> der Darstellungsweise des Mosaiks – zeichnen.<br />
Die lebendige Tradition der Schönstattfamilie kennt (noch) e<strong>in</strong>e unübersehbare<br />
Zahl kle<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zelerzählungen, wie <strong>sie</strong> hier aufgeschrieben s<strong>in</strong>d. Meist s<strong>in</strong>d es<br />
aber doch die Augenzeugen, die solche kle<strong>in</strong>e Begebenheiten <strong>in</strong> sich tragen <strong>und</strong><br />
richtig weitergeben. <strong>Damit</strong> nicht allzu viele mit den Erstzeugen sterben, seien e<strong>in</strong>ige<br />
hier aufgezeichnet <strong>und</strong> so den Nachfahren erhalten. Ihnen sollen <strong>sie</strong> erzählt<br />
se<strong>in</strong>, damit auch <strong>sie</strong> teil<strong>haben</strong> können an der „Güte <strong>und</strong> Menschenfre<strong>und</strong>lichkeit<br />
Gottes” (Tit 3,4), wie <strong>sie</strong> so unübersehbar <strong>in</strong> der Vatergestalt Pater Kentenichs<br />
durchschien.<br />
Vom heiligen Franz von Sales stammt das bekannte Wort: „E<strong>in</strong> Heiliger, der traurig<br />
ist, ist e<strong>in</strong> trauriger Heiliger!” Das Wort galt für ihn selbst, <strong>in</strong>dem gerade er<br />
ke<strong>in</strong> solcher Heiliger war. Es gilt auch für Pater Kentenich. Und so ist es nicht verw<strong>und</strong>erlich,<br />
dass die humorvollen Züge se<strong>in</strong>er Gestalt <strong>in</strong> diesem Büchle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
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esonders breiten Raum e<strong>in</strong>nehmen. Er selbst hat ja das Wort geprägt: „Gott<br />
liebt nichts so sehr als gerade e<strong>in</strong>en fröhlichen Heiligen.” Das Fröhlich-Se<strong>in</strong> an<br />
sich macht natürlich noch nicht den heiligmäßigen Menschen aus. Es kommt vielmehr<br />
auf den Frohs<strong>in</strong>n an, der aus der Bewältigung auch schwieriger Situationen<br />
erwächst. Gr<strong>und</strong>lage der Fröhlichkeit muß die Liebe <strong>und</strong> Menschlichkeit des <strong>Herz</strong>ens<br />
se<strong>in</strong>. Deshalb der Titel dieses Büchle<strong>in</strong>s: „<strong>Mit</strong> <strong>Herz</strong> <strong>und</strong> <strong>Humor</strong>”.<br />
Die Zusammenstellung der hier erzählten Begebenheiten berücksichtigt im großen<br />
Wurf den <strong>Leben</strong>slauf Pater Kentenichs. Nicht jede e<strong>in</strong>zelne Geschichte ist aber<br />
chronologisch richtig e<strong>in</strong>geordnet. Gerne s<strong>in</strong>d mehrere Begebenheiten zusammengefaßt,<br />
die geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>en Charakterzug Pater Kentenichs besser beleuchten.<br />
Der Leser ist deshalb veranlaßt, bei der Lektüre die Leiter der Geschichte etwas<br />
auf- <strong>und</strong> abzusteigen. Zur besseren Orientierung f<strong>in</strong>det sich deshalb im Anhang<br />
e<strong>in</strong>e knappe Chronologie des <strong>Leben</strong>s von Pater Kentenich.<br />
Eigens sei betont, dass fast alle hier erzählten Geschichten von den unmittelbar<br />
Beteiligten bezeugt s<strong>in</strong>d. Ihre geschichtliche Wahrheit wurde <strong>in</strong> allen Fällen überprüft,<br />
soweit dieses unter den gegebenen Umständen möglich war.<br />
Weil fast alle Geschichten dieses Büchle<strong>in</strong>s auf das Zeugnis lebender Personen zurückgehen,<br />
mag es verständlich se<strong>in</strong>, dass gr<strong>und</strong>sätzlich die Namen der Beteiligten<br />
nicht genannt s<strong>in</strong>d. Ausnahmen wurden nur gemacht, wo der Name des Beteiligten<br />
für das Verständnis der Geschichte notwendig war oder wo e<strong>in</strong>e Erzählung<br />
mit den dar<strong>in</strong> verwickelten Personen praktisch „Allgeme<strong>in</strong>gut” der Schönstattfamilie<br />
geworden ist.<br />
Aus demselben Gr<strong>und</strong> kann auch der Dank an alle diejenigen, die zur Entstehung<br />
dieses Büchle<strong>in</strong>s beigetragen <strong>haben</strong>, nicht namentlich abgestattet werden. Es<br />
s<strong>in</strong>d nicht wenige. Dass der Verfasser vor allem ihnen großen Dank schuldet, sei<br />
hier aber ausdrücklich erwähnt. In der Verbreitung dieser Schrift mögen <strong>sie</strong> ihren<br />
Beitrag zum weiteren Wirken Pater Kentenichs <strong>in</strong> den Seelen <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Kirche erkennen.<br />
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E<strong>in</strong> namentlicher Dank sei dem Verlag gesagt, der schon bei der Erstellung des<br />
Manuskriptes behilflich war; ebenso Herrn Guido Bausenhart, der es stilistisch<br />
überarbeitete <strong>und</strong> Frau Dr. Barbara Albrecht, die mit gutem Rat half.<br />
Am Schluß se<strong>in</strong>es Romans über den heiligen Thomas von Aqu<strong>in</strong> läßt Luis de Wohl<br />
den Zisterzienserabt des Klosters, <strong>in</strong> dem der Heilige im Sterben liegt, dessen große<br />
philosophische <strong>und</strong> theologische Leistung <strong>in</strong> der Synthese von aristotelischer<br />
<strong>und</strong> christlicher Weisheit zusammenfassen. E<strong>in</strong> Ritter, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em persönlichen<br />
<strong>Leben</strong> vom heiligen Thomas geführt wurde, steht dabei. Er denkt: „Der Philosoph,<br />
der Theologe, der Metaphysiker, der Doktor. Wenn Möge dieses Büchle<strong>in</strong> dazu beitragen,<br />
dass <strong>in</strong>nerhalb des großen Werkes, das uns Pater Kentenich h<strong>in</strong>terließ, se<strong>in</strong>e<br />
liebenswerte Väterlichkeit <strong>und</strong> Menschlichkeit erhalten bleiben.<br />
Schönstatt, den 18. November 1981 Peter Locher<br />
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Geschichten<br />
Regungslos lag der kle<strong>in</strong>e dreijährige Junge da, umgeben von der besorgten Mutter,<br />
der Krankenschwester des Ortes, den Großeltern <strong>und</strong> den verängstigten K<strong>in</strong>dern,<br />
mit denen der kle<strong>in</strong>e Joseph gerade noch vergnügt Versteck gespielt hatte.<br />
Dabei war er im Keller der Nachbarn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Brunnen gefallen. Nur e<strong>in</strong>e wohl<br />
durch den Schreck verursachte M<strong>und</strong>sperre verh<strong>in</strong>derte den E<strong>in</strong>tritt des Wassers<br />
<strong>und</strong> so den Tod des Kle<strong>in</strong>en. Der Großvater konnte ihn noch rechtzeitig herausziehen.<br />
Nun lag er regungslos da, den M<strong>und</strong> fest zusammengepreßt.<br />
Die Krankenschwester gewann den E<strong>in</strong>druck, dass der Junge bei Bewußtse<strong>in</strong> sei.<br />
Er aber reagierte auf alle Bemühungen <strong>und</strong> Anrufe der Umgebung nicht. Da<br />
griff die Krankenschwester zu e<strong>in</strong>er List <strong>und</strong> rief ihm <strong>in</strong>s Ohr: ,Jetzt wird der Joseph<br />
wieder ges<strong>und</strong>, dann darf er <strong>in</strong> die Verwahrschule <strong>und</strong> bekommt e<strong>in</strong> Bildchen.”<br />
<strong>Mit</strong> „Verwahrschule” war damals treffend der K<strong>in</strong>dergarten geme<strong>in</strong>t. Joseph<br />
mochte ihn offensichtlich nicht, denn er reagierte prompt: „Ich komm nit <strong>in</strong><br />
die ‚Wahrschul’ <strong>und</strong> will auch ke<strong>in</strong> Bildchen!” Er lebte wieder.<br />
Der junge Joseph Kentenich wollte nicht nur nicht <strong>in</strong> den K<strong>in</strong>dergarten, er mochte<br />
auch die Schule nicht. Und das, obwohl er immer der beste Schüler der Klasse<br />
war. Es war nicht Mangel an Wißbegier oder Begabung. Was schon dem kle<strong>in</strong>en<br />
Joseph Kentenich <strong>in</strong>nerlich widerstrebte, war die Menschenführung <strong>in</strong> der Schule,<br />
die Paukerei, die unselbständige <strong>und</strong> mechanische Lerndiszipl<strong>in</strong>; kurz, der pädagogische<br />
Aspekt der Schule.<br />
Die <strong>in</strong>nere Abneigung gegen e<strong>in</strong>e solche Art von Schuldiszipl<strong>in</strong> hielt sich die ganze<br />
Schulzeit h<strong>in</strong>durch. Im Gymnasium für Spätberufene <strong>in</strong> Ehrenbreitste<strong>in</strong> äußerte<br />
<strong>sie</strong> sich so:<br />
Der Mathematiklehrer war pflichtbewußt, aber nicht ganz Meister se<strong>in</strong>es Faches.<br />
Er g<strong>in</strong>g deshalb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Unterricht genau nach dem Lehrbuch vor: Die mathematische<br />
Regel wurde verkündet, das Beispiel dafür von ihm an die Tafel <strong>und</strong> von<br />
den Schülern <strong>in</strong> ihre Hefte gemalt, dass es gelernt werde.<br />
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Kentenich als bester Schüler saß <strong>in</strong> der letzten Bank l<strong>in</strong>ks. Nachdem nun der Lehrer<br />
die Aufgabe erklärt <strong>und</strong> das Beispiel an der Tafel aufgezeichnet hatte, wiederholte<br />
sich das ganze Schuljahr h<strong>in</strong>durch dasselbe Spiel. Die Schüler warteten<br />
schon darauf <strong>und</strong> wandten deshalb die Köpfe nach l<strong>in</strong>ks h<strong>in</strong>ten. Und auch der<br />
Lehrer wartete schon …bis Joseph Kentenich sich mit Handzeichen meldete <strong>und</strong><br />
die Frage stellte: „Kann es nicht auch anders se<strong>in</strong>?” Oft brachte er dann selbst e<strong>in</strong>en<br />
anderen Lösungsvorschlag für die gestellte Aufgabe. Immer aber brachte er<br />
den Lehrer <strong>in</strong> Verlegenheit; zur Freude der Klasse natürlich.<br />
Nach Jahrzehnten kommentierte Pater Kentenich, der selbst die Geschichte erzählte,<br />
das Ereignis folgendermaßen: „Ich sah wohl, dass ich den Lehrer verlegen<br />
machte. Aber der Drang <strong>in</strong> mir, nach Begründungen <strong>und</strong> Alternativen zu suchen,<br />
war unwiderstehlich.”<br />
Kehren wir aber <strong>in</strong> die frühe Jugend Pater Kentenichs <strong>und</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Heimatort<br />
Gymnich zurück. Joseph war e<strong>in</strong> unternehmungslustiger Junge wie die meisten<br />
Jungen dieses Alters. Wen w<strong>und</strong>ert es, dass <strong>sie</strong> der schöne, das ganze Dorf überragende<br />
Zwiebelturm der Pfarrkirche reizte? Zu dritt – e<strong>in</strong> Vetter <strong>und</strong> der Sohn<br />
des Küsters waren dabei – gelang es ihnen, <strong>in</strong> den Turm e<strong>in</strong>zudr<strong>in</strong>gen. Es zog <strong>sie</strong><br />
mächtig <strong>in</strong> die Höhe! Als ke<strong>in</strong>e Treppen <strong>und</strong> Leitern weiterführten, blieb „nur”<br />
noch übrig, e<strong>in</strong> paar Kunststücke auf dem Schieferdach der Zwiebel außerhalb<br />
des Turmes zu versuchen . . .<br />
Der Pfarrer bemerkte dieses <strong>und</strong> nahm sich vor, den drei Akrobaten e<strong>in</strong>e Lektion<br />
zu erteilen. <strong>Damit</strong> <strong>sie</strong> ihm nicht entwischten, schloß er die Tür zum Turm ab. Unsere<br />
Drei aber, nachdem <strong>sie</strong> sich derart gefangen fanden, gerieten so leicht nicht<br />
<strong>in</strong> Verlegenheit. Sie kletterten vom Turm <strong>in</strong> das Gewölbe des Kirchenschiffes, öffneten<br />
die Luke über dem Altar, ließen sich h<strong>in</strong>durch, bis <strong>sie</strong> auf der höchsten Stelle<br />
des Hochaltares zwischen Engeln <strong>und</strong> Heiligen Tritt fanden, kletterten die Säulen<br />
herunter auf den Altartisch, <strong>und</strong> ab durch die Kirche <strong>in</strong> die Freiheit.<br />
Im Oktober 1912 wurde Pater Kentenich zum Spiritual im Studienheim Schönstatt<br />
ernannt. Den jüngeren Klassen stellte er sich <strong>in</strong> der ersten Instruktion vor<br />
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mit den Worten: „Ich b<strong>in</strong> also da, um an euch Mutterstelle zu vertreten.”<br />
Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach <strong>und</strong> die Verhältnisse <strong>in</strong> Deutschland immer<br />
schwieriger wurden, sollten sich dem jungen Spiritual bald mehr als genug<br />
Gelegenheiten bieten, se<strong>in</strong> Wort wahrzumachen.<br />
Die Schüler des Studienheimes mußten mit Kriegsbeg<strong>in</strong>n von dem neu erbauten<br />
Studienheim am Hang, das Kriegslazarett wurde, <strong>in</strong> das viel dürftigere „Alte<br />
Haus” im Tal umziehen. Dort herrschte vor allem im Schreckensw<strong>in</strong>ter 1916/17 –<br />
e<strong>in</strong>em W<strong>in</strong>ter, <strong>in</strong> dem der Rhe<strong>in</strong> zufror – e<strong>in</strong> wahrer Notstand. Wegen des berüchtigten<br />
„Schwe<strong>in</strong>esterbens” <strong>in</strong> Deutschland war die Ernährungslage des Volkes katastrophal<br />
geworden. Internate wie jenes <strong>in</strong> Schönstatt wurden von der Knappheit<br />
besonders hart getroffen. Dürftige Kleidung <strong>und</strong> billiges, rationiertes Brennmaterial<br />
gaben den Rest.<br />
In dieser Zeit war der Spiritual zu den Jungen wirklich wie e<strong>in</strong>e Mutter. Man fand<br />
auf se<strong>in</strong>em Zimmer Unterschlupf <strong>und</strong> durfte sich aufwärmen. Auch auswe<strong>in</strong>en<br />
konnte man sich. Und schimpfen, was er schweigend anhörte. Häufi g geschah<br />
es, dass er sich erk<strong>und</strong>igte, wer denn zur Zeit besonders viel Hunger habe (wenn<br />
ihm nicht selbst e<strong>in</strong> besonders schmächtiges Gesicht auffi el). Ihm ließ er e<strong>in</strong> belegtes<br />
Brot zukommen, das er sich vom eigenen Essen abgespart hatte.<br />
In dem schrecklich kalten W<strong>in</strong>ter erfuhr er, dass e<strong>in</strong>er immer besonders heftig<br />
fror. Durch e<strong>in</strong>en Führer der Kongregation schickte er diesem se<strong>in</strong>e eigene Wolldecke<br />
mit der Bitte, ihm diese im Frühjahr wieder zurückzubr<strong>in</strong>gen.<br />
In se<strong>in</strong>en Er<strong>in</strong>nerungen formulierte es e<strong>in</strong> damaliger Schüler: „In jener Zeit war<br />
der Pater Spiritual für uns mehr Mutter als Vater.”<br />
Wie schon erwähnt, war das Studienheim der Pallott<strong>in</strong>er am Hang des Tales <strong>in</strong><br />
den Kriegsjahren 1914-18 Militärlazarett. Die Schüler mußten <strong>in</strong> beschränkter<br />
Zahl <strong>und</strong> <strong>in</strong> primitivsten Verhältnissen im „Alten Haus” <strong>in</strong> der Talsohle wohnen.<br />
Dort erhielten <strong>sie</strong> auch ihren Unterricht. Lediglich Kapelle, Küche <strong>und</strong> Speisesaal<br />
des Studienheimes konnten auch während der Kriegsjahre von den Pallott<strong>in</strong>ern<br />
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enützt werden. Die Folge davon war, dass alle Schüler <strong>und</strong> Lehrer dreimal täglich<br />
den schmalen Weg am Hang h<strong>in</strong>auf<strong>und</strong> h<strong>in</strong>absteigen mußten.<br />
E<strong>in</strong>es W<strong>in</strong>terabends – es war schon Nacht – gehen drei der Buben nebene<strong>in</strong>ander<br />
<strong>und</strong> <strong>haben</strong> es besonders wichtig, blockieren dabei aber die ganze Breite des Weges.<br />
Da kommt schnellen Schrittes von h<strong>in</strong>ten aus dem Dunkel e<strong>in</strong>e Gestalt heran<br />
<strong>und</strong> versucht, zwischen den dreien durchzukommen. Diese reagieren sofort,<br />
rücken noch enger zusammen, <strong>und</strong> der Wortführer der Jungen ruft entschieden:<br />
„Das gibt es nicht! Du kannst wohl so wenig de<strong>in</strong>en Hunger beherrschen, dass es<br />
dir hier nicht schnell genug geht!” Es gibt ke<strong>in</strong> Durchkommen. Der Unbekannte<br />
läßt ab <strong>und</strong> geht brav h<strong>in</strong>ter den dreien e<strong>in</strong>her – bis zur nächsten Kurve, wo der<br />
Weg etwas breiter <strong>und</strong>, von e<strong>in</strong>er Lampe beleuchtet, leicht zu überschauen ist.<br />
Dort Überholt die dunkle Gestalt die Buben. Die drei erkennen betreten ihren Pater<br />
Spiritual, der an ihrer Verlegenheit se<strong>in</strong>e königliche Freude hat.<br />
Wer beichtet schon gerne? Menschen, die von Skrupeln geplagt oder von großer<br />
Schuld bedrückt s<strong>in</strong>d, vielleicht.<br />
Auch solche, die tief um e<strong>in</strong>en barmherzigen Gott wissen <strong>und</strong> gerne se<strong>in</strong>e Vergebung<br />
suchen. Wohl kaum aber Jugendliche, die Gebote als Verbote erleben<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong> ihrem Entfaltungsdrang bei gleichzeitiger Unsicherheit dauernd mit e<strong>in</strong>em<br />
halbschlechten Gewissen herumlaufen (sofern das Gewissen sich überhaupt<br />
meldet).<br />
Zu Beg<strong>in</strong>n unseres Jahrh<strong>und</strong>erts beherrschte das Bild des richtenden <strong>und</strong> strafenden<br />
Gottes die gewöhnliche Frömmigkeit. Man hatte e<strong>in</strong> schlechtes <strong>und</strong> furchtsames<br />
Gewissen. Man „mußte” beichten.<br />
Im Studienheim Schönstatt war die Situation nicht viel anders. Die Diszipl<strong>in</strong><br />
des Hauses unterstützte e<strong>in</strong> solches <strong>Leben</strong>sgefühl. Alle zwei Wochen am Freitag,<br />
dem Beichttag, standen die Jungen, klassenweise aus dem Studiersaal abgerufen,<br />
der Reihe nach im Gang vor dem Zimmer des Spirituals, das Gesicht zur<br />
Wand gekehrt, die Arme auf dem Rücken <strong>und</strong> den Rosenkranz <strong>in</strong> den Händen.<br />
Der Präfekt schritt den Gang ab <strong>und</strong> achtete auf strenges Stillschweigen, „damit<br />
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die Reue unterwegs nicht verlorengehe”.<br />
Pater Kentenich ließ als Spiritual <strong>in</strong> der ersten Zeit nach se<strong>in</strong>er Ernennung im<br />
Oktober 1912 die äußere Beichtdiszipl<strong>in</strong> bestehen. Die Jungen standen weiterh<strong>in</strong><br />
nach Vorschrift im Gang. In se<strong>in</strong>em Arbeitszimmer aber, das auch Beichtzimmer<br />
war, begann er bald, das bedrückende Klima des Beichtens zu ändern, nicht<br />
durch andere Formen anfangs, sondern durch se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>stellung <strong>und</strong> die<br />
Art des Zuspruchs.<br />
Als dann nach Kriegsausbruch das Studienheim im Oktober 1914 <strong>in</strong> das „Alte<br />
Haus” zurückverlegt werden mußte <strong>und</strong> die frühere Diszipl<strong>in</strong> sowieso nicht mehr<br />
<strong>in</strong> der alten Strenge aufrechtzuerhalten war, wandelte sich das Beichten beim Pater<br />
Spiritual gänzlich.<br />
Der Betstuhl stand an der Schmalseite des Schreibtisches, an dem Pater Kentenich<br />
saß. Kaum war der „arme Sünder” niedergekniet, ergriff der Beichtvater die<br />
Initiative. „Wie geht es dir denn? Bist du mit de<strong>in</strong>er Note <strong>in</strong> der Late<strong>in</strong>arbeit zufrieden,<br />
die ihr gestern zurückbekommen habt? Wie geht es der kranken Mutter?<br />
Was machen Vater <strong>und</strong> Bruder im Feld? Gab‘s Krach mit dem Pater Präfekt?”<br />
Die „Kle<strong>in</strong>en <strong>und</strong> Neuen” wurden auch mit der Frage überrascht: „Hast du Heimweh?”<br />
Und dabei konnte es schon e<strong>in</strong>mal Tränen geben nicht über die begangenen<br />
Sünden, sondern, weil es halt schwer war, <strong>in</strong> Schule <strong>und</strong> Internat, weg von zu<br />
Hause, durchzuhalten. Schließlich wurde auch gebeichtet.<br />
Wiederholte sich die Erfahrung e<strong>in</strong>er solchen „Beichtvorbereitung”, dann änderten<br />
sich auch bald Vore<strong>in</strong>stellung <strong>und</strong> Vorbereitung vor dem Beichtzimmer. Kam<br />
man zum Beichten, wußte man schon, was man dem Pater Spiritual sagen wollte,<br />
auch wenn das Sündenregister des Beichtspiegels dazu ke<strong>in</strong>e Anregung bot.<br />
E<strong>in</strong> menschliches Gespräch entstand, das so befreite, dass Pater Kentenich e<strong>in</strong>mal<br />
e<strong>in</strong>en, der nach dem Gespräch gleich gehen wollte, er<strong>in</strong>nern mußte: „Wollen<br />
wir jetzt nicht noch beichten?”<br />
An e<strong>in</strong>em Beichttag kommt e<strong>in</strong>er der Jungen aus dem Zimmer von Pater Spiritual<br />
mit strahlendem, fast verklärtem Gesicht. „Na, warum lachst du denn über das<br />
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ganze Gesicht?”, fragen ihn spontan die Wartenden. Der Gefragte läßt sich nicht<br />
h<strong>in</strong>ter die Kulissen schauen <strong>und</strong> erwidert prompt: „Weil heute der Beichtvater so<br />
gut gelaunt ist!”<br />
In religiösen Geme<strong>in</strong>schaften, denen jahraus, jahre<strong>in</strong> immer derselbe, e<strong>in</strong> „ordentlicher”<br />
Beichtvater, zur Verfügung steht, ist es Brauch, <strong>in</strong> gewissen Zeitabständen<br />
e<strong>in</strong>en zweiten, auswärtigen, eben e<strong>in</strong>en „außerordentlichen” Beichtvater zu bestellen.<br />
Die E<strong>in</strong>richtung besteht für den Fall, dass etwas Besonderes vorliegt, auf<br />
Gr<strong>und</strong> dessen e<strong>in</strong> Poenitent sich schwertut, sich dem bekannten Beichtvater anzuvertrauen.<br />
Oft hat allerd<strong>in</strong>gs der „außerordentliche” Beichtvater auch e<strong>in</strong>fach<br />
die Funktion, für etwas Abwechslung zu sorgen.<br />
Der Brauch bestand auch im Studienheim Schönstatt zu der Zeit, als Pater Kentenich<br />
Spiritual <strong>und</strong> <strong>in</strong> dieser Eigenschaft „ordentlicher” Beichtvater der Jungen<br />
war. Dem „außerordentlichen” Beichtvater eilte bei der untersten Klasse, die ihn<br />
noch nicht kannte, der Ruf von etwas ganz Besonderem voraus: Es war der Graf<br />
von XY, dessen Bruder <strong>in</strong> der kaiserlichen Leibgarde <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> diente! Hoch zu<br />
Roß wird er anreiten! Er soll auch sehr reich se<strong>in</strong> <strong>und</strong> immer viel Geld an die Armen<br />
verschenken! Er muß e<strong>in</strong> ungewöhnlicher Beichtvater se<strong>in</strong>! Klar, dass fast<br />
die ganze Sexta sich vor se<strong>in</strong>em Beichtstuhl anstellte.<br />
Der Graf im priesterlichen Stand kam auch tatsächlich auf se<strong>in</strong>em Pferd angeritten;<br />
e<strong>in</strong>e stattliche, adelige Gestalt. Im Beichtstuhl kam allerd<strong>in</strong>gs die große Enttäuschung:<br />
Der hohe Herr nuschelte nach dem Bekenntnis e<strong>in</strong> paar kaum verständliche<br />
Sätze vor sich h<strong>in</strong> <strong>und</strong> absolvierte „ruck-zuck”!<br />
Auf diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> dämmerte den Jungen, dass ihr Pater Spiritual, der „ordentliche”<br />
Beichtvater, e<strong>in</strong> – kam es e<strong>in</strong>mal wirklich zum Beichten – recht „außerordentlicher”<br />
Beichtvater war.<br />
Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg wurde <strong>in</strong> mehreren Kirchen <strong>in</strong> der Umgebung<br />
Schönstatts e<strong>in</strong>gebrochen <strong>und</strong> der Tabernakel ausgeraubt. Die Leitung des<br />
dortigen Studienheimes beschloß deshalb, für e<strong>in</strong>ige Zeit das Allerheiligste jeden<br />
Abend <strong>in</strong> das Krankenoratorium zu übertragen <strong>und</strong> bei Nacht zu bewachen. Die<br />
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Nachtwache wurde den Patres zugeteilt. Und so mußte auch Pater Kentenich<br />
„Wache schieben”.<br />
E<strong>in</strong>ige von den älteren Schülern, ehemalige Kriegsteilnehmer, beobachteten dabei<br />
ihren Pater Spiritual <strong>und</strong> sahen ihn ruhig auf <strong>und</strong> abgehen – den Rosenkranz<br />
<strong>in</strong> der Hand. Das war nun ihrer Me<strong>in</strong>ung nach aber der gefährlichen Situation<br />
überhaupt nicht angemessen. Die prägenden Kriegserlebnisse kaum h<strong>in</strong>ter sich,<br />
kamen <strong>sie</strong> – kopfschüttelnd über soviel Naivität – zu der Überzeugung, dass<br />
man so das Allerheiligste nicht bewachen <strong>und</strong> mit e<strong>in</strong>em Rosenkranz schon gar<br />
nicht gegen E<strong>in</strong>brecher vorgehen könne. Was hier nottat, war e<strong>in</strong>e Waffe. Und so<br />
brachten <strong>sie</strong> Pater Kentenich e<strong>in</strong> Bajonett.<br />
Dieser g<strong>in</strong>g nachsichtig auf <strong>sie</strong> e<strong>in</strong>, nahm es dankend an <strong>und</strong> trug es verständnisvoll,<br />
fromm <strong>und</strong> brav mit sich auf <strong>und</strong> ab – bis die „Kriegsveteranen” sich befriedigt<br />
zurückgezogen hatten. Dann legte er das unbequeme Werkzeug auf das<br />
Fensterbrett im Gang <strong>und</strong> betete weiter se<strong>in</strong>en Rosenkranz.<br />
Zu den frühesten <strong>Mit</strong>arbeitern Pater Kentenichs an der Zentrale <strong>in</strong> Schönstatt gehörte<br />
Pater M. Aus Hillscheid, e<strong>in</strong>em Nachbarort Schönstatts, stammend, fand<br />
er – durch e<strong>in</strong>e Predigt Pater Kentenichs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Pfarrkirche angezogen bereits<br />
als Junge se<strong>in</strong>en Weg <strong>in</strong>s Studienheim <strong>und</strong> zur Marianischen Kongregation, <strong>in</strong> deren<br />
Schoß Schönstatt als neue Bewegung am 18. Oktober 1914 gegründet wurde.<br />
Schon zu jener Zeit hatte Pater Kentenich die Mutter des jungen Internatsschülers<br />
kennengelernt, als diese e<strong>in</strong>mal ihren Sohn besuchte. Nun, nachdem Pater<br />
M. an der Zentrale <strong>in</strong> Schönstatt als Priester wirkte, bedrängte er den Gründer<br />
verschiedentlich, doch e<strong>in</strong>mal mit ihm e<strong>in</strong>en Spaziergang zum Heimatdorf zu<br />
machen, um mit ihm bei der Mutter e<strong>in</strong>e Tasse Kaffee zu tr<strong>in</strong>ken.<br />
Der Besuch fand statt – allerd<strong>in</strong>gs nicht so, wie Pater M. sich ihn vorgestellt hatte.<br />
In se<strong>in</strong>er Abwesenheit hatte Pater Kentenich mit zwei anderen <strong>Mit</strong>brüdern e<strong>in</strong>en<br />
Spaziergang gemacht, der <strong>sie</strong> unabsichtlich bis Hillscheid führte. Dort er<strong>in</strong>nerte<br />
er sich der E<strong>in</strong>ladung. Und so klopften die drei Patres bei Mutter M. an <strong>und</strong><br />
luden sich zum Kaffee e<strong>in</strong>. Die e<strong>in</strong>fache <strong>und</strong> sehr fromme Frau geriet ganz durche<strong>in</strong>ander:<br />
drei hochwürdige Herren <strong>und</strong> darunter der hochverehrte Pater Spiritu-<br />
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al! Sie ließ <strong>in</strong> ihrem ersten Schreck die Besucher unter der Türe stehen <strong>und</strong> legte<br />
zuerst e<strong>in</strong>mal ihre Werktagsschürze ab <strong>und</strong> ihre Sonntagsschürze an. Dann erschien<br />
<strong>sie</strong> wieder <strong>und</strong> führte die Gäste <strong>in</strong> die Wohnstube, begann Kaffee zu kochen<br />
<strong>und</strong> trug auf, was Küche <strong>und</strong> Keller hergaben. Schließlich kam <strong>sie</strong>, um den<br />
Kaffee e<strong>in</strong>zugießen. „Aber” – so erzählte <strong>sie</strong> später ihrem Sohn – „ich war so aufgeregt,<br />
dass ich bei der Tasse vom Herrn Pater das meiste <strong>in</strong> die Untertasse goß.”<br />
Da stand <strong>sie</strong>, ganz verdattert, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>en Hand die Tasse, <strong>in</strong> der anderen Hand<br />
die Kanne <strong>und</strong> wußte nicht mehr, was <strong>sie</strong> tun sollte.<br />
Pater Kentenich bemerkte ihre Verlegenheit <strong>und</strong> wandte sich ihr lächelnd zu: „Ist<br />
nicht schlimm, Mutter M., sehen Sie, das macht man so!” Er nahm ihr die Tasse<br />
ab <strong>und</strong> goß den verschütteten Kaffee von der Untertasse <strong>in</strong> die Tasse. Die Verlegenheit<br />
war behoben.<br />
Pater Kentenich lud diese e<strong>in</strong>fache Mutter M. e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>ige erholsame Tage<br />
<strong>in</strong> Schönstatt zu verbr<strong>in</strong>gen. Er wählte die Zeit e<strong>in</strong>es großen Exerzitienkurses für<br />
Priester im damaligen B<strong>und</strong>esheim. Mutter M. erhielt das Zimmer neben der Empore<br />
zur Hauskapelle. „Du wirst sehen, was pas<strong>sie</strong>ren wird …”, bemerkte er zum<br />
Sohn. Was er vorausgesagt hatte, geschah: Mutter M. verweilte den ganzen Morgen<br />
auf der Empore der Kapelle <strong>und</strong> vollzog die vielen Messen mit, die – nach damaligem<br />
Ritus, der noch ke<strong>in</strong>e Konzelebration gestattete – nache<strong>in</strong>ander an den<br />
verschiedenen Altären von den Priestern zelebriert wurden. Und als die Reihe der<br />
Meßfeiern im B<strong>und</strong>esheim zu Ende war <strong>und</strong> der Vortrag anf<strong>in</strong>g, g<strong>in</strong>g <strong>sie</strong> zum nahen<br />
Heiligtum, um zu sehen, ob nicht dort noch e<strong>in</strong>e Messe sei, die mitgefeiert<br />
werden könnte. So verliefen die erholsamen Tage der Mutter M.!<br />
E<strong>in</strong>es Nachmittags bemerkt <strong>sie</strong>, wie sich aus verschiedenen Richtungen e<strong>in</strong> Strom<br />
Marienschwestern auf das Heiligtum zubewegt. „Da muß etwas los se<strong>in</strong>”, denkt<br />
<strong>sie</strong> <strong>und</strong> schließt sich dem Strom an. Unter lauter Schwestern wartet <strong>sie</strong>, was da<br />
kommen soll. Und kommen sollte Pater Kentenich, der während der Zeit der Priesterexerzitien<br />
den Schwestern e<strong>in</strong>en Vortrag zu e<strong>in</strong>er nachmittäglichen St<strong>und</strong>e<br />
hielt. Begreiflich, dass die Schwestern bei diesem Vortrag unter sich se<strong>in</strong> wollten.<br />
E<strong>in</strong>e Schwester flüstert deshalb der frommen Frau zu: „Hier hält Pater Kentenich<br />
jetzt gleich e<strong>in</strong>en Vortrag!” - „Oh, das ist mir sehr recht”, bemerkt unschul-<br />
12
dig Mutter M.<br />
Dem herannahenden Pater Kentenich wird die Warnung entgegengebracht:<br />
„Herr Pater, da ist e<strong>in</strong>e Frau im Kapellchen, die will nicht gehen.” Der „Gewarnte”<br />
ahnt gleich, um wen es sich da wohl handelt, läßt sich zur Sicherheit die Frau etwas<br />
beschreiben, dirigiert die Schwerstern <strong>in</strong>s Heiligtum <strong>und</strong> betritt es schließlich<br />
selbst, um se<strong>in</strong>en Vortrag zu beg<strong>in</strong>nen: „Liebe Schwestern, unter uns sitzt heute<br />
die Mutter M. Über <strong>sie</strong> werde ich jetzt den Vortrag halten . . .”<br />
Und dann folgt e<strong>in</strong>e Darlegung über das „Gebet der E<strong>in</strong>fachheit”, das schlichte<br />
<strong>und</strong> gelöste Bei-Gott-Se<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er übernatürlichen Atmosphäre des <strong>Herz</strong>ens<br />
ohne viel Reflexion <strong>und</strong> Worte. Und immer wieder heißt es <strong>in</strong> der Die Verlegenheit<br />
der Mutter M. kann man sich vorstellen. „Ich wäre am liebsten unter die Bank gekrochen”,<br />
erzählt <strong>sie</strong> später ihrem Sohn. Es half aber nichts: Pater Kentenich, der<br />
ihre Seele kannte, machte <strong>sie</strong> zum lebendigen Anschauungsunterricht.<br />
Dass Pater Kentenich oft der Schalk im Nacken saß, erhellt besonders treffend<br />
folgende Geschichte. Sie geschah Ende der zwanziger Jahre. Pater Kentenich mit<br />
se<strong>in</strong>en <strong>Mit</strong>arbeitern lebte noch nicht allzu lange <strong>in</strong> dem neu erbauten B<strong>und</strong>esheim<br />
(heute „Pallotti-Haus”).<br />
Pater M. erhält e<strong>in</strong>es Tages von der Pforte aus e<strong>in</strong>en Anruf. Er geht zum Telefon,<br />
nimmt den Hörer ab <strong>und</strong> me<strong>in</strong>t an der hellen Stimme se<strong>in</strong>e Tante Anna zu<br />
erkennen. „Ah, Tante Anna”, fragt er überrascht, „bist Du es?” – Die helle Stimme<br />
stockt kurz, bestätigt aber dann: „Ja, ich b<strong>in</strong> es.” – „So, wie bist Du denn von<br />
Höhr-Grenzhausen hier herunter gekommen?” – „Oh, das g<strong>in</strong>g ganz schnell!” –<br />
„Na, dann warte e<strong>in</strong>en Augenblick”, schlägt Pater M. vor, „ich besorge Dir e<strong>in</strong>en<br />
Kaffee.” – „Das ist nicht nötig”, kommt es abwehrend zurück . . .<br />
Pater M. geht zur Pforte <strong>und</strong> <strong>sie</strong>ht, wie Pater Kentenich raschen Schrittes durch<br />
den Innenhof davoneilt. Die Tante Anna ist nicht zu f<strong>in</strong>den. Er geht also <strong>in</strong> se<strong>in</strong><br />
Zimmer zurück. Da kl<strong>in</strong>gelt das Telefon wieder. In dem schallenden Gelächter derselben<br />
hellen Stimme gibt sich Pater Kentenich zu erkennen.<br />
13
Schon im Jahre 1925 hatten sich die „Berufstätigen B<strong>und</strong>esschwestern” zusammengeschlossen,<br />
e<strong>in</strong>e Gruppe von jungen Frauen, die sich hauptsächlich für die<br />
Bewegung e<strong>in</strong>setzen wollten <strong>und</strong> deshalb nach Schönstatt zogen, um dort für<br />
alle nötigen Dienste zur Verfügung zu stehen. (E<strong>in</strong> Jahr später sollten sich aus ihnen<br />
die Schönstätter Marienschwestern entwickeln.)<br />
Von e<strong>in</strong>er jener „Berufstätigen”, wie <strong>sie</strong> kurz genannt wurden, starb der Vater.<br />
Die Tochter, gerade zu Hause weilend, konnte der Mutter beistehen. Nachdem<br />
der Vater beerdigt war, fragte <strong>sie</strong> brieflich bei Pater Kentenich an wann <strong>sie</strong> denn<br />
zurückkehren solle. Die Antwort: „Bleiben Sie noch e<strong>in</strong> halbes Jahr zu Hause, bis<br />
sich die Mutter an das Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> gewöhnt hat.”<br />
Unter Pater Kentenichs Inspiration erwuchs <strong>in</strong> den Jahren 1925/26 aus der jungen<br />
Apostolischen Bewegung die erste religiöse Geme<strong>in</strong>schaft, die Schönstätter<br />
Marienschwestern. Die Anfangsjahre fielen – so charakteri<strong>sie</strong>rte es der Gründer<br />
selbst – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e „große wirtschaftliche Notzeit”. Um zum Beispiel e<strong>in</strong>ige Gästezimmer<br />
im sogenannten „Schlößchen” e<strong>in</strong>zurichten <strong>und</strong> dadurch e<strong>in</strong>e bescheidene<br />
E<strong>in</strong>nahmequelle zu erschließen, stellten die Noviz<strong>in</strong>nen mit großer Selbstverständlichkeit<br />
ihre als Aussteuer mitgebrachten Betten zur Verfügung <strong>und</strong> schliefen<br />
selbst auf Strohsäcken. Alles, was irgendwie entbehrlich war an Mobiliar, Geschirr<br />
<strong>und</strong> <strong>Leben</strong>smittelvorräten, wurde <strong>in</strong> das neue, am 15. August 1928 e<strong>in</strong>geweihte<br />
B<strong>und</strong>esheim gegeben, das fortan der Apostolischen Bewegung als Exerzitien-<br />
<strong>und</strong> Tagungsheim dienen sollte. Dafür fehlte es im sogenannten „Alten<br />
Haus”, der ersten Unterkunft der Schwestern, nicht selten an den notwendigsten<br />
D<strong>in</strong>gen des alltäglichen <strong>Leben</strong>s: an Geschirr, Besteck <strong>und</strong> <strong>Leben</strong>smitteln. „Salzher<strong>in</strong>ge<br />
mit Pellkartoffeln,” „Pellkartoffeln <strong>und</strong> dicke Bohnen” war oft genug auf<br />
dem Speisezettel zu lesen.<br />
Diese ärmlichen Anfangsverhältnisse schadeten dem Idealismus der Noviz<strong>in</strong>nen<br />
ke<strong>in</strong>eswegs. Im Gegenteil, er fand dar<strong>in</strong> sogar neue Nahrung!<br />
Als h<strong>in</strong>gegen die Eltern der Noviz<strong>in</strong>nen zur E<strong>in</strong>kleidung kamen, diese Anfänge<br />
sahen <strong>und</strong> dazu hörten, dass die neue Geme<strong>in</strong>schaft ke<strong>in</strong> „Kloster” sei <strong>und</strong> kei-<br />
14
ne Gelübde habe, wollten e<strong>in</strong>ige Eltern ihre K<strong>in</strong>der lieber wieder mit nach Hause<br />
nehmen.<br />
Pater Kentenich hörte davon, ließ die Eltern rufen, unterhielt sich e<strong>in</strong> wenig mit<br />
ihnen <strong>und</strong> frug schließlich: „Sie wollen Ihre K<strong>in</strong>der wieder mit nach Hause nehmen?<br />
Machen Sie sich ke<strong>in</strong>e Sorge, das s<strong>in</strong>d jetzt unsere K<strong>in</strong>der!”<br />
Nach diesen überzeugenden Worten, h<strong>in</strong>ter denen die glaubwürdige Persönlichkeit<br />
des Gründers stand, wollte ke<strong>in</strong> Vater <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e Mutter mehr ihr K<strong>in</strong>d mit<br />
nach Hause nehmen.<br />
Pater Kentenich achtete sorgfältig darauf, dass durch den E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er<br />
religiösen Geme<strong>in</strong>schaften die B<strong>in</strong>dungen Menschliche Rücksicht zur natürlichen<br />
Familie nicht zerschnitten wurden. Ehrfürchtig stand er vor jeder gewachsenen<br />
Liebe <strong>und</strong> suchte <strong>sie</strong> zu schützen. In se<strong>in</strong>er Erziehung g<strong>in</strong>g er von dem Gedanken<br />
aus, dass jede ges<strong>und</strong>e Naturb<strong>in</strong>dung das beste F<strong>und</strong>ament für den Weg<br />
zur Heiligkeit ist; <strong>und</strong> das nicht nur zu Beg<strong>in</strong>n des Weges, sondern <strong>in</strong> jeder Phase<br />
des Wachstums.<br />
Zu den ersten Kursen der Marienschwestern gehörten drei Töchter e<strong>in</strong>er Familie;<br />
e<strong>in</strong> nicht leichter Verzicht für die Eltern. Pater Kentenich konnte das Empf<strong>in</strong>den<br />
der Eltern verstehen. Als deshalb die dritte stolz das Kleid der Schwestern trug,<br />
schickte er alle drei zum Fotografen <strong>und</strong> ließ e<strong>in</strong>e Aufnahme von ihnen machen;<br />
ke<strong>in</strong>e Selbstverständlichkeit für die zwanziger Jahre. Das Bild ließ er dann auf eigene<br />
Kosten rahmen <strong>und</strong> schenkte es den Eltern zu Weihnachten.<br />
Iu den ersten Marienschwestern gehörte die jüngste Tochter e<strong>in</strong>er Witwe mit drei<br />
K<strong>in</strong>dern. Das zweite K<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong> Sohn, war auch schon entschlossen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Orden<br />
e<strong>in</strong>zutreten. Als die Älteste auch Marienschwester werden wollte, wehrte sich die<br />
Mutter. Sollte <strong>sie</strong>, die drei K<strong>in</strong>der gebar <strong>und</strong> den Mann verloren hatte, auf ihre alten<br />
Tage alle<strong>in</strong> gelassen se<strong>in</strong>? In ihrem Dilemma, was zu tun sei, vielleicht auch <strong>in</strong><br />
der Suche nach Unterstützung, den eigenen Weg gehen zu dürfen, wandte sich<br />
die Tochter an Pater Kentenich um Rat. Bald kam das Briefle<strong>in</strong> mit der Weisung:<br />
„Kommen Sie erst, wenn die Mutter Sie freiwillig gehen läßt.”<br />
15
Es zogen e<strong>in</strong>ige Jahre <strong>in</strong>s Land, <strong>in</strong> denen über das Thema zwischen Mutter <strong>und</strong><br />
Tochter geschwiegen, gleichzeitig aber viel gebetet wurde. Dann, während geme<strong>in</strong>sam<br />
verbrachter Ferien <strong>in</strong> Schönstatt, me<strong>in</strong>te die Mutter ganz aus sich:<br />
„Wenn Du nun so gern zu den Marienschwestern gehen möchtest, dann gehe <strong>in</strong><br />
Gottes Namen.”<br />
E<strong>in</strong>e Tagung für Jungmänner g<strong>in</strong>g zu Ende. Es war <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der<br />
zwanziger Jahre, als sich praktisch das ganze Schönstattleben noch beim Urheiligtum<br />
<strong>und</strong> im danebenliegenden sogenannten „Alten Haus” abspielte. Die Bewegung<br />
begann sich zu entfalten, <strong>und</strong> „Zeit” wurde für Pater Kentenich allmählich<br />
e<strong>in</strong> immer seltenerer Artikel …<br />
Der Gründer hatte den Jungmännern die Tagung gehalten.<br />
Jetzt aber, am letzten Tag, drängten andere Verpflichtungen. Die begeisterten<br />
Jungmänner wollten dies nicht e<strong>in</strong>sehen. Sie hatten zum krönenden Abschluß<br />
der Tagung e<strong>in</strong>en Fackelzug geplant. „Herr Pater” sollte unbed<strong>in</strong>gt mitgehen. Se<strong>in</strong>en<br />
H<strong>in</strong>weis, er habe andere Verpflichtungen, akzeptierten die Jungen nicht. In<br />
ihrer stürmischen <strong>und</strong> jungenhaften Art, die Pater Kentenich fraglos gefi el, klopften<br />
<strong>sie</strong> sogar ans Sprechzimmer im „Alten Haus”, wo Pater Kentenich gerade mit<br />
der Generalober<strong>in</strong> der Marienschwestern e<strong>in</strong>e Unterredung führte, <strong>und</strong> kündigten<br />
an, bald würden <strong>sie</strong> ihn zum Fackelzug holen.<br />
Pater Kentenich hatte aber wirklich ke<strong>in</strong>e Zeit. Was tun? Er prüfte das Fenster<br />
des Sprechzimmers, das auf der dem Heiligtum <strong>und</strong> E<strong>in</strong>gang abgewandten Seite<br />
des Hauses lag <strong>und</strong> schwang sich kurz entschlossen durch das Fenster <strong>in</strong>s Freie.<br />
Dann zog er sich <strong>in</strong>s Dunkel am Hang zum Studienheim zurück.<br />
Die Jungen wollten ihren Augen nicht trauen, als <strong>sie</strong> Herrn Pater im Sprechzimmer<br />
nicht mehr vorfanden. Sie durchsuchten das Zimmer <strong>und</strong> bestürmten die<br />
Schwester, die sich natürlich ausschwieg, mit h<strong>und</strong>ert Fragen. Es war wie Hexerei.<br />
Auf die Idee, der Herr Pater könne durchs Fenster geklettert se<strong>in</strong>, kamen <strong>sie</strong><br />
nicht.<br />
16
Schließlich mußte der Fackelzug ohne Pater Kentenich stattf<strong>in</strong>den. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
stand er, wie er später erzählte, e<strong>in</strong>e Weile am Bergabhang <strong>und</strong> schaute dem Fackelzug<br />
zu. Dann machte er sich an se<strong>in</strong>e dr<strong>in</strong>gende Arbeit.<br />
Vom Gedächtnis Pater Kentenichs erzählte man schon zu se<strong>in</strong>en Lebzeiten fast<br />
legendäre Geschichten. Sie kreisten weniger um die Tatsache, dass er alle möglichen<br />
Autoren <strong>und</strong> Bücher zitieren konnte <strong>und</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Schriften verarbeitete<br />
(was er auch tat). Vielmehr drückten <strong>sie</strong> das Staunen darüber aus, dass Pater<br />
Kentenich die kle<strong>in</strong>sten Kle<strong>in</strong>igkeiten behielt, die ihn mit den Menschen verbanden<br />
<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Aufmerksamkeit offenbarten.<br />
Es war <strong>in</strong> den dreißiger Jahren. Die Eltern e<strong>in</strong>er jüngeren Schwester kamen nach<br />
Schönstatt zu Besuch. Pater Kentenich fand die Zeit, sich mit ihnen etwas zu unterhalten.<br />
Während des Gespräches fiel ihm auf, dass der Vater, e<strong>in</strong> Landwirt,<br />
merkwürdig unruhig war. Schließlich kam die Ursache heraus: E<strong>in</strong>e Kuh sollte um<br />
diese Zeit kalben, <strong>und</strong> der Mann sorgte sich sehr, ob wohl auch alles gut gehe.<br />
Nach mehreren Jahren traf Pater Kentenich die Eltern wieder. Die Begrüßung war<br />
noch nicht zu Ende, da erk<strong>und</strong>igte er sich schon: „Hat die Kuh gut gekalbt?”<br />
E<strong>in</strong> herzkrankes Mädchen aus dem Schwabenland wurde – es war <strong>in</strong> den dreißiger<br />
Jahren – an e<strong>in</strong>e Heilstätte im norddeutschen Raum zur Kur überwiesen.<br />
Das Mädchen war Pater Kentenich wohlbekannt <strong>und</strong> schrieb ihm bald e<strong>in</strong>en<br />
Brief, <strong>in</strong> dem <strong>sie</strong> über das neue <strong>Leben</strong> berichtete: Das Wetter <strong>und</strong> die Umgebung<br />
seien herrlich, die Verpflegung gut <strong>und</strong> reichlich – wenn es auch nicht gerade<br />
„schwäbische Küche” sei! Auch die Unterbr<strong>in</strong>gung sei gut. Ebenso das Verhältnis<br />
zu den anderen Kurgästen. Sie sei r<strong>und</strong>um zufrieden.<br />
<strong>Mit</strong> e<strong>in</strong>er Antwort rechnete das Mädchen <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise, da Pater Kentenich<br />
Und dennoch: An e<strong>in</strong>em der nächsten Tage kommt der Geldbriefträger, händigt<br />
ihr 20,00 Mark aus <strong>und</strong> dazu den Abschnitt der Postanweisung, auf dem <strong>in</strong> der<br />
Handschrift Pater Kentenichs zu lesen steht: „Für schwäbische Leckerbissen!”<br />
17
Die Gabe der ganz persönlichen Aufmerksamkeit blieb Pater Kentenich bis zum<br />
Ende se<strong>in</strong>es <strong>Leben</strong>s.<br />
Es war auf Berg Schönstatt während der drei letzten <strong>Leben</strong>sjahre des Gründers.<br />
E<strong>in</strong> <strong>Mit</strong>glied der Schönstattfamilie war bei ihm, als das Essen serviert wurde,<br />
<strong>und</strong> Pater Kentenich lud die Betreffende zum <strong>Mit</strong>tagessen e<strong>in</strong>. Herr Pater fragte<br />
im Gespräch unter anderem nach den Eßgewohnheiten ihrer Heimat. Ganz erstaunt<br />
war er, dass es im Münsterland das ganze Jahr über jeden Abend Pfannkuchen<br />
gab <strong>und</strong> dass trotzdem Pfannkuchen für die Leute dort e<strong>in</strong> Leibgericht<br />
blieb; auch für <strong>sie</strong>.<br />
Etwa e<strong>in</strong> Jahr später, wiederum auf Berg Schönstatt, begrüßte Herr Pater unmittelbar<br />
nach dem <strong>Mit</strong>tagessen e<strong>in</strong>e Gruppe Schönstätter. Durch das Blitzlicht auf<br />
die Fotograf<strong>in</strong> – die Betreffende von damals – aufmerksam geworden, rief Herr<br />
Pater <strong>sie</strong> zu sich <strong>und</strong> sagte leise zu ihr: „Gehen Sie mal schnell <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Zimmer,<br />
dort steht auf dem Tisch noch e<strong>in</strong> Pfannkuchen für Sie.”<br />
Von großen Männern hört man zuweilen, dass <strong>sie</strong> verschiedene geistige Arbeiten<br />
gleichzeitig verrichten konnten. Napoleon zum Beispiel habe gleichzeitig mehreren<br />
Sekretären diktiert.<br />
Pater Kentenich widmete sich gewöhnlich e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Sache mit außergewöhnlicher<br />
Aufmerksamkeit, weswegen er <strong>sie</strong> schnell erledigte, gut behielt <strong>und</strong> ohne<br />
Pause zu e<strong>in</strong>er anderen Arbeit übergehen konnte. Se<strong>in</strong>e Konzentrationsfähigkeit<br />
war aber dergestalt, dass er schon e<strong>in</strong>mal zwei D<strong>in</strong>ge parallel tun konnte.<br />
E<strong>in</strong>ige Theologen waren bei ihm zu e<strong>in</strong>er „Lesest<strong>und</strong>e” e<strong>in</strong>geladen. Das<br />
heißt, Berichte <strong>und</strong> Abhandlungen wurden vorgelesen, um <strong>sie</strong> nachher geme<strong>in</strong>sam<br />
zu besprechen. Pater Kentenich saß <strong>in</strong>mitten des kle<strong>in</strong>en Kreises an se<strong>in</strong>em<br />
Schreibtisch. Während vorgelesen wurde, arbeitete er e<strong>in</strong>gegangene Post auf: Er<br />
las Briefe, überflog e<strong>in</strong>e Zeitung, durchblätterte e<strong>in</strong>e Druckschrift. Auf das Vorgelesene<br />
schien er nicht zu achten. Er kannte dessen Inhalt. Plötzlich aber, an e<strong>in</strong>er<br />
bestimmten Stelle, korrigierte er – selbst ruhig weiterlesend – den Vorleser,<br />
18
<strong>und</strong> zwar unmittelbar, nachdem jener sich verlesen hatte <strong>und</strong> noch bevor der Zusammenhang<br />
des Satzes ergab, dass das gelesene Wort nicht stimmen konnte.<br />
Er hatte also den Bericht klar im Gedächtnis, hörte das Gelesene mit <strong>und</strong> …erledigte<br />
se<strong>in</strong>e Post.<br />
Die <strong>in</strong>nere Sammlung <strong>und</strong> Konzentrationskraft trat vor allem <strong>in</strong> Pater Kentenichs<br />
Redetätigkeit oder bei Diktaten hervor. Reden <strong>und</strong> Predigten hielt er immer frei,<br />
ohne vorliegendes Konzept. Oft waren <strong>sie</strong> ausgedehnt, der Gedankengang folgte<br />
freien <strong>und</strong> spontanen Assoziationen. Dann überraschte es immer wieder, dass<br />
der Redner se<strong>in</strong>e Disposition, die sich bei Tagungen <strong>und</strong> Exerzitien über viele Vorträge<br />
h<strong>in</strong> erstreckte, eigentlich nie verlor. Er konnte zwar meist die angekündigte<br />
Gliederung nicht bis zum Ende ausführen; präsent aber blieb <strong>sie</strong>.<br />
Bei Diktaten geschah Ähnliches. In größeren Abhandlungen konnte e<strong>in</strong> Unterpunkt<br />
der Gliederung durch viele Zitate <strong>und</strong> Ausfaltungen vom nächsten über<br />
Dutzende von Seiten entfernt se<strong>in</strong>. Dann aber tauchte er wieder auf. Auch wenn<br />
Pater Kentenich im Diktat unterbrochen wurde, konnte er, nachdem er sich ganz<br />
der Ursache der Unterbrechung – e<strong>in</strong> Telefonanruf, e<strong>in</strong>e Verabredung, e<strong>in</strong>e Mahlzeit<br />
– zugewandt hatte, das Diktat an der Stelle fortsetzen, an der es unterbrochen<br />
worden war. Es ist nicht verw<strong>und</strong>erlich, dass sich solche Fähigkeiten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Umgebung bew<strong>und</strong>ernd herumsprachen…<strong>und</strong> deshalb bei kritischen Geistern<br />
die Frage hervorriefen, ob denn wirklich alles so stimme oder ob der Gründer<br />
nicht ungebührlich ideali<strong>sie</strong>rt werde. In den sechziger Jahren bekam Pater Kentenich<br />
e<strong>in</strong> Diktiergerät geschenkt. Er ließ es sich erklären <strong>und</strong> begann auch, es zu<br />
gebrauchen. E<strong>in</strong>es Tages versagte das Gerät. Es nahm nicht mehr auf. Pater Kentenich<br />
bat e<strong>in</strong>en jungen Mann, doch e<strong>in</strong>mal nach dem Gerät zu sehen. Der Defekt<br />
war unerheblich <strong>und</strong> konnte schnell behoben werden. Zur Probe, ob das Gerät<br />
– jetzt wirklich wieder aufnähme, bat der Reparateur Pater Kentenich, etwas<br />
<strong>in</strong>s Mikrophon zu sprechen. ,Ja, was soll ich jetzt so geschw<strong>in</strong>d sagen”, fragte jener<br />
scherzhaft. Frech, wie der junge Mann war, me<strong>in</strong>te er: „Herr Pater, Sie können<br />
doch e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> dem Diktat fortfahren, das auf dem Band angefangen ist.” Der<br />
Angesprochene spürte sofort den lauernden Unterton <strong>und</strong> nahm die Herausforderung<br />
an. Er bat den letzten Satz vom Band noch e<strong>in</strong>mal hören zu dürfen, besann<br />
sich dann ganz kurz <strong>und</strong> setzte das Diktat fort.<br />
19
In dem erzieherischen Spiel, die Menschen zu wecken <strong>und</strong> an Gott zu b<strong>in</strong>den, beherrschte<br />
Pater Kentenich praktisch jedes Instrument: Trost <strong>und</strong> Scherz, Weisung<br />
<strong>und</strong> Zurechtweisung, Verständnis <strong>und</strong> Forderung, geduldiges Warten <strong>und</strong> schnelles<br />
Zupacken, Ermunterung <strong>und</strong> Warnung. Die Melodie war immer die der Liebe.<br />
Das Instrument paßte sich der konkreten Situation <strong>und</strong> dem <strong>in</strong>dividuellen Bedürfnis<br />
an. E<strong>in</strong>es der zentralsten <strong>und</strong> wichtigsten Instrumente war auch die Strenge.<br />
Jeder <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Umgebung kannte <strong>sie</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs war das e<strong>in</strong>e Strenge, die weit<br />
von Willkür oder eigener Laune entfernt war, die sich <strong>in</strong> ihrer Eigenart auch nicht<br />
auswirkte <strong>in</strong> Regeln <strong>und</strong> Verboten, sondern die direkt die B<strong>in</strong>dung der Liebe berührte,<br />
um diese zu re<strong>in</strong>igen <strong>und</strong> zu läutern, um <strong>sie</strong> von ichsüchtigen Affekten<br />
zu befreien.<br />
Maßnahmen solcher Strenge trafen deshalb auch nur Personen, die sich von ihm<br />
angenommen <strong>und</strong> verstanden e wußten. Und dann waren es oft Maßnahmen,<br />
die bei e<strong>in</strong>em anderen gar nicht gewirkt hätten, gerade weil <strong>sie</strong> Vertrautheit <strong>und</strong><br />
die Empf<strong>in</strong>dsamkeit der Liebe voraussetzen. E<strong>in</strong> Fräule<strong>in</strong> klopfte an Pater Kentenichs<br />
Arbeitszimmer <strong>und</strong> trat e<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Freude <strong>und</strong> dem Wohlgefühl, hier zu<br />
Hause zu se<strong>in</strong>. Der am Vortag gegebene H<strong>in</strong>weis Pater Kentenichs, es sei jetzt<br />
Zeit, die täglichen Besuche zu beenden, war nicht <strong>in</strong> <strong>sie</strong> e<strong>in</strong>gedrungen. Noch war<br />
der Gruß nicht verhallt <strong>und</strong> die Türe nicht wieder geschlossen, als sich Pater Kentenich<br />
<strong>in</strong> gestraffter Haltung der E<strong>in</strong>tretenden zuwandte. Se<strong>in</strong>e Augen blitzten.<br />
Der begonnene Satz der E<strong>in</strong>tretenden erstarb auf den Lippen. Bleich <strong>und</strong> fast<br />
mechanisch trat <strong>sie</strong> e<strong>in</strong>en Schritt zurück, zur Türe h<strong>in</strong>aus, zog jene h<strong>in</strong>ter sich zu<br />
<strong>und</strong> verschwand. Ohne e<strong>in</strong> Wort zu sagen, hatte <strong>sie</strong> Pater Kentenich zur Türe „h<strong>in</strong>ausgeblitzt”.<br />
Von Don Bosco wird erzählt, er habe se<strong>in</strong>e Jungen am meisten damit strafen können,<br />
dass er ihnen den Gute-Nacht-Gruß versagte. Pater Kentenich konnte dasselbe<br />
oder Ähnliches tun. Jemand bewußt nicht zu grüßen – wobei der Betreffende<br />
wohl darum wußte -, konnte tief treffen.<br />
Es feierte jemand se<strong>in</strong>en Namenstag zu e<strong>in</strong>er Zeit, als er mit Pater Kentenich „im<br />
Kriege” lag. Alle aus der Umgebung gratulierten ihm, nur „ER” nicht. Und dies<br />
20
war um so auffälliger, als jemand desselben Namens <strong>in</strong> der Umgebung lebte, den<br />
Pater Kentenich demonstrativ anrief <strong>und</strong> dem er herzlich gratulierte. Die erste<br />
Reaktion des Übergangenen war: „Ist mir doch egal!” Aber tief im <strong>Herz</strong>en tat die<br />
ausgefallene Gratulation doch weh. Und als der „Krieg” zu Ende g<strong>in</strong>g, konnte er<br />
es sich auch nicht verkneifen, se<strong>in</strong>e Enttäuschung wissen zu lassen.<br />
Es kam dasselbe Namensfest e<strong>in</strong> Jahr später. Frühmorgens vor sechs Uhr kl<strong>in</strong>gelte<br />
das Telefon. Es war Pater Kentenich! Dieses Jahr wolle er auf jeden Fall der erste<br />
se<strong>in</strong>, der ganz herzlich zum Namenstag gratuliert …<br />
Es geht mir gut, solange ich erziehen darf.” Diese Bemerkung Pater Kentenichs<br />
kommt aus der <strong>Mit</strong>te se<strong>in</strong>er Person. Die Menschen <strong>in</strong> ihrem Idealismus, <strong>in</strong> ihrer<br />
Glaubenskraft <strong>und</strong> Liebesfähigkeit zu wecken <strong>und</strong> mit dem „lebendigen Gott” –<br />
wie er bezeichnenderweise sagte – zu verb<strong>in</strong>den, war se<strong>in</strong> <strong>Leben</strong>selement, e<strong>in</strong>e<br />
nähere Umschreibung se<strong>in</strong>es priesterlich-väterlichen Wirkens. E<strong>in</strong>e Folge davon<br />
war, dass se<strong>in</strong>e unübersehbare Redetätigkeit – egal ob Gelegenheitsansprachen<br />
bei kle<strong>in</strong>en Gruppen, Predigten oderVorträge vor großer Versammlung – immer<br />
e<strong>in</strong>en dialogischen Charakter trug. Die Ausfaltung der Gedanken, ja meist ihre<br />
Auswahl selbst, war bestimmt vom seelischen Bedürfnis <strong>und</strong> vom <strong>in</strong>neren <strong>Mit</strong>gehen<br />
se<strong>in</strong>er Zuhörer. Und, dieses dialogische Verhältnis betraf nicht nur das jedem<br />
Redner bekannte Klima e<strong>in</strong>er Vortragssituation im allgeme<strong>in</strong>en, sondern bezog<br />
sich sehr häufi g auf konkrete e<strong>in</strong>zelne Personen, die er wahrnahm, denen e<strong>in</strong> Beispiel,<br />
e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis oder gar e<strong>in</strong>e Zurechtweisung galt. War die Situation des Vortrags<br />
vertraut genug, dann konnte es pas<strong>sie</strong>ren, dass e<strong>in</strong>en nicht nur das Wort,<br />
sondern auch der Blick Pater Kentenichs an der ihn me<strong>in</strong>enden Stelle traf.<br />
Nach e<strong>in</strong>er Predigt kam jemand zu Pater Kentenich: „Herr Pater, wenn Sie mich<br />
das nächste Mal me<strong>in</strong>en, dann schauen Sie mich doch bitte nicht so direkt an.<br />
Alle merken ja sonst, wen es angeht.” – „Gut”, erwiderte Pater Kentenich, „ich<br />
werde das nächste Mal wegschauen.”<br />
Dieses nächste Mal kam. Die Predigt enthielt wieder e<strong>in</strong>e ganz persönliche Botschaft.<br />
Und als Pater Kentenich an die betreffende Stelle kam, wandte er ganz<br />
betont den Kopf <strong>und</strong> blickte zum Fenster h<strong>in</strong>aus …<br />
21
Es war e<strong>in</strong>e bekannte Methode der Gestapo im Dritten Reich, Angeklagte <strong>und</strong><br />
Verhaftete dadurch zu zermürben, dass e<strong>in</strong> Verhör auf e<strong>in</strong>e bestimmte Zeit angesagt<br />
wurde, dann aber erst St<strong>und</strong>en später stattfand, währenddessen sich das<br />
„Opfer” im Ungewissen befand.<br />
So geschah es auch mit Pater Kentenich, als er von der Gestapo <strong>in</strong> Koblenz auf<br />
den 20. September 1941 zu ihrer Zentrale „im Vogelsang”, e<strong>in</strong>er Nebenstraße <strong>in</strong><br />
der Nähe des Rhe<strong>in</strong>s, bestellt wurde.<br />
Pater Kentenich rechnete konkret damit, von dort nicht mehr so schnell zurückzukommen.<br />
Er zog se<strong>in</strong>en „allerältesten Habit” an <strong>und</strong> steckte sich das Heftchen<br />
„Von den Herrlichkeiten Mariens”, e<strong>in</strong>e Herausgabe der 1. <strong>und</strong> 2. Gründungsurk<strong>und</strong>e<br />
Schönstatts, <strong>in</strong> die Tasche. Jedwede Begleitung lehnte er ab. Da er nicht<br />
genau wußte, wo sich das Gestapogebäude befand, mußte er e<strong>in</strong>e Frau auf der<br />
Straße danach fragen. Erschrocken gab die Frau Auskunft. Zur bestellten St<strong>und</strong>e<br />
um 8 Uhr morgens fand sich Pater Kentenich „im Vogelsang” e<strong>in</strong>. Es geschah den<br />
ganzen Vormittag nichts. Das Verhör begann um 13 Uhr.<br />
Später wurde Pater Kentenich gefragt, wie es denn gewesen sei, als er so lange<br />
warten mußte <strong>und</strong> was er da getan habe. Se<strong>in</strong>e Antwort: „Ich war so müde von<br />
der vielen Arbeit der vorhergehenden Tage. Da habe ich e<strong>in</strong>fach da unten <strong>in</strong> dem<br />
Wartezimmer gedusselt ‚ne Zeitlang.”<br />
Die Konzentrationslager waren – ganz gleich ob Vernichtungs- oder Arbeitslager<br />
– e<strong>in</strong>e Art Haft, die bewußt darauf ausgerichtet war, den Menschen zu zerstören;<br />
entweder physisch oder psychisch. Den dort gefangenen „Untermenschen” wurde<br />
auf vielfältige Weise beigebracht, dass <strong>sie</strong> ke<strong>in</strong>en Wert <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e Würde besaßen.<br />
Deshalb hatten <strong>sie</strong> ke<strong>in</strong> Recht, waren der Willkür ausgesetzt.<br />
Besonders drastisch wurde dies den Häftl<strong>in</strong>gen gleich bei ihrer Ankunft im Lager<br />
e<strong>in</strong>geprägt. Nicht nur, dass <strong>sie</strong> <strong>in</strong> Sträfl<strong>in</strong>gskleidung zu gehen hatten, kahl geschoren<br />
wurden, ihren Namen verloren <strong>und</strong> nur noch e<strong>in</strong>e Nummer waren. Prügeleien,<br />
Schreiereien <strong>und</strong> Spott, allerlei Schabernack, den die aufnehmenden Pos-<br />
22
ten trieben, zielte dasselbe an Entwertung durch Verdemütigung.<br />
In Dachau waren SS-Posten auf die Idee verfallen, im Büro, <strong>in</strong> dem die Personalien<br />
aufgenommen wurden, e<strong>in</strong>en spitzen Nagel <strong>in</strong> den Stuhl e<strong>in</strong>zubauen, auf den<br />
der „Neul<strong>in</strong>g” zu sitzen kam. E<strong>in</strong> von der Mannschaft zu betätigender Mechanismus<br />
konnte bewirken, dass der Nagel durch die Sitzfl äche sprang <strong>und</strong> den Häftl<strong>in</strong>g<br />
<strong>in</strong>s Gesäß stach. Natürlich sprang dieser von se<strong>in</strong>em Sitz hoch <strong>und</strong> setzte<br />
sich so dem hämischen <strong>und</strong> schadenfrohen Gelächter der Mannschaft aus.<br />
Auch <strong>in</strong> Pater Kentenichs Stuhl stach der Nagel. „Was <strong>haben</strong> Sie denn getan,<br />
Herr Pater?”, fragte ihn jemand nach Jahren. „Den Gefallen tat ich ihnen nicht”,<br />
erwiderte Pater Kentenich. „Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong>fach sitzen geblieben.”<br />
Am selben Tag, an dem Pater Kentenich <strong>in</strong> den Zugangsblock 13 des Lagers e<strong>in</strong>geliefert<br />
wurde, dem 13. März 1942, fand er auch Kontakt mit den gefangenen<br />
Schönstättern des Priesterblocks. Beide Seiten hofften, bald dort vere<strong>in</strong>igt zu<br />
se<strong>in</strong>. Die Hoffnung sollte sich erst nach der ungewöhnlich langen Zeit von genau<br />
<strong>sie</strong>ben Monaten, am 13. Oktober desselben Jahres, erfüllen.<br />
Die Wartezeit im Zugangsblock benutzte Pater Kentenich zu vielseitigem Apostolat.<br />
Vor allem kümmerte er sich um neue<strong>in</strong>gelieferte Priester. Er selbst konnte<br />
ja <strong>in</strong> diesen Monaten die heilige Messe nicht mitfeiern. Nur die Priester auf Block<br />
26 durften der dort gefeierten Messe beiwohnen. Anderen war die Teilnahme<br />
streng verboten. Pater F., seit 6. Juni 1941 Häftl<strong>in</strong>g, schaffte Erleichterung.<br />
Damals konnten die Priester noch nicht konzelebrieren. Um aber die Zeit für die<br />
Kommunionausteilung zu sparen – die Messe mußte frühmorgens vor dem offi ziellen<br />
Wecken <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er halben St<strong>und</strong>e gefeiert se<strong>in</strong> -, bestand vorübergehend die<br />
Regelung, dass jeder Priester beim Betreten der Kapelle e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Hostienpartikel<br />
– denn auch die Hostien waren damals gerade knapp – aus e<strong>in</strong>em Gefäß neben<br />
dem E<strong>in</strong>gang mitnahm, <strong>sie</strong> während der Wandlung <strong>in</strong> der Hand hielt, so dass<br />
<strong>sie</strong> vom zelebrierenden Priester mitkonsekriert wurde, um sich dann selbst die heilige<br />
Kommunion zu reichen.<br />
23
Pater F. nun nahm täglich mehrere solcher Partikel mit, kommunizierte e<strong>in</strong>e, wickelte<br />
die übrigen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Papier <strong>und</strong> brachte <strong>sie</strong> Pater Kentenich auf den Zugangsblock.<br />
Was damit geschah, berichtet anschaulich Pfarrer F. We<strong>in</strong>mann <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />
Er<strong>in</strong>nerungen: „Zunächst wurde ich im Zugangsblock untergebracht. Am Abend,<br />
als ich gerade im Begriffe war, an den Bettstellen <strong>in</strong> den ‚dritten Stock‘ h<strong>in</strong>aufzuklettern,<br />
um zum ersten Mal zu versuchen, wie man h<strong>in</strong>aufkommt <strong>und</strong> wie man<br />
da oben so knapp unter der Holzdecke wohl ruhen <strong>und</strong> schlafen könne, zupfte<br />
mich e<strong>in</strong> älterer <strong>Mit</strong>bruder am Ärmel, gab mir e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es zusammengefaltetes<br />
Papierchen <strong>und</strong> sagte ganz leise: ‚Species consecrata‘. Ich machte große Augen<br />
<strong>und</strong> verschwand im ‚dritten Stock‘. Dort oben, gerade noch ungesehen <strong>und</strong><br />
ungestört, sah ich zu me<strong>in</strong>em ‚kle<strong>in</strong>en Geheimnis‘ im Papier. ‚Es war wirklich der<br />
Herr!‘ Ich entnahm dann dem Papier – allerd<strong>in</strong>gs mit zitternder Hand die heilige<br />
Gestalt des Brotes, betete den Herrn im Sakrament an, vere<strong>in</strong>igte mich mit ihm<br />
<strong>und</strong> dankte aus überfrohem <strong>Herz</strong>en für diese unerwartete, geheime Christusbegegnung<br />
am ersten Tag me<strong>in</strong>er Dachauer Jahre.”<br />
Der „ältere <strong>Mit</strong>bruder”, von dem Pfarrer We<strong>in</strong>mann spricht, war Pater Kentenich.<br />
Das <strong>Leben</strong> <strong>in</strong> Dachau war unbarmherzig hart. Viele starben an Hunger <strong>und</strong><br />
Krankheit. Andere wurden gequält <strong>und</strong> getötet. Verständlich, dass es jedem ums<br />
Überleben g<strong>in</strong>g.<br />
Die beherrschte <strong>und</strong> aufrechte Art Pater Kentenichs war e<strong>in</strong>em elsässischen<br />
Priester aufgefallen. Er suchte Kontakt zu diesem Mann. So sprach er ihn auf der<br />
Lagerstraße mit der für diese Verhältnisse alltäglichen Frage an: „Kommen wir<br />
wohl jemals aus diesem Schlamassel wieder heraus, Herr Pater?” Er erhielt zur<br />
Antwort: „Das ist doch gar nicht die Frage! Die eigentliche Frage ist, ob wir hier<br />
den Willen Gottes tun oder nicht!”<br />
Von nun an hielt sich der Priester an „diesen Mann”, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Situation<br />
so dachte.<br />
Das Jahr 1942 war das schlimmste Jahr im Konzentrationslager Dachau. Die Ernährung<br />
lag unter dem Existenzm<strong>in</strong>imum. Die Häftl<strong>in</strong>ge erkrankten an Hunger-<br />
24
uhr <strong>und</strong> starben <strong>in</strong> Massen. Während das Lager im Jahre 1941 877 Tote zählte,<br />
waren es 1942 5136, die meisten verhungert.<br />
Die Spuren dieser Hungersnot zeichneten jeden, auch Pater Kentenich, der zwar<br />
erst im März dieses Jahres e<strong>in</strong>geliefert wurde <strong>und</strong> deshalb noch körperliche Reserven<br />
besaß, der aber immerh<strong>in</strong> schon 56 Jahre alt war. In dieser Zeit gab Pater<br />
Kentenich immer etwas von se<strong>in</strong>er Essensration an e<strong>in</strong>en <strong>Mit</strong>häftl<strong>in</strong>g ab; um<br />
jemanden <strong>in</strong> höchster Not zu helfen, aber auch – wie er später erklärte -, um<br />
sich se<strong>in</strong>e persönliche Freiheit dem übermächtig sich meldenden Eßtrieb gegenüber<br />
zu bewahren. Wahrhaftig e<strong>in</strong> Spiel mit dem <strong>Leben</strong>! E<strong>in</strong> Spiel allerd<strong>in</strong>gs, das<br />
er nüchtern beobachtete <strong>und</strong> souverän mitvollzog, wie folgende Begebenheit<br />
zeigt:<br />
Am 13. Oktober 1942 wurde Pater Kentenich endlich dem Priesterblock 26 zugewiesen.<br />
An e<strong>in</strong>em der folgenden Tage steht er mit e<strong>in</strong>er Gruppe Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
kle<strong>in</strong>en R<strong>und</strong>e beisammen. E<strong>in</strong>em, der ihn während des Gespräches von der<br />
Seite betrachtet, fällt es dabei richtig <strong>in</strong> die Seele: Der Herr Pater ist wirklich nur<br />
noch Haut <strong>und</strong> Knochen. Und spontan sagt er: „Herr Pater, das halten Sie aber<br />
auch nicht mehr lange aus!” Ganz ruhig <strong>und</strong> nüchtern erhält er zur Antwort: „E<strong>in</strong><br />
paar Wochen noch, dann ist es zu Ende.”<br />
Es sollte Gott sei Dank nicht soweit kommen. Im selben Monat wurde die Paketsperre<br />
im Lager aufgehoben. Die Häftl<strong>in</strong>ge konnten sich von ihren Angehörigen<br />
Nahrungsmittel schicken lassen. Der Hungersnot war die lebensgefährliche<br />
Schärfe genommen. Die Schönstätter lebten seitdem aus der Überzeugung, dass<br />
diese Wende vor allem der Macht <strong>und</strong> Liebe der Gottesmutter zu verdanken war,<br />
die <strong>sie</strong> <strong>in</strong> ihrer Not am 2. Juli dieses Jahres zur Lagerkönig<strong>in</strong> <strong>und</strong> Lageradvokat<strong>in</strong>,<br />
zur Lager- <strong>und</strong> Brotmutter erwählt hatten.<br />
Zu den <strong>Mit</strong>arbeitern, die Pater Kentenich aus se<strong>in</strong>er Spiritualszeit als Jungen<br />
kannte, sagte er auch später „Du”. Alle anderen aber, die er als Erwachsene kennenlernte,<br />
wurden von ihm – <strong>und</strong> das war fester Gr<strong>und</strong>satz – mit „Sie” angeredet.<br />
25
Es gab wenige Ausnahmen. Zu ihnen gehörte e<strong>in</strong> junger Kaplan, dem der Vater<br />
sehr früh gestorben war. In der „Hölle von Dachau” bat jener Kaplan Pater Kentenich,<br />
er möge doch zu ihm „Du” sagen. Und Pater Kentenich g<strong>in</strong>g auf die Bitte<br />
e<strong>in</strong>. Der Bittsteller war Kaplan He<strong>in</strong>z D. Zusammen mit Pater F. war er der vertrauteste<br />
<strong>Mit</strong>arbeiter Pater Kentenichs im Konzentrationslager. Er führte e<strong>in</strong>e der<br />
beiden Führergruppen, die sich im Lager gebildet hatten. Auf ganz ungewöhnliche,<br />
wahrhaft providentielle Weise hatte er während e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>satzes <strong>in</strong> der Besoldungsstelle<br />
der SS se<strong>in</strong>en Füllfederhalter zurükkbekommen <strong>und</strong> stand so Pater<br />
Kentenich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er freien Zeit als Schreiber zur Verfügung. Nun wohnten zwar<br />
beide im Priesterblock 26, aber doch zeitweise nicht <strong>in</strong> derselben Stube. Pater<br />
Kentenich konnte zur Stube 4 gehören, Kaplan D. zur Stube 3.<br />
Nun stelle man sich das Gewimmel von Menschen während der arbeitsfreien Zeit<br />
vor! Stuben, die für 50 Mann gebaut waren, wurden zeitweise von 200 Mann<br />
<strong>und</strong> mehr bewohnt. Im Schlafsaal gab es nichts wie dreistöckige Bettgestelle –<br />
wobei <strong>in</strong> drei Betten fünf Mann schliefen – <strong>und</strong> kaum schulterbreite Gänge dazwischen.<br />
Im Aufenthaltsraum wurde <strong>in</strong> Schichten gegessen. Jeder Hocker dort<br />
hatte mehreren _ Häftl<strong>in</strong>gen zu dienen. Wollte man zu e<strong>in</strong>em Häftl<strong>in</strong>g, der vielleicht<br />
im Schlafsaal auf se<strong>in</strong>em Bett saß, dann mußte man sich buchstäblich an<br />
Dutzenden von Häftl<strong>in</strong>gen vorbeizwängen, um zu ihm zu gelangen. Pater Kentenich<br />
wäre deshalb auf der Suche nach se<strong>in</strong>em Schreiber jedesmal vielen <strong>Mit</strong>brüdern<br />
zur Last gefallen. Er wählte e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>facheren Weg. An der Außenseite des<br />
Blockes entlanggehend, konnte er zu den Fenstern der ebenerdig gebauten Baracke<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>schauen <strong>und</strong> rufen. Um aber auch so nicht immer die Aufmerksamkeit<br />
aller auf sich <strong>und</strong> den Kaplan He<strong>in</strong>z D. zu lenken, vermied er den Namen des<br />
Gesuchten. So tauchte häufi g an e<strong>in</strong>em der Fenster der Stube 3 e<strong>in</strong> Kopf auf<br />
<strong>und</strong> zischte: „nz!” Der Zischlaut blieb im Stimmengewirr der Stube nahezu unbemerkt,<br />
war aber<br />
Nachdem die Paketsperre im Oktober 1942 aufgehoben worden war, bildete sich<br />
um Pater Kentenich e<strong>in</strong>e Eßgeme<strong>in</strong>schaft von Schönstättern – scherzhaft „Spatzenle<strong>in</strong>e”<br />
genannt -, unter der regelmäßig geteilt wurde, was – vor allem für Pater<br />
Kentenich – an Eßwaren <strong>in</strong>s Lager kam. Auch andere Häftl<strong>in</strong>ge erhielten Unterstützung<br />
bei Pater Kentenich; bei x besonderen Anlässen oder <strong>in</strong> großen Not-<br />
26
fällen. Bei der „Spatzenle<strong>in</strong>e” wurde aber täglich <strong>und</strong> gezielt die mangelhafte Ernährung<br />
des Lagers ergänzt. Die gewöhnliche Ergänzung bestand <strong>in</strong> Butterbroten.<br />
Im Strohsackkommando wurden <strong>sie</strong> von ihm <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em Schreiber am späten<br />
Vormittag <strong>in</strong> der Baracke, wo gearbeitet wurde, gestrichen, <strong>und</strong> auf dem Boden<br />
– e<strong>in</strong> Stück Papier als Unterlage – aufgestapelt. Auf den umliegenden Betten<br />
fanden sich dann zur gegebenen Zeit die Esser e<strong>in</strong> (von daher wohl x der Name<br />
„Spatzenle<strong>in</strong>e”).<br />
Pater Kentenich kam es nun darauf an, die e<strong>in</strong>seitige Ernährungslage auch durch<br />
möglichst viel Abwechslung zu verbessern. Deshalb wurde alles aus den Paketen,<br />
was dafür geeignet war, aufgehoben, bis aus diesen Vorräten e<strong>in</strong>e Suppe gekocht<br />
werden konnte.<br />
Die Aufgabe, die Suppe zu kochen, fiel e<strong>in</strong>em Pater zu, der sich besonders gut<br />
darauf verstand. Dieser Pater hatte nun – nach Me<strong>in</strong>ung des Schreibers – e<strong>in</strong>e<br />
recht schnodderige Art zu reden. Wenn Pater Kentenich ihm die Vorräte gab <strong>und</strong><br />
erklärte, wie er sich die Suppe ungefähr dachte, reagierte jener immer schnell<br />
<strong>und</strong>, so mochte es sche<strong>in</strong>en, herablassend: „Ja, ja, – weiß Bescheid – ist klar –<br />
wird gemacht!”<br />
Dieses Verhalten regte den Schreiber auf. „Wie kann man nur so mit dem Herrn<br />
Pater umspr<strong>in</strong>gen”, dachte er bei sich, sagte aber nichts. Nur die Abneigung gegen<br />
den schnodderigen <strong>Mit</strong>bruder wuchs mit jedem Mal. Pater Kentenich erspürte<br />
<strong>sie</strong>.<br />
E<strong>in</strong>es Vormittags kommt wieder der Koch. Die Unterhaltung mit Pater Kentenich<br />
vollzieht sich <strong>in</strong> der üblichen schnodderigen Art. Und dann zieht jener mit<br />
den Vorräten ab, um die Suppe zu kochen. Pater Kentenich wendet sich se<strong>in</strong>em<br />
Schreiber zu: „Was der für ‚ne nette Art hat, nicht?” Im Gesicht des Schreibers<br />
steht etwas anderes geschrieben. Und er ist über die Bemerkung auch so perplex,<br />
dass er ke<strong>in</strong>e Antwort f<strong>in</strong>det. Pater Kentenich aber erklärt, jeder Mensch sei ganz<br />
e<strong>in</strong>malig <strong>und</strong> orig<strong>in</strong>ell. Es sei natürlich leichter, die Fehler der anderen zu sehen.<br />
Lohnender, wenn auch etwas schwieriger, sei es aber, die Orig<strong>in</strong>alität des <strong>Mit</strong>menschen<br />
zu entdecken <strong>und</strong> sich daran zu freuen.<br />
27
Aufgr<strong>und</strong> dieses Gesprächs wirkte die schnodderige Art des Kochs beim nächsten<br />
Mal tatsächlich schon netter. Die Gr<strong>und</strong>lage war gelegt, den anderen <strong>in</strong>nerlich<br />
anzunehmen.<br />
Nach se<strong>in</strong>er Verlegung auf den Priesterblock 26 nahm sich Pater Kentenich auch<br />
dort der Neuzugänge besonders an. Er ließ sich erzählen, welcher Weg den e<strong>in</strong>zelnen<br />
<strong>in</strong>s Lager geführt hatte, erk<strong>und</strong>igte sich nach der Ernährungslage <strong>und</strong> half<br />
konkret, wo Not am Mann war. (Ab Ende Oktober 1942 konnten Pakete empfangen<br />
werden, <strong>und</strong> er besaß deshalb solche Fälle e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Vorrat.)<br />
Unter den Neuzugängen befand sich e<strong>in</strong>mal auch e<strong>in</strong> <strong>Mit</strong>bruder, dem man den<br />
Pessimisten schon gegen den W<strong>in</strong>d ansehen konnte; mißmutig deshalb. Pater<br />
Kentenich unterhielt sich öfters mit ihm.<br />
E<strong>in</strong>es sonnigen Morgens geht Pater Kentenich mit e<strong>in</strong>em Schönstätter auf der<br />
bevölkerten Blockgasse auf <strong>und</strong> ab. In dem Gewimmel der stehenden <strong>und</strong> gehenden<br />
Häftl<strong>in</strong>ge kommt ihnen jener <strong>Mit</strong>bruder entgegen. Er geht alle<strong>in</strong> mit düsterem<br />
Gesicht. Im Vorbeigehen sagt Pater Kentenich leise zu ihm: „Die Sonne<br />
sche<strong>in</strong>t schön heute!” Er geht mit se<strong>in</strong>em Wegbegleiter weiter, der eben noch<br />
<strong>sie</strong>ht, wie der Angesprochene sich e<strong>in</strong>es verstehenden <strong>und</strong> befreienden Lächelns<br />
nicht erwehren kann.<br />
Nach längerem Kontakt mit Pater Kentenich hatte man den E<strong>in</strong>druck, dass er mit<br />
„Dachau” nicht mehr so sehr auf Kriegsfuß stand.<br />
Das <strong>Leben</strong> im KZ war <strong>in</strong> sich schon im wahrsten S<strong>in</strong>ne de Wortes lebensgefährlich.<br />
Die Gefahr stieg um e<strong>in</strong> unkalkulierbares Risiko, sobald e<strong>in</strong>er sich auf Aktivitäten<br />
e<strong>in</strong>ließ, die bei Todesstrafe verboten waren. Dazu gehörte an erster Stelle<br />
das Betreiben von illegaler Post, „Schwarzpost” genannt, <strong>und</strong> jede Art von geheimer<br />
Schreiberei.<br />
Pater Kentenich hatte am Fest Mariä Verkündigung, dem 2. März 1943, den Entschluß<br />
gefaßt, auch von Dachau aus sich um se<strong>in</strong> Werk zu kümmern <strong>und</strong> dessen<br />
28
Führung erneut <strong>in</strong> die Hand zu nehmen. E<strong>in</strong> solcher Entschluß enthielt automatisch<br />
die Absicht zur Schwarzpost.<br />
Gleichsam als Bestätigung, dass dieser Entschluß e<strong>in</strong>em göttlichen Plan entsprach,<br />
wurde Pater F. an diesem Tage auf die Plantage des Lagers versetzt <strong>und</strong><br />
dadurch die Möglichkeit zu e<strong>in</strong>em eigenen illegalen Postweg angebahnt. E<strong>in</strong> solcher<br />
Entschluß bedeutete aber auch, das Risiko für das eigene <strong>Leben</strong> bewußt e<strong>in</strong>zukalkulieren<br />
<strong>und</strong> im voraus zu bejahen. Das Wagnis bestand dabei nicht nur im<br />
eigentliche Schmuggeln der Post. Das Schreiben selbst <strong>und</strong> das Aufbewahren<br />
abgehender wie angekommener Post, die bei jede Razzia der SS gef<strong>und</strong>en werden<br />
konnte, war dazu äußerst gefährlich. Im Priesterblock 26 hatte e<strong>in</strong>e Durchsuchung<br />
stattgef<strong>und</strong>en. Bei den Schönstättern war nichts gef<strong>und</strong>en worden,<br />
obwohl e<strong>in</strong>iges hätte gef<strong>und</strong>en werden können. Über diesen offensichtlichen<br />
Schutz waren die Schönstätter sehr verw<strong>und</strong>ert. Das Ereignis mußte verkostet<br />
werden. Dabei äußerte Kaplan D., mit Pater Kentenich auf der Lagerstraße auf<br />
<strong>und</strong> abgehend, recht ernst: „Herr Pater, wenn <strong>sie</strong> unsere Sache gef<strong>und</strong>en hätten,<br />
würde uns das den Kopf kosten!” Pater Kentenich erwiderte nichts. Er wechselte<br />
das Thema.<br />
Am nächsten Abend g<strong>in</strong>gen die beiden wiederum spazieren. Unvermittelt im Gespräch<br />
griff Pater Kentenich das Thema des vergangenen Abends auf: „Über das,<br />
was Du gestern gesagt hast, habe ich noch e<strong>in</strong>mal nachgedacht. Wenn die etwas<br />
gef<strong>und</strong>en hätte, wäre uns das als politischer Katholizismus ausgelegt worden.<br />
Und das würde uns den Kopf kosten. Aber... (nach e<strong>in</strong>er Pause, <strong>in</strong> leiserem<br />
Ton, nebensächlich) lieber heute als morgen!”<br />
Ruhe <strong>und</strong> Furchtlosigkeit zeichneten Pater Kentenich während se<strong>in</strong>er ganzen<br />
Lagerzeit aus. Unerschrocken trat er jedem entgegen. Josef Joos charakteri<strong>sie</strong>rt<br />
ihn deshalb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch ‚<strong>Leben</strong> auf Widerruf‘: „Ich sah Pater Kentenich <strong>in</strong> den<br />
schwierigsten Situationen lächelnd, völlig ruhig <strong>und</strong> ohne e<strong>in</strong>e Spur von Angst.<br />
Es war nicht Ahnungslosigkeit, die solcher Haltung zugr<strong>und</strong>e lag, denn er wußte<br />
genau, was gespielt wurde. Es war auch nicht geistiger Hochmut, denn er war demütig<br />
<strong>und</strong> bescheiden. Je mehr ich ihn hörte, um so klarer wurde mir, warum er<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Exerzitienvorträgen <strong>in</strong> Schönstatt so gesucht war.”<br />
29
Es war beim Zählappell, am Abend des 15. Dezember 1943. Der Lagerführer,<br />
Obersturmbannführer von Redwitz, erschien persönlich; betrunken, von e<strong>in</strong>er<br />
Sonnwendfeier, dem Weihnachtsfest der Nazis, heimkehrend; unberechenbar deshalb.<br />
Nachdem er zuerst mit den russischen Häftl<strong>in</strong>gen herumgepoltert hatte,<br />
kam er zum Priesterblock. Obwohl im vierten oder fünften Glied stehend, fiel ihm<br />
Pater Kentenich <strong>in</strong>s Auge. „Du, Geistlicher Rat …”, rief er, besann sich dann <strong>und</strong><br />
fragte zurück: „Bist du überhaupt e<strong>in</strong> Geistlicher Rat?” Die eiserne Regel <strong>in</strong> solchen<br />
Situationen hieß: Entweder schweigen oder militärisch antworten: Jawohl,<br />
Herr Lagerführer! – Ne<strong>in</strong>, Herr Lagerführer! – Zu Befehl, Herr Lagerführer! … Pater<br />
Kentenich merkte erst, dass er geme<strong>in</strong>t war, als ihn die Nachbarn anstießen.<br />
Dann erwiderte er auf die gestellte Frage ganz ruhig: „Ich b<strong>in</strong> zwar ke<strong>in</strong> Geistlicher<br />
Rat, aber ich gebe schon mal e<strong>in</strong>en geistlichen Rat.” Der Lagerführer bezog<br />
die Aussage auf sich persönlich <strong>und</strong> explodierte. Josef Joos berichtet: „E<strong>in</strong>en<br />
Augenblick schien er zu überlegen, welche Schelmerei h<strong>in</strong>ter dieser Antwort stecken<br />
könnte. Auf e<strong>in</strong>mal verfi nsterte sich se<strong>in</strong>e Miene, se<strong>in</strong> Gesicht verzerrte sich<br />
vor Wut. Und nun brüllte er los: „Was, du willst mir, dem Lagerführer, e<strong>in</strong>en geistlichen<br />
Rat geben, du Strolch du. Dir werde ich‘s geben …Der will mir e<strong>in</strong>en geistlichen<br />
Rat geben …Dieser Strolch will mir e<strong>in</strong>en geistlichen Rat geben ... Da s<strong>in</strong>d<br />
mir die Kommunisten lieber.” Während er zu diesen weiterwankte, rief er fünfmal<br />
h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander: „Aufhängen lasse ich dich …!” Und die Weisung erfolgte, Pater<br />
Kentenich habe sich am nächsten Morgen zu melden.<br />
Auch die Schönstätter kamen mit der bangen Frage: Was wird jetzt wohl pas<strong>sie</strong>ren?<br />
Pater Kentenich blieb seelenruhig: „Gar nichts wird pas<strong>sie</strong>ren”, me<strong>in</strong>te er.<br />
Und so geschah es. Als er am nächsten Morgen durch den Lagerkaplan Schell<strong>in</strong>g<br />
zum Büro des Lagerführers gebracht <strong>und</strong> dort gemeldet wurde, rief jener – wohl<br />
se<strong>in</strong>en Kater auskurierend: „Er soll machen, dass er fortkommt!”<br />
Und damit war die Sache erledigt.<br />
Das Betreiben von „Schwarzpost” blieb bis zum Schluß äußerst gefährlich. Nicht<br />
nur wegen des Materials, das sich ständig im Lager befand <strong>und</strong> dauernd versteckt<br />
gehalten werden mußte, sondern auch wegen der schriftlichen Sachen die<br />
die Schönstattfamilie erreichten, dort mehrfach ab geschrieben, unter der Hand<br />
30
weitergereicht wurden <strong>und</strong> deshalb von der Gestapo entdeckt <strong>und</strong> auf den Verfasser<br />
zurückgeführt werden konnten. Es g<strong>in</strong>g aber immer gut. Entweder wurden<br />
<strong>in</strong> auffallender Weise die Verstecke im Lager nicht entdeckt oder aber, wenn im<br />
Lager oder draußen, im Lande etwas gef<strong>und</strong>en wurde, hatte e<strong>in</strong>e solche Entdeckung<br />
ke<strong>in</strong>e Folgen. Pater Kentenich arbeitete deshalb -unentwegt weiter. Er war<br />
überzeugt, dass se<strong>in</strong> Tun e<strong>in</strong>em göttlichen Wollen entsprach <strong>und</strong> deshalb auch<br />
unter göttlichem Schutz stand. Wie sehr er dabei die Nerven behielt, zeigt folgende<br />
Begebenheit. Am 7. März 1944 zeigt Pater Kentenich Kaplan D. – was<br />
er noch nie getan hatte – das Versteck se<strong>in</strong>er Post. „Im Falle, dass mir etwas zustößt;<br />
dann weißt Du, wo die Sachen s<strong>in</strong>d,” erklärt er. Gerade an diesem Tag muß<br />
wohl e<strong>in</strong>e Sonderkommission des Reichsicherheitshauptamtes Berl<strong>in</strong> <strong>in</strong> Dachau<br />
mit dem Auftrag angekommen se<strong>in</strong>, dem bis zu dieser Zeit stark zugenommenen<br />
illegalen Nachrichtenfluß aus dem KZ e<strong>in</strong> Ende zu bereiten. Ganz offensichtlich<br />
hatte <strong>sie</strong> von vornhere<strong>in</strong> Pater Kentenich besonders im Blick.<br />
Am 8. März werden im Priesterblock 26 die Sp<strong>in</strong>de auf Stube 2 „gefi lzt”. Rottenführer<br />
Schmid – den Priestern sehr wohlgesonnen – f<strong>in</strong>det im Sp<strong>in</strong>d von Pater F.<br />
schriftliches Material. Er vergewissert sich, dass der aufsichtführende Offi zier ihn<br />
nicht beobachtet <strong>und</strong> legt die Hefte wieder zurück; warnt aber die Umstehenden<br />
zur Vorsicht. Am 9. März kommt die SS zurück <strong>und</strong> veranstaltet e<strong>in</strong>e Großrazzia.<br />
Alle anwesenden Häftl<strong>in</strong>ge müssen auf der Blockgasse antreten mit Rücken<br />
zum eigenen Block. Als Kaplan D., derzeitig auf der Poststelle beschäftigt,<br />
nach der Brotzeit zum Block zurückgeht, <strong>sie</strong>ht er, wie Pater Kentenich mit Caritasdirektor<br />
Carls <strong>und</strong> Pater Johannes Lenz abgeführt wird. Es wird ihm auch gleich<br />
bedeutet, „beim Kentenich” hätten <strong>sie</strong> e<strong>in</strong>en ganzen Packen schriftlichen Materials<br />
mitgenommen. Voll Schreck eilt er zum Versteck…Gott sei Dank, es ist alles<br />
noch da! Aber, auch <strong>in</strong> der extremen <strong>und</strong> belastenden Situation des Konzentrationslagers<br />
blieb Pater Kentenich väterlicher Erzieher. Jede <strong>Leben</strong>slage sollte ausgenützt<br />
werden, um <strong>in</strong>nerlich frei zu werden, immer mehr Gott zu gehören, vorbehaltloser<br />
für se<strong>in</strong> Reich zur Verfügung zu stehen. Nun riefen Hunger, Raumenge,<br />
Schikanen, Arbeitsfron <strong>und</strong> <strong>Leben</strong>sgefahr nicht nur den Heroismus im Menschen<br />
hervor, sondern brachten auch se<strong>in</strong>e Schwächen, Leidenschaften, Verhaftungen<br />
an das Irdische besonders deutlich ans Tageslicht. Wer blieb schon davon<br />
verschont, e<strong>in</strong>mal „aus den Nähten zu platzen”, ungeläutert zu reagieren?<br />
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Pater Kentenich griff deshalb auch <strong>in</strong> Dachau zu, um e<strong>in</strong>e Seele zu läutern. Er<br />
schonte se<strong>in</strong>e Gefolgschaft nicht; heilig sollte <strong>sie</strong> werden.<br />
E<strong>in</strong>e entsprechende „Operation” hatte Pater F. erhalten. Sie hatte weh getan, vor<br />
allem, weil er sich <strong>in</strong> diesem Fall äußerst ungerecht behandelt fühlte. Die beiden<br />
g<strong>in</strong>gen sich deshalb e<strong>in</strong>e ganze Zeit aus dem Wege <strong>und</strong> sprachen nicht mite<strong>in</strong>ander.<br />
Bei e<strong>in</strong>em Zählappell – alle <strong>in</strong> Reihe <strong>und</strong> Glied, „stillgestanden”, schweigend<br />
– kommt Pater Kentenich neben Pater F. zu stehen. „Ich habe e<strong>in</strong> Butterbrot” flüstert<br />
er ihm versöhnlich zu. Der Groll ist aber immer noch nicht verraucht, <strong>und</strong> so<br />
kommt es zwischen den Zähnen zurück: „Unter den bestehenden Verhältnissen<br />
kann ich das Geschenk nicht annehmen!” Pater Kentenich gibt aber nicht nach.<br />
Am selben Tag bietet er dem Getroffenen – als weiteres Zeichen zur Versöhnung<br />
– e<strong>in</strong> Stück geräucherten Aal an, im KZ e<strong>in</strong>e außergewöhnliche Kostbarkeit. Pater<br />
F. will immer noch nicht. Da bittet ihn Pater Kentenich so bescheiden <strong>und</strong><br />
herzlich, dass der Groll schließlich doch dah<strong>in</strong>schmilzt <strong>und</strong> die Versöhnung wiederhergestellt<br />
ist.<br />
Zu manchen Zeiten war die Beanspruchung <strong>und</strong> die Arbeitsleistung Pater Kentenichs<br />
gleich erstaunlich <strong>und</strong> ungeheuerlich. Es gab Zeiten <strong>in</strong> den dreißiger Jahren,<br />
<strong>in</strong> denen er zwei oder drei Kurse parallel hielt; sechs bis neun Vorträge täglich,<br />
alle stehend; dazwischen persönliche Gespräche bis tief <strong>in</strong> die Nacht h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>.<br />
Zur Vorbereitung blieb oft kaum Zeit. Zum Schlafen auch nicht.<br />
Was die Vorbereitung betraf, erzählte er später: „Wenn sich zu den Priesterexerzitien<br />
oder den pädagogischen Tagungen manchmal Professoren <strong>und</strong> Prälaten anmeldeten,<br />
habe ich schnell <strong>in</strong> der Bibliothek die Überschriften der Artikel <strong>in</strong> den<br />
wissenschaftlichen Zeitschriften durchgesehen. Dazu habe ich dann Stellung genommen,<br />
<strong>und</strong> alle w<strong>und</strong>erten sich, wie sehr ich ‚auf der Höhe der Zeit‘ war.”<br />
Was den Schlaf betrifft, so kam er oft tagelang zu kurz. Se<strong>in</strong>e Augen konnten<br />
dann rot anlaufen. ,Jetzt ist mir e<strong>in</strong> Äderchen im Auge geplatzt”, bemerkte er<br />
32
dazu. Und dann schlief er vier<strong>und</strong>zwanzig St<strong>und</strong>en durch.<br />
Es gab für Pater Kentenich e<strong>in</strong>en Zwischenweg. Er beschrieb ihn so: „Wenn ich<br />
sehr müde war, dann ist mitten im Vortrag me<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> abgesunken bis an<br />
den Rand des Schlafes h<strong>in</strong>, während ich weitergeredet habe. So habe ich mich<br />
e<strong>in</strong> wenig ausgeruht, <strong>und</strong> dann tauchte das Bewußtse<strong>in</strong> wieder auf.”<br />
Auf diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> ist folgende Bemerkung zu verstehen: Am 8. April 1945,<br />
zwei Tage nach der Entlassung aus dem Konzentrationslager, machten Pater Kentenich<br />
<strong>und</strong> Kaplan D. e<strong>in</strong>en Besuch bei e<strong>in</strong>em <strong>Mit</strong>bruder <strong>in</strong> Freis<strong>in</strong>g. Es war nach<br />
dem <strong>Mit</strong>tagessen. Der Pater lud die Besucher fre<strong>und</strong>lich zum Sitzen e<strong>in</strong>. Man<br />
sprach über die vergangenen Ereignisse <strong>und</strong> die Situation im allgeme<strong>in</strong>en.<br />
Die beiden KZ-Häftl<strong>in</strong>ge waren nicht <strong>in</strong> der besten körperlichen Verfassung.<br />
Während deshalb Kaplan D. müde auf dem Sofa saß <strong>und</strong> mit dem Schlaf kämpfte,<br />
führte Pater Kentenich mit dem Gastgeber das Gespräch; ganz ruhig zwar,<br />
aber doch so, dass die Unterhaltung kont<strong>in</strong>uierlich dah<strong>in</strong>plätscherte. Nachdem<br />
<strong>sie</strong> sich nach kurzer Zeit verabschiedet hatten, bemerkte Pater Kentenich zu Kaplan<br />
D.: „So, jetzt habe ich e<strong>in</strong> bißchen ausgeschlafen.”<br />
Nach se<strong>in</strong>er Entlassung aus dem KZ Dachau am 6. April 1945 hatte sich Pater<br />
Kentenich über Ulm bis Ennabeuren auf der Schwäbischen Alb durchgeschlagen.<br />
Der Krieg war noch im Gang. Die meisten Zugverb<strong>in</strong>dungen waren zerschnitten,<br />
viele Straßen zerbombt oder vom Militär besetzt. Autos gab es sowieso kaum<br />
<strong>und</strong> Benz<strong>in</strong> schon gar nicht. Außerdem war das Reisen wegen der letzten Zuckungen<br />
des Krieges <strong>und</strong> der Willkür des Militärs <strong>in</strong> dieser rechtlosen Zeit ziemlich gefährlich.<br />
Der Gedanke lag nahe, auf der relativ sicheren Schwäbischen Alb bessere<br />
Zeiten abzuwarten <strong>und</strong> dann erst die Reise nach Schönstatt fortzusetzen. Warum<br />
sich neuer Gefahr aussetzen, nachdem man gerade dem Tode entronnen war?<br />
Pater Kentenich dachte nicht so. Es zog ihn heim zu se<strong>in</strong>er Gründung.<br />
In dieser Situation kam bei e<strong>in</strong>er Fahrt mit dem Pfarrer des Ortes der Gedanke<br />
auf, die Heimfahrt nach Schönstatt mit e<strong>in</strong>em Pferdegespann <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Kutsche<br />
33
zu versuchen. Pater Kentenich, der se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>dheit <strong>in</strong> der Familie des Großvaters,<br />
er besaß e<strong>in</strong> mit Pferden betriebenes Fuhrunternehmen -verbracht hatte, war<br />
ganz begeistert von diesem Gedanken.<br />
Kaplan D., der nicht an der Fahrt teilgenommen hatte, erfuhr von dem Plan nach<br />
der Rückkehr <strong>in</strong> Ennabeuren. Er war das Tagesgespräch. Selbst am Abend schien<br />
der Gedanke bei Pater Kentenich nicht zur Ruhe kommen zu wollen. Nachdem<br />
man sich schon „gute Nacht” gewünscht <strong>und</strong> zurückgezogen hatte, klopft es vorsichtig<br />
an die Tür von Kaplan D. Es ist Pater Kentenich. Noch e<strong>in</strong>mal wird durchbesprochen,<br />
was alles mitzunehmen sei, wie die Pferde gefüttert werden müßten,<br />
dass vorher natürlich das Kutschieren etwas zu üben sei <strong>und</strong> wie lange es wohl<br />
dauern könne, bis man <strong>in</strong> Schönstatt ankomme.<br />
Schließlich geraten beide so <strong>in</strong> Begeisterung, dass die Phanta<strong>sie</strong> zu spielen beg<strong>in</strong>nt:<br />
Natürlich seien die Pferde schönstättisch zu erziehen <strong>und</strong> nur mit Idealpädagogik<br />
zu behandeln. Unter schallendem Gelächter endet die ganze Betrachtung<br />
mit der Feststellung Pater Kentenichs: „Ich sehe uns schon <strong>in</strong> Schönstatt<br />
e<strong>in</strong>ziehen: Wir zwei ziehen, <strong>und</strong> die Pferde sitzen im Wagen!”<br />
E<strong>in</strong> Augenzeuge berichtet e<strong>in</strong> eigenes Erlebnis: „Es war 1945 <strong>in</strong> Ennabeuren. An<br />
e<strong>in</strong>em frühen Nachmittag im Mai kam ich <strong>in</strong> die Kirche. Das Gotteshaus war leer<br />
bis auf e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Beter, der <strong>in</strong> der <strong>Mit</strong>te des Schiffes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bank kniete. Es<br />
war Pater Kentenich.<br />
Ganz ruhig <strong>und</strong> gesammelt hielt er den Blick unverwandt zum Tabernakel gerichtet.<br />
Um ihn im Gebet nicht zu stören, er kniete ich mich h<strong>in</strong>ten auf die letzte<br />
Bank. In se<strong>in</strong>er Andacht hatte er wohl kaum gemerkt, dass jemand here<strong>in</strong>gekommen<br />
war. In dieser Me<strong>in</strong>ung wurde ich bestärkt, als plötzlich e<strong>in</strong> schweres<br />
Unwetter heraufzog. Das helle, durch die bunten Kirchenfenster here<strong>in</strong>strahlende<br />
Sonnenlicht wurde durch dunkle Wolken rasch verdrängt. Sturm erhob sich<br />
<strong>und</strong> fegte heulend um die auf e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Anhöhe frei dastehende Kirche. Türen<br />
<strong>und</strong> Fenster schlugen <strong>und</strong> rappelten. Wenn gesprochen worden wäre, hätte<br />
man se<strong>in</strong> eigenes Wort nicht mehr verstehen können. Mir wurde es ganz unheimlich<br />
bei diesem tollen Treiben. Herr Pater regte sich nicht. Er schaute weder nach<br />
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echts noch nach l<strong>in</strong>ks zu den Fenstern auf, wie man das doch unwillkürlich tut,<br />
wenn plötzlich ungewohnte Geräusche ans Ohr dr<strong>in</strong>gen. Ich war gepackt von der<br />
tiefen Gebetssammlung, die von Herrn Pater ausg<strong>in</strong>g. Er war im wahrsten S<strong>in</strong>ne<br />
. des Wortes im Gebet versunken. Herr Pater war e<strong>in</strong>fach beim lieben Gott. Da<br />
konnte ihn nichts, aber auch gar nichts stören. Als sich nach e<strong>in</strong>er geraumen Zeit<br />
das Wetter beruhigte, verließ ich die Kirche. Pater Kentenich verweilte noch längere<br />
Zeit im Gespräch mit dem lieben Gott.‘‘<br />
Aus den vielen Gebeten <strong>und</strong> Betrachtungen, die Pater Kentenich während se<strong>in</strong>er<br />
Gefängnis- <strong>und</strong> Dachauzeit <strong>in</strong> Versform geschrieben hatte, entstand bald nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Gebetbuch: „Himmelwärts”.<br />
Teile daraus wurden bald vertont, zum Beispiel die Texte zur heiligen Messe. In<br />
der Hauskapelle des damaligen B<strong>und</strong>esheimes, dem jetzigen Pallottihaus, fand<br />
die Erstaufführung der sogenannten „Werkzeugsmesse” statt. Wer <strong>in</strong> Schönstatt<br />
war <strong>und</strong> abkommen konnte, war dazu geladen. Als die Orgel zu spielen begann,<br />
setzten sich alle Teilnehmer wie bei e<strong>in</strong>em Kirchenkonzert. Nur e<strong>in</strong>er blieb unbeweglich<br />
knien: Pater Kentenich.<br />
Nachher darauf angesprochen, warum er sich denn nicht gesetzt habe, erwiderte<br />
er: „Wie konnte ich sitzen beim Nachkosten der Erlebnisse <strong>in</strong> Dachau, wo unter<br />
den schwersten Umständen die Werkzeugsmesse entstanden ist!”<br />
Für die meisten Menschen verb<strong>in</strong>den sich tiefe Erlebnisse mit dem Ort, an dem<br />
<strong>sie</strong> geschehen. Das Liebespaar kehrt gerne zu dem Bänkchen zurück, auf dem<br />
sich die beiden ihre Liebe zum ersten Mal gestanden; ebenso der Verbrecher zum<br />
Ort se<strong>in</strong>er Tat. So gab es Häftl<strong>in</strong>ge aus den Konzentrationslagern, die nach Jahren<br />
der Befreiung seelisch bis auf den Gr<strong>und</strong> aufgewühlt wurden, wenn <strong>sie</strong> den<br />
Ort ihrer Qualen <strong>und</strong> Ängste wieder besuchten.<br />
Jeder Häftl<strong>in</strong>g des Konzentrationslagers Dachau brachte viele qualvolle St<strong>und</strong>en<br />
se<strong>in</strong>es dortigen <strong>Leben</strong>s auf dem Appellplatz zu. Jeden Morgen <strong>und</strong> jeden<br />
Abend war Zählappell. Nach Wohnblöcken aufgestellt, <strong>in</strong> strammer Haltung. Bis<br />
die Zahl stimmte. Stimmte <strong>sie</strong> nicht, standen die Häftl<strong>in</strong>ge st<strong>und</strong>enlang (e<strong>in</strong>mal<br />
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tagelang), frierend <strong>in</strong> der Kälte im W<strong>in</strong>ter, unter der prallen Sonne im Sommer.<br />
Der Appellplatz <strong>in</strong> Dachau war e<strong>in</strong> freier Platz, der auf der e<strong>in</strong>en Längsseite an<br />
die Wohnbaracken grenzte <strong>und</strong> auf der anderen vom langgestreckten, etwas U-<br />
förmigen Wirtschaftsgebäude e<strong>in</strong>gefaßt war. Welchem Häftl<strong>in</strong>g sollte sich dieser<br />
Platz mit se<strong>in</strong>er Umgebung nicht tief <strong>und</strong> schreckhaft <strong>in</strong> die Er<strong>in</strong>nerung e<strong>in</strong>prägen?<br />
Pater Kentenich war sicher e<strong>in</strong>er der ganz wenigen, denen es nicht so erg<strong>in</strong>g. Er<br />
lebte <strong>in</strong> der Geborgenheit, von Gott geführt zu se<strong>in</strong>, aus der Bereitschaft, für se<strong>in</strong><br />
Werk stellvertretend zu leiden, <strong>und</strong> aus dem Drang, dafür zu kämpfen, zu arbeiten<br />
<strong>und</strong> notfalls zu sterben. Für ihn war die Lagerzeit e<strong>in</strong>e „Hoch-Zeit”; e<strong>in</strong>e Zeit<br />
der Ause<strong>in</strong>andersetzung selbstverständlich, aber auch der Gnade. Der Ort <strong>in</strong> sich<br />
wurde durch solch <strong>in</strong>neres Erleben wieder „neutrali<strong>sie</strong>rt”.<br />
Der 25. Jahrestag der Gründung des Schönstätter Familienwerkes <strong>und</strong> der Marienbrüder<br />
wurde am 16. Juli 1967 im Konzentrationslager Dachau gefeiert. Pater<br />
Kentenich – zum ersten Mal nach der Haft wieder <strong>in</strong> Dachau – hielt bei der Baracke,<br />
<strong>in</strong> der die beiden Gründungen stattgef<strong>und</strong>en hatten, e<strong>in</strong>e lange Rede zu<br />
über tausend Menschen. Bei sengender Hitze. Danach schritt er, von e<strong>in</strong>er Gruppe<br />
begleitet, die Lagerstraße h<strong>in</strong>ab auf den Appellplatz zu.<br />
Dort angekommen, blickte er verw<strong>und</strong>ert auf das Wirtschaftsgebäude (<strong>in</strong>zwischen<br />
Museum, aber <strong>in</strong> denselben Ausmaßen erhalten) <strong>und</strong> fragte se<strong>in</strong>e Umgebung:<br />
„Was ist denn das?” Erst der H<strong>in</strong>weis e<strong>in</strong>es Begleiters, das sei doch das ehemalige<br />
Wirtschaftsgebäude des Lagers, brachte die Er<strong>in</strong>nerung wieder zurück.<br />
Nachdem der Zweite Weltkrieg se<strong>in</strong> Ende gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Pater Kentenich die langen,<br />
harten Jahre im Konzentrationslager Dachau überlebt hatte, machte er sich<br />
sofort daran, se<strong>in</strong>e unter der Verfolgung gewachsene, aber auch durch die Kriegsereignisse<br />
geschüttelte Schönstattfamilie neu zu sammeln.<br />
Auf drei großen Weltreisen wollte er die <strong>in</strong>ternationalen Ansätze Schönstatts<br />
kennenlernen, den Führungen <strong>und</strong> Fügungen Gottes <strong>in</strong> den verschiedenen Län-<br />
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dern nachgehen <strong>und</strong> zum weiteren Aufbau des Werkes <strong>in</strong> aller Welt beitragen.<br />
Die erste dieser Weltreisen führte ihn 1947 nach Südamerika. Im Verlauf dieser<br />
Reise kam er auch nach Uruguay.<br />
Die Vorfreude <strong>und</strong> Spannung der Schwestern war entsprechend groß, den Gründer<br />
nach so vielen <strong>und</strong> ereignisreichen Jahren wiederzusehen oder ihm – auf seiten<br />
der e<strong>in</strong>heimischen Schwestern – überhaupt erstmals zu begegnen. E<strong>in</strong>e der<br />
Schwestern – nennen wir <strong>sie</strong> Schwester Maria, die mit der ersten Gruppe <strong>Mit</strong>te<br />
der dreißiger Jahre ausgesandt worden war, <strong>in</strong>zwischen also schon über zehn Jahre<br />
<strong>in</strong> Uruguay arbeitete, war nun der festen Überzeugung, Pater Kentenich könne<br />
<strong>sie</strong> nach so langer Zeit nicht mehr kennen. „Ich werde Herrn Pater auf spanisch<br />
begrüßen”, me<strong>in</strong>t <strong>sie</strong> zu den <strong>Mit</strong>schwestern, „denn er kennt mich doch nicht mehr<br />
nach zehn Jahren”. Als <strong>sie</strong> ihn aber auf spanisch begrüßt, unterbricht Pater Kentenich<br />
<strong>sie</strong> lächelnd auf deutsch: „Schwester Maria …!”<br />
Die Reise im Jahre 1947 führte auch nach Argent<strong>in</strong>ien. In Valent<strong>in</strong>-Als<strong>in</strong>a, wo<br />
die Marienschwestern die Deutsche Geme<strong>in</strong>de betreuen, will die Geme<strong>in</strong>de Pater<br />
Kentenich e<strong>in</strong>en feierlichen Empfang bereiten. Er f<strong>in</strong>det im Haus der Schwestern<br />
statt. In unmittelbarer Nähe führt e<strong>in</strong> Deutscher e<strong>in</strong>en Stehausschank. Während<br />
der Vorbereitungen für den Empfang überlegen die Männer, ob <strong>sie</strong> an jenem<br />
Abend Pater Kentenich nicht dazu bewegen könnten, mit ihnen e<strong>in</strong> Stehbier<br />
zu tr<strong>in</strong>ken. Die Schwestern erfahren von dem Plan. Ne<strong>in</strong>, me<strong>in</strong>en <strong>sie</strong>, das wird der<br />
Herr Pater wohl nie tun! Und <strong>sie</strong> schließen mit den Männern e<strong>in</strong>e Wette ab.<br />
Der Abend kommt; der Empfang läuft. Nach e<strong>in</strong>iger Zeit beobachten die Schwestern,<br />
wie jene Gruppe von Männern Pater Kentenich etwas abseits führt. Und<br />
zu ihrem großen Erstaunen müssen <strong>sie</strong> mit ansehen, wie er mit den Männern davonzieht<br />
<strong>in</strong> Richtung Stehausschank. Dort tr<strong>in</strong>kt er mit ihnen e<strong>in</strong> Bier. Die Wette<br />
war verloren.<br />
Die Arbeitskapazität Pater Kentenichs überstieg gewöhnliche Dimensionen bei<br />
weitem. Nicht nur, dass er se<strong>in</strong> ganzes <strong>Leben</strong> lang nie Urlaub gemacht hat – <strong>sie</strong>ht<br />
man e<strong>in</strong>mal ab von der vierwöchigen Dunkelhaft <strong>in</strong> Koblenz, der KZ-Zeit <strong>in</strong> Dachau<br />
oder der Exilszeit <strong>in</strong> Milwaukee, die er selbst gerne als „Urlaub” bezeichnete,<br />
37
– er konnte zwei, drei, ja manchmal vier Exerzitienkurse <strong>und</strong> Schulungen parallel<br />
geben. Die Betreuung von e<strong>in</strong>zelnen <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Korrespondenz liefen immer<br />
nebenher. Jede M<strong>in</strong>ute des Tages war mit Arbeit <strong>und</strong> Gebet ausgefüllt. Drängte<br />
e<strong>in</strong>e Arbeit sehr, konnte er ohne Schwierigkeit auch e<strong>in</strong>e Nacht durcharbeiten.<br />
Geschlafen hat er selbst zu „normalen” Zeiten nie sehr viel – vier bis sechs St<strong>und</strong>en<br />
meist.<br />
Von anderen verlangte Pater Kentenich weder se<strong>in</strong>en Arbeitsrhythmus noch se<strong>in</strong><br />
Arbeitspensum. Im Gegenteil, er achtete sehr darauf, dass se<strong>in</strong>e <strong>Mit</strong>arbeiter ihre<br />
natürlichen Kräfte beobachteten <strong>und</strong> sich weise beschränkten. War e<strong>in</strong>e Sache<br />
jedoch e<strong>in</strong>mal außergewöhnlich wichtig <strong>und</strong> dr<strong>in</strong>gend, dann konnte er schon e<strong>in</strong>mal<br />
die Leistungskraft e<strong>in</strong>es <strong>Mit</strong>arbeiters überschätzen.<br />
Ende 1962 erschien <strong>in</strong> der DDR das Buch „Das Katholische Apostolat” von Hubert<br />
Mohr, e<strong>in</strong>e Untersuchung Schönstatts aus kommunistischer Sicht mit der<br />
Tendenz, die Gefährlichkeit des Werkes als Instrument des Kapitalismus aufzuzeigen<br />
Pater Kentenich wurde e<strong>in</strong>e Ausgabe dieses Buches an e<strong>in</strong>em Dezembertag<br />
desselben Jahres gebracht. Er behielt das Buch am Vormittag, am Abend hatte er<br />
es gelesen <strong>und</strong> hielt Interessenten e<strong>in</strong>en Vortrag darüber. Das Buch müsse gelesen<br />
werden, me<strong>in</strong>te er. Zwar liege der Verfasser völlig schief mit se<strong>in</strong>er politischen<br />
Interpretation Schönstatts. Se<strong>in</strong>e Pädagogik habe er aber sehr gut begriffen.<br />
Pater Kentenich war von dem Buch so angeregt, dass er e<strong>in</strong>e Erwiderung darauf<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Studie e<strong>in</strong>arbeiten wollte, an der er gerade schrieb. Er fragte e<strong>in</strong>en <strong>Mit</strong>arbeiter,<br />
ob er nicht diese Erwiderung, e<strong>in</strong>en „Anti-Mohr”, schreiben wolle. Jener,<br />
recht überrascht durch die Anfrage, wußte nicht gleich, ob er sich das zutrauen<br />
sollte, zögerte <strong>und</strong> erbat sich – von Pater Kentenich immer weiter ermuntert – etwas<br />
Bedenkzeit.<br />
Kaum war er zu Hause, kl<strong>in</strong>gelte das Telefon. Pater Kentenich wollte wissen, ob er<br />
es sich nun überlegt habe <strong>und</strong> die Erwiderung schreibe. Nach dem Motto „Halb<br />
zog es ihn, halb sank er h<strong>in</strong>”, gab der Befragte vorläufi g nach: Er wolle sich Gedanken<br />
machen.<br />
Diese Zusage wurde am Nachmittag gegeben. Am nächsten Morgen telefonierte<br />
38
Pater Kentenich wieder: „Haben Sie die Erwiderung schon geschrieben?” – „Aber<br />
Herr Pater”, wehrte sich der Angesprochene, „ich muß mir die Sache zuerst überlegen<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong> Konzept machen. So schnell kann ich nicht!”<br />
Am Nachmittag kl<strong>in</strong>gelte bereits wieder das Telefon: „Haben Sie das Konzept?<br />
Wie lang wird der Artikel?” Der Arme erklärte, er wisse noch nicht e<strong>in</strong>mal, wie<br />
ausführlich Pater Kentenich sich die Antwort denke. „Das macht nichts”, me<strong>in</strong>te<br />
Pater Kentenich, „sagen Sie mir die Seitenzahl, damit ich <strong>sie</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Studie aussparen<br />
<strong>und</strong> dann weiterschreiben kann. Zehn oder fünfzehn?” – „Vielleicht fünfzehn”,<br />
dachte der <strong>Mit</strong>arbeiter laut <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geistigen Salto mortale. Natürlich<br />
f<strong>in</strong>g er jetzt <strong>in</strong>tensiv an zu arbeiten. Bis zum nächsten Tag hatte er drei Tippseiten<br />
beisammen <strong>und</strong> schickte <strong>sie</strong> Pater Kentenich, um zu hören, ob er sich die Sache<br />
wohl so gedacht habe. Nach wenigen St<strong>und</strong>en ist jener schon wieder am Telefon.<br />
Die Fragen, ob der Ansatz, die Darstellung usw. richtig sei, schneidet er alle<br />
ab: „Die Sekretär<strong>in</strong> hat die drei Seiten schon getippt. Wann kommen die nächsten?”<br />
Im Pr<strong>in</strong>zip bejahte Pater Kentenich alles Gute <strong>und</strong> Schöne, sei es <strong>in</strong> der Natur<br />
gef<strong>und</strong>en oder von Menschen geschaffen. Er konnte zur Beschäftigung mit der<br />
Kunst ermutigen, technische Fähigkeiten bew<strong>und</strong>ern, jeglichen Wissensdurst unterstützen.<br />
Was aber ihn selbst betraf, so war se<strong>in</strong> irdisches Interesse e<strong>in</strong>seitig auf<br />
Menschen ausgerichtet. Wie <strong>sie</strong> waren, fasz<strong>in</strong>ierte ihn, an ihren Orig<strong>in</strong>alitäten<br />
<strong>und</strong> Eigenheiten freute er sich. Was <strong>sie</strong> beschäftigte, beschäftigte auch ihn.<br />
Die Sachwelt?<br />
Er sah <strong>und</strong> erkannte <strong>sie</strong> mehr metaphysisch, im Pr<strong>in</strong>zip, weniger <strong>in</strong> der konkreten<br />
Gestalt. Im Jahre 1947 kam Pater Kentenich zum ersten Mal nach Rom. E<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er<br />
<strong>Mit</strong>arbeiter von der Zentrale <strong>in</strong> Schönstatt, der <strong>in</strong> Rom studiert hatte, freute<br />
sich, dem Gründer <strong>und</strong> geistlichen Vater die Ewige Stadt zeigen zu können. Er<br />
hatte sich vorbereitet <strong>und</strong> e<strong>in</strong> genaues Programm zurechtgelegt.<br />
E<strong>in</strong> Wagen mit Chauffeur stand zur Verfügung. Die Besichtigung sollte drei Tage<br />
dauern. Sie verlief ganz anders als geplant! Und zwar betrachtete Pater Kentenich<br />
noch recht <strong>in</strong>teres<strong>sie</strong>rt die Mosaiken an der Decke von Maria Maggiore.<br />
39
Schon viel kürzer fiel der Besuch <strong>in</strong> St. Peter aus: E<strong>in</strong> Blick zur Kuppel, e<strong>in</strong> Besuch<br />
beim Petrusgrab... weiter. St. Paul vor den Mauern war nach kurzem Blick besehen.<br />
Von anderen Orten wollen wir schweigen.<br />
Das Eigen<strong>in</strong>teresse Pater Kentenichs brach vor der Engelsburg durch. Der „Führer”<br />
hob an: „Tomba Adriana (Das Grabmal, von Kaiser Hadrian erbaut), Engelsburg<br />
genannt, weil…” – „Du, guck mal”, unterbrach ihn Pater Kentenich „<strong>sie</strong>hst du<br />
diese Schwestern dort?. . .” Es handelte sich um Schwestern <strong>in</strong> der damals noch<br />
üblichen sehr abgeschlossenen <strong>und</strong> reichlichen Kleidung. Sie wurden Anlaß für<br />
e<strong>in</strong>e Betrachtung Pater Kentenichs über das religiöse Kleid <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e zeitgemäße<br />
Anpassung. Und damit war es um die Besichtigung der Engelsburg geschehen.<br />
Und am Abend des ersten Tages war die Besichtigung der ganzen Stadt abgeschlossen.<br />
Ke<strong>in</strong>eswegs besser erg<strong>in</strong>g es Pater Kentenichs Umgebung <strong>in</strong> Südafrika während<br />
se<strong>in</strong>es ersten Besuches zum Jahresbeg<strong>in</strong>n 1948. Se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Arbeitsweise<br />
<strong>und</strong> Reisetätigkeit dort ließ nach e<strong>in</strong>iger Zeit um se<strong>in</strong>e Ges<strong>und</strong>heit fürchten.<br />
Der damalige Pallott<strong>in</strong>erbischof Hennemann von Kapstadt, der sich sehr um Pater<br />
Kentenich <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Gründung <strong>in</strong> Südafrika sorgte, versuchte, Abhilfe zu<br />
schaffen. E<strong>in</strong>es Tages schickte er e<strong>in</strong>fach se<strong>in</strong>en Sekretär mit dem Auto <strong>und</strong> ließ<br />
zu e<strong>in</strong>er Fahrt zum „Signal Hill”, dem berühmten <strong>und</strong> für die Seefahrt wichtigen<br />
Hügel am Rande Kapstadts e<strong>in</strong>laden. Zwei Schwestern sollten mitfahren. Pater<br />
Kentenich kommentierte: „Wenn der Bischof das wünscht, muß ich das annehmen.”<br />
Und beim E<strong>in</strong>steigen <strong>in</strong> den Wagen me<strong>in</strong>te er scherzend zum Fahrer: „Ich<br />
b<strong>in</strong> immer bereit, Opfer zu br<strong>in</strong>gen.”<br />
Die Unterhaltung im Wagen während der Fahrt hatte nichts mit der Landschaft<br />
zu tun. Es g<strong>in</strong>g um „Schönstatt <strong>in</strong> Südafrika”!<br />
An e<strong>in</strong>er schönen Aussichtsstelle hielt der Fahrer, ließ aussteigen <strong>und</strong> begann<br />
die Schönheit der Natur zu erklären. Der Blick fi el auf die beiden Ozeane, Tafel-<br />
40
erg, „Devils Peak” (Teufelsspitze), die Stadt zu Füßen. Pater Kentenich stand für<br />
e<strong>in</strong> paar Augenblicke still. Dann umf<strong>in</strong>g er mit e<strong>in</strong>er weiten Geste das ganze Naturschauspiel<br />
<strong>und</strong> sagte: „Majestas Dom<strong>in</strong>i! …Alles Licht <strong>und</strong> Luft <strong>und</strong> Wasser!”<br />
Und zu den Schwestern gewandt: „Kommen Sie. Wir steigen e<strong>in</strong>. Ich b<strong>in</strong> gekommen,<br />
das Liebesbündnis mit der Gottesmutter zu künden.”<br />
Schon bei der Ankunft <strong>in</strong> Johannesburg hatte sich diese „organische E<strong>in</strong>seitigkeit”<br />
Pater Kentenichs offenbart. Am Flugplatz standen drei Schwestern <strong>und</strong> e<strong>in</strong><br />
französischer Oblatenpater mit se<strong>in</strong>em Wagen, um den sehnlichst erwarteten Besuch<br />
zu empfangen <strong>und</strong> ihn <strong>in</strong> die Stadt zu fahren.<br />
Unterwegs sollte er gleich etwas von den Besonderheiten des Landes aufnehmen.<br />
Der Oblatenpater machte auf die riesigen Goldm<strong>in</strong>en aufmerksam, an denen<br />
<strong>sie</strong> vorbeifuhren <strong>und</strong> gab Erklärungen zu den Anlagen der Bergwerke. Die<br />
drei Marienschwestern auf dem h<strong>in</strong>teren Sitz des Wagens halfen mit der Verständigung.<br />
<strong>Mit</strong>ten <strong>in</strong> der Verständigung dreht sich Pater Kentenich nach ihnen um<br />
<strong>und</strong> kommentiert lachend: „Goldm<strong>in</strong>en! Me<strong>in</strong>e Goldm<strong>in</strong>en sitzen hier h<strong>in</strong>ten.”<br />
Autofahrer <strong>haben</strong> ihre eigene Sprache; meist kräftiger, als es der gewöhnliche<br />
Umgangston zuläßt. Man darf nicht alles, was <strong>sie</strong> sagen, auf die Goldwaage legen.<br />
Manche ihrer Ausdrücke entstehen aus der <strong>in</strong>neren Anspannung e<strong>in</strong>es hektischen<br />
Straßenverkehrs.<br />
Bis nach dem Zweiten Weltkrieg war das fast ausschließliche Verkehrsmittel Pater<br />
Kentenichs die Eisenbahn. Das Auto als reguläres Verkehrsmittel lernte er wohl<br />
erst <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten <strong>in</strong> den fünfziger Jahren kennen; ohne die deutsche<br />
Autosprache also. Erst nach se<strong>in</strong>er Rückkehr aus den USA im Jahre 1965<br />
wurde Pater Kentenich bei Besuchen <strong>in</strong>nerhalb Deutschlands mit dem Wagen gefahren.<br />
Der Fahrer – oder die Fahrer<strong>in</strong> – war sich dabei der „kostbaren Fracht” <strong>und</strong><br />
damit auch der besonderen Verantwortung wohl bewußt; e<strong>in</strong>e Tatsache, die das<br />
Fahren nicht leichter machte.<br />
Es war 1966 auf e<strong>in</strong>er Fahrt von Borken nach Münster. Die Landstraßen s<strong>in</strong>d auf<br />
dieser Strecke stellenweise eng <strong>und</strong>, weil von Bäumen e<strong>in</strong>gesäumt, nur begrenzt<br />
41
überschaubar. In e<strong>in</strong>er solchen Straßensituation e<strong>in</strong>en „dicken Brummer” zu überholen,<br />
ist meist e<strong>in</strong> etwas aufregender Vorgang. Die Bäume <strong>haben</strong> es dann plötzlich<br />
sehr eilig <strong>und</strong> kommen auch noch ganz nahe an e<strong>in</strong>en heran. Bei e<strong>in</strong>em solchen<br />
Überholvorgang entfährt der Fahrer<strong>in</strong> plötzlich: „Dieser dicke He<strong>in</strong>i!”<br />
Pater Kentenich sche<strong>in</strong>t den Anruf nicht zu bemerken. Er setzt se<strong>in</strong> Gespräch mit<br />
der übrigen Reisebegleitung <strong>in</strong> gleichbleibender Ruhe fort.<br />
Nach e<strong>in</strong>er ganzen Weile ergibt sich dieselbe Überholsituation. Als nun aber der<br />
Personenwagen sich von h<strong>in</strong>ten an den Lastwagen heranschiebt, unterbricht Pater<br />
Kentenich se<strong>in</strong> ernstes Gespräch, wendet sich der Fahrer<strong>in</strong> zu <strong>und</strong> fragt: „Wie<br />
hieß der noch?”<br />
Es war <strong>in</strong> der Pf<strong>in</strong>gstwoche des Jahres 1950. Der erste B<strong>und</strong>eskurs der Familien<br />
tagte im Exerzitienhaus <strong>in</strong> Schönstatt. Er bereitete sich auf die erste B<strong>und</strong>esweihe<br />
<strong>und</strong> damit auf die Gründung des Familienb<strong>und</strong>es vor, die am Dreifaltigkeitsfest<br />
im Urheiligtum getätigt werden sollte.<br />
Pater Kentenich hatte dem Leiter der Tagung zugesagt, jeden Tag zwei Vorträge<br />
zu halten <strong>und</strong> auch die B<strong>und</strong>esweihe entgegenzunehmen.<br />
An e<strong>in</strong>em dieser Tage nun kommt der Leiter aus se<strong>in</strong>em Zimmer heraus <strong>und</strong> <strong>sie</strong>ht<br />
Pater Kentenich an e<strong>in</strong>em der Fenster des Ganges <strong>in</strong> der Klausur. Er steht da mit<br />
verschränkten Armen <strong>und</strong> <strong>sie</strong>ht sich das <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> Treiben der Familien im Innenhof<br />
des Exerzitienhauses an. Es ist gerade Pause. Die Familien stehen dort <strong>in</strong><br />
Gruppen beie<strong>in</strong>ander, plaudern <strong>und</strong> lachen. Da <strong>und</strong> dort spielen Väter oder Mütter<br />
mit den K<strong>in</strong>dern.<br />
Der Leiter tritt an Pater Kentenich heran, der sich das alles ganz versonnen anschaut.<br />
Nach e<strong>in</strong>er Weile sagt er: „Du hast doch die schönste Arbeit von uns allen.”<br />
Diese Überzeugung, die Arbeit mit Familien sei doch die schönste, schien auch<br />
im Verhalten Pater Kentenichs durch …, sobald sich die Gelegenheit bot.<br />
42
Im März 1968, dem letzten <strong>Leben</strong>sjahr des <strong>in</strong>zwischen Zwei-<strong>und</strong>-achtzig-jährigen,<br />
gelang e<strong>in</strong>em jungen Ehemann aus dem Schönstätter Familienwerk der<br />
telefonische „Durchstoß” zu dem ständig belagerten <strong>und</strong> deshalb auch „abgeschirmten”<br />
Gründer. Er bat um e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>ladung <strong>und</strong> erhielt <strong>sie</strong> zu e<strong>in</strong>er Mahlzeit<br />
bei nächster Gelegenheit.<br />
Wegen der Überbelastung Pater Kentenichs hatte die Frau vor dem Versuch ihres<br />
Mannes Bedenken angemeldet gegen dessen Bemühen um e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>ladung.<br />
Nun, nachdem die E<strong>in</strong>ladung da war, wollte <strong>sie</strong> auch mit; verständlich. Auch Maria,<br />
die älteste Tochter, die gerade ihren zweiten Geburtstag erwartete, wurde<br />
mitgenommen.<br />
Bei der Begrüßung im Sprechzimmer des Schulungsheimes auf Berg Schönstatt,<br />
<strong>in</strong> dem Pater Kentenich wohnte, drängte es die Frau, sich bei ihm gleich für die<br />
„Selbste<strong>in</strong>ladung” zu entschuldigen. Es sei dies wohl etwas „frech” von ihrem<br />
Mann gewesen, me<strong>in</strong>t <strong>sie</strong>. Pater Kentenich entgegnet mit e<strong>in</strong>em Augenzw<strong>in</strong>kern<br />
zum Mann h<strong>in</strong>, das sei schon recht so „Das Bravse<strong>in</strong> überlassen wir den Frauen.”<br />
Nun muß Maria begrüßt werden; auf ihre Art natürlich so, dass <strong>sie</strong> die Scheu verliert.<br />
Der E<strong>in</strong>ladung, an dem weißen Bart zu zupfen, getraut <strong>sie</strong> sich nicht zu folgen.<br />
Als aber der Papa <strong>sie</strong> auf die Fensterbank stellt <strong>und</strong> Pater Kentenich mit ihr<br />
„Kuckuck” spielt, <strong>in</strong>dem er immer wieder die Gard<strong>in</strong>e vor- <strong>und</strong> zurückzieht, verschw<strong>in</strong>det<br />
die Hemmung.<br />
E<strong>in</strong>e Schwester betreut Maria während des Gesprächs, damit die Eltern sich ungestört<br />
bei Pater Kentenich beraten können.<br />
Danach trifft man sich wieder im Sprechzimmer. Pater Kentenich erwidert das<br />
Geschenk der Eltern, <strong>in</strong>dem er ihnen e<strong>in</strong>e Flasche „Zeller Schwarze Katz” Pater<br />
Kentenich summt sofort mit. Dann me<strong>in</strong>t er: „Ich habe auch dir was mitgebracht.”<br />
Von der Tür her wirft er ihr e<strong>in</strong>en Rosenkranz <strong>und</strong> dann das Symbol e<strong>in</strong>es<br />
Vaterauges zu. Maria fängt – auf der Couch sitzend – mit Begeisterung auf.<br />
Sofort kommt es von den Eltern: „Wie sagst du denn nun?” Statt des erwarteten<br />
„Danke” kommt aber – zum Schrecken der Eltern – aus dem M<strong>und</strong> der Kle<strong>in</strong>en:<br />
43
„Noch!” Pater Kentenich lacht schallend. Er verschw<strong>in</strong>det sofort <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wohnung<br />
<strong>und</strong> kommt mit drei weiteren Rosenkränzen <strong>und</strong> Vatersymbolen zurück, die<br />
er dem jauchzenden K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>zeln zuwirft.<br />
(Inzwischen hat die Familie vier K<strong>in</strong>der. Am Erstkommuniontag reicht es also jedem<br />
K<strong>in</strong>d zu e<strong>in</strong>em Rosenkranz <strong>und</strong> Vatersymbol als Geschenk vom Gründer.)<br />
Das Telefon war für Pater Kentenich e<strong>in</strong> ganz bevorzugtes <strong>Mit</strong>tel se<strong>in</strong>er priesterlich-väterlichen<br />
Tätigkeit. Nicht nur konnte er dadurch Arbeit schnell erledigen<br />
<strong>und</strong> lebendigen Kontakt halten mit den Vielen, die auf Rat warteten <strong>und</strong> von e<strong>in</strong>em<br />
ermutigenden Wort von ihm abh<strong>in</strong>gen. Auch konnte er – vor allem bei dem<br />
riesigen Andrang während der letzten Jahre se<strong>in</strong>es <strong>Leben</strong>s – am leichtesten <strong>und</strong><br />
schnellsten per Telefon erreicht werden. Und viele, besonders se<strong>in</strong>e <strong>Mit</strong>arbeiter,<br />
nützten <strong>in</strong> dieser Weise das Telefon aus.<br />
E<strong>in</strong>es Morgens nahm Pater Kentenich se<strong>in</strong> Telefon nicht ab Zuerst war das nicht<br />
verw<strong>und</strong>erlich, weil es je nach Tätigkeit für kurze Zeit schon mal so geschehen<br />
konnte. Als aber den ganzen Vormittag über das Telefon vergeblich gekl<strong>in</strong>gelt<br />
hatte <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e R<strong>und</strong>frage bei mehreren <strong>Mit</strong>arbeitern ergab, dass niemand wußte,<br />
wo er sich aufhielt oder was wohl der Gr<strong>und</strong> des Schweigens sei, wuchs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Umgebung die Unruhe. Ob er wohl krank oder ihm irgend etwas zugestoßen<br />
war?<br />
Am späten Nachmittag wurde der x-te Versuch belohnt Ganz ruhig meldete sich<br />
Pater Kentenich am Telefon: „Bitte?” Natürlich entlädt sich zuerst die Sorge <strong>und</strong><br />
Unruhe wegen des langen Schweigens, <strong>in</strong> die Frage mündend, warum er sich<br />
denn den ganzen Tag nicht gemeldet habe. Zuerst weicht Pater Kentenich der<br />
Frage mit e<strong>in</strong>igen Scherzen aus, läßt im Gespräch aber dann doch durchblicken:<br />
Heute sei ja e<strong>in</strong> Festtag der Gottesmutter. Darum sei er heute nicht für die Vielen,<br />
sondern alle<strong>in</strong> für SIE dagewesen.<br />
Unter den erzieherischen Händen Pater Kentenichs entstand e<strong>in</strong>e Welt von Symbolen,<br />
Bräuchen <strong>und</strong> Liedern; bevorzugte <strong>Mit</strong>tel, um die tieferen Schichten der<br />
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menschlichen Seele <strong>in</strong> Liebe an Gott <strong>und</strong> die <strong>Mit</strong>menschen zu b<strong>in</strong>den. Er selbst<br />
schien aber von diesen D<strong>in</strong>gen eher unberührt zu se<strong>in</strong>. Im Vordergr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Seele stand – so schien es – die B<strong>in</strong>dung an die großen Ziele <strong>und</strong> Ideale se<strong>in</strong>er<br />
Sendung <strong>und</strong> die Verpflichtung der Wahrheit gegenüber. Ob Symbole – die er<br />
meist weiterschenkte – <strong>und</strong> Lieder auch für ihn wichtig <strong>und</strong> sprechend waren?<br />
An e<strong>in</strong>em 4. Oktober, dem Todestag Josef Engl<strong>in</strong>gs, des treuesten <strong>Mit</strong>gründers<br />
aus der Anfangszeit, war Pater Kentenich e<strong>in</strong>geladen, die besondere Weihe e<strong>in</strong>es<br />
Kurses mitzuvollziehen. Nur der Kursführer war bei ihm. Die anderen <strong>Mit</strong>glieder<br />
des Kurses waren zerstreut; jeder vollzog die Weihe zur vorher vere<strong>in</strong>barten Zeit,<br />
wo immer er sich gerade aufhielt.<br />
Pater Kentenich fand sich mit dem Kursführer zur geplanten Zeit im Heiligtum<br />
e<strong>in</strong>. Der Kursführer gestaltete e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Andacht. Höhepunkt war das Weihegebet,<br />
das <strong>sie</strong> geme<strong>in</strong>sam beteten. Dann war – <strong>in</strong> der Intention des Kursführers<br />
– die Feier zu Ende. Nun begann Pater Kentenich zu s<strong>in</strong>gen; zwei Lieder, die <strong>in</strong><br />
Dachau entstanden waren: Das sogenannte „Heimatlied” mit sechs langen Strophen<br />
<strong>und</strong> „Halt das Zepter <strong>in</strong> der Hand …” mit deren acht. Kräftig <strong>und</strong> mit Begeisterung<br />
sang er – zur Überraschung des Kursführers, der dann wohl mitsangt<br />
– alle Strophen beider Lieder.<br />
Das K<strong>in</strong>dse<strong>in</strong> vor Gott spielt e<strong>in</strong>e große Rolle <strong>in</strong> Pater Kentenichs Spiritualität<br />
<strong>und</strong> Erziehung. Es ist F<strong>und</strong>ament des Weges zur Heiligkeit, ja – nach den Worten<br />
Christi (Mt 18,3) – Bed<strong>in</strong>gung, um überhaupt <strong>in</strong> den Himmel zu kommen. Gerade<br />
hier liegt e<strong>in</strong> Problem beim modernen Menschen, der Abhängigkeit als Beraubung<br />
se<strong>in</strong>er Freiheit empf<strong>in</strong>det, der autonom, se<strong>in</strong> eigener Herr <strong>und</strong> selbst Herr<br />
der D<strong>in</strong>ge se<strong>in</strong> möchte. Durch e<strong>in</strong>e solche Haltung wird Gott verdrängt, „getötet”,<br />
wie Nietzsche sagte. Pestalozzi zitierend, betonte deshalb Pater Kentenich<br />
immer wieder, dass gerade der verlorene K<strong>in</strong>dess<strong>in</strong>n heute die Vatertätigkeit Gottes<br />
unmöglich mache. Der heutige Mensch müsse zurückf<strong>in</strong>den zu e<strong>in</strong>er echten<br />
K<strong>in</strong>deshaltung dem Vatergott gegenüber.<br />
Es war um die Zeit des Erntedankfestes. E<strong>in</strong>e ihm bekannte Familie hatte Pater<br />
Kentenich bei e<strong>in</strong>em Besuch am Nachmittag e<strong>in</strong> Paket gebracht mit „Produkten<br />
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aus dem eigenen Garten”, wie <strong>sie</strong> beim Abschied erklärte. Das Paket blieb den<br />
Nachmittag über liegen. Als aber am Abend mehrere Besucher zusammenkamen,<br />
erwachte Pater Kentenichs Gebefreudigkeit. Er er<strong>in</strong>nerte sich des Paketes. Ganz<br />
ruhig, wenn auch unter angeregter Unterhaltung, wurde das Paket von ihm geöffnet.<br />
Es enthielt große, w<strong>und</strong>erschöne Trauben. Pater Kentenich zerlegte die<br />
Trauben <strong>in</strong> so viele Teile, wie Menschen im Zimmer waren. Als er bemerkte, dass<br />
es ihm nicht gelungen war, alle Teile gleich groß zu machen, versprach er: „Das<br />
größte K<strong>in</strong>d bekommt die größte Traube.” Während die Gäste sich gegenseitig<br />
neckten, wer unter ihnen wohl das größte K<strong>in</strong>d sei, teilte Pater Kentenich aus.<br />
Die größte Traube blieb übrig. Er aß <strong>sie</strong> selbst.<br />
Diesen Heiligen kennt wohl nur, wer aus der Gegend von Köln stammt. Der<br />
Name ist nämlich e<strong>in</strong>e „kölsche” Ableitung des Wortes „Loch”. Und der Heilige<br />
entstand – so erzählt e<strong>in</strong>e lustige Geschichte – auf e<strong>in</strong>er Bittprozession, als der<br />
W<strong>in</strong>d dem Vorbeter während der Allerheiligen-Litanei das Gebetbuch verblätterte.<br />
Der Mann, der so schnell die Litanei nicht wiederf<strong>in</strong>den konnte <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e unheilige<br />
Stockung der Prozession befürchtete, fuhr se<strong>in</strong>en Anrufungen nach kurzem<br />
Zögern e<strong>in</strong>fach fort: „Heiliger St. Löchske” – „bitte für uns”, antwortete das<br />
Volk, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Andacht ungestört. Pater Kentenich, <strong>in</strong> Gymnich bei Köln geboren<br />
<strong>und</strong> aufgewachsen, kannte diesen Heiligen offensichtlich, wie sich bei folgender<br />
Begebenheit zeigen sollte.<br />
Während e<strong>in</strong>es Gesprächs mit e<strong>in</strong>em Besuch läutete das Glöckchen vom nahen<br />
Heiligtum zum Angelus. Pater Kentenich schlug vor, den Angelus geme<strong>in</strong>sam zu<br />
beten <strong>und</strong> forderte se<strong>in</strong>en Besucher auf, vorzubeten. „Lieber nicht, Herr Pater”,<br />
me<strong>in</strong>te jener, „ich bleibe beim Gebet am Schluß ja doch stecken.”-„Probieren wir<br />
es”, me<strong>in</strong>te Pater Kentenich. „Wenn Sie steckenbleiben, helfe ich.” Die drei Ave<br />
mit den Anrufungen verliefen andächtig <strong>und</strong> ohne Schwierigkeit. Es folgte das<br />
Schlußgebet: „Wir bitten dich, o Herr, gieße de<strong>in</strong>e Gnade <strong>in</strong> unsere <strong>Herz</strong>en e<strong>in</strong>,<br />
damit wir, die wir…” <strong>und</strong> – vielleicht gerade deshalb, weil er es befürchtete: der<br />
Vorbeter wußte nicht mehr weiter. Pater Kentenich sprang zu Hilfe: „ …die wir<br />
durch die Botschaft des Engels die Menschwerdung Christi, de<strong>in</strong>es Sohnes, erkannt<br />
<strong>haben</strong> …” <strong>und</strong> auch er blieb stecken. Allerd<strong>in</strong>gs nicht lange. Denn lachend<br />
beendete er den Angelus mit der Anrufung: „Heiliger St. Löchske, bitte für uns!<br />
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Nos cum prole pia!”<br />
Dass Pater Kentenich wenig Kälteempf<strong>in</strong>den besaß, bedeutet nicht, dass er auch<br />
schmerzunempf<strong>in</strong>dlich war. Wenn er trotzdem große Schmerzen nahezu gelassen<br />
ertragen konnte, war dies Ausdruck se<strong>in</strong>er männlichen Diszipl<strong>in</strong> <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Leidensliebe<br />
<strong>in</strong> der Nachfolge Christi.<br />
Es ist bekannt, dass Pater Kentenich sich freiwillig entschloß, <strong>in</strong>s Konzentrationslager<br />
zu gehen. Die seelischen <strong>und</strong> körperlichen Belastungen, denen er <strong>in</strong> Dachau<br />
ausgesetzt war, s<strong>in</strong>d durch vorausgehende Erzählungen angedeutet <strong>und</strong> anderweitig<br />
dokumentiert. Die hier zu berichtende Begebenheit ereignete sich, nachdem<br />
der Schrecken des Konzentrationslagers eigentlich vorbei war.<br />
Pater Kentenich hatte sich von Dachau nach Ennabeuren auf der Schwäbischen<br />
Alb durchgeschlagen. Während e<strong>in</strong>es Besuches im benachbarten, zerschossenen<br />
Westerheim stießen Pater M. <strong>und</strong> dessen Bruder auf ihn, die mit e<strong>in</strong>em Auto ausgezogen<br />
waren, den Gründer nach Schönstatt heimzuholen. Das freudige Wiedersehen<br />
wurde schon zur E<strong>in</strong>stimmung auf die <strong>sie</strong>greiche Heimkehr nach Schönstatt<br />
<strong>und</strong> drängte um so mehr zur baldigen Abreise.<br />
Die Rückfahrt begann auch gleich am nächsten Tag. Die Fahrgäste hatten sich<br />
verabschiedet <strong>und</strong> saßen bereits im Auto. Der Fahrer hatte gewartet, bis Pater<br />
Kentenich e<strong>in</strong>gestiegen war, <strong>und</strong> schlug mit Schwung die Türe zu. Diese aber<br />
schloß nicht, sondern gab lediglich e<strong>in</strong>en dumpfen Ton von sich. Pater Kentenichs<br />
Daumen hatte im Türrahmen gesteckt. Der Fahrer riß die Tür wieder auf, <strong>und</strong> die<br />
Umstehenden erschraken nicht wenig, als <strong>sie</strong> den F<strong>in</strong>ger sahen, der bereits rotblau<br />
anlief <strong>und</strong> begann, dick anzuschwellen.<br />
Bestimmt <strong>und</strong> nachdrücklich lehnte Pater Kentenich jede mediz<strong>in</strong>ische Behandlung<br />
se<strong>in</strong>es F<strong>in</strong>gers ab <strong>und</strong> drängte abzufahren. In den nächsten St<strong>und</strong>en bis<br />
Stuttgart saß er „nur” ganz ruhig da <strong>und</strong> hielt se<strong>in</strong>en geschwollenen Daumen<br />
senkrecht nach oben. Erst <strong>in</strong> Stuttgart ließ er ihn behandeln <strong>und</strong> verb<strong>in</strong>den.<br />
Anto<strong>in</strong>e de Sa<strong>in</strong>t-Exupery läßt den Fuchs <strong>in</strong> dem Roman „Der kle<strong>in</strong>e Pr<strong>in</strong>z” erklären,<br />
wie man ihn zähmen, mit ihm Fre<strong>und</strong>schaft schließen kann: Der „Kle<strong>in</strong>e<br />
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Pr<strong>in</strong>z” solle täglich zur selben St<strong>und</strong>e kommen <strong>und</strong> sich jedesmal e<strong>in</strong> wenig näher<br />
zu ihm setzen. Diese Regel hat sich <strong>in</strong> der folgenden Begebenheit bestätigt.<br />
Zum regelmäßigen <strong>Leben</strong>srhythmus Pater Kentenichs <strong>in</strong> Milwaukee gehörte der<br />
tägliche Spaziergang; wenn möglich zur selben Zeit, alle<strong>in</strong> oder mit Begleitung.<br />
Gewöhnlich spazierte Pater Kentenich <strong>in</strong> dem schön angelegten <strong>und</strong> ganz von<br />
hohen Bäumen überschatteten „Calvary cemetery”, dem Friedhof, der auf der anderen<br />
Straßenseite der Bluemo<strong>und</strong> Road lag, se<strong>in</strong>er Wohnung genau gegenüber.<br />
Dennoch konnte es ab <strong>und</strong> zu geschehen, dass er die Route se<strong>in</strong>es Spaziergangs<br />
änderte. So geschah es im Februar des Jahres 1962. Der Spaziergang verlief auf<br />
dem freien Gelände vor dem Heiligtum zwischen Bluemo<strong>und</strong> Road <strong>und</strong> Wiscons<strong>in</strong><br />
Avenue. Zur Zeit des Spaziergangs kamen durch das Gelände mehrere K<strong>in</strong>der<br />
– <strong>in</strong> Gruppen <strong>und</strong> alle<strong>in</strong> – auf ihrem Schulweg. <strong>Mit</strong> der typischen Kurzform des<br />
amerikanischen Grußes: „Hi, Father” huschten <strong>sie</strong> vorbei. <strong>Mit</strong> e<strong>in</strong>em länger gezogenen<br />
„hi” antwortete jedesmal der Ehrfurcht gebietende Priester mit dem langen,<br />
weißen Bart.<br />
Zur selben Zeit tauchte auch immer e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Mädchen auf <strong>in</strong> rotem Mäntelchen,<br />
mit roter Mütze, großen Augen <strong>und</strong> schmalem Gesicht. Als es zum ersten<br />
Mal die würdige Gestalt des Paters langsam auf sich zukommen sah, stutzte es,<br />
verließ den Weg <strong>und</strong> machte über den Rasen e<strong>in</strong>en großen Bogen um die Spaziergänger.<br />
„Die Kle<strong>in</strong>e hat Angst”, me<strong>in</strong>te Pater Kentenich zu se<strong>in</strong>em Begleiter, setzte<br />
jedoch ruhig se<strong>in</strong>en Weg fort. Am nächsten Tag ergab sich dieselbe Konstellation,<br />
mit dem Unterschied, dass das Mädchen ohne Zögern anf<strong>in</strong>g, ihren Bogen<br />
zu schlagen. Bevor <strong>sie</strong> aber aus se<strong>in</strong>em Gesichtsfeld verschw<strong>und</strong>en war, w<strong>in</strong>kte<br />
Pater Kentenich ihr zu, rief „hi”, ließ <strong>sie</strong> dann aber ihres Weges gehen.<br />
Die Szene wiederholte sich am nächsten Tag, allerd<strong>in</strong>gs wiederum mit e<strong>in</strong>em Unterschied:<br />
der Bogen des Mädchens war deutlich kle<strong>in</strong>er geworden; <strong>und</strong> am Tag<br />
darauf sogar noch kle<strong>in</strong>er. „Morgen wird <strong>sie</strong> mir die Hand geben”, kommentierte<br />
Pater Kentenich die langsame Annäherung. Als das Mädchen tags darauf wieder<br />
<strong>in</strong> Sichtweite kam, blieb er stehen <strong>und</strong> ließ <strong>sie</strong> herankommen. „Hi”, grüßte er<br />
<strong>und</strong> streckte ihr se<strong>in</strong>e Hände entgegen zum Gruß. Die Kle<strong>in</strong>e blieb stehen, schaute<br />
den Pater groß an, nahm jedoch die dargebotene Hand nicht. Die Frage nach<br />
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ihrem Namen beantwortete <strong>sie</strong>, dann huschte <strong>sie</strong> vorbei.<br />
Bei der nächsten Begrüßung endlich g<strong>in</strong>g <strong>sie</strong> ohne Zögern auf Pater Kentenich<br />
zu, grüßte „hi” <strong>und</strong> nahm se<strong>in</strong>e Hand. E<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>schaft war geschlossen.<br />
Jedes K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten kennt „Santa Claus”, den Weihnachtsmann.<br />
<strong>Mit</strong> se<strong>in</strong>em von Rentieren gezogenen Schlitten fährt er durch die Wolken<br />
<strong>und</strong> br<strong>in</strong>gt den K<strong>in</strong>dern an Weihnachten die Geschenke durch den Schornste<strong>in</strong>.<br />
Die K<strong>in</strong>der kennen „Santa Claus” aber nicht nur aus der Legenden -<strong>und</strong> der Weihnachtsreklame.<br />
In den großen Warenhäusernsitzt er <strong>in</strong> den Wochen vor dem Fest<br />
auch <strong>in</strong> wirklicher Gestalt mit großem, schneeweißem Bart <strong>und</strong> lädt die K<strong>in</strong>der<br />
e<strong>in</strong>, ihm ihre Weihnachtswünsche zu erzählen.<br />
Anfang der sechziger Jahre trugen die Männer <strong>in</strong> den USA noch ke<strong>in</strong>e Bärte, von<br />
weißen Bärten ganz zu schweigen. „Santa Claus” war deshalb der e<strong>in</strong>zige mit e<strong>in</strong>em<br />
Bart, den die K<strong>in</strong>der kannten.<br />
Es geschah an e<strong>in</strong>em Nachmittag im Maimonat. Pater Kentenich geht mit e<strong>in</strong>em<br />
Besucher – beide <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gespräch vertieft – im Schulhof der Pfarrschule von Holy<br />
Cross auf <strong>und</strong> ab. E<strong>in</strong> Mädchen mit ihrem kle<strong>in</strong>en Bruder an der Hand; überquert<br />
den Hof. Der Kle<strong>in</strong>e <strong>sie</strong>ht den Priester mit dem weißen Bart, bleibt stehen, zeigt<br />
mit dem F<strong>in</strong>ger auf Pater Kentenich <strong>und</strong> ruft vernehmlich: „Hoho!” (der Ruf, mit<br />
dem „Santa Claus” ersche<strong>in</strong>t). Schnell drückt die ältere Schwester den Zeigearm<br />
des Kle<strong>in</strong>en herunter <strong>und</strong> will ihn weiterziehen.<br />
Der Vorfall ist ihr sichtlich pe<strong>in</strong>lich. Pater Kentenich aber hat den Vorgang bereits<br />
bemerkt. Er bleibt stehen, w<strong>in</strong>kt die beiden herbei <strong>und</strong> fragt den Kle<strong>in</strong>en, mit<br />
wachsender Freude an der Geschichte, ob er denn probieren wolle, ob der Bart<br />
echt sei. Unsicher <strong>und</strong> fragend blickt der Junge abwechselnd auf se<strong>in</strong>e Schwester,<br />
die e<strong>in</strong> verne<strong>in</strong>endes Gesicht macht, <strong>und</strong> auf den bärtigen Mann, der e<strong>in</strong>ladend<br />
lächelt. Schließlich beugt sich Pater Kentenich zu dem Kle<strong>in</strong>en herab. Der<br />
greift <strong>in</strong> den Bart <strong>und</strong> zieht. „Echt”, fragt Pater Kentenich? „Echt!”, bestätigt der<br />
Kle<strong>in</strong>e. „Good bye.”<br />
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Recht zufrieden vom Schmunzeln Pater Kentenichs begleitet – gehen beide ihres<br />
Weges.<br />
Durch den E<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>iger Frauen hatten sich im Laufe der Jahre <strong>in</strong> Milwaukee e<strong>in</strong>ige<br />
Jugendgruppen – anfangs eher K<strong>in</strong>dergruppen – gebildet. Die Gruppen kamen<br />
zum Heiligtum, lernten Pater Kentenich kennen <strong>und</strong> hatten bald e<strong>in</strong> recht<br />
vertrautes <strong>und</strong> spontanes Verhältnis zu ihm gewonnen. Besonders lebendig war<br />
e<strong>in</strong>e Gruppe von Buben im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren, die sich den Namen<br />
„Immortal Apostles” (unsterbliche Apostel) zugelegt hatten.<br />
An e<strong>in</strong>em Samstagnachmittag hatte sich Pater Kentenich auf e<strong>in</strong>em Spaziergang<br />
im Friedhof verspätet. Es war höchste Zeit, <strong>in</strong> die Pfarrei St. Michael zu fahren,<br />
um Beichte zu hören. Die Seelsorgshelfer<strong>in</strong> sitzt schon im fahrbereiten Wagen,<br />
als Pater Kentenich die Bluemo<strong>und</strong> Road überquert.<br />
In diesem Augenblick kommen die „Immortal Apostles” angebraust, umr<strong>in</strong>gen<br />
<strong>und</strong> bestürmen Pater Kentenich, mit ihnen e<strong>in</strong>en Besuch im Heiligtum zu machen.<br />
Das Dilemma steht Pater Kentenich im Gesicht geschrieben: Er g<strong>in</strong>ge ja<br />
sehr gerne mit, doch wartet <strong>in</strong> St. Michael der Beichtstuhl auf ihn. Nach kurzem<br />
Zögern erhellen sich aber se<strong>in</strong>e Gesichtszüge, <strong>und</strong> er erklärt den Buben: An sich<br />
müsse er jetzt ja eilig weggehen <strong>und</strong> habe ke<strong>in</strong>e Zeit. Er wolle aber mit ihnen geme<strong>in</strong>sam<br />
sehen, was denn die Gottesmutter wolle. Sie würden es an den Knöpfen<br />
se<strong>in</strong>es Mantels abzählen, ob er mit ihnen gehen solle oder nicht. Erster Knopf:<br />
„Yes” – beantwortet von e<strong>in</strong>em Freudengeschrei der Buben. Zweiter Knopf: „No”<br />
– gespannte Erwartung. Dritter Knopf: „Yes” – Jubel bei den Buben. Vierter <strong>und</strong><br />
letzter Knopf: „No” …Pater Kentenich hebt bedauernd die Schultern, lächelt,<br />
w<strong>in</strong>kt <strong>und</strong> besteigt den Wagen.<br />
Die Buben ziehen alle<strong>in</strong> zum Heiligtum, <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise betrübt. Sie hatten ke<strong>in</strong>e<br />
Abfuhr erhalten, nur e<strong>in</strong> faires Spiel verloren.<br />
Die Gruppe der „Immortal Apostles” hatte sich auf e<strong>in</strong> Weihe an die Gottesmutter<br />
vorbereitet, die sich im Heiligtum bei Holy Cross vollziehen sollte. Pater Kentenich<br />
war von den Buben selbstverständlich dazu e<strong>in</strong>geladen.<br />
50
Am Schluß der Feier, nachdem das Weihegebet gesprochen war, g<strong>in</strong>g er nach vorne,<br />
drehte sich herum <strong>und</strong> versuchte e<strong>in</strong> Gespräch mit den strahlenden Jungen:<br />
„Wer ist denn de Größte <strong>in</strong> Schönstatt?” (Pater Kentenich zielte mit diese Frage<br />
auf Josef Engl<strong>in</strong>g, den im ersten Weltkrieg gefallene <strong>Mit</strong>gründer der Anfangszeit.<br />
Ihn hatte, so wußte er, die Führer<strong>in</strong> der Gruppe <strong>in</strong> der Vorbereitungszeit den Buben<br />
als großes Vorbild aufgezeigt.)<br />
Die „Immortal Apostles” aber schweigen. Er wiederholt die Frage: „Wer ist das<br />
größte Vorbild <strong>in</strong> Schönstatt?” – Verlegenes Schweigen der Jungen. Auch die<br />
zweite Wiederholung der Frage erbr<strong>in</strong>gt ke<strong>in</strong>e Antwort. Die Jungen blikken hilflos<br />
auf die enttäuscht dabeistehende Führer<strong>in</strong>.<br />
Schließlich gibt Pater Kentenich auf, überreicht jedem e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Geschenk, erteilt<br />
den Schlußsegen <strong>und</strong> beendet die Feier.<br />
„Warum habt ihr denn nicht geantwortet?”, lautet die vorwurfsvolle Frage der<br />
Führer<strong>in</strong>, sobald <strong>sie</strong> draußen unter sich s<strong>in</strong>d. „Ihr wißt doch die Antwort!” –<br />
„Aber”, wehren sich die Buben e<strong>in</strong>hellig, „wir können doch Pater Kentenich nicht<br />
<strong>in</strong>s Angesicht sagen, dass er der Größte ist.”<br />
Jener erfährt natürlich das orig<strong>in</strong>elle Geständnis der Buben. Er lacht herzlich<br />
<strong>und</strong> me<strong>in</strong>t verschmitzt zur Führer<strong>in</strong>: „Ja, ja, Ihre Gefolgschaft ist halt schlauer als<br />
Sie.”<br />
Das Verhältnis Pater Kentenichs zur Sprache war orig<strong>in</strong>är <strong>und</strong> orig<strong>in</strong>ell. Orig<strong>in</strong>är<br />
<strong>in</strong>sofern, als er von der ursprünglichen Bedeutung der Worte ausg<strong>in</strong>g <strong>und</strong><br />
<strong>sie</strong> auch – manchmal entgegen dem <strong>in</strong>zwischen gewandelten Sprachempf<strong>in</strong>den<br />
– entsprechend gebrauchte. So empfand es e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> <strong>Mit</strong>bruder direkt beleidigend,<br />
als er von Pater Kentenich ganz fre<strong>und</strong>lich gebeten wurde: „Wollen Sie, bitte,<br />
gefälligst lesen?” – Bis ihm aufg<strong>in</strong>g, dass das „gefälligst” nicht Herrisches enthielt,<br />
sondern schlicht um den Gefallen bat vorzulesen. Orig<strong>in</strong>är auch, da er wegen<br />
desselben ursprünglichen Verhältnisses zur Sprache an Worten festhielt, die<br />
<strong>in</strong>zwischen „aus der Mode” gekommen waren. Die alter begründenden Fürwör-<br />
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ter dieweilen”, „alldieweil” „s<strong>in</strong>te malen”, „füglich” tauchten bei ihm immer wieder<br />
auf. E<strong>in</strong> übertriebenes Lob war e<strong>in</strong>e „Lobhudelei” – „erklecklich”, – „etzlich” Eigenschaftsworte,<br />
die sonst kaum mehr gebraucht werden.<br />
Orig<strong>in</strong>ell war das Verhältnis zur Sprache, weil es Pater Kentenich wegen des ursprünglichen<br />
Zugangs zu ihr offensichtlich leicht fi el, eigene Begriffe zu schaffen<br />
<strong>und</strong> durch Wortverb<strong>in</strong>dungen neue Wirklichkeiten <strong>und</strong> Akzente se<strong>in</strong>er Spiritualität<br />
zu benennen <strong>und</strong> zu vermitteln. Man denke an „dreidimensionale Frömmigkeit”,<br />
„Blankovollmacht”, „Gnadenkapital”, „göttlicher E<strong>in</strong>-, Auf- <strong>und</strong> Durchbruch”,<br />
„Werkzeugsfrömmigkeit”, „Gott-, Werk- <strong>und</strong> Menschengeb<strong>und</strong>enheit” usw. Jeder,<br />
der e<strong>in</strong>mal versucht hat, e<strong>in</strong>en Text des Gründers <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Sprache zu übersetzen,<br />
kann von dieser Orig<strong>in</strong>alität e<strong>in</strong> Liedle<strong>in</strong> s<strong>in</strong>gen . . .<br />
Zum orig<strong>in</strong>ellen Umgang mit der Sprache gehören auch Klang <strong>und</strong> Rhythmus.<br />
Entsprechende Formulierungen drängten sich Pater Kentenich geradezu auf <strong>und</strong><br />
erschienen immer wieder: „Hüben <strong>und</strong> drüben”, „gang <strong>und</strong> gäbe”, „regen <strong>und</strong> wegen”,<br />
„H<strong>in</strong>tz <strong>und</strong> Kuntz”, „eh <strong>und</strong> je”.<br />
Die folgenden Kapitel wollen den Sprachgebrauch Pater Kentenichs beobachten<br />
<strong>und</strong> dar<strong>in</strong> der Orig<strong>in</strong>alität des Sprechenden nachspüren.<br />
Im KZ Dachau schrieb Pater Kentenich e<strong>in</strong> Handbuch für Ober<strong>in</strong>nen, den<br />
sogenannten „Hirtenspiegel”. Aus Tarnungsgründen verfaßte er das ganze<br />
Werk <strong>in</strong> Versform. Das Ergebnis waren 5870 Vierzeiler. Se<strong>in</strong> Schreiber –<br />
Pater Kentenich schrieb ja nicht selbst, er diktierte nur – berichtet, dass er das<br />
Diktat zwar anfangs etwas vorbereitete – e<strong>in</strong>erseits durch stenographische<br />
Notizen auf kle<strong>in</strong>en Zetteln, andererseits <strong>in</strong>dem er, auf dem Bett ruhend, um<br />
den geschwächten Körper zu schonen, mit den F<strong>in</strong>gern am Bettrand das<br />
Versmaß zählte nach kürzerer Zeit aber schon flüssig <strong>und</strong> ohne nähere<br />
Vorbereitung diktieren konnte; im Reim; st<strong>und</strong>enlang, bis zu h<strong>und</strong>ert<br />
Strophen an e<strong>in</strong>em Stück. E<strong>in</strong>e erstaunliche Demonstration von dem beson<br />
deren Verhältnis Pater Kentenichs zum Reim <strong>in</strong> der Sprache.<br />
Se<strong>in</strong>e Freude am Reim zeigte sich auch im täglichen Umgang. Auf alle mög<br />
lichen Situationen wußte er e<strong>in</strong> „Sprüchelchen”, entweder irgendwo aufge<br />
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schnappt oder selbst gemacht. E<strong>in</strong>ige Kostproben: G<strong>in</strong>g etwas schief oder<br />
kaputt, so konnte der Kommentar se<strong>in</strong>:<br />
„Da liegen die Blätter vom Glase zerbrochen <strong>in</strong> dem Grase.‘‘<br />
Gelang jemandem e<strong>in</strong>e Sache, kam es anerkennend aus<br />
Pater Kentenichs M<strong>und</strong>:<br />
„Dieser Flegel<br />
wirft den Kegel<br />
nach der Regel!”<br />
Auch ohne Kommentar ist verständlich:<br />
„Diese kle<strong>in</strong>e Frau<br />
macht soviel Radau!”<br />
G<strong>in</strong>g die Arbeit zügig voran, konnte es heißen:<br />
„Zwischen sechzig <strong>und</strong> achtzig,<br />
die Sache, die macht sich!”<br />
„Hannibal, geh du voran;<br />
du hast die langen Stiefel an!”<br />
In e<strong>in</strong>er – auch recht ernsten – Betrachtung über die Vergänglichkeit des<br />
Irdischen mochte das Zitat ersche<strong>in</strong>en: _<br />
„Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen,<br />
morgen <strong>in</strong> das kühle Grab .<br />
Oder: „Wenn Stiefle<strong>in</strong> wüßt,<br />
dass Absatz sterben müßt,<br />
wie wär es dran!”<br />
Um jemandem se<strong>in</strong>e Freiheit zu wahren oder se<strong>in</strong>e Orig<strong>in</strong>alität zu charakteri<br />
<strong>sie</strong>ren, zitierte er gerne frei nach Goethe<br />
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(aus „Beherzigung”):<br />
„Sehe jeder, wie er‘s treibe.<br />
Sehe jeder, wo er bleibe.<br />
Und wer steht, dass er nicht falle.<br />
E<strong>in</strong>es schickt sich nicht für alle!”<br />
Auf die Entfaltung der <strong>in</strong>dividuellen Art e<strong>in</strong>es Menschen kam es Pater<br />
Kentenich besonders an. <strong>Damit</strong> se<strong>in</strong>e Orig<strong>in</strong>alität ja nicht verstümmelt werde,<br />
darf jeder – so verkündete er häufi g -, sogar bis zu zwanzig „Fimmel” <strong>haben</strong>.<br />
Bedenklich wird es erst, wenn es mehr s<strong>in</strong>d. _ Im schon genannten<br />
„Hirtenspiegel” f<strong>in</strong>det sich – im Vers 1212 – diese Weisheit <strong>in</strong> Reim gesetzt:<br />
„Klug ist es, se<strong>in</strong>e Herde zu belehren, dass <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft sich die ‚Fimmel‘<br />
mehren, dass jeder hat auf zwanzig gutes Recht …s<strong>in</strong>d‘s mehr, dann liegt der<br />
Fall <strong>in</strong> etwa schlecht. S<strong>in</strong>d‘s weniger, muß Gott man herzlich danken; das s<strong>in</strong>d<br />
die lebensnahesten Gedanken.” Viele aus se<strong>in</strong>er Gefolgschaft <strong>haben</strong> <strong>in</strong> kriti<br />
scher Situation Kraft <strong>und</strong> Zuversicht gef<strong>und</strong>en <strong>in</strong> dem Versle<strong>in</strong>, das Pater<br />
Kentenich immer wieder zitierte:<br />
Bemerkte er zuviel Durchsetzungskraft <strong>und</strong> zu gewaltsame Lösungen, konnte aus<br />
Uhlands „tapferem Schwaben” der Spruch erkl<strong>in</strong>gen:<br />
„Zur Rechten wie zur L<strong>in</strong>ken sah man e<strong>in</strong>en halben Türken nieders<strong>in</strong>ken.”<br />
Als junger Spiritual erklärt Pater Kentenich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Vorträgen zur Seelenk<strong>und</strong>e<br />
das Strebevermögen. Beispiel: Welche Wirkung hat der Apfel <strong>in</strong> der Hand e<strong>in</strong>es<br />
anderen, wenn man selbst e<strong>in</strong> leidenschaftlicher Apfelliebhaber ist? Das <strong>Herz</strong><br />
spürt e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>neigung zu diesem konkreten Apfel. E<strong>in</strong>e Bewegung geht vom <strong>Herz</strong>en<br />
zu den Nerven, zu den Muskeln, zu den Händen. Diese „haschen nach dem<br />
Apfel <strong>und</strong> im nächsten Augenblick ist der erste Bissen h<strong>in</strong>ter dem Gehege me<strong>in</strong>er<br />
Zähne verschw<strong>und</strong>en. Und der bisherige glückliche Besitzer?<br />
‚E<strong>in</strong>en Blick nach dem Grabe se<strong>in</strong>er Habe sendet noch der Mensch zurück …‘<br />
54
Se<strong>in</strong>en Antrittsvortrag, die sogenannte „Vorgründungsurk<strong>und</strong>e”, beg<strong>in</strong>nt der junge<br />
Spiritual, um das Klima zu lockern <strong>und</strong> Kontakt herzustellen, mit e<strong>in</strong>em Reim<br />
aus der damals wohl noch bekannten – <strong>und</strong> von der Hausleitung wohl wenig gelittenen<br />
– „Jobsiade” von Kortum: „Heute will ich mich euch nur vorstellen.<br />
Ob dieser Antwort des Kandidaten Jobs entstand e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Schütteln des<br />
Kopfs.” Und gleich wendet er den Vers auf die augenblickliche Situation an:<br />
„Ob der Nachricht des neuen Spirituals geschah e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Recken des<br />
Hals.‘‘<br />
In e<strong>in</strong>er längeren Schrift erklärt Pater Kentenich, warum er zu Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er erzieherischen<br />
Tätigkeit e<strong>in</strong>e Marianische Kongregation gründete. Neben der <strong>in</strong>neren<br />
Verwandtschaft zwischen den Marianischen Kongregationen <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Denken kam es ihm auch darauf an, e<strong>in</strong>e feste Erziehungstradition zu schaffen,<br />
die nach se<strong>in</strong>er Ablösung vom Spiritualsposten im Studienheim Schönstatt nicht<br />
so schnell wieder umgeworfen werden konnte. Die recht ernste Ausführung fährt<br />
an der Stelle fort: „Auf solche Wandelbarkeit macht e<strong>in</strong> alter Kapuz<strong>in</strong>erspruch für<br />
Guardiane aufmerksam:<br />
‚Der e<strong>in</strong>e baut ‚nen Hühnerstall, der andere reißt ihn nieder. Der e<strong>in</strong>e treibt den<br />
Teufel aus, der andere holt ihn wieder.‘ “<br />
Wie sehr der Reim als solcher Pater Kentenich anregte <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Assoziationen<br />
bee<strong>in</strong>flußte, wie sehr er dadurch auch im Vortrag Klima bestimmen <strong>und</strong> aufl o-<br />
ckern konnte, erhellt folgendes Beispiel:<br />
In e<strong>in</strong>em Vortrag am 24. November 1965 – also kurz nach der Beendigung<br />
se<strong>in</strong>er Exilszeit <strong>in</strong> den USA – spricht er von der heilenden Kraft der „Inscriptio”,<br />
der Kreuzesliebe. Allerd<strong>in</strong>gs, fährt er fort, muß man e<strong>in</strong>e solche Haltung<br />
ernst nehmen, wie am 20. Januar 1942, als die konkrete Gefahr bestand, <strong>in</strong>s<br />
Konzentrationslager geschickt zu werden. Dann fährt die Rede fort: Die Lehre<br />
„<strong>in</strong> sich ist nichts Neues. Hier war das Neue das blutige Ernstnehmen. Da gibt<br />
es ke<strong>in</strong> Wenn <strong>und</strong> Aber, da gibt es ke<strong>in</strong> Wackeln …-‘Die Mutter hat gefackelt<br />
55
die Glocke kommt gewackelt …‘<br />
wie es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em alten Gedicht heißt. Macht das viele Reden tut es …je mehr ich<br />
rede, desto mehr muß ich mich bemühen, das auch wirklich zu tun …”<br />
Konkreten D<strong>in</strong>gen des Alltags gegenüber zeigte sich Pater Kentenichs Verhalten<br />
sehr verschiedenartig. E<strong>in</strong>erseits hatte er durchaus praktisches Verständnis<br />
<strong>und</strong> wußte die D<strong>in</strong>ge anzupacken. <strong>Mit</strong>häftl<strong>in</strong>ge aus dem Konzentrationslager<br />
bezeugen, dass er sich <strong>in</strong> der ungewohnten Situation des Lagers mit militärischem<br />
Drill, mit Bettenbauen, Raumenge usw. schnell <strong>und</strong> gut zurechtfand. Andererseits<br />
verhielt er sich ganz gedankenverloren; eben dann, wenn ihm alltägliche<br />
D<strong>in</strong>ge nicht wichtig waren, wenn <strong>sie</strong> nur ihn betrafen. Er beachtete <strong>sie</strong> dann<br />
nicht, vergaß <strong>sie</strong>.<br />
Im Prov<strong>in</strong>zhaus der Pallott<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Milwaukee kamen die Patres zu verschiedenen<br />
Zeiten zum Frühstück, wie es häufi g geschieht <strong>in</strong> Häusern e<strong>in</strong>er Priestergeme<strong>in</strong>schaft.<br />
Jeder Pater kam nach se<strong>in</strong>er Messe <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen seelsorglichen<br />
Verpflichtung. Jeder konnte sich auch selbst se<strong>in</strong> Frühstück zusammenstellen,<br />
wie es se<strong>in</strong>en Bedürfnissen <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em Geschmack entsprach.<br />
Pater Kentenich war <strong>in</strong> der Regel als erster zur Stelle – nach se<strong>in</strong>er Messe um<br />
5.50 Uhr – <strong>und</strong> frühstückte alle<strong>in</strong>. In e<strong>in</strong>er größeren Schale, wie man <strong>sie</strong> gerne<strong>in</strong><br />
Frankreich benützt oder noch <strong>in</strong> manchen Dörfern Süddeutschlands oder Westfalens,<br />
ließ er sich Kaffee geben. Dazu ziemlich viel Honig <strong>und</strong> e<strong>in</strong> rohes Ei. Alles<br />
kam <strong>in</strong> die Schale zum Kaffee, wurde mit dem Kaffeelöffel leicht <strong>und</strong> langsam<br />
verrührt <strong>und</strong> schließlich getrunken. Das war das Frühstück.<br />
E<strong>in</strong> Besucher nahm e<strong>in</strong>ige Tage lang mit Pater Kentenich das Frühstück e<strong>in</strong>. Dabei<br />
w<strong>und</strong>erte er sich nicht nur über die Zusammensetzung des Frühstücks, sondern<br />
fragte sich auch, ob das rohe Ei im Kaffee sich bei den andächtigen Rührbewegungen<br />
Pater Kentenichs denn überhaupt auflöse.<br />
Schließlich faßt er sich e<strong>in</strong> <strong>Herz</strong> <strong>und</strong> fragt: „Herr Pater, darf ich Ihnen denn helfen,<br />
das Ei zu zerrühren?” – „Wieso”, erwidert der Angeredete, „mache ich etwas<br />
falsch?” Der Besucher me<strong>in</strong>t, se<strong>in</strong>e Mutter habe e<strong>in</strong> rohes Ei immer mit der Gabel<br />
56
zerschlagen, damit es sich auflöse. Er darf es . vormachen. Pater Kentenich folgt<br />
aufmerksam der Demonstration <strong>und</strong> me<strong>in</strong>t dann gutgelaunt: Der Besucher war<br />
gespannt, was wohl beim Frühstück am nächsten Tag geschehen würde. Ob er<br />
wohl wieder helfen <strong>und</strong> das Ei zerschlagen soll, oder ob es Pater Kentenich diesmal<br />
gar selbst so macht?<br />
Jener läßt sich die Bestandteile se<strong>in</strong>es Frühstücks geben, setzt sich an den Tisch,<br />
schlägt das rohe Ei zum Honig <strong>in</strong> den Kaffee, rührt langsam <strong>und</strong> andächtig mit<br />
se<strong>in</strong>em Löffelchen im Kaffee herum <strong>und</strong> tr<strong>in</strong>kt – ganz <strong>in</strong> das Gespräch mit se<strong>in</strong>em<br />
Tischnachbarn vertieft – se<strong>in</strong> Frühstück.<br />
Nicht immer schlief Pater Kentenich, wenn es so schien. Nach der Gründung der<br />
Schönstattpatres am 15. Juli 1965 mußten die Satzungen der neu gegründeten<br />
Geme<strong>in</strong>schaft erstellt werden. Pater M. erarbeitete den Entwurf. Inzwischen war<br />
– seit dem 15. September desselben Jahres – Pater Kentenich <strong>in</strong> Rom <strong>und</strong> konnte<br />
sich – nach dem 22. Oktober – wieder ungeh<strong>in</strong>dert se<strong>in</strong>em Werk widmen.<br />
„Herr Pater, ich reiche den Satzungsentwurf nicht e<strong>in</strong>, bevor Sie ihn nicht überprüft<br />
<strong>haben</strong>”, erklärte deshalb Pater M. „Gut”, me<strong>in</strong>te der Gründer, „lies ihn mir<br />
vor.” Pater M. begann zu lesen, Paragraph für Paragraph der kompakten Rechtssprache.<br />
Pater Kentenich saß da, ganz ruhig, den Ellbogen auf der Stuhllehne,<br />
den Kopf mit der Hand stützend, die Augen geschlossen.<br />
Bald hatte Pater M. den E<strong>in</strong>druck, er sei e<strong>in</strong>geschlafen, <strong>und</strong> hörte auf zu lesen.<br />
Sofort meldete sich die <strong>in</strong> völliger Ruhestellung sitzende Gestalt: „Warum liest du<br />
nicht weiter?” – „Oh, ich dachte, Sie seien e<strong>in</strong>geschlafen.” – „Ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>, im Gegenteil!<br />
Ich habe sehr aufmerksam zugehört.”<br />
Als leidenschaftlichem Erzieher kam es Pater Kentenich immer auf den lebendigen<br />
Kontakt an. Die gesprochene Sprache war ihm dazu das Hauptwerkzeug.<br />
Er gebrauchte <strong>und</strong> formte <strong>sie</strong> der Situation entsprechend ganz orig<strong>in</strong>ell <strong>und</strong> verstand<br />
es meisterlich, dadurch seelische Kontakte anzuknüpfen. E<strong>in</strong>er Gruppe junger<br />
Männer hielt er e<strong>in</strong>en Vortrag über ihre besondere Berufung. „Wir s<strong>in</strong>d”, so<br />
hob er an, „specialissimi modo electi (<strong>in</strong> besonderer Weise erwählt), dilecti (ge-<br />
57
liebt), = collecti (zusammengeführt) …” – dann unterbricht er, schaut schmunzelnd<br />
<strong>in</strong> die R<strong>und</strong>e <strong>und</strong> me<strong>in</strong>t: „E<strong>in</strong>e schöne Kollektion!” – um dann ganz ernst <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>em Gedanken fortzufahren.<br />
Den Schw<strong>und</strong> an Schamgefühl <strong>und</strong> Intimität charakteri<strong>sie</strong>rt er e<strong>in</strong>mal so: „Früher<br />
ist man rot geworden, wenn man sich geschämt hat. Heute schämt man sich,<br />
wenn man rot wird.”<br />
In Milwaukee gab Pater Kentenich e<strong>in</strong>em der dort wohnenden Theologen private<br />
Exerzitien. Es geschah dies <strong>in</strong> Form von Spaziergängen auf dem „Calvary”-Friedhof.<br />
Auf e<strong>in</strong>em der Spaziergänge begegnen die beiden der Hausfrau, die den<br />
Theologen den Haushalt versorgte. „Sieh da”, me<strong>in</strong>te der Exerzitienmeister, „der<br />
Exerzitant <strong>und</strong> die Exerzitante!” Und: das blieb so, solange die Exerzitien dauerten.<br />
E<strong>in</strong>e Person <strong>in</strong> Pater Kentenichs Seelenführung schrieb ihm e<strong>in</strong>en wichtigen<br />
Brief, der sofort gelesen werden sollte. (Wer die Briefstöße auf Pater Kentenichs<br />
Schreibtisch gesehen hat <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e übrige Arbeitslast kannte, w<strong>und</strong>ert sich nicht,<br />
dass die Briefe nicht immer gleich gelesen wurden.) Bald kommt aber e<strong>in</strong> Anruf:<br />
„Herr Pater, <strong>haben</strong> Sie me<strong>in</strong>en Brief gelesen?” -„Ohhh”, me<strong>in</strong>t Pater Kentenich<br />
langgezogen, „ich habe hier e<strong>in</strong>en ganzen Berg von Briefen, so groß wie der Mont<br />
Blanc. Dieser Mond muß wieder blank gefegt werden. Und dann ist auch Ihr Brief<br />
dabei.” Konnte man noch enttäuscht se<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>er solchen Antwort?<br />
Zu e<strong>in</strong>em Osterfest bekam Pater Kentenich e<strong>in</strong>e Schachtel von Osterlämmchen<br />
aus Gips geschenkt. Er begann sofort, <strong>sie</strong> weiterzuschenken. Jedesmal aber mit<br />
der kle<strong>in</strong>en Botschaft, wir sollen selbst „Opferlamm” se<strong>in</strong>, um „Osterlamm” werden<br />
zu können.<br />
Die Bedeutung des Gehorsams bei den schönstättischen Instituten illustrierte<br />
Pater Kentenich gerne mit dem Bild von e<strong>in</strong>em Faß, das bei den Orden drei Reifen<br />
hat – die drei rechtlichen B<strong>in</strong>dungen der Gelübde: Armut, Gehorsam, Jungfräulichkeit<br />
– <strong>in</strong> den schöntättischen Geme<strong>in</strong>schaften aber nur e<strong>in</strong>en, nämlich<br />
das Rechtsband des Gehorsams (weshalb das Faß anders verfugt se<strong>in</strong> muß).<br />
58
In e<strong>in</strong>em Vortrag <strong>in</strong> Brasilien, bei dem verschiedene Vertreter der<br />
Schönstattfamilie zugegen s<strong>in</strong>d, behandelt er dieses Thema: „Lassen Sie mich<br />
das, was ich jetzt sagen möchte, <strong>in</strong> schlichte, populäre Formen kleiden. Das erste<br />
Bild: das Bild e<strong>in</strong>es Fasses. Das kl<strong>in</strong>gt natürlich sehr banal. Sie vergessen dabei<br />
nicht, es handelt sich hier um e<strong>in</strong>en Vergleich <strong>und</strong> jeder Vergleich h<strong>in</strong>kt. Da habe<br />
ich zwei Fässer. Das e<strong>in</strong>e Faß stellt den Ordensmann dar, das andere Faß stellt e<strong>in</strong>en<br />
von uns dar, also e<strong>in</strong>en Pater <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Marienschwester. – E<strong>in</strong> schöner Vergleich!<br />
Also Pater e<strong>in</strong> Faß, Marienschwester e<strong>in</strong> Fäßchen. – Nun möchte ich sagen,<br />
dass beide Fässer den gleichen Inhalt bergen...” Der Abschied <strong>in</strong> Milwaukee<br />
1965, obwohl Ende se<strong>in</strong>er Exilszeit, fi el doch recht schwer. Zum Trost schenkte<br />
Pater Kentenich jemandem se<strong>in</strong>en Regenschirm mit der Bemerkung: „Jetzt können<br />
Sie auch <strong>in</strong> Zukunft ‚unter me<strong>in</strong>en Schutz <strong>und</strong> Schirm fliehen.”<br />
Auf Gr<strong>und</strong> der reichen Erfahrung an sich <strong>und</strong> anderen, dass der Liebesb<strong>und</strong> mit<br />
der Gottesmutter e<strong>in</strong> „W<strong>und</strong>ermittel” ist zur allseitigen <strong>Leben</strong>sbewältigung, geschah<br />
es wie selbstverständlich, dass Pater Kentenich se<strong>in</strong>en Weg, se<strong>in</strong> <strong>Leben</strong>sgefühl<br />
anderen anbot; ganz im Geiste des heiligen Paulus: „Ahmt mich nach, wie<br />
ich Christus nachahme” (1 Kor. 11,1). Dies tat er gerne <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bild.<br />
Das Telefon kl<strong>in</strong>gelte. Dem Anrufer hörte man bereits beim Gruß an, dass er nicht<br />
<strong>in</strong> bester Stimmung war. „Na, wo drückt der Schuh”, lautete die ermutigende Frage.<br />
Es entstand e<strong>in</strong> längeres Gespräch, <strong>in</strong> dem der Druck abgelassen werden<br />
konnte. Zum Abschluß me<strong>in</strong>te Pater Kentenich: „Jetzt müßte ich Ihnen an sich<br />
me<strong>in</strong>e Schuhe schenken. Die drücken nicht.”<br />
Das Zusammenspiel von Scherz <strong>und</strong> echter Anteilnahme <strong>in</strong> Pater Kentenichs Reaktionen<br />
war unnachahmlich. Es war genau die Mischung, die tröstete, weil <strong>sie</strong><br />
die <strong>Herz</strong>en verband <strong>und</strong> Schweres leichter machte.<br />
Kurz nachdem Pater Kentenich 1965 die USA verlassen hatte, um über Rom wieder<br />
nach Deutschland zurückzukehren, erlitt Herr N., e<strong>in</strong> deutschstämmiger Maurermeister<br />
<strong>und</strong> treues <strong>Mit</strong>glied der „Deutschen Geme<strong>in</strong>de” <strong>in</strong> Milwaukee, e<strong>in</strong>en<br />
Betriebsunfall: e<strong>in</strong> Ziegelste<strong>in</strong> fi el ihm auf den Kopf. Seitdem hatte er ständige<br />
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Kopfschmerzen, die schließlich dazu zwangen, den rührigen <strong>und</strong> sonst kräftigen<br />
Mann arbeitsunfähig zu schreiben.<br />
Pater Kentenich hatte im Sommer 1966 mitten im Betrieb der ersten Zeit nach<br />
se<strong>in</strong>er Rückkehr von dem Unglück brieflich erfahren.<br />
Im folgenden Frühjahr gel<strong>in</strong>gt es dem Ehepaar N. nach Deutschland zu kommen.<br />
Natürlich wollen <strong>sie</strong> auch Pater Kentenich <strong>in</strong> Schönstatt besuchen. Sie staunen<br />
nicht wenig über die Größe Schönstatts <strong>und</strong> den Andrang von Menschen<br />
zu ihrem alten Seelsorger von St. Michael. Es ist auch gar nicht mehr so e<strong>in</strong>fach,<br />
bis zu Pater Kentenich vorzudr<strong>in</strong>gen. Die Schwester, die <strong>sie</strong> im Tal nach ihm fragen,<br />
me<strong>in</strong>t, es könne nicht jeder e<strong>in</strong>fach zum Herrn Pater Kentenich. Erst als das<br />
Ehepaar e<strong>in</strong> Foto vorweist, das <strong>sie</strong> zusammen mit dem Gründer zeigt, wird die<br />
Schwester diensteifrig <strong>und</strong> begleitet <strong>sie</strong> auf den Berg Schönstatt.<br />
Auch die Schwester an der Pforte ist zunächst abwehrend. Als <strong>sie</strong> allerd<strong>in</strong>gs erfährt,<br />
die Leute kommen aus Milwaukee, klappt plötzlich alles.<br />
Die Wiedersehensfreude ist auf beiden Seiten groß. Noch während der herzlichen<br />
Begrüßung kommt Pater Kentenichs Frage: „Was macht der Kopf, Herr N.?”<br />
Jener – überrascht, dass der jetzt vielbeschäftigte Pater schon Bescheid weiß,<br />
stellt lakonisch fest: „Er brummt!” Worauf Pater Kentenich scherzend <strong>und</strong> gleichzeitig<br />
teilnahmsvoll mitfühlend me<strong>in</strong>t: „Neuen aufsetzen!”<br />
Als E<strong>in</strong>leitung für e<strong>in</strong>e Kreuzpredigt erzählte Pater Kentenich e<strong>in</strong>mal die Geschichte<br />
von e<strong>in</strong>er Laiengruppe, die e<strong>in</strong> Passionsspiel aufführte. Auf dem Höhepunkt<br />
des Stückes rief der Christusdarsteller am Kreuz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Aufregung anstatt:<br />
Es ist vollbracht! – „Es ist prachtvoll!”<br />
Diesen Versprecher nahm der Prediger auf. Es sei gar nicht so dumm, sondern<br />
sehr tiefs<strong>in</strong>nig. Wenn man, so wie der Heiland, se<strong>in</strong> Kreuz auf sich nehme <strong>in</strong> völliger<br />
H<strong>in</strong>gabe an den Vaterwillen, dann führe das Kreuz sicher zum Ostermorgen.<br />
Und dann sei es auch wahr, dass, wenn der Krenzweg vollbracht sei, er auch<br />
prachtvoll sei.<br />
60
E<strong>in</strong> Priester namens „<strong>Herz</strong>” hatte die Möglichkeit, Pater Kentenich <strong>in</strong> den USA zu<br />
besuchen. Es sollte se<strong>in</strong>e erste Begegnung mit dem Gründer se<strong>in</strong>. Vor dem Weiterflug<br />
nach Milwaukee mußte er <strong>in</strong> New York übernachten. Er tat es bei e<strong>in</strong>em<br />
dort wohnenden <strong>Mit</strong>bruder. Dieser wollte vorher bei Pater Kentenich anrufen <strong>und</strong><br />
die Ankunft des Besuchers anmelden. Nach kurzem Gespräch wünschte Pater<br />
Kentenich, der unbekannte <strong>Mit</strong>bruder möge doch auch an den Apparat kommen.<br />
Dem war das nicht besonders recht. Er wäre dem verehrten Gründer lieber beim<br />
ersten Mal von Angesicht zu Angesicht begegnet. Es half aber nichts, er mußte<br />
nach dem Hörer greifen. Noch bevor er aber e<strong>in</strong> Wort sagen konnte, vernahm er<br />
aus der Muschel: „In der Bibel heißt es: ,Im Anfang war das Wort.‘ Goethe sagte:<br />
,Im Anfang war die Tat.‘ Wir <strong>in</strong> Schönstatt sagen: ,Im Anfang war das <strong>Herz</strong>.‘ <strong>Herz</strong>lich<br />
willkommen, Pater <strong>Herz</strong>!”<br />
In se<strong>in</strong>em Redestil zeigte sich Pater Kentenichs <strong>in</strong>neres Engagement selten <strong>in</strong><br />
Lautstärke oder Tonfall. Die Lautstärke war kräftig, der Tonfall recht charakteristisch,<br />
besonders durch das Ansteigen der Stimme am Ende e<strong>in</strong>es Satzes, der „rhe<strong>in</strong>ischen<br />
Kadenz” im <strong>in</strong>zwischen wohl verschw<strong>und</strong>enen Predigerstil. Beide waren<br />
aber getragen <strong>und</strong> hatten eher e<strong>in</strong>e distanzierende Wirkung. Häufi ger kam der<br />
<strong>in</strong>nere Schwung, se<strong>in</strong> Drängen <strong>in</strong> Pater Kentenichs Formulierungen zum Ausdruck.<br />
So auch bei folgender orig<strong>in</strong>eller „Übersetzung”.<br />
Vom heiligen Ignatius ist das Wort bekannt: „Ite, <strong>in</strong>cendite m<strong>und</strong>um!”; „Geht,<br />
entzündet die Welt!” Das Wort entsprach Pater Kentenichs apostolischer E<strong>in</strong>stellung.<br />
Er gebrauchte es häufi g.<br />
So tauchte es auch auf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vortrag am 17. Oktober 1966 auf der Delegiertentagung<br />
des Schönstattwerkes, „Oktoberwoche” genannt. E<strong>in</strong> Jahr zuvor war<br />
der Gründer aus se<strong>in</strong>em Exil zurükkgekehrt; zur selben Zeit, als das Konzil zu Ende<br />
g<strong>in</strong>g. Bei dieser Oktoberwoche g<strong>in</strong>g es ihm nun darum, die <strong>in</strong>nere „H<strong>in</strong>ordnung”<br />
se<strong>in</strong>es Werkes auf die nachkonziliare Kirche aufzuzeigen. Am Ende des Vortrags<br />
kommt das <strong>in</strong>nere Feuer durch:<br />
„Wir <strong>haben</strong> ja Männer da, vielleicht auch e<strong>in</strong>ige Frauen, die das zum <strong>Leben</strong>s<strong>in</strong>halt<br />
gemacht (<strong>haben</strong>). Wir wollen die feurigen Rosse noch weitergaloppieren lassen,<br />
61
aber auch sorgen, dass wir mit auf den Wagen kommen.<br />
Das s<strong>in</strong>d alles D<strong>in</strong>ge, die ich leider nur kurz berühren kann. Es ist e<strong>in</strong> wichtiges<br />
Anliegen, e<strong>in</strong> großes Anliegen: Wir müssen zum Papst! Wenn Sie nur halb glauben,<br />
was ich glaube, wenn Sie nur e<strong>in</strong> Zehntel glauben, dann verstehen Sie, wie<br />
alles <strong>in</strong> mir drängt: Geht h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> die Welt!<br />
Ich me<strong>in</strong>e, ich darf nun schließen mit dem Wort, das der heilige Ignatius so gerne<br />
gebraucht hat: ‚Ite, <strong>in</strong>cendite m<strong>und</strong>um!‘ Macht, dass Ihr herauskommt! Nachdem<br />
Ihr lange beie<strong>in</strong>ander gesessen habt, nachdem Ihr Euch gegenseitig gef<strong>und</strong>en,<br />
<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander <strong>und</strong> dadurch <strong>in</strong> Gott h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gewachsen seid: Heraus! Feuerbrand<br />
für die ganze Welt!”<br />
Nos cum prole pia – benedicat virgo Maria!”<br />
Bei der lebendigen <strong>und</strong> kontaktnahen Art konnte es im Rede - <strong>und</strong> auch<br />
Schreibstil Pater Kentenichs an illustrierenden Vergleichen <strong>und</strong> Bildern nicht<br />
fehlen. E<strong>in</strong>e repräsentative Sammlung davon würde <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong> eigenes kle<strong>in</strong>es<br />
Bändchen ergeben. Hier kommt es nur darauf an, an wenigen Beispielen die Art<br />
zu charakteri<strong>sie</strong>ren.<br />
Wir s<strong>in</strong>d vom gebietenden, ratenden, fügenden <strong>und</strong> zulassenden Willen Gottes<br />
umgeben. Nichts kann geschehen außerhalb der göttlichen Vorsehung. Diese<br />
Wahrheit war e<strong>in</strong>e von Pater Kentenichs Liebl<strong>in</strong>gsbetrachtungen. Die Schwierigkeit,<br />
die sich für uns Menschen im täglichen <strong>Leben</strong> immer stellt, ist, h<strong>in</strong>ter allem<br />
Geschehen, vor allem dem unangenehmen, Gott wahrzunehmen. Wie das geschehen<br />
soll, bebildert der Vergleich mit dem Mann, der im W<strong>in</strong>ter spazierengeht.<br />
Unerwartet trifft ihn e<strong>in</strong> Schneeball im Genick. Im ersten Augenblick wallt Unmut<br />
auf. Er wendet sich energisch um, will dem Angreifer…<strong>und</strong> <strong>sie</strong>ht, dass es se<strong>in</strong><br />
Fre<strong>und</strong> war, der den Schneeball geworfen hat. Sofort wandelt sich die Stimmung.<br />
Der Schneeball war ke<strong>in</strong> Angriff, sondern e<strong>in</strong> Gruß.<br />
<strong>Damit</strong> verwandt ist das häufi g gebrauchte Bild von dem Vater, der uns ständig<br />
berührt, der aber manchmal eiserne Handschuhe trägt, die uns weh tun. Im ei-<br />
62
sernen Handschuh ist aber immer die warme Vaterhand, die es zu erkennen <strong>und</strong><br />
zu erspüren gilt.<br />
Es kam jemand zu Pater Kentenich, unzufrieden mit sich selbst. Der Vergleich mit<br />
e<strong>in</strong>er <strong>Mit</strong>schwester ergab, dass <strong>sie</strong> nichts wert sei. So wie jene kann <strong>sie</strong> nie werden!<br />
Pater Kentenichs Antwort: E<strong>in</strong> Kirschbaum muß Kirschen tragen, e<strong>in</strong> Birnbaum<br />
Birnen. Wie verkehrt ist es für e<strong>in</strong>en Birnbaum, Kirschbaum se<strong>in</strong> zu wollen!<br />
Wohl jeder, der sich längere Zeit der Botschaft <strong>und</strong> Erziehung Pater Kentenichs<br />
aussetzte, hat aus se<strong>in</strong>em M<strong>und</strong> das Bild erklärt bekommen von dem K<strong>in</strong>d, das<br />
vom eigenen Vater, der Arzt ist, operiert werden muß. Das K<strong>in</strong>d, das unter dem<br />
Messer liegt, mag jammern <strong>und</strong> we<strong>in</strong>en, weil schneiden not tut. Im tiefsten Leid<br />
aber weiß es immer, dass es der Vater ist, der operiert Natürlich konnte es bei<br />
dem urwüchsigen Verhältnis zu Klang <strong>und</strong> Bild <strong>in</strong> der Sprache nicht ausbleiben,<br />
dass schon mal e<strong>in</strong> Vergleich „vergewaltigt” wurde <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Bild „aus dem Rahmen”<br />
fiel. E<strong>in</strong>er Gruppe von Studenten, denen er mehr Selbst- <strong>und</strong> Sendungsbewußtse<strong>in</strong><br />
bei gleichzeitig festem Standpunkt beibr<strong>in</strong>gen wollte, rief er zu, <strong>sie</strong> sollen<br />
se<strong>in</strong> wie der Adler, „der mit mächtigem Flügelschlag zur Sonne rauscht <strong>und</strong><br />
dabei doch mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Wirklichkeit steht” (wobei<br />
er für e<strong>in</strong>ige M<strong>in</strong>uten die Aufmerksamkeit derjenigen verlor, die sich e<strong>in</strong>en solchen<br />
Adler vorzustellen suchten.)<br />
Die Aufforderung, wir alle müßten <strong>in</strong> unserem Verhältnis Gott, dem Vater, gegenüber<br />
<strong>und</strong> zur besseren Bewältigung schwieriger <strong>Leben</strong>slagen schlichte, k<strong>in</strong>dliche<br />
Menschen werden, erschien bei Pater Kentenich <strong>in</strong> allen möglichen Situationen<br />
<strong>und</strong> Zusammenhängen; <strong>und</strong> auch <strong>in</strong> den verschiedensten Formulierungen.<br />
Im Konzentrationslager mit allen Gefahren, Lasten <strong>und</strong> Leiden lebte er zum Beispiel<br />
stark aus dem Gedanken: Der liebe Gott hat für se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der immer „die besten<br />
W<strong>in</strong>deln”. „Dies s<strong>in</strong>d die besten W<strong>in</strong>deln für mich.”<br />
Im März 1952 wurden zwei Novizen der Pallott<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Chile e<strong>in</strong>gekleidet. Pater<br />
Kentenich hielt ihnen <strong>und</strong> allen Anwesenden e<strong>in</strong>e Ansprache. Im Gegensatz<br />
63
zum heutigen Rationalismus, so führte er aus, der „Verkopfung” des modernen<br />
Menschen, der Intellektuali<strong>sie</strong>rung des Studiums, auch der Theologie, müssen wir<br />
k<strong>in</strong>dliche Menschen werden; ja, richtige „K<strong>in</strong>dsköpfe”! „Und der größte K<strong>in</strong>dskopf<br />
<strong>in</strong> Schönstatt” – so schloß der Gedanke – „das b<strong>in</strong> ich!”<br />
Aus der Hl. Schrift wissen wir, dass e<strong>in</strong> gewisser Nikodemus aus dem Hohen Rat<br />
Jesus heimlich bei Nacht aufsuchte, um ihn über das Reich Gottes zu befragen<br />
(3, 1-21).<br />
Auch e<strong>in</strong> Mann von Arimatbäa tritt im Neuen Testament auf; ebenfalls vom Hohen<br />
Rat. <strong>Mit</strong> Nikodemus zusammen erbat er sich von Pilatus den Leichnam Jesu,<br />
um ihn zu bestatten. <strong>Mit</strong> Namen hieß er allerd<strong>in</strong>gs Josef (Jo 19,38).<br />
In der Leidensgeschichte Christi spielt außerdem Simon von Cyrene e<strong>in</strong>e wichtige<br />
Rolle. Er half Jesus das Kreuz tragen (Mark 15,21). Es war Karfreitag. Pater Kentenich<br />
hatte die E<strong>in</strong>ladung e<strong>in</strong>er Gruppe von Sem<strong>in</strong>aristen angenommen, ihr neu<br />
erarbeitetes Kreuz zu segnen <strong>und</strong> <strong>in</strong> ihrem Geme<strong>in</strong>schaftsraum anzubr<strong>in</strong>gen. Es<br />
verstand sich von selbst, dass er dabei e<strong>in</strong>e Ansprache halten sollte.<br />
Auch für Pater Kentenich war dies selbstverständlich. Er kam von e<strong>in</strong>er Kreuzwegandacht<br />
<strong>und</strong> lebte ganz <strong>in</strong> der Atmosphäre des Tages. Entsprechend ernst <strong>und</strong><br />
bes<strong>in</strong>nlich war die Ansprache. Die Zuhörer ließen sich willig führen … bis zu dem<br />
Punkt <strong>in</strong> der Ansprache, <strong>in</strong> dem Pater Kentenich erwähnte, dass Nikodemus Jesus<br />
das Kreuz tragen half. Auf Gr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>es <strong>in</strong>neren Kontaktes mit den zuhörenden<br />
Theologen spürte er sofort, dass e<strong>in</strong>e fremde Regung durch ihre Reihen g<strong>in</strong>g.<br />
Er formulierte deshalb noch e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong>en Gedanken <strong>und</strong> <strong>in</strong> dem Bemühen, ihn<br />
deutlicher zu machen, führte er auch aus, dass Nikodemus von Arimathäa Jesus<br />
das Kreuz tragen half, <strong>und</strong> brachte dann – nicht weiter gestört von den Regungen<br />
der Theologen – se<strong>in</strong>e Betrachtung zu Ende.<br />
Zur Schande der Theologen sei es gesagt: Sie wissen nicht mehr, worüber Pater<br />
Kentenich an jenem Karfreitag predigte. Nur an e<strong>in</strong>es er<strong>in</strong>nern <strong>sie</strong> sich bis auf<br />
den heutigen Tag – zum eigenen Trost als <strong>in</strong>zwischen selbst predigende Priester;<br />
nämlich, dass bei der E<strong>in</strong>weihung ihres Kreuzes ausnahmsweise ‚Nikodemus von<br />
64
Arimatbäa‘ Jesus das Kreuz tragen half.<br />
Wie es wohl nicht anders zu erwarten ist nach allem Bisherigen: Pater Kentenich<br />
erzählte auch gerne e<strong>in</strong>en Witz. Nur – <strong>und</strong> das soll gleich zur E<strong>in</strong>leitung zugegeben<br />
werden: Gut Witze erzählen nach dem gängigen Stil, mit Knalleffekt am<br />
Schluß, konnte er nicht. E<strong>in</strong>mal, weil er sich selbst an se<strong>in</strong>em Witz so sehr freute,<br />
dass er schon mal durch eigenes Lachen die Po<strong>in</strong>te verderben konnte. Zum anderen,<br />
weil auch die Witze, die er öfters <strong>und</strong> gerne erzählte, sich nicht durch <strong>in</strong>tellektuelle<br />
Spritzigkeit auszeichneten, sondern eher mit tiefs<strong>in</strong>nigem <strong>Humor</strong> Szenen<br />
aus dem <strong>Leben</strong> des e<strong>in</strong>fachen Volkes beleuchteten, die er dann gleich im konkreten<br />
<strong>Leben</strong> anzuwenden wußte. Hier e<strong>in</strong>ige charakteristische Beispiele:<br />
In e<strong>in</strong>em Zugabteil sitzen zwei Frauen <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Junge, der lange zum Fenster<br />
h<strong>in</strong>ausschaut. Als er sich schließlich umdreht, entfährt es der ersten Frau:<br />
„Was für e<strong>in</strong> Wasserkopf.” Die zweite Frau: „Das ist me<strong>in</strong> Fritz!”<br />
Nach e<strong>in</strong>er betroffenen Sek<strong>und</strong>e die erste Frau beschwichtigend:<br />
„Steht ihm aber gut! Steht ihm aber gut!”<br />
Beim Bürgermeister e<strong>in</strong>es Dorfes f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong> Festessen mit vielen<br />
Ehrengästen statt. Die Frau Schultheiß, die Gastgeber<strong>in</strong>, hat vortrefflich für alles<br />
gesorgt. Nur am Kopfende der Tafel, dem Platz des Hausherrn, fehlt die Serviette.<br />
Jemand macht die Bürgermeistersfrau darauf aufmerksam. Jene erwidert laut<br />
<strong>und</strong> empört: „Unser Hannes schlappert nicht!” (Diesen Witz erzählte Pater Kentenich<br />
mit besonderem Genuß, als er e<strong>in</strong>mal mit zwei „Johannes” am Tisch saß.)<br />
Und noch e<strong>in</strong> Witz <strong>in</strong> Kölscher M<strong>und</strong>art. Wiederum zwei Frauen im Zug mit e<strong>in</strong>em<br />
„Fritz”. Der Junge leckt das Abteilfenster ab, bis es die erste Frau nicht mehr<br />
mitansehen kann. Zur Mutter: -„Da‘f dat dat?” (Darf es (das K<strong>in</strong>d) das?) -„Ja, dat<br />
da‘f dat.” Ja, das darf es.) -„Dat dat dat da‘f?!” (Dass das das darf?!)<br />
Wurde e<strong>in</strong> Witz dieser Art von Pater Kentenich erzählt, dann wurde das Lachen<br />
der Zuhörer nicht nur von der Komik des Witzes hervorgerufen, sondern auch von<br />
der spontanen Freude <strong>und</strong> manchmal von dem schon vorausgehenden Lachen<br />
des Erzählers.<br />
65
Die Hauptkomik e<strong>in</strong>es von Pater Kentenich erzählten Witzes bestand oft <strong>in</strong> der<br />
Situation, <strong>in</strong> die er ihn h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>sprach. Dazu e<strong>in</strong>e Illustration aus der Gründungszeit<br />
Schönstatts.<br />
Die Statuten des Studienheimes <strong>in</strong> Schönstatt enthielten unter „Verordnungen<br />
für den Schlafsaal” den Paragraphen 14:<br />
„Es ist Ehrenpflicht e<strong>in</strong>es jeden, sofort beim ersten Glockenschlag aufzustehen.<br />
Auf den Weckruf ‚Benedicamus Dom<strong>in</strong>o‘ (Laßt uns preisen den Herrn) sollen alle<br />
andächtig antworten (nämlich ‚Deo gratias‘, Dank sei Gott). Nach dem Nachtgebet<br />
begebe sich jeder möglichst schnell zu Bett.”<br />
Dass die Befolgung dieses Paragraphen <strong>in</strong> kalten Tagen bei den damaligen Verhältnissen<br />
<strong>und</strong> dem Alter der Jungen weder leichtfi el noch andächtig ausfiel,<br />
läßt sich denken.<br />
Pater Kentenich greift die Situation auf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vortrag über das Kampffeld im<br />
eigenen Inneren wegen der drei <strong>Leben</strong>, an denen wir teil<strong>haben</strong>, dem vegetativen,<br />
sensitiven <strong>und</strong> <strong>in</strong>tellektuellen:<br />
„Wer kennt diesen Zweispalt (<strong>in</strong> uns) nicht! Blicken wir nur auf uns selbst, greift<br />
nur h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong>s volle Menschenleben. Der schwerste Stand ist bekanntlich für viele<br />
der Aufstand – das Aufstehen. Es läutet. Benedicamus Dom<strong>in</strong>o!<br />
– Schon Zeit? – Im Bett ist‘s so warm, so mollig Es hat geläutet, die Pflichtruft. Du<br />
mußt aufstehen!, wendet der Verstand ganz schüchtern e<strong>in</strong>. Der <strong>in</strong>nere Zwiespalt<br />
ist da: Der Kampf beg<strong>in</strong>nt, der Kampf mit dem Kopfkissen. Ach, du bist noch so<br />
müde, du könntest dich erkälten. – Um gut zu studieren, muß man sich gut ausgeruht<br />
<strong>haben</strong>. – So meldet sich stürmisch das s<strong>in</strong>nliche Wohlbehagen. Na, wenigstens<br />
noch e<strong>in</strong>en Augenblick, nur noch e<strong>in</strong>mal umdrehen. Zudem gibt ja auch<br />
der Klügste nach. Da – die Drehung ist vollendet – Deo gratis. – Der Augenblick<br />
dauert aber e<strong>in</strong>mal lange. Das ist die erste faule Birne, die ich me<strong>in</strong>em Herrgott<br />
schon <strong>in</strong> aller Frühe an den Kopf werfe. Wie viele werden nachfolgen. Zum Unglück<br />
hat es heute auch der Pater So<strong>und</strong>so noch auf mich abgesehen. Da kommt<br />
er auf me<strong>in</strong> Bett zu.<br />
<strong>Mit</strong> Blitzesschnelle geht mir dies <strong>und</strong> jenes durch den Kopf. Ich b<strong>in</strong>, ich b<strong>in</strong><br />
– e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Notlüge will sich mir aufdrängen. Ich will sagen: Ich b<strong>in</strong> krank. Wo?<br />
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Natürlich im Kopf, am Hals oder an der Brust. Doch noch zur rechten Zeit bes<strong>in</strong>ne<br />
ich mich auf mich selber, <strong>und</strong> so ist die e<strong>in</strong>zige Entschuldigung: Ich b<strong>in</strong> liegen<br />
geblieben. E<strong>in</strong> sehr tiefs<strong>in</strong>niger <strong>und</strong> unwiderlegbarer Gr<strong>und</strong> dafür, dass ich nicht<br />
aufgestanden b<strong>in</strong>.<br />
Nebenbei gesagt. E<strong>in</strong> anderer soll sich viel geschickter aus derselben Verlegenheit<br />
geholfen <strong>haben</strong>. Der Betreffende, nennen wir ihn e<strong>in</strong>mal Anton, war an e<strong>in</strong>er<br />
Anstalt, wo geweckt wurde mit den Worten: Laudetur Jesus et Maria (Gelobt<br />
sei Jesus <strong>und</strong> Maria). Die Antwort war: In aeternum. Amen. (In Ewigkeit. Amen).<br />
– Anton hat sich nun verschlafen. Der Präfekt stürzt sich wütend auf ihn, rüttelt<br />
<strong>und</strong> schüttelt <strong>und</strong> ruft ihm aufgeregt zu: Wie lange willst du noch schlafen?! Anton<br />
reckt sich <strong>und</strong> antwortet – noch ganz traumbefangen: In aeternum. Amen.”<br />
Es gibt Übernamen, unter denen ihre Träger sehr leiden, weil <strong>sie</strong> zu sehr karikieren,<br />
deshalb bespötteln <strong>und</strong> abwerten. Die Sprache nennt solche Übernamen<br />
Spitznamen. Es gibt aber auch Übernamen, die – dazu im Gegenteil – Intimität<br />
<strong>und</strong> Zärtlichkeit ausdrücken. Wir nennen <strong>sie</strong> Kosenamen. Auch Pater Kentenich<br />
gebrauchte gerne Übernamen. In ihrem Charakter waren <strong>sie</strong> weder Spitznamen<br />
– denn er wollte alles andere als verletzen – noch Kosenamen im üblichen S<strong>in</strong>ne.<br />
Wir wollen <strong>sie</strong> „Necknamen” nennen, weil es meist etwas Neckendes, Scherzendes<br />
enthielten <strong>in</strong> der Tendenz, die Orig<strong>in</strong>alität e<strong>in</strong>er Person aufzugreifen <strong>und</strong><br />
durch entsprechende Betitelung e<strong>in</strong>e persönliche Beziehung herzustellen.<br />
In Wehrpaß des im Konzentrationlager Dachau verstorbenen Pater A. Eise fand<br />
sich e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>tragung, er habe im ersten Weltkrieg an drei<strong>und</strong>dreißig Schlachten<br />
teilgenommen. Von Pater Kentenich bekam er deshalb gerne – wohl auch se<strong>in</strong>em<br />
Temperament entsprechend – den Titel „Mann der drei<strong>und</strong>dreißig Schlachten”.<br />
E<strong>in</strong> chilenischer Pater schnappte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vortrag Pater Kentenichs das Wort<br />
„Mumpitz” auf. Trotz ausgedehnter Deutschkenntnisse war ihm dieses Wort unbekannt.<br />
Sofort ach dem Vortrag erk<strong>und</strong>ig-„Mumpitz”? Es fi el en Angesprochenen<br />
nicht leicht, das Wort zu erklären. Um es richtig <strong>und</strong> anschaulich verständlich<br />
zu machen, benützte man an diesem <strong>und</strong> den folgenden Tagen jede geeignete<br />
Gelegenheit, um daran zu illustrieren, was denn alles „Mumpitz” sei. Als Pa-<br />
67
ter Kentenich davon erfuhr, war der „Neckname” fertig. Der Frager wurde zum<br />
„Pater Mumpitz”.<br />
Der <strong>in</strong>zwischen verstorbene Pater F., e<strong>in</strong> recht draufgängerischer <strong>Mit</strong>arbeiter an<br />
der Zentrale <strong>in</strong> Schönstatt, der wohl schon mal e<strong>in</strong>en anderen auf die Hörner nehmen<br />
konnte, war der „Stier von Uri”, oder – im KZ Dachau wegen se<strong>in</strong>es Wagemutes<br />
– der „Donnersohn”.<br />
Und e<strong>in</strong> gerade <strong>in</strong> die USA e<strong>in</strong>gewanderter Deutscher war längere Zeit der „Peter<br />
<strong>in</strong> der Fremde”.<br />
Im Herbst 1965 hatte Pater Kentenich se<strong>in</strong> Quartier <strong>in</strong> Rom im Generalat der<br />
Ma<strong>in</strong>zer Vorsehungsschwestern bezogen. Es war die Zeit der letzten Konzilssessio.<br />
E<strong>in</strong>ige Bischöfe besuchten gerne <strong>und</strong> öfters den kle<strong>in</strong>en Kreis um Pater Kentenich<br />
<strong>und</strong> fühlten sich <strong>in</strong> der dortigen Atmosphäre offensichtlich wohl. Auch <strong>sie</strong><br />
waren vor e<strong>in</strong>em „Necknamen” nicht sicher. Und zwar ganz im Geiste des Konzils:<br />
mit Vatertitel <strong>und</strong> auf Late<strong>in</strong>.<br />
In e<strong>in</strong>em Gespräch mit Pater Kentenich – wohl teils <strong>in</strong> Late<strong>in</strong> geführt – bemerkte<br />
der Erzbischof von La Plata, der <strong>in</strong>zwischen verstorbene Bischof von Fulda sei<br />
e<strong>in</strong> ‚Pater amabilis‘ (e<strong>in</strong> liebenswürdiger Vater). Pater Kentenich stimmte zu, f<strong>in</strong>g<br />
den Ball sofort auf <strong>und</strong> fragte weiter, was für e<strong>in</strong> Pater denn der – damalige <strong>und</strong><br />
dem Erzbischof etwas zu energische – Weihbischof von Münster sei. Der Erzbischof<br />
war nicht um e<strong>in</strong>e Antwort verlegen: Er sei e<strong>in</strong> ‚Pater terribilis‘ (e<strong>in</strong> „schrecklicher”<br />
Vater). Lächelnd konterte Pater Kentenich: „Dann s<strong>in</strong>d Sie der ‚Pater admirabilis‘<br />
(der w<strong>und</strong>erbare Vater).”<br />
Und so benannte er die Drei <strong>in</strong> kommenden Unterhaltungen. Jener „Pater Hokuspokus”,<br />
von dem oben schon die Rede war, ist e<strong>in</strong> Schelm von besonderem<br />
Ausmaß. Se<strong>in</strong>e Umgebung ist nie vor ihm sicher. Als ihm um das Jahr 1960 herum<br />
als Sem<strong>in</strong>arist aus e<strong>in</strong>er Reklame für e<strong>in</strong>en Zoo e<strong>in</strong> ganzer Stoß Postkarten<br />
mit lauter Affen <strong>in</strong> die Hände fiel, mußte damit etwas unternommen werden.<br />
E<strong>in</strong> „Opfer” war bald gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> gut gewählt. Tage- <strong>und</strong> wochenlang fand<br />
der Arme, wo er g<strong>in</strong>g <strong>und</strong> stand…e<strong>in</strong>en Affen: an se<strong>in</strong>er Tür, unter se<strong>in</strong>em Teller<br />
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im Speisesaal, <strong>in</strong> dem Buch im Lesezimmer, das er gerade las, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Post, se<strong>in</strong>er<br />
Serviette, Manteltasche usw. Er glaubte sich von e<strong>in</strong>er Verschwörung umz<strong>in</strong>gelt.<br />
Und je mehr er <strong>in</strong> zunehmender Wut bei jeder Konfrontation mit e<strong>in</strong>em Affen<br />
schnell um sich blickte, um die Übeltäter zu entdecken, <strong>in</strong> um so unschuldigere<br />
Gesichter blickte er. Schließlich war er so fi xiert, dass er das Angebot gerade<br />
jenes „Pater Hokuspokus” annahm, ihm bei der Suche nach den Übeltätern zu<br />
helfen. Theorien <strong>in</strong> Menge entstanden <strong>und</strong> Schlachtenpläne wurden entwickelt.<br />
Sie konnten zu ke<strong>in</strong>em Ergebnis führen.<br />
Als die Postkarten vom Zoo ausg<strong>in</strong>gen, schrieb „Pater Hokuspokus” se<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>e<br />
<strong>in</strong> aller Welt an <strong>und</strong> bat, jenem lieben <strong>Mit</strong>bruder doch e<strong>in</strong>en Kartengruß zu<br />
schicken; mit e<strong>in</strong>em Affen drauf natürlich. Affengrüße kamen aus den verschiedenen<br />
Ländern Südamerikas, aus Israel <strong>und</strong> sogar aus Ch<strong>in</strong>a.<br />
Es traf sich gerade zu dieser Zeit, dass e<strong>in</strong> Bekannter des „Pater Hokuspokus” <strong>in</strong><br />
Milwaukee bei Pater Kentenich e<strong>in</strong>en Besuch machte. Er bat ihn, dem Herrn Pater<br />
den ganzen Streich zu erzählen. Dieser hatte se<strong>in</strong>e helle Freude an der Affengeschichte.<br />
Auch er besorgte sich e<strong>in</strong>e Postkarte mit e<strong>in</strong>em Affen. Und so geschah es, dass<br />
der von Affen Geplagte als Höhepunkt der ganzen Narretei – <strong>und</strong> wohl auch zu,<br />
se<strong>in</strong>em Trost – e<strong>in</strong>en Affen aus Milwaukee erhielt mit der Signatur „J.K.”<br />
Während se<strong>in</strong>es ganzen <strong>Leben</strong>s hatte Pater Kentenich e<strong>in</strong> helles Ohr für<br />
die Stimmen der Zeit. Männer, die mit ihrem Denken die Welt bewegten –<br />
ganz gleich, ob christlich oder nicht – <strong>in</strong>teres<strong>sie</strong>rten ihn. Er setzte sich mit<br />
ihnen ause<strong>in</strong>ander, forschte nach dem Wirken des Heiligen Geistes <strong>in</strong> ihren<br />
Lehren, verarbeitete <strong>und</strong> zitierte <strong>sie</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Kursen <strong>und</strong> Schriften <strong>und</strong> ver<br />
suchte, von se<strong>in</strong>er Warte <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Gotteserfahrung aus darauf e<strong>in</strong>e Antwort<br />
zu geben; meist, <strong>in</strong>dem er Impulse ihres Denkens aufnahm <strong>und</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e<br />
Spiritualität <strong>in</strong>tegrierte.<br />
Dabei war die Ause<strong>in</strong>andersetzung mit solchen Männern e<strong>in</strong>e geistige<br />
Begegnung mit ihrem Denken. Auf den Gedanken, Pater Kentenich <strong>in</strong>teres<br />
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<strong>sie</strong>re sich eventuell auch für deren Aussehen, konnte man kaum kommen.<br />
Professor Karl Rahner, fraglos e<strong>in</strong>er der größten <strong>und</strong> e<strong>in</strong>flußreichsten deut<br />
schen Theologen unseres Jahrh<strong>und</strong>erts, konnte dieser <strong>in</strong>neren Beschäftigung<br />
Pater Kentenichs mit Männern se<strong>in</strong>er Zeit nicht entgehen. Vor allem während<br />
des Zweiten Vatikanischen Konzils nahm er das theologische Denken Karl<br />
Rahners <strong>in</strong> sich auf <strong>und</strong> kommentierte es bei Gelegenheit.<br />
Es war Anfang des Jahres 1962. Über die deutsche Seolsorge <strong>in</strong> Milwaukee<br />
traf Pater Kentenich mit e<strong>in</strong>em Theologiestudenten aus Deutschland zusam<br />
men, der zu Besuch <strong>in</strong> den USA weilte. Es kam zu e<strong>in</strong>em Spaziergang mit<br />
angeregter Unterhaltung über die kirchliche Lage. <strong>Mit</strong>ten im Gespräch fragt<br />
Pater Kentenich plötzlich:<br />
„Kennen Sie Karl Rahner?”<br />
„Ja, ich habe ihn e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vortrag <strong>in</strong> München gehört.”<br />
„Wie <strong>sie</strong>ht er denn aus?”<br />
„Hm, e<strong>in</strong>e etwas gedrungene Gestalt, mittelgroß, großer Kopf.”<br />
„Sooo? Ich habe ihn mir immer ganz lang vorgestellt (<strong>und</strong> während er se<strong>in</strong>e<br />
beiden Zeigef<strong>in</strong>ger bis <strong>in</strong> Stirneshöhe hebt <strong>und</strong> langsam nach unten zieht):<br />
Kaarl Raaahner.”<br />
Die beiden Gefängniswärter, die 1941 für Pater Kentenich während se<strong>in</strong>er Gestapohaft<br />
im Koblenzer Karmelgefängnis Post heraus- <strong>und</strong> here<strong>in</strong>schmuggelten,<br />
bezeichnete er als den „kle<strong>in</strong>en” <strong>und</strong> den „großen” Boten; weniger, um <strong>sie</strong> zu necken,<br />
als vielmehr aus Gründen der Tarnung.<br />
In Milwaukee gab es dann – allerd<strong>in</strong>gs nicht mehr um zu tarnen, sondern um zu<br />
necken, der Körpergröße entsprechend – die „kle<strong>in</strong>e Maria”, die Haushälter<strong>in</strong> des<br />
zum Prov<strong>in</strong>zhaus der Pallott<strong>in</strong>er gehörigen Pfarrhauses, <strong>und</strong> die „große Maria”,<br />
Pater Kentenichs Seelsorgshelfer<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Deutschenseelsorge.<br />
E<strong>in</strong>es Nachmittags weilt Pater Kentenich mit e<strong>in</strong>em deutschstämmigen Herrn aus<br />
Argent<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Büro. Als die Seelsorgshelfer<strong>in</strong> anklopft, um ihren Nach-<br />
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mittagsdienst zu beg<strong>in</strong>nen, w<strong>in</strong>kt er <strong>sie</strong> here<strong>in</strong> <strong>und</strong> stellt <strong>sie</strong> dem Besucher vor:<br />
„Das ist die ‚Maria vom hohen Wuchs”‘. Der Herr, nicht vertraut mit der schelmischen<br />
Art Pater Kentenichs – <strong>und</strong> wohl auch nicht sonderlich bewandert <strong>in</strong> deutscher<br />
Geographie <strong>und</strong> deutschen Adelsgeschlechtern – hört sich dies andächtig<br />
an <strong>und</strong> schweigt verw<strong>und</strong>ert. Da man gerne über Abstammung <strong>und</strong> Herkunft redet,<br />
wenn sich die Landsleute im Ausland treffen, setzt Pater Kentenich die Vorstellung<br />
fort: „Sie ist aus Westfalen, aus dem Münsterland.” – „Ah, da liegt das<br />
also”, bemerkt, hörbar befreit, der Herr. E<strong>in</strong> kurzes Stocken, dann brechen Pater<br />
Kentenich <strong>und</strong> die „große Maria” <strong>in</strong> herzhaftes Lachen aus – was den Besucher<br />
nur noch unsicherer macht. Die Hilflosigkeit im anderen witternd, faßt sich Pater<br />
Kentenich schnell <strong>und</strong> me<strong>in</strong>t beschwichtigend: „Ja, so kann man es auch verstehen,<br />
denn es gibt ja auch e<strong>in</strong> Hohes Venn.” Und dann gibt er dem Gespräch e<strong>in</strong>e<br />
andere Richtung, so dass der Herr aus der für ihn unangenehmen Situation vollends<br />
herauskommt.<br />
Die lustige Begebenheit vergaß Pater Kentenich aber nicht so schnell. Bereits am<br />
nächsten Morgen begrüßt er se<strong>in</strong>e Seelsorgshelfer<strong>in</strong> mit dem neuen „Adelstitel”<br />
<strong>und</strong> spielt gleich damit:<br />
E<strong>in</strong>e ganze Zeit stellte Pater Kentenich nun se<strong>in</strong>e Seelsorgshelfer<strong>in</strong> gern unter ihrem<br />
„Adelstitel” vor.<br />
Jene „große Maria” trat ihren Dienst als Seelsorgshelfer<strong>in</strong> für die deutsche Auslandsseelsorge<br />
<strong>in</strong> Milwaukee im Herbst des Jahres 1960 an. <strong>Mit</strong> welcher Aufmerksamkeit<br />
<strong>und</strong> väterlichen Sorge, aber auch mit welch schelmischer <strong>Herz</strong>lichkeit<br />
sich Pater Kentenich auf e<strong>in</strong>en ihm bis dah<strong>in</strong> von Angesicht unbekannten<br />
Menschen <strong>und</strong> zukünftigen <strong>Mit</strong>arbeiter e<strong>in</strong>stellte, sollte <strong>sie</strong> gleich bei ihrer Ankunft<br />
erfahren.<br />
Laut Voranmeldung <strong>und</strong> Fahrplan sollte die neue Seelsorgshelfer<strong>in</strong> mit dem Flugzeug<br />
zwischen zwei<strong>und</strong>zwanzig <strong>und</strong> drei<strong>und</strong>zwanzig Uhr ankommen. An jenem<br />
Samstagabend jedoch hatte die Masch<strong>in</strong>e drei St<strong>und</strong>en Verspätung. So war die<br />
Reisende frühmorgens um 2 Uhr endlich <strong>in</strong> ihrem Quartier.<br />
Kaum die Koffer abgestellt, läutete das Telefon. Die Hausfrau kannte sich aus:<br />
„Gehen Sie h<strong>in</strong>”, rief <strong>sie</strong>, „es ist bestimmt der Herr Pater”! Er war es. Mehrmals<br />
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hatte er bereits angerufen, um Genaueres über die Ankunft zu erfahren. Jetzt<br />
wollte er gleich alles wissen von Flug <strong>und</strong> Fahrt <strong>und</strong> über das Befi nden der Reisenden.<br />
,Ja”, beendete er schließlich das Gespräch, „ich würde Sie ja gerne noch<br />
sehen – da es aber so spät ist, warten wir bis morgen (nicht bedenkend, dass dieser<br />
„morgige” Tag ja bereits angebrochen war). Um 10 Uhr bei der deutschen<br />
Messe <strong>in</strong> St. Michael sehen wir uns dann.”<br />
Auf dem Weg nach St. Michael kommt der Wagen, der die neue Seelsorgshelfer<strong>in</strong><br />
zur Messe br<strong>in</strong>gt, am Prov<strong>in</strong>zhaus der Pallott<strong>in</strong>er vorbei. Dort geht gerade Pater<br />
Kentenich vor dem Haus auf <strong>und</strong> ab. Natürlich fahren <strong>sie</strong> heran, um ihn zu begrüßen.<br />
Er begreift sofort, um wen es sich handelt, tritt mit schnellem Schritt an das<br />
gerade haltende Auto heran <strong>und</strong> hält – über das ganze Gesicht lachend – se<strong>in</strong>er<br />
neuen <strong>Mit</strong>arbeiter<strong>in</strong> die Türe zu. Ihre Versuche, <strong>sie</strong> dennoch zu öffnen, mißglücken.<br />
Schließlich gibt <strong>sie</strong> auf <strong>und</strong> verlegt sich aufs Bitten. <strong>Mit</strong> den Händen: Bitte,<br />
bitte …„Na, jetzt wollen wir <strong>sie</strong> herauslassen”, beendet Pater Kentenich die ‚Blockade‘.<br />
Sie steigt aus. Er <strong>sie</strong>ht <strong>sie</strong> <strong>in</strong> ihrer ganzen Größe <strong>und</strong> kommentiert sofort:<br />
„Viel zu groß gewachsen! Da muß ich aber noch kräftig schneiden!”<br />
E<strong>in</strong> Mann e<strong>in</strong> Wort, e<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong> Wörterbuch” war e<strong>in</strong>es der geflügelten Worte<br />
Pater Kentenichs, die er gerne im Scherz gebrauchte. Solche „Wörterbuch”-Erfahrungen<br />
machte er reichlich - allerd<strong>in</strong>gs nicht immer nur bei Frauen. Er war selbst<br />
„schuld” daran, denn lange Erzählungen, spontanes Hervorsprudeln von dem,<br />
was das <strong>Herz</strong> bewegte, waren selbstverständliche Reaktionen auf die Erfahrung,<br />
von ihm angenommen <strong>und</strong> verstanden zu werden. Es war klar: Der Herr Pater<br />
„mußte” an allen besonderen Erlebnissen Anteil nehmen. an ihm lag es dann allerd<strong>in</strong>gs<br />
auch wieder, die Flut e<strong>in</strong>zudämmen, den Hahn zu schließen. Er tat es<br />
auf se<strong>in</strong>e Weise.<br />
Beim Schönstatt-Heiligtum <strong>in</strong> Delafield <strong>in</strong> der Nähe von Milwaukee sollte im<br />
Mai 1965 e<strong>in</strong> Gedenkste<strong>in</strong> für Josef Engl<strong>in</strong>g, den im ersten Weltkrieg gefallenen<br />
<strong>Mit</strong>gründer Schönstatts, e<strong>in</strong>geweiht werden. Der Ste<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> riesiger F<strong>in</strong>dl<strong>in</strong>g aus<br />
dem Indianerreservat im Norden von Wiscons<strong>in</strong>, kam nicht rechtzeitig an. Was<br />
tun? Pater Kentenichs Seelsorgehelfer<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e engagierte Verehrer<strong>in</strong> Josef Engl<strong>in</strong>gs<br />
kommt auf den Gedanken, e<strong>in</strong>en vorläufi gen „Gedenkste<strong>in</strong>” aus Blumen<br />
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aufzustellen <strong>und</strong> mit ihm e<strong>in</strong>e Maifeier im Geiste Josef Engl<strong>in</strong>gs zu gestalten.<br />
Aber, woher die dafür notwendigen Blumen nehmen, die es zu der Zeit gar nicht<br />
gibt? Und wenn es <strong>sie</strong> gäbe, womit <strong>sie</strong> bezahlen? Wenigstens müßte man genügend<br />
Blumen <strong>haben</strong>, um daraus e<strong>in</strong> großes rotes Kreuz auf e<strong>in</strong>er Gedenkste<strong>in</strong>attrappe<br />
zu gestalten.<br />
Die Seelsorgshelfer<strong>in</strong> wendet sich an die Beerdigungs<strong>in</strong>stitute der Stadt, von denen<br />
<strong>sie</strong> schon mal nach größeren Begräbnissen übriggebliebene Blumen „geerbt”<br />
hatte. Heute aber hat <strong>sie</strong> fast alle Institute der Reihe nach angerufen – ohne Erfolg!<br />
In letzter M<strong>in</strong>ute – <strong>sie</strong> kommt bereits zu spät zur Büroarbeit – erhält <strong>sie</strong> e<strong>in</strong><br />
riesiges Blumenbukett mit roten Nelken. Sie zählt <strong>sie</strong>. Es s<strong>in</strong>d präzise 67 – e<strong>in</strong> besonderer<br />
Gr<strong>und</strong> zur Freude, denn Josef Engl<strong>in</strong>g wäre <strong>in</strong> diesem Jahr eben genau<br />
67 Jahre alt geworden!<br />
Noch völlig unter dem überwältigenden E<strong>in</strong>druck der 67 Nelken kommt <strong>sie</strong> ganz<br />
aufgeregt zu Pater Kentenich <strong>und</strong> sprudelt alle ihre Erlebnisse heraus, erzählt<br />
von ihrer Verlegenheit, ihren Anrufen, dass <strong>sie</strong> aufgeben wollte <strong>und</strong> <strong>sie</strong> nun diese<br />
Nelken gerettet <strong>haben</strong>, – redet wie e<strong>in</strong> Wasserfall <strong>und</strong> sprüht vor Begeisterung<br />
über die besondere Fügung der Pater Kentenich hört sich alles geduldig an. Er<br />
sche<strong>in</strong>t kaum Anteil zu nehmen an dem e<strong>in</strong>drucksvollen Bericht. Schließlich unterbricht<br />
die Seelsorgshelfer<strong>in</strong> sich selbst <strong>und</strong> ihren Wortschwall <strong>und</strong> erk<strong>und</strong>igt<br />
sich vorwurfsvoll: „Aber Herr Pater, <strong>in</strong>teres<strong>sie</strong>rt Sie denn das gar nicht? Gefällt<br />
Ihnen die Geschichte etwa nicht??” – „Doch, doch!” läßt sich Pater Kentenich<br />
jetzt gütig vernehmen. „Nur müssen Sie die ganze Geschichte jetzt noch e<strong>in</strong>mal<br />
erzählen.”<br />
Die Geschichte mit den <strong>sie</strong>ben<strong>und</strong>sechzig roten Nelken hatte e<strong>in</strong> Vorspiel, <strong>in</strong> der<br />
der vertraute <strong>und</strong> vertrauensvolle Umgang Pater Kentenichs mit der übernatürlichen<br />
Welt besonders bezeichnend zum Ausdruck kommt.<br />
Dass für se<strong>in</strong>e Seelsorgehelfer<strong>in</strong> – wie für viele <strong>in</strong> der Schönstattfamilie – Josef<br />
Engl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> guter Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Helfer <strong>in</strong> allen Nöten war, war Pater Kentenich bekannt.<br />
Nun fehlt ihm e<strong>in</strong>es Tages e<strong>in</strong> dr<strong>in</strong>gend benötigtes Schriftstück. Er sucht<br />
längere Zeit <strong>in</strong> den Stößen von Sachen auf se<strong>in</strong>em Schreibtisch, <strong>in</strong> den Schubfä-<br />
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chern um den Schreibtisch herum ... vergeblich. Schließlich schlägt er se<strong>in</strong>er Seelsorgshelfer<strong>in</strong><br />
vor, <strong>sie</strong> solle es Josef Engl<strong>in</strong>g sagen, damit das Schriftstück endlich<br />
gef<strong>und</strong>en werde. Sie aber me<strong>in</strong>t, das soll er doch selbst tun. Er habe doch auch<br />
gute Beziehungen zu ihm; Josef Engl<strong>in</strong>g sei immerh<strong>in</strong> se<strong>in</strong> geistlicher Sohn. Und<br />
außerdem wisse <strong>sie</strong> ja gar nicht, was er suche. – Ne<strong>in</strong>, erwidert er, er habe halt<br />
die Gottesmutter gern; <strong>sie</strong> h<strong>in</strong>gegen solle sich an Josef Engl<strong>in</strong>g wenden. Und mit<br />
der Bemerkung, „Ich such‘ die Mappe”, verläßt er das Büro, um im Schlafzimmer<br />
weiterzusuchen.<br />
Die Seelsorgshelfer<strong>in</strong> setzt sich hierauf <strong>in</strong> Pater Kentenichs Stuhl <strong>und</strong> „spielt” e<strong>in</strong>fach<br />
mal: ‚Josef‘, sagt <strong>sie</strong> im stillen, hier ist de<strong>in</strong>e Chance!‘ Sie zieht das Schubfach<br />
heraus, <strong>in</strong> dem Geschenksachen aufbewahrt werden <strong>und</strong> f<strong>in</strong>det obenauf<br />
e<strong>in</strong>e alte graue Mappe. Diese legt <strong>sie</strong> e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> Pater Kentenichs Stuhl <strong>und</strong> geht<br />
wieder zum Schreibtisch. Er kommt zurück: „Da ist <strong>sie</strong> ja, die Mappe!”<br />
Geme<strong>in</strong>sam beten <strong>sie</strong> jetzt zu Josef Engl<strong>in</strong>g <strong>und</strong> danken ihm. Nach der feierlichen<br />
Zeremonie fanden sich <strong>Mit</strong>glieder aus. der „Deutschen Geme<strong>in</strong>de” im nahe<br />
gelegenen Farmhaus zusammen, um das Geschehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em natürlichen <strong>und</strong><br />
fröhlichen Beisammense<strong>in</strong> noch etwas nachzufeiern; sehr zur Freude Pater Kentenichs.<br />
Er g<strong>in</strong>g dann auch bald daran, bei der Gestaltung selbst mitzumischen: Jeder,<br />
der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Nähe kam <strong>und</strong> den er dazu überreden konnte, mußte e<strong>in</strong>e Steg–<br />
reifrede halten.<br />
Das Ereignis der <strong>sie</strong>ben<strong>und</strong>sechzig Nelken fand auch e<strong>in</strong> Nachspiel, <strong>und</strong> zwar am<br />
folgenden Tag, dem 30. Mai 1965, an dem die Feier mit dem ‚Gedenkste<strong>in</strong> aus<br />
Blumen‘ stattfand.<br />
Schließlich fand sich ke<strong>in</strong>er mehr, <strong>und</strong> es gab auch <strong>in</strong> der Tat nicht mehr viel zu sagen.<br />
Da stand er selbst auf <strong>und</strong> hielt e<strong>in</strong>e Ansprache. Sie fand folgenden Schluß:<br />
„ …Das dritte Beispiel <strong>haben</strong> Sie hier (auf die Seelsorgshelfer<strong>in</strong> deutend). Und<br />
niemand im Lande hat so e<strong>in</strong>e tiefe Beziehung zu Josef Engl<strong>in</strong>g. Wenn <strong>sie</strong> etwas<br />
hat, das macht <strong>sie</strong> alles mit Josef Engl<strong>in</strong>g ab. Und der ist so dumm, der fällt immer<br />
darauf re<strong>in</strong>. Ich schlage vor, wir machen e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Probe aufs Exempel. Sagen<br />
Sie nur: Das oder das wünsche ich = (mir), vom Mond oder ich weiß nicht<br />
74
woher. Versuchen Sie es, ganz gleich was …” Die Seelsorgshelfer<strong>in</strong> beg<strong>in</strong>nt sich zu<br />
wehren <strong>und</strong> ruft dazwischen: „Herr Pater, br<strong>in</strong>gen Sie den Josef <strong>und</strong> mich nicht <strong>in</strong><br />
Verlegenheit!” Und dann erklärt <strong>sie</strong> kurz, wie <strong>sie</strong> es wirklich mache. Wenn <strong>sie</strong> etwas<br />
brauche, sage <strong>sie</strong> immer: „Josef, laß mich nicht im Stich!” Oder noch kürzer:<br />
„Seppl‘, blamier Dich nicht!”. Pater Kentenich: „Beispiel, Beispiel! Und jetzt muß<br />
<strong>sie</strong> die Geschichte von den <strong>sie</strong>ben<strong>und</strong>sechzig Nelken erzählen.”<br />
E<strong>in</strong>es der wichtigsten Worte <strong>in</strong> den USA ist „bus<strong>in</strong>ess”-Geschäft. Leicht erliegt<br />
man bei solcher E<strong>in</strong>stellung der Versuchung, auch menschliche Werte <strong>und</strong> Qualitäten<br />
mit solchen Kategorien zu messen. Man kennt die Gagen der Stars, taxiert<br />
den Wert e<strong>in</strong>es Sportlers nach dem Preis für Ankauf <strong>und</strong> Transfer. Zur Zeit des<br />
Exils von Pater Kentenich <strong>in</strong> Milwaukee wurde der dortige recht berühmte Baseball-Club<br />
(Spieler, Management <strong>und</strong> Name), trotz großen Protestes der Bevölkerung,<br />
von e<strong>in</strong>er anderen Großstadt der Staaten e<strong>in</strong>fach aufgekauft.<br />
Auch die amerikanischen Katholiken wissen sehr wohl, dass es <strong>in</strong> der Kirche Gottes<br />
nicht ohne „bus<strong>in</strong>ess” geht. Schließlich müssen alle Pfarreien <strong>und</strong> das ganze<br />
ausgebaute katholische Schulsystem vom Kl<strong>in</strong>gelbeutel <strong>und</strong> den festen Beträgen<br />
für kirchliche Dienste erhalten werden. Auf diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> wird man<br />
die spontane Reaktion Pater Kentenichs <strong>in</strong> der folgenden Geschichte verstehen<br />
können.<br />
E<strong>in</strong>e Marienschwester arbeitete <strong>in</strong> Milwaukee als Krankenschwester im Krankenhaus<br />
e<strong>in</strong>er anderen Schwesterngeme<strong>in</strong>schaft. Es konnte nicht ausbleiben, dass<br />
<strong>sie</strong> viel von ihrem Gründer sprach, der ja <strong>in</strong> derselben Stadt wohnte <strong>und</strong> auch von<br />
ihm schwärmte: e<strong>in</strong> weiser Mann, e<strong>in</strong> gütig-väterlicher Mensch, kurzum, e<strong>in</strong> Heiliger.<br />
Die Begeisterung der Schwester weckte das Interesse <strong>und</strong> auch die Neugier<br />
e<strong>in</strong>er Schwester der anderen Geme<strong>in</strong>schaft. E<strong>in</strong>es Tages beschließt <strong>sie</strong>, sich diesen<br />
Pater anzusehen. Sie ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> der Bluemo<strong>und</strong> Road, wo Pater Kentenich<br />
wohnt <strong>und</strong> kommt nach der Begrüßung direkt <strong>und</strong> unvermittelt mit ihrem Anliegen:<br />
„Father, ich möchte eigentlich gar nichts von Ihnen. Ich möchte Sie nur anschauen,<br />
denn diese Schwester sagt, Sie seien e<strong>in</strong> Heiliger.” Darauf Pater Kentenich<br />
prompt mit lautem Lachen: „Das kostet fünf Dollar!”<br />
75
Die e<strong>in</strong>fachen Menschen, die <strong>in</strong> Milwaukee nach St. Michael zum deutschen Gottesdienst<br />
kamen, wußten nicht, wer eigentlich Pater Kentenich war. Der Gedanke,<br />
der leutselige Mann könne der Gründer e<strong>in</strong>es weitverbreiteten Werkes <strong>und</strong><br />
mehrerer religiöser Geme<strong>in</strong>schaften se<strong>in</strong>, lag ihnen völlig fern. Dass er gar <strong>in</strong> Milwaukee<br />
im Exil lebte, schien geradezu unglaublich. Für <strong>sie</strong> war er e<strong>in</strong> alter, liebenswürdiger<br />
Pater, der sich auf se<strong>in</strong>en <strong>Leben</strong>sabend h<strong>in</strong> noch etwas um die versprengten<br />
<strong>und</strong> vom <strong>Leben</strong> arg geschüttelten Deutschen kümmerte.<br />
Pater Kentenich tat nichts, um e<strong>in</strong>en anderen E<strong>in</strong>druck zu vermitteln. Je weniger<br />
die Leute von se<strong>in</strong>er eigentlichen <strong>Leben</strong>sarbeit wußten, um so selbstverständlicher<br />
fanden <strong>sie</strong> zu ihm, um so überraschter waren <strong>sie</strong> dann allerd<strong>in</strong>gs immer wieder<br />
von der schelmischen Orig<strong>in</strong>alität e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> dem großen geistigen Horizont<br />
dieser würdigen Persönlichkeit andererseits.<br />
E<strong>in</strong> Oldenburger aus dieser „Deutschen Geme<strong>in</strong>de” besuchte Pater Kentenich<br />
e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Büro <strong>in</strong> der Bluemonnd Road. In vertraulichem Gespräch von<br />
Mann zu Mann unterhalten sich die beiden angeregt über die Vergangenheit,<br />
die Familie, die Arbeit, den Betrieb, die Gewerkschaft, das <strong>Leben</strong> überhaupt. Und<br />
auch die große Politik kommt natürlich zur Sprache. Am Ende steht der Mann auf,<br />
klopft Pater Kentenich auf die Schulter <strong>und</strong> verabschiedet sich treuherzig: „So,<br />
Pater Kentenich, jetzt wissen Sie mal wieder alles!”<br />
Pater Kentenich bittet ihn darauf, der Seelsorgshelfer<strong>in</strong> doch noch etwas zu erzählen<br />
<strong>und</strong> verschw<strong>in</strong>det für kurze Zeit. Zurückgekommen, greift er plötzlich <strong>in</strong><br />
die rechte Tasche se<strong>in</strong>er weiten schwarzen Soutane, zieht e<strong>in</strong>e lange Banane heraus<br />
<strong>und</strong> beg<strong>in</strong>nt <strong>sie</strong> zu schälen. Lachend hält er <strong>sie</strong> dem Mann h<strong>in</strong>. Als dieser <strong>sie</strong><br />
gegessen hat, br<strong>in</strong>gt Pater Kentenich aus se<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>ken Tasche noch e<strong>in</strong>e Banane<br />
zum Vorsche<strong>in</strong>, legt <strong>sie</strong> ihm <strong>in</strong> die Hand <strong>und</strong> me<strong>in</strong>t: „Die ist jetzt für Ihre Frau!”<br />
Dann entnimmt er wieder se<strong>in</strong>er rechten Tasche e<strong>in</strong>en Apfel, gibt ihn zu der Banane<br />
<strong>und</strong> bestimmt: „Der ist für Sie!” Und noch ehe der Mann sich bedanken<br />
kann, f<strong>in</strong>det Pater Kentenich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>ken Tasche auch noch e<strong>in</strong>en zweiten Apfel:<br />
„Und der ist für Ihre Frau.”<br />
76
Das Zimmer, das Pater Kentenich <strong>in</strong> den letzten Jahren se<strong>in</strong>es Aufenthaltes <strong>in</strong><br />
Milwaukee bewohnte, hatte ke<strong>in</strong>e besonders ruhige Lage. Die Bluemo<strong>und</strong> Road<br />
gleich um die Ecke war e<strong>in</strong>e der Ausfallstraßen der Stadt mit Verb<strong>in</strong>dung zum<br />
Hafen. Große Lastzüge brummten dort vorbei, so dass manchmal das Haus zitterte.<br />
Autos, die zum Innenhof der Schule e<strong>in</strong>bogen, gaben, gerade um die Ecke<br />
gekurvt, Gas vor dem Fenster se<strong>in</strong>es Arbeitszimmers. E<strong>in</strong>e größere Garage, wo<br />
die Autotüren zugeschlagen wurden, lag dem E<strong>in</strong>gang gegenüber. Dazu kam im<br />
Sommer der ständige Brummton der im Fenster e<strong>in</strong>gebauten Klimaanlage.<br />
All diese Geräusche empfand e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Besucher besonders störend. So stellte<br />
er schließlich Pater Kentenich die Frage, die ihm die eigene Erfahrung aufdrängte:<br />
„Herr Pater, stört Sie dieser Lärm nicht?” – „Oh ne<strong>in</strong>”, erwiderte Pater Kentenich,<br />
„ich freue mich daran. Und <strong>in</strong>dem ich mich freue, überw<strong>in</strong>de ich das Abwehrgefühl<br />
dagegen.”<br />
Pater Kentenich schloß mit der Erzählung, dass er e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zimmer wohnte,<br />
<strong>in</strong> dem der Wasserkran tropfte. Das ständige Tropfen habe ihn nervös gemacht<br />
… bis er anf<strong>in</strong>g, sich über das monotone „Klick, klick . . .” zu freuen.<br />
E<strong>in</strong>e Familie der „Deutschen Geme<strong>in</strong>de” <strong>in</strong> Milwaukee feierte Abschied von ihrem<br />
Sohn, der weit fort von zu Hause e<strong>in</strong>e besondere Schule besuchen sollte. Der Abschied<br />
fiel den Eltern wie dem Jungen nicht leicht. Pater Kentenich wußte darum<br />
<strong>und</strong> ließ sich – entgegen se<strong>in</strong>er gewöhnlichen Zurückhaltung bei E<strong>in</strong>ladungen zu<br />
Mahlzeiten – zum Abendessen e<strong>in</strong>laden. Er selbst hatte Besuch von drei jungen<br />
Priestern, die ebenfalls mitkommen durften.<br />
An e<strong>in</strong>er länglich, festlich geschmückten Tafel nahm man Platz; Pater Kentenich<br />
an e<strong>in</strong>em Kopfende, die drei Priester l<strong>in</strong>ks <strong>und</strong> rechts von ihm. Der Tisch war gedeckt<br />
mit allem, was die Hausfrau aufbieten konnte. Pater Kentenich nahm mehreres,<br />
aß aber wenig <strong>und</strong> unterhielt sich mit se<strong>in</strong>en Tischnachbarn <strong>und</strong> der Familie.<br />
Der Höhepunkt sollte zum Schluß kommen: Der Nachtisch, e<strong>in</strong>e ganz besondere<br />
Spezialität aus der Heimat der Hausfrau. Man sah ihm an, dass er süß war.<br />
Während die Gastgeber<strong>in</strong> stolz Name <strong>und</strong> Beschaffenheit des Gerichtes erklärte,<br />
kam <strong>sie</strong> auf Pater Kentenich zu. Er sollte e<strong>in</strong> besonders großes Stück davon er-<br />
77
halten.<br />
Pater Kentenichs l<strong>in</strong>ker Nachbar beobachtete die Situation gespannt <strong>und</strong> besorgt.<br />
Er kannte <strong>in</strong> etwa dessen <strong>Leben</strong>sgewohnheiten. ‚Was er jetzt wohl macht‘,<br />
dachte er. ‚Er ißt abends gewöhnlich nichts <strong>und</strong> wegen se<strong>in</strong>es Zuckers gleich zweimal<br />
nichts Süßes.‘<br />
Fre<strong>und</strong>lich nimmt Pater Kentenich das große Stück <strong>in</strong> Empfang, bedankt sich <strong>und</strong><br />
setzt se<strong>in</strong> Gespräch mit dem Nachbarn fort. Als die Hausfrau, den Nachtisch<br />
austeilend, e<strong>in</strong>ige Plätze weiter gegangen ist, fragt er – mitten im Gespräch –<br />
ganz ruhig se<strong>in</strong>en rechten Nachbarn: „Essen Sie solche Sachen gerne?” – „Oh ja”,<br />
me<strong>in</strong>t jener, „ganz besonders gern!” Darauf Pater Kentenich: „Helfen Sie mir!”<br />
E<strong>in</strong> Blick auf die gerade beschäftigte Hausfrau, <strong>und</strong> während er mit e<strong>in</strong>em kräftigen<br />
Druck se<strong>in</strong>er Gabel den allergrößten Teil der süßen Herrlichkeit abtrennt <strong>und</strong><br />
dem verblüfften Nachbarn auf den Teller schiebt, setzt er schon wieder ganz ruhig<br />
se<strong>in</strong> Gespräch fort <strong>und</strong> ißt langsam se<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Rest.<br />
Die Predigten, die Pater Kentenich jeden Sonntag <strong>in</strong> St. Michael <strong>in</strong> Milwaukee<br />
hielt, waren für se<strong>in</strong>e Zuhörer recht anspruchsvoll. E<strong>in</strong>mal wegen des Inhalts: Pater<br />
Kentenich war der Ansicht, man müsse der Gefahr wehren, die Zuhörer zufriedenzustellen,<br />
<strong>in</strong>dem man e<strong>in</strong>fach unterhaltsam predige. In e<strong>in</strong>er durch Existenzkampf<br />
<strong>und</strong> Konsum seelisch verflachenden Gesellschaft müßten die letzten<br />
Wahrheiten gekündet, das „nahrhafte Schwarzbrot des Glaubens” ausgeteilt werden.<br />
Dann aber auch wegen des Stils: Pater Kentenich sprach kraftvoll, aber doch<br />
auch distanziert, jede rhetorische Suggestion bewußt meidend. Zum dritten wegen<br />
der Länge. E<strong>in</strong>e Predigt von dreißig M<strong>in</strong>uten war eher als kurz zu bezeichnen;<br />
fünf<strong>und</strong>dreißig M<strong>in</strong>uten <strong>und</strong> etwas darüber konnte man jederzeit erwarten.<br />
Den Leuten gefiel das verständlicherweise nicht. Dass <strong>sie</strong> <strong>in</strong> der Predigt nicht alles<br />
verstanden, konnten <strong>sie</strong> ertragen. Aber dass <strong>sie</strong> so lang war, das regte e<strong>in</strong>ige<br />
Gemüter auf.<br />
Im kle<strong>in</strong>en Kirchenchor der „Deutschen Geme<strong>in</strong>de” machte sich e<strong>in</strong>mal der Ärger<br />
darüber Luft. In der Hitze der Diskussion me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong>er: „Glaubst Du, der Pa-<br />
78
ter könnte drei St<strong>und</strong>en an e<strong>in</strong>em Stück predigen, <strong>und</strong> der Stoff g<strong>in</strong>ge ihm immer<br />
noch nicht aus!”<br />
Drei St<strong>und</strong>en lang hat Pater Kentenich <strong>in</strong> Milwaukee nicht gepredigt. Aber dass<br />
ihm der Stoff nicht ausg<strong>in</strong>g, das sollte sich am Sonntag, den 9. Dezember 1962,<br />
zeigen. Die Predigt kündete – das Fest der Unbefleckten Empfängnis vom Vortag<br />
nachkostend – die Herrlichkeiten der Gottesmutter. Drei Worte des heiligen Bernhard<br />
gliederten die Predigt:<br />
1. Die Gottesmutter ist das Werk Gottes, das alle anderen endlos übersteigt.<br />
2. Auch zu ihrer Verherrlichung wurde die ganze Welt erschaffen.<br />
3. Gott wollte, dass wir ke<strong>in</strong>e Gnade erhalten ohne ihre <strong>Mit</strong>wirkung.<br />
Dann kam die Anwendung: Wir sollen selbst Mariengestalten werden.<br />
Er aber hob von neuem an: Leo XIII. sagt oft, die Gottesmutter ist e<strong>in</strong> W<strong>und</strong>er.<br />
E<strong>in</strong>e neue Gliederung kündigt sich an (nach fün<strong>und</strong>dreißig M<strong>in</strong>uten): Sie ist e<strong>in</strong><br />
W<strong>und</strong>er <strong>in</strong> der natürlichen Ordnung, Jungfrau <strong>und</strong> Mutter zugleich. Auch davon<br />
sollen wir e<strong>in</strong> Abbild se<strong>in</strong> (vierzig M<strong>in</strong>uten). Allerd<strong>in</strong>gs, „das s<strong>in</strong>d wohl Gedanken,<br />
die uns ungewohnt ersche<strong>in</strong>en...” <strong>Mit</strong>ten im Satz bricht der Prediger ab <strong>und</strong><br />
me<strong>in</strong>t: „Jetzt weiß ich nicht, wie spät es ist. Me<strong>in</strong>e Uhr steht…Wie spät ist es?”<br />
Aus den ersten Reihen erhält er Auskunft: „Zehn vor elf.” – „Du me<strong>in</strong>e Güte …<br />
me<strong>in</strong>e Uhr zeigt immer noch zehn nach zehn! Muß ich Schluß machen. Nos cum<br />
prole pia. <strong>und</strong> leise <strong>in</strong> sich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>lachend eilt er zum Altar, um die heilige Messe<br />
fortzusetzen.<br />
Für se<strong>in</strong>e langen Predigten hatte Pater Kentenich gute sachliche Gründe: Die<br />
moderne Seele wird durch kurze E<strong>in</strong>drücke, vor allem wenn <strong>sie</strong> sehr <strong>in</strong>tensiv s<strong>in</strong>d,<br />
eher aufgeputscht. In ihrer Freiheit bewahrt <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Tiefe geprägt wird <strong>sie</strong><br />
durch den stetigen Tropfen, den „Rieselregen” e<strong>in</strong>er glaubenstiefen Verkündigung.<br />
Jenseits aller sachlichen Begründungen aber war auch klar, dass die lange Predigt<br />
Pater Kentenich entsprach. Sie war unabhängig ob modern <strong>und</strong> beliebt oder<br />
79
nicht – se<strong>in</strong> persönlicher Stil.<br />
In den sechziger Jahren wurde Pater Kentenich berichtet, e<strong>in</strong>er der Schönstattpriester<br />
sei <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Land e<strong>in</strong> „Starprediger” geworden. Jede Woche predige er<br />
im Fernsehen. Pater Kentenich horcht auf: „So, das ist ja großartig. Wie lange<br />
predigt er denn!”- „Zehn M<strong>in</strong>uten!”- „Zehn M<strong>in</strong>uten nur?” – ,Ja, Herr Pater, wenn<br />
man bedenkt wieviel Leute dadurch erreicht werden, <strong>und</strong> wie <strong>in</strong>tensiv das Fernsehen<br />
wirkt, dann ist zehn M<strong>in</strong>uten Fernsehzeit sehr viel.” Pater Kentenich zögert<br />
<strong>und</strong> wiegt den Kopf. „Hm”, me<strong>in</strong>t er e schließlich, „das wäre nichts für mich.”<br />
Natürlich kam die Unzufriedenheit der Leute über die langen Predigten auch Pater<br />
Kentenich zu Ohren. Er hörte sich die Klagen an <strong>und</strong> antwortete darauf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
der folgenden Sonntagspredigten. Ungefähr so: Er wisse, dass er lange predige,<br />
aber er me<strong>in</strong>e, wir alle müßten uns um die Wahrheiten des Glaubens mühen,<br />
damit unser geschwächter Glaube wachse. Es sei wohl wahr, dass ke<strong>in</strong>er die ganze<br />
Predigt h<strong>in</strong>durch aufpassen könne. Aber das sei auch nicht notwendig. Er sage<br />
für viele Leute etwas. Jeder möge sich aussuchen, was ihn anspreche, <strong>und</strong> dabei<br />
betrachtend verweilen. Da nun aber solche Unzufriedenheit über die Länge der<br />
Predigt aufgekommen sei, werde er sich vornehmen, an den kommenden Sonntagen<br />
kürzer <strong>und</strong> mit mehr Beispielen zu predigen.<br />
An diesem Sonntag dauerte die Predigt dann auch tatsächlich nur zwanzig M<strong>in</strong>uten.<br />
Ebenso am darauffolgenden Sonntag. Danach wurden es aber bereits<br />
fünf<strong>und</strong>zwanzig M<strong>in</strong>uten, <strong>und</strong> nach e<strong>in</strong>em Monat hatte die Predigt wieder die<br />
gewohnte Länge.<br />
Pater Kentenich wußte selbst, dass er nie mit dem fertig wurde, was ihm auf der<br />
Seele brannte. Kaum e<strong>in</strong>mal konnte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schrift <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Kurs die angekündigte<br />
Gliederung zu Ende führen. Oft me<strong>in</strong>te er am Ende e<strong>in</strong>er Vortragsreihe,<br />
er sei jetzt gerade mit der E<strong>in</strong>leitung fertig. So fruchteten alle Vorsätze, kürzer<br />
zu reden, nichts. Deshalb kommentierte er solche Situationen mit schalkhaftem<br />
Blick. Man müsse unterscheiden zwischen Versprechen <strong>und</strong> Vorsatz: Versprechen<br />
müsse man halten. Bei Vorsätzen komme es vor allem auf den guten Willen<br />
an. Er verspreche ja nicht, kürzer zu reden, er nehme es sich nur vor. Das frei-<br />
80
leibende Angebot!<br />
Das hervorstechende Merkmal von Pater Kentenichs Lehr- <strong>und</strong> Predigttätigkeit<br />
war aber ke<strong>in</strong>eswegs die Länge der Reden; es war die Tiefe <strong>und</strong> <strong>Fülle</strong> der Gedanken<br />
<strong>und</strong> Wahrheiten <strong>in</strong> Anpassung an die Zeit- <strong>und</strong> Seelenlage se<strong>in</strong>er Zuhörer.<br />
Die Darlegung der Gedanken war dabei getragen von großer Zurückhaltung <strong>und</strong><br />
Ehrfurcht vor dem Gegenüber. Es war große <strong>in</strong>nere Bewegung, aber nichts Suggestives<br />
<strong>in</strong> der Rede Pater Kentenichs. Gerade deshalb wirkte <strong>sie</strong> auf manchen<br />
Hörer anfangs oft abstrakt <strong>und</strong> theoretisch. Aufmerksam zuzuhören war <strong>in</strong>folgedessen<br />
– im wahren S<strong>in</strong>ne des Wortes – anspruchsvoll. Die Seele wurde bewegt,<br />
auf e<strong>in</strong>en Höhenweg mitgenommen, mit tiefer Wahrheit angefüllt. Und – auch<br />
das – nicht die Langeweile ermüdete.<br />
Im Rahmen e<strong>in</strong>er längeren <strong>und</strong> <strong>in</strong>tensiven Schulung machte e<strong>in</strong> Theologe die<br />
entsprechende Erfahrung. In den ersten Vorträgen blühte er förmlich auf. Er h<strong>in</strong>g<br />
an jedem Wort . Pater Kentenichs. Nach e<strong>in</strong>igen Tagen wurde er aber müde <strong>und</strong><br />
schlief – trotz Gegenwehr – im Vortrag e<strong>in</strong>. Es pas<strong>sie</strong>rte ihm mehrere Male nache<strong>in</strong>ander.<br />
Da er <strong>in</strong> der ersten Reihe, also direkt vor Pater Kentenich saß, schämte<br />
er sich nicht wenig. Als er e<strong>in</strong>mal wieder e<strong>in</strong>geschlafen war, g<strong>in</strong>g er zu Pater Kentenich<br />
<strong>und</strong> wollte sich entschuldigen. Jener nahm . die Entschuldigung erst gar<br />
nicht an, sondern erklärte den Vorgang: Er habe sehr wohl registriert, wie der Zuhörer<br />
den ersten Vorträgen aufmerksam gefolgt sei. Jetzt sei se<strong>in</strong>e Seele voll; <strong>sie</strong><br />
könne nichts mehr aufnehmen. Deshalb solle er ruhig <strong>und</strong> fest schlafen. Da er <strong>in</strong><br />
der Atmosphäre des Kurses bleibe, werde er bald wieder wach werden <strong>und</strong> der<br />
Gedankenl<strong>in</strong>ie folgen können. Und so geschah es.<br />
Die Bewegungen Pater Kentenichs hatten e<strong>in</strong> ganz besonderes Gepräge. Bei näherer<br />
Beobachtung <strong>und</strong> tieferem Nachdenken entdeckte man, dass <strong>sie</strong> adäquater<br />
Ausdruck e<strong>in</strong>er spannungsreichen, aber zu <strong>in</strong>nerer Harmonie gelangten Persönlichkeit<br />
waren: Se<strong>in</strong>e Haltung war aufrecht, königlich, der Schritt fest <strong>und</strong> energisch;<br />
die Bewegung der Hände – <strong>und</strong> dabei manchmal vor allem die der F<strong>in</strong>ger<br />
– Zeichen e<strong>in</strong>er großen <strong>Leben</strong>digkeit <strong>und</strong> Spontaneität. Dabei war nichts künstlich<br />
<strong>und</strong> „gemacht”. Die Bewegung des Geistes dom<strong>in</strong>ierte. Sie benützte den körperlichen<br />
Ausdruck, ohne auf ihn besonders zu achten. Der Leib war, wie er selbst<br />
81
oft lehrte, „Spiegel der Seele”.<br />
Bei ke<strong>in</strong>er anderen Handlung konnte e<strong>in</strong> Beobachter das so sehr erleben wie bei<br />
der Feier der heiligen Messe: Die liturgischen Gesten vollzog Pater Kentenich so<br />
ruhig <strong>und</strong> doch wiederum so flüssig, so gleichbleibend <strong>und</strong> doch gar nicht mechanisch<br />
oder gar theatralisch, dass <strong>sie</strong> vor allem den E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er großen Sammlung<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es seelischen Geschehens vermittelten, dessen äußerer Gestus <strong>sie</strong><br />
waren.<br />
Dieses Verhältnis von Andacht <strong>und</strong> Ausdruck konnte zu Situationen führen, die<br />
äußerst komisch gewirkt hätten, wären nicht auch <strong>sie</strong> wieder auf Gr<strong>und</strong> des geistigen<br />
Geschehens be<strong>in</strong>ahe selbstverständlich gewesen.<br />
So vollzog sich die Opferung <strong>in</strong> dem sparsamen, aber ganz gesammelten Gestus<br />
der Darbr<strong>in</strong>gung von Brot <strong>und</strong> We<strong>in</strong>. Darauf folgte die kurze Verneigung mit dem<br />
zusammenfassenden Aufopferungsgebet <strong>und</strong> die Wendung nach rechts zur Händewaschung.<br />
Pater Kentenich hielt dem M<strong>in</strong>istranten dabei ganz kurz Daumen<br />
<strong>und</strong> Zeigef<strong>in</strong>ger beider Hände h<strong>in</strong> .<strong>und</strong> tupfte <strong>sie</strong> dann auf dem bereitgehaltenen<br />
Tüchle<strong>in</strong> nur ab. Verspätete sich nun der M<strong>in</strong>istrant mit Abstellen des We<strong>in</strong>kännchens<br />
<strong>und</strong> Bereitmachen der Geräte für die Händewaschung, dann konnte<br />
es geschehen, dass Pater Kentenich, ganz <strong>in</strong> Andacht versunken, zur rechten Altarseite<br />
kam, se<strong>in</strong>e Hände für das „Lavabo” ausstreckte, die Geste des Abtupfens<br />
e machte – <strong>in</strong> die Luft – <strong>und</strong> schon wieder <strong>in</strong> der <strong>Mit</strong>te des Altares <strong>und</strong> auf dem<br />
Weg zum „Orate fratres” war, bevor der M<strong>in</strong>istrant mit dem Wasser ankam.<br />
Man wird sich kaum w<strong>und</strong>ern, dass bei solcher Andacht <strong>und</strong> Sammlung im liturgischen<br />
Vollzug die Erneuerung der Liturgie <strong>und</strong> der Rubriken durch das Zweite<br />
Vatikanische Konzil bei Pater Kentenich zuerst eher störend wirkte. Bei ihm mußte<br />
die durch die Vere<strong>in</strong>fachung bed<strong>in</strong>gte Änderung der Formen – im Gegensatz<br />
zur Intention der Kirche <strong>und</strong> der Erfahrung der Gläubigen – zuerst e<strong>in</strong>mal vom eigentlichen<br />
Geschehen ablenken. Als deshalb die liturgische Reform <strong>in</strong> Kraft gesetzt<br />
wurde – es war während se<strong>in</strong>es Aufenthaltes <strong>in</strong> – Milwaukee – zeigte Pater<br />
Kentenich die Tendenz, weiterh<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Messe wie bisher <strong>in</strong> Late<strong>in</strong> zu feiern. Er<br />
erfuhr aber bald, dass jemand daran Anstoß nahm. Daraufh<strong>in</strong> entschloß er sich,<br />
82
am nächsten Tag – <strong>und</strong> von da an <strong>in</strong> den USA immer die Messe <strong>in</strong> Englisch zu<br />
feiern. (Erst 1965 nach se<strong>in</strong>er -Rückkehr nach Schönstatt kehrte er zu se<strong>in</strong>er alten<br />
Gewohnheit zurück, se<strong>in</strong>e Messe still <strong>und</strong> wie seit Jahren „e<strong>in</strong>gebetet” <strong>in</strong> Late<strong>in</strong><br />
zu feiern.)<br />
Man weiß von Heiligen – dem heiligen Thomas zum Beispiel -, dass es <strong>sie</strong> Anstrengung<br />
kostete, e<strong>in</strong>e Betrachtung zu beenden oder e<strong>in</strong> Gebet abzubrechen. So<br />
tief war die Versunkenheit <strong>in</strong> Gott. Solche Gegebenheiten im <strong>Leben</strong> heiliger Menschen<br />
kamen e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n, wenn man die erste Messe Pater Kentenichs auf<br />
Englisch miterlebte. Er schwitzte vor Anstrengung. Und dies sicherlich zum ger<strong>in</strong>gsten<br />
Teil wegen der englischen Sprache, <strong>in</strong> der er damals schon e<strong>in</strong>fache Ansprachen<br />
halten konnte, sondern weil ihm die Konzentration auf die neue Form<br />
die Sammlung raubte. Nur allmählich, über mehrere Tage h<strong>in</strong>weg, kehrte die gewohnte<br />
Andacht <strong>und</strong> Atmosphäre der täglichen Messe bei Pater Kentenich zurück.<br />
Von 1959 bis zu se<strong>in</strong>er Rückkehr nach Europa im September 1965 feierte Pater<br />
Kentenich jeden Sonntag um 10 Uhr e<strong>in</strong>e heilige Messe <strong>in</strong> der Unterkirche von<br />
St. Michael für die deutschsprachigen Katholiken <strong>in</strong> Milwaukee. Im Rahmen der<br />
liturgischen Erneuerung war e<strong>in</strong>es Sonntags der Altar von der Wand abgerückt<br />
<strong>und</strong> zum vorderen Rand der Altarstufe geschoben worden. Es sollte „versus populum”,<br />
dem Volk zu zelebriert werden. Pater Kentenich hatte dies noch nicht getan,<br />
da im Heiligtum bei Holy Cross, <strong>in</strong> dem er werktags die heilige Messe las,<br />
der Altar unverändert blieb.<br />
Die Umstellung schien Pater Kentenich ke<strong>in</strong>e Schwierigkeiten zu bereiten.<br />
Alle Richtungen schienen zu stimmen: Das Meßbuch war – vom Priester aus<br />
gesehen – immer noch l<strong>in</strong>ks, Wasser <strong>und</strong> We<strong>in</strong> weiterh<strong>in</strong> rechts.<br />
Und ob das Gesicht dem großen Altarkreuz oder jetzt dem Volk<br />
zugewandt war, konnte die heilige Handlung nicht stören.<br />
Lediglich, wenn man sich früher am Altar umgedreht hatte, um dem Volk e<strong>in</strong>en liturgischen<br />
Gruß zu geben, stimmte die Richtung nicht mehr. Das „Dom<strong>in</strong>us vobis-<br />
83
cum” vor der Oration gab es <strong>in</strong>zwischen nicht mehr. Die erste Möglichkeit, die bei<br />
der Verwirrung e<strong>in</strong>treten konnte, ergab das Ende der Opferung. Verwirrung trat<br />
zwar nicht e<strong>in</strong>, aber es geschah, dass Pater Kentenich nach dem Altarkuß sich<br />
andächtig vom Volk weg zur Wand drehte, das „Orate fratres… Betet Brüder …”<br />
sprach, erst jetzt merkte, was er getan hatte, lächelnd wieder zum Altar <strong>und</strong> zum<br />
Volk zurückkehrte, um aber dann völlig gesammelt das sakramentale Geschehen<br />
der Gegenwärtigsetzung Christi unter uns Menschen fortzusetzen.<br />
Über Pater Kentenichs Auffassung <strong>und</strong> Art der Sonntagspredigt wurde schon berichtet.<br />
Tatsache ist, dass für ihn jede Predigt e<strong>in</strong> ganz persönliches <strong>und</strong> lebendiges<br />
Glaubenszeugnis war. Er lebte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Predigt, <strong>und</strong> er wollte, wenn auch <strong>in</strong><br />
der Form äußerst vornehm <strong>und</strong> zurückhaltend, dass se<strong>in</strong>e Zuhörer ebenfalls ganz<br />
von den Wahrheiten des Glaubens erfüllt seien.<br />
Am Pf<strong>in</strong>gstsonntag, dem 6. Juni 1965, sprach Pater Kentenich über die E<strong>in</strong>wohnung<br />
des Heiligen Geistes <strong>in</strong> der menschlichen Seele <strong>und</strong> über das vielfältige<br />
Spiel der Liebe zwischen Gott <strong>und</strong> den Menschen, das daraus erwachsen soll, das<br />
die Rätsel des <strong>Leben</strong>s löst <strong>und</strong> uns von uns selbst befreit. Wuchtig klang es <strong>in</strong> der<br />
Predigt: „Nicht ich …Du, Du, Du!”<br />
Noch spürbar bewegt von se<strong>in</strong>er Verkündigung, kehrt Pater Kentenich von der<br />
Kanzel zum Altar zurück <strong>und</strong> betet mit dem Volk das Glaubensbekenntnis. Dann<br />
schlägt er, während die Gläubigen das Lied zur Opferung s<strong>in</strong>gen, mit dem Bändel<br />
das Meßbuch um – <strong>und</strong> breitet die Arme aus zur Oration …???<br />
Der M<strong>in</strong>istrant auf der Evangelienseite folgt den liturgischen Gesten <strong>und</strong> gew<strong>in</strong>nt<br />
den E<strong>in</strong>druck, dass Pater Kentenich, statt der Opferung bereits das Gabengebet<br />
spricht. Tatsächlich: nach weiterem Umblättern breitet der Zelebrant wieder die<br />
Arme aus: Präfation. Der M<strong>in</strong>istrant hofft, Pater Kentenich werde bei der Verneigung<br />
zum Sanctus merken, dass der Kelch ja noch zugedeckt ist. Aber ne<strong>in</strong>, weiteres<br />
Umblättern: Hochgebet. Jetzt steigt er die Altarstufen hoch, tritt an Pater<br />
Kentenichs Seite <strong>und</strong> flüstert: „Herr Pater, die Opferung!” Pater Kentenich stutzt,<br />
tut e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Ruck des Erkennens, deckt im nächsten Augenblick den Kelch<br />
ab, erhebt die Patene zur Opferung des Brotes <strong>und</strong> ist schon wieder ganz <strong>in</strong> der<br />
84
Andacht des eucharistischen Geschehens.<br />
Um die Zeit se<strong>in</strong>es Goldenen Priesterjubiläums, das er am 8. Juli 1960 feierte, besche<strong>in</strong>igte<br />
Pater Kentenich mehrfach schriftlich <strong>und</strong> mündlich, dass er e<strong>in</strong>en „körperlichen<br />
<strong>und</strong> geistigen Verjüngungsprozeß” durchmache. Die Beobachtung von<br />
außen bestätigte die Aussage. Obwohl der Gründer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en letzten Jahren unübersehbar<br />
e<strong>in</strong> Mann hohen Alters war, bewahrte er sich bis zu se<strong>in</strong>em Tode kurz<br />
vor Vollendung se<strong>in</strong>es 83. <strong>Leben</strong>sjahres e<strong>in</strong>e stramme <strong>und</strong> zuchtvolle Körperhaltung.<br />
Se<strong>in</strong> Geist war agil wie eh <strong>und</strong> je, die Arbeitskraft bis zur letzten Krankheit<br />
h<strong>in</strong> ungebrochen.<br />
Auf se<strong>in</strong>e Leistungsfähigkeit angesprochen, konnte er schon e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Bemerkung<br />
machen über den ehemaligen deutschen B<strong>und</strong>eskanzler Konrad Adenauer<br />
<strong>und</strong> dessen Schaffenskraft <strong>und</strong> „jugendliche” Beweglichkeit bis <strong>in</strong>s hohe Alter.<br />
<strong>Mit</strong> ihm fühlte er sich <strong>in</strong> dieser Beziehung offenbar verwandt.<br />
Se<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres <strong>Leben</strong>sgefühl war entsprechend. Wohl nie fühlte sich Pater Kentenich<br />
alt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gebrechlichen S<strong>in</strong>n. Das zeigte sich am deutlichsten, wenn er<br />
über das Alter anderer sprach.<br />
Nach 14jähriger Abwesenheit von Schönstatt kam es bei der Rückkehr, als er<br />
e<strong>in</strong>e noch um mehrere Jahre jüngere Ober<strong>in</strong> begrüßte, spontan von den Lippen<br />
des <strong>in</strong>zwischen Achtzigjährigen: „Alt geworden!”<br />
In den sechziger Jahren wurde ihm der Tod e<strong>in</strong>es früheren Schülers <strong>und</strong> späteren<br />
<strong>Mit</strong>arbeiters an der Zentrale <strong>in</strong> Schönstatt mitgeteilt. Er nahm sehr Anteil an<br />
dem Tod. Außer den näheren Umständen, unter denen der Verstorbene verschieden<br />
war, <strong>in</strong>teres<strong>sie</strong>rte ihn auch dessen Alter <strong>und</strong> das e<strong>in</strong>iger se<strong>in</strong>er ehemaligen<br />
<strong>Mit</strong>schüler. Als ihm gesagt wurde, der Pater sei mit 68 Jahren gestorben, me<strong>in</strong>te<br />
er versonnen: ,Ja, ja, unsere Patres s<strong>in</strong>d doch schon recht alt.”<br />
Die USA s<strong>in</strong>d das Land des „Baseball”, e<strong>in</strong> Schlagballspiel, <strong>in</strong> dem es darauf ankommt,<br />
mit e<strong>in</strong>em r<strong>und</strong>en Holz e<strong>in</strong>en harten Ball – meist etwas größer als e<strong>in</strong><br />
85
Tennisball – so weit wie möglich über e<strong>in</strong> Feld zu schlagen.<br />
Auf dem Rasen vor dem Heiligtum <strong>in</strong> Milwaukee geschah es schon e<strong>in</strong>mal, dass<br />
die älteren Jungen der Pfarrschule von „Holy Cross” Baseball spielten.<br />
An e<strong>in</strong>em Nachmittag im Mai 1963 sahen <strong>sie</strong> dabei den ihnen längst vertrauten<br />
alten Pater mit dem weißen Bart auf dem Gehsteig der an das Gr<strong>und</strong>stück<br />
angrenzenden Wiscons<strong>in</strong> Avenne auf <strong>und</strong> ab gehen. Er war <strong>in</strong> Begleitung e<strong>in</strong>es<br />
jüngeren Herrn; beide schienen ganz <strong>in</strong> e<strong>in</strong> tiefschürfendes Thema vertieft zu<br />
se<strong>in</strong>. Da trifft e<strong>in</strong>er der Jungen mit se<strong>in</strong>em Schläger den Ball genau <strong>in</strong> der <strong>Mit</strong>te.<br />
Hoch fliegt dieser Ball über das ganze Feld <strong>und</strong> schlägt wenige Meter vor der<br />
Straße <strong>und</strong> den beiden Spaziergängern auf. Zur großen Überraschung nicht nur<br />
der Jungen, sondern auch des ganz gesammelt zuhörenden Begleiters macht <strong>in</strong><br />
dem Augenblick der würdige Pater e<strong>in</strong> paar behende Schritte nach vorne, stoppt<br />
den Ball mit dem Fuß, bevor er auf die Straße rollt <strong>und</strong> kickt ihn vorsichtig den<br />
Jungen zurück. Dann setzt er ruhig <strong>und</strong> ganz gesammelt das kurz unterbrochene<br />
Gespräch fort.<br />
Ganz selten geschah es während se<strong>in</strong>er Zeit <strong>in</strong> Milwaukee, dass Pater Kentenich<br />
sich das Vergnügen e<strong>in</strong>es Ausflugs leistete. Dann geschah es, um jemand anderem<br />
e<strong>in</strong>e Freude zu machen. In den letzten Jahren der Milwaukeezeit führte e<strong>in</strong><br />
solcher Ausflug immer zu dem am Michigansee gelegenen Grant-Park. Man g<strong>in</strong>g<br />
auf den ausladenden <strong>und</strong> teils von Bäumen überschatteten Grünfl ächen spazieren.<br />
Zum Abschluß gab es e<strong>in</strong> „Picknick” an e<strong>in</strong>em der zahlreichen Picknickplätze<br />
auf dem Gelände.<br />
Unweigerlich führte der Spaziergang zum Ufer des weiten Sees. Pater Kentenich<br />
stand dann gerne ganz ruhig da <strong>und</strong> blickte über das Wasser…wäh-rend die jüngeren<br />
Begleiter nicht widerstehen konnten, mit demselben zu spielen: Sie sammelten<br />
flache Kieselste<strong>in</strong>e <strong>und</strong> warfen <strong>sie</strong> so flach, dass <strong>sie</strong> über das Wasser hüpften;<br />
je häufi ger, desto besser. „Pfl udern” nennt sich dieses K<strong>in</strong>derspiel <strong>in</strong> manchen<br />
Gegenden Deutschlands.<br />
Pater Kentenich schaute dem Treiben zu, bis e<strong>in</strong>er der Begleiter mit e<strong>in</strong>em schön<br />
flach gewaschenen Ste<strong>in</strong> auf ihn zukam <strong>und</strong> mit verschmitztem Gesicht me<strong>in</strong>te:<br />
86
„Den schenke ich Ihnen, Herr Pater.” – „Schön gesagt”, me<strong>in</strong>te jener, trat an den<br />
Rand des Wassers, holte kräftig aus <strong>und</strong> warf den Ste<strong>in</strong>. Gespannte Sek<strong>und</strong>en.<br />
Dann wandte er sich strahlend um. Die Geste der Hand <strong>und</strong> die Worte verkündeten<br />
den Erfolg: Dreimal war der Ste<strong>in</strong> gehüpft.<br />
Wenn man <strong>in</strong> den Evangelien liest, wie die Apostel stritten, wer denn wohl der<br />
größte sei <strong>und</strong> wer auf der rechten <strong>und</strong> l<strong>in</strong>ken Seite Jesu auf Thronen sitzen dürfe;<br />
wer betrachtet, wie <strong>sie</strong> andere Leute von Christus fernhielten (um ihn für sich<br />
zu <strong>haben</strong>), <strong>in</strong> dem mag schon e<strong>in</strong>mal die Frage aufsteigen, wie solche Menschlichkeiten<br />
<strong>in</strong> Gegenwart des Gottmenschen möglich waren.<br />
Erfahrungen mit e<strong>in</strong>em Gottesmann wie Pater Kentenich geben e<strong>in</strong>en Schlüssel<br />
zur Beantwortung e<strong>in</strong>er solchen Frage Die unvollkommenen Reaktionen der<br />
Apostel waren wohl nur möglich, weil <strong>sie</strong> sich von ihrem Meister ganz angenommen<br />
wußten, von ihm ganz angezogen, fasz<strong>in</strong>iert waren <strong>und</strong> deshalb ihren Gefühlen<br />
freien Lauf ließen. So kamen auch die unvollkommenen Stadien ihrer Liebe<br />
zum Ausdruck, <strong>in</strong> denen <strong>sie</strong> ihren Meister zuerst e<strong>in</strong>mal für sich <strong>haben</strong>, selbst<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Nähe se<strong>in</strong> wollten. Es war die Aufgabe Jesu, solche Anhänglichkeit<br />
nicht zu zerschneiden, sondern wachsen zu lassen <strong>und</strong> zu läutern.<br />
Dem Vorbild Jesu entsprechend war Pater Kentenich e<strong>in</strong> Meister dar<strong>in</strong>, die Liebeskraft<br />
e<strong>in</strong>es Menschen, ganz gleich, auf welcher Stufe, zu wecken, <strong>sie</strong> – oft mit<br />
großer Geduld – zu läutern <strong>und</strong> zu selbstloserer Liebe zu führen. Die folgende Geschichte<br />
illustriert den Vorgang.<br />
Zwei Priester besuchten Pater Kentenich <strong>in</strong> Milwaukee. E<strong>in</strong> Fräule<strong>in</strong> schlug ihm<br />
vor, mit se<strong>in</strong>en Besuchern an e<strong>in</strong>em schönen Nachmittag e<strong>in</strong>en Ausflug zum<br />
Grant-Park am Michigansee zu machen. Pater Kentenich nahm die E<strong>in</strong>ladung an.<br />
Die Gastgeber<strong>in</strong> stellte den Wagen zur Verfügung <strong>und</strong> bereitete e<strong>in</strong> großzügiges<br />
Picknick vor, aber: es sollten nur Pater Kentenich <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Besucher e<strong>in</strong>geladen<br />
se<strong>in</strong>, - sonst niemand.<br />
Hier nun setzte Pater Kentenich mit se<strong>in</strong>er Erziehung an. Aus eigener Initiative<br />
lädt er zum Ausflug vier weitere Bekannte e<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wagen mitfahren<br />
87
sollten. Und als er mit se<strong>in</strong>en Besuchern ersche<strong>in</strong>t, um abzufahren, steht auch der<br />
zweite Wagen bereit, um zu folgen. Das paßt nun dem Fräule<strong>in</strong> überhaupt nicht.<br />
Sie versucht, im Stadtverkehr den nachfolgenden Wagen abzuschütteln, <strong>in</strong>dem<br />
<strong>sie</strong> häufi g die Richtung wechselt <strong>und</strong> ungewohnte Straßen durchfährt. Aus dem<br />
Manöver wird e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Verfolgungsrennen. Schließlich verfährt <strong>sie</strong> sich <strong>in</strong> der<br />
Stadt derart, dass <strong>sie</strong> nicht mehr weiß, wo <strong>sie</strong> ist. Sie muß anhalten, den nachfolgenden<br />
Wagen nach Weg <strong>und</strong> Richtung fragen <strong>und</strong> ihm die Führung überlassen<br />
E<strong>in</strong>e bittere Pille.<br />
Pater Kentenich hat sich während der ganzen Fahrt angeregt mit den beiden<br />
Priestern unterhalten, als merke er nichts. Im Park angekommen, strahlt er neben<br />
se<strong>in</strong>er unerschütterlichen Ruhe die Freude über Landschaft <strong>und</strong> Natur, das<br />
Wetter <strong>und</strong> was sonst noch aus, so dass jegliche Spannung <strong>und</strong> aller Mißmut geradezu<br />
verfliegen muß. Und so sitzt man nach e<strong>in</strong>em Spaziergang am See entlang<br />
auch friedlich an e<strong>in</strong>em der Picknickplätze um e<strong>in</strong>en Tisch, plaudert angeregt<br />
<strong>und</strong> genießt die guten Sachen, die da alle aus den Vesperkörben hervorkommen.<br />
<strong>Mit</strong>ten im Schmaus <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Unterhaltung, als die Gastgeber<strong>in</strong> Pater Kentenich<br />
etwas anbietet, kommentiert er fre<strong>und</strong>lich, aber laut, dass alle es hören können:<br />
„Nicht wahr, so e<strong>in</strong> Ausflug ist doch viel schöner, wenn es mehr Leute s<strong>in</strong>d!”<br />
Pater Kentenich kennenzulernen, war selten nur e<strong>in</strong> äußerer Vorgang, der sich<br />
lediglich mit dem Verstand vollzog <strong>und</strong> bestenfalls im Gedächtnis haften blieb.<br />
Weil Pater Kentenich sich jedem öffnete, der auf ihn zukam, wurde auch das <strong>Herz</strong><br />
angesprochen. E<strong>in</strong>e tiefe B<strong>in</strong>dung gegenseitiger Zuneigung <strong>und</strong> Liebe entstand.<br />
E<strong>in</strong> Deutscher, der sich mehrere Wochen <strong>in</strong> Milwaukee aufhielt, erfuhr genau dieses.<br />
Die Begegnungen <strong>und</strong> Gespräche, die er mit dem Seelsorger der Deutschen<br />
hatte, weckten e<strong>in</strong> tiefes Echo <strong>in</strong> dem jungen Mann. Wie man ganz treffend sagt:<br />
Er h<strong>in</strong>g an Pater Kentenich.<br />
Um so unangenehmer wurde ihm der Gedanke an den Abschied. Schon <strong>in</strong> den Tagen<br />
davor drückte dieser Gedanke die Stimmung. Den Abschiedstag selbst <strong>und</strong><br />
88
das Abschiednehmen legte sich der Besucher deshalb sorgfältig zurecht. Er bat<br />
Pater Kentenich, zu e<strong>in</strong>er bestimmten St<strong>und</strong>e <strong>in</strong>s Heiligtum zu kommen, um geme<strong>in</strong>sam<br />
mit ihm zu beten. Dann sollte e<strong>in</strong> letztes Gespräch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Zimmer<br />
folgen, danach noch e<strong>in</strong> Foto vor der Fatimagrotte <strong>und</strong> schließlich der Abschied.<br />
Pater Kentenich erklärte sich mit allem e<strong>in</strong>verstanden.<br />
Wer aber am Abschiedstag zur abgemachten Zeit im Heiligtum nicht erschien,<br />
war Pater Kentenich: die erste Enttäuschung für den jungen Mann. Nach langem<br />
Warten fand er dann heraus, dass Pater Kentenich Besuch hatte von e<strong>in</strong>er<br />
Frau aus der Nachbarschaft (die er am liebsten an den Nordpol gezaubert hätte).<br />
Auch aus dem Gespräch wurde nichts, weil die Frau immer noch nicht gegangen<br />
war. Schließlich drang die Seelsorgshelfer<strong>in</strong> <strong>in</strong> das Arbeitszimmer e<strong>in</strong>, damit<br />
wenigstens die Aufnahme noch gemacht werden könnte Pater Kentenich kam,<br />
brachte aber auch dazu die Frau mit Die Frau mußte sogar noch mit auf das Foto.<br />
Danach drängte Pater Kentenich – unverständlicherweise – zur schnellen Abfahrt,<br />
obwohl noch etwas Zeit übrig gewesen wäre. Der Scheidende konnte ke<strong>in</strong>e<br />
M<strong>in</strong>ute mit ihm alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>, <strong>und</strong> ihm wurde schmerzlich klar, dass Pater Kentenich<br />
die Frau bewußt da behalten hatte. Der ganze Abschied war verdorben.<br />
E<strong>in</strong>ige Jahre später traf der Besucher von Milwaukee wieder mit Pater Kentenich<br />
zusammen. In e<strong>in</strong>em Gespräch, das an die damalige Begegnung anknüpfte, erwähnte<br />
er den Abschied <strong>und</strong> gestand se<strong>in</strong>e Enttäuschung <strong>und</strong> se<strong>in</strong> Unverständnis,<br />
warum Pater Kentenich die Frau denn nicht fortgeschick habe. „Wissen Sie”, –<br />
me<strong>in</strong>te jener, „das mache ich immer so, wenn der Abschied schwerfällt. Schon die<br />
Tage vorher habe ich gemerkt, wie schwer er Ihnen fallen würde. Und wenn man<br />
dann beim Abschied ständig beie<strong>in</strong>ander ist, wartet, bis die Zeit kommt <strong>und</strong> sich<br />
doch nicht trennen möchte, dann wird die Sache immer schlimmer. Ich habe die<br />
Zeit mit Ihnen verkürzt, damit Ihnen der Abschied leichter falle.”<br />
Pater Kentenich besaß e<strong>in</strong>e besondere Meisterschaft dar<strong>in</strong>, seelische Vorgänge<br />
verständlich zu machen <strong>und</strong> <strong>sie</strong> erzieherisch auszuwerten. So benutzte er für den<br />
89
seelischen Konflikt der Verdrängung gerne das Bild von den Fischle<strong>in</strong> im Teich:<br />
Die Seele sei wie e<strong>in</strong> Teich, der bei kaltem Wetter zufrieren kann. Für die Fischle<strong>in</strong><br />
im Teich – die unverdauten E<strong>in</strong>drücke des Unbewußten – stellt das e<strong>in</strong> besonderes<br />
Problem dar. Sie wollen an die Oberfl äche, können aber nicht. Deshalb stören<br />
<strong>sie</strong> das seelische Gleichgewicht.<br />
Im Jahre 1965 betreute Pater Kentenich e<strong>in</strong>e Person, die offenbar von mehreren<br />
Fischle<strong>in</strong> im zugefrorenen Teich geplagt war. Pater Kentenich hatte den seelischen<br />
Sachverhalt an Hand des Bildes erklärt <strong>und</strong> die Person ermutigt, die Fischle<strong>in</strong><br />
an die Oberfl äche kommen zu lassen. Immer, wenn dies geschähe, das heißt,<br />
wenn schmerzhafte <strong>und</strong> deshalb verdrängte Er<strong>in</strong>nerungen im Bewußtse<strong>in</strong> auftauchten,<br />
dürfe <strong>sie</strong> ihn anrufen <strong>und</strong> davon erzählen. Er werde die Fischle<strong>in</strong> „schlucken”;<br />
dann seien <strong>sie</strong> verschw<strong>und</strong>en.<br />
Im Juli 1965 kommt nun von Rom die Nachricht nach Milwaukee, dass die Schönstattpatres,<br />
die neue pars centralis et motrix des Werkes, gegründet werden könne:<br />
verständlicherweise e<strong>in</strong>e große Freude für Pater Kentenich. In der freudigen<br />
Atmosphäre über die gute Nachricht läutet das Telefon. Es meldet sich die oben<br />
erwähnte Person: Sie habe wieder e<strong>in</strong> Fischle<strong>in</strong> <strong>und</strong> wolle es ihm mitteilen. Ne<strong>in</strong>,<br />
me<strong>in</strong>t Pater Kentenich fre<strong>und</strong>lich, heute sei e<strong>in</strong> besonderer Tag, weil die neue Patresgeme<strong>in</strong>schaft<br />
gegründet werden dürfe. Sie solle sich herzlich mitfreuen. Das<br />
Fischle<strong>in</strong> habe Zeit bis morgen. Heute ke<strong>in</strong> Fisch!<br />
<strong>Mit</strong> e<strong>in</strong>em Besucher schickt sich Pater Kentenich an, e<strong>in</strong>en Spaziergang zu machen.<br />
Es war im Dezember 1964 <strong>in</strong> Milwaukee <strong>und</strong> bitterkalt. Beim Verlassen des<br />
Hauses stellt er fest, dass se<strong>in</strong> Besucher ke<strong>in</strong>e Kopfbedeckung hat. Alles Beteuern,<br />
dass dies nicht schlimm sei, hilft nichts. „Ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>”, me<strong>in</strong>t Pater Kentenich,<br />
„nehmen Sie me<strong>in</strong>en Hut. Es ist e<strong>in</strong> Prophetenhut. Außerdem habe ich kürzlich<br />
e<strong>in</strong>en neuen geschenkt bekommen für me<strong>in</strong>e baldige Heimkehr. Den muß ich sowieso<br />
e<strong>in</strong>mal ausprobieren.” Er geht zurück <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Zimmer <strong>und</strong> holt den neuen<br />
Hut, der genauso aus<strong>sie</strong>ht wie der alte.<br />
Also spazieren zwei Herren auf <strong>und</strong> ab, mit genau dem gleichen Hut auf dem<br />
Kopf – mit nur e<strong>in</strong>em Unterschied: Da der Kopf des Besuchers merklich kle<strong>in</strong>er ist<br />
90
als der Pater Kentenichs, steht ihm der Hut auf beiden Ohren auf.<br />
Die Ersche<strong>in</strong>ung Pater Kentenichs strahlte – obwohl von relativ kle<strong>in</strong>em Wuchs –<br />
Kraft <strong>und</strong> Würde aus bis <strong>in</strong>s hohe Alter. Der Blick war klar <strong>und</strong> gütig, die Haltung<br />
aufrecht, der Schritt fest.<br />
Gegen Ende se<strong>in</strong>es <strong>Leben</strong>s fiel die Kniebeuge schwer, aber jede g<strong>in</strong>g bis auf den<br />
Boden, <strong>und</strong> immer noch hatte <strong>sie</strong> etwas Federndes: Langsam g<strong>in</strong>g <strong>sie</strong> nach unten,<br />
<strong>und</strong> schnell richtete der Körper sich wieder auf.<br />
Es waren deshalb nur zum kle<strong>in</strong>eren Teil die zunehmenden körperlichen Gebrechen<br />
Pater Kentenichs, zum größeren Teil aber Verehrung <strong>und</strong> Zuneigung se<strong>in</strong>er<br />
Umgebung, die <strong>sie</strong> | veranlaßten, ihm bei verschiedenen Gelegenheiten beizuspr<strong>in</strong>gen<br />
<strong>und</strong> mit kle<strong>in</strong>en Diensten <strong>und</strong> guten Ratschlägen helfen zu wollen. Pater<br />
Kentenich lehnte solche Betreuung häufi g energisch ab: „Ich b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Großvater,<br />
sondern e<strong>in</strong> Vater”, konnte er <strong>in</strong> solchen Fällen sagen.<br />
Es waren deshalb nur zum kle<strong>in</strong>eren Teil die zunehmenden körperlichen Gebrechen<br />
Pater Kentenichs, zum größeren Teil aber Verehrung <strong>und</strong> Zuneigung se<strong>in</strong>er<br />
Umgebung, die <strong>sie</strong> veranlaßten, ihm bei verschiedenen Gelegenheiten beizuspr<strong>in</strong>gen<br />
<strong>und</strong> mit kle<strong>in</strong>en Diensten <strong>und</strong> guten Ratschlägen helfen zu wollen. Pater<br />
Kentenich lehnte solche Betreuung häufi g energisch ab: „Ich b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Großvater,<br />
sondern e<strong>in</strong> Vater”, konnte er <strong>in</strong> solchen Fällen sagen.<br />
Im Jahre 1965 – also <strong>in</strong> Pater Kentenichs achtzigstem <strong>Leben</strong>sjahr – machte die<br />
„Deutsche Geme<strong>in</strong>de” von St. Michael an e<strong>in</strong>em Maisonntag e<strong>in</strong>e Wallfahrt zum<br />
Heiligtum der Gottesmutter <strong>in</strong> Delafield, etwa 25 km außerhalb von Milwaukee.<br />
Nach der Maiandacht mit Ansprache gab es e<strong>in</strong>e Erfrischung im danebenliegenden<br />
Farmhaus. Vor Pater Kentenich standen auf dem Tisch mehrere Getränke.<br />
Um die anderen zum Zugreifen zu ermuntern, griff er selber nach e<strong>in</strong>er Flasche<br />
Bier <strong>und</strong> schickte sich an, <strong>sie</strong> zu öffnen. Die, Flasche war mit e<strong>in</strong>em Kronkorken<br />
verschlossen. Der Öffner packte nicht richtig <strong>und</strong> rutschte ab. Von l<strong>in</strong>ks<br />
<strong>und</strong> rechts wollten Hände zugreifen <strong>und</strong> helDer Öffner rutschte erneut ab <strong>und</strong><br />
die spitzen Kanten der Metallkappe ritzten sogar den Rücken des <strong>Mit</strong>telf<strong>in</strong>gers.<br />
91
Pater Kentenich würdigte die <strong>in</strong>zwischen unruhige <strong>und</strong> sich auf dem Sprung bef<strong>in</strong>dende<br />
Nachbarschaft ke<strong>in</strong>es Blickes. Er setzte erneut an <strong>und</strong> öffnete die Flasche.<br />
Er selbst. Alle<strong>in</strong>.<br />
<strong>Mit</strong> dem 13. September 1965 begann das Ende von Pater Kentenichs Exil. Am<br />
18. September flog er nach Rom. Am 22. Oktober wurden die kirchlichen Dekrete<br />
gegen ihn aufgehoben. Am I0. November feierte er mit den führenden Vertretern<br />
der Schönstattbewegung <strong>in</strong> Rom se<strong>in</strong>en achtzigsten Geburtstag. E<strong>in</strong> alter<br />
Mann, möchte man denken. Was wird er wohl überhaupt noch tun können? Hat<br />
ihn die Kirche etwa nur begnadigt, weil er <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong> bedauernswerter Greis<br />
geworden ist?<br />
So war es nicht. Und vor allem dachte die Schönstattfamilie nicht so. Sie wartete<br />
auf den Vater <strong>und</strong> Gründer mit Erlebnissen <strong>und</strong> Erfahrungen, die es zu berichten<br />
gab, mit Unternehmungen <strong>und</strong> Projekten, die überprüft werden mußten, mit<br />
Fragen, die e<strong>in</strong>e Antwort verlangten, <strong>und</strong> vor allem mit der Bereitschaft, sich erneut<br />
von ihm formen <strong>und</strong> führen zu lassen. E<strong>in</strong> Berg von Arbeit wartete. Würde<br />
er den Gründer erdrücken?<br />
Pater Kentenich dachte nicht so. Se<strong>in</strong> <strong>Leben</strong>sgefühl von ungebrochener Energie<br />
<strong>und</strong> geistiger Vitalität kam spontan zum Ausdruck auf e<strong>in</strong>em Spaziergang im geliebten<br />
Friedhof- direkt se<strong>in</strong>em Domizil <strong>in</strong> Milwaukee gegenüber – im Juni 1965.<br />
Möglichkeiten, dass das Exil zu Ende gehe, zeichneten sich damals ab. Die Gedanken<br />
eilten den Ereignissen voraus <strong>und</strong> beschäftigten sich schon damit, was<br />
dann wohl geschehen würde. Der Begleiter auf diesem Spaziergang me<strong>in</strong>te <strong>in</strong><br />
diesem Zusammenhang: „Herr Pater, wenn Sie nach Hause kommen, dann br<strong>in</strong>gt<br />
<strong>sie</strong> die Schönstattfamilie um.” Pater Kentenich schmunzelte h<strong>in</strong>tergründig vor<br />
sich h<strong>in</strong> <strong>und</strong> me<strong>in</strong>te: „Wir wollen sehen, wer wen umbr<strong>in</strong>gt!”<br />
Die St<strong>und</strong>en se<strong>in</strong>es <strong>Leben</strong>s, <strong>in</strong> denen Pater Kentenich geredet hat – immer stehend<br />
übrigens – können nicht gezählt werden. Sie dürften, ane<strong>in</strong>andergereiht,<br />
92
die Zeit von mehreren Jahren umfassen. Dabei ist die re<strong>in</strong>e Menge wiederum<br />
nur <strong>in</strong>direkt wichtig <strong>und</strong> bezeichnend. Sie ist Ausdruck e<strong>in</strong>es ungeheuren Dranges,<br />
die „Welt” mitzuteilen, die er <strong>in</strong> sich trug. Von allem, was <strong>in</strong> der Zeit geisterte,<br />
konnte er sich anregen lassen, alles konnte er analy<strong>sie</strong>ren <strong>und</strong> zu allem vom<br />
Standpunkt se<strong>in</strong>er religiösen Erkenntnis <strong>und</strong> Erfahrung aus Stellung nehmen.<br />
„Man hat den E<strong>in</strong>druck”, me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong>mal jemand, „dass er unter e<strong>in</strong>em ständigen<br />
Ansturm von Gedanken steht <strong>und</strong> dem Drang, sich mitzuteilen.” Er selbst scherzte<br />
schon e<strong>in</strong>mal: „Sie können mich mitten aus dem Schlaf reißen. Über die Gottesmutter<br />
kann ich Ihnen immer e<strong>in</strong>e Predigt halten.”<br />
E<strong>in</strong>e solche Eigenerfahrung wirft e<strong>in</strong> besonderes Licht darauf, wie die vierzehn<br />
verordneten Jahre der Trennung von se<strong>in</strong>em Werk auf ihn gewirkt <strong>haben</strong> müssen.<br />
Während der Wandel der Zeit fortschritt, das Schönstattwerk vielseitig angegriffen<br />
war, die Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil um neue Antworten rang,<br />
sollte er, kirchlichen Dokumenten zufolge, „im Schatten bleiben”.<br />
Pater Kentenich blieb im Schatten – wie selbstverständlich. Die ersten Jahre <strong>in</strong><br />
Milwaukee waren – äußerlich gesehen -recht e<strong>in</strong>sam. <strong>Mit</strong> der Zeit ergaben sich<br />
seelsorgliche Kontakte. Ab 1959 kam die Betreuung der Deutschen mit sonntäglicher<br />
Messe <strong>und</strong> Predigt dazu. Für e<strong>in</strong>en Mann, der <strong>in</strong> das Zeitgeschehen e<strong>in</strong>greifen<br />
wollte – <strong>und</strong> me<strong>in</strong>te, dass er es auf Gr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Sendung sollte – <strong>und</strong> dies<br />
jahrzehntelang im typischen Dialog des Redners mit Menschen der verschiedensten<br />
Prägung getan hatte, war solches Tun recht spärlich. Pater Kentenich schrieb<br />
<strong>in</strong> Milwaukee für se<strong>in</strong> Archiv <strong>und</strong> schwieg.<br />
Dass dieses Schweigen auch als leidvolle Spannung erlebt wurde, erhellt blitzartig<br />
e<strong>in</strong>e Bemerkung, die er e<strong>in</strong>em Besucher gegenüber im Jahre 1962 fallen<br />
ließ.<br />
Das Konzil war <strong>in</strong> vollem Gange. Die verschiedensten Berichte flatterten auf den<br />
Schreibtisch Pater Kentenichs. Er verfolgte <strong>sie</strong> aufmerksam. Besonders <strong>in</strong>teres<strong>sie</strong>rte<br />
ihn die Diskussion des Konzils um das damalige Schema 13: Die Kirche <strong>und</strong><br />
ihr Verhältnis zur modernen Welt. Hier sah er das Angebot Schönstatts. Als nun<br />
aus den Berichten Stimmen von Konzilsvätern zu ihm drangen, die me<strong>in</strong>ten, das<br />
93
Konzil könne zu dieser Frage noch ke<strong>in</strong>e gültige Stellung nehmen, weil <strong>sie</strong> <strong>in</strong> vielen<br />
Bereichen noch zu wenig Erfahrung habe, erzählte Pater Kentenich dem Besucher<br />
von diesen Stimmen <strong>und</strong> me<strong>in</strong>te dann nebenbei: „Sollen <strong>sie</strong> mich halt holen!”<br />
(P.S.: Wenige Tage nach Pater Kentenichs Ankunft <strong>in</strong> Rom im September 1965<br />
besuchte ihn e<strong>in</strong> argent<strong>in</strong>ischer Bischof, um ihn um Rat zu bitten <strong>in</strong> der Frage<br />
des priesterlichen Zölibates. Pater Kentenich hielt ihm aus dem Stand e<strong>in</strong>en Vortrag<br />
von zwei St<strong>und</strong>en, der den Bischof tief bee<strong>in</strong>druckt wieder <strong>in</strong>s Konzil zurückgehen<br />
ließ.)<br />
Auch die Vertreter der Schönstattfamilie, die sich am Ende der Exilszeit des Gründers<br />
im November 1965 <strong>in</strong> Rom e<strong>in</strong>gef<strong>und</strong>en hatten, bekamen gleich etwas davon<br />
zu spüren, was sich <strong>in</strong> der Seole Pater Kentenichs während der vergangenen<br />
Jahre „im Schatten” angestaut hatte. Von der Zeit se<strong>in</strong>es achtzigsten Geburtstages<br />
an – damals am 16. November gefeiert -, hielt er ihnen über mehrere Wochen<br />
täglich zwei Vorträge; ohne unmittelbare Vorbereitung; praktisch immer über die<br />
angesetzte Zeit von zwei St<strong>und</strong>en h<strong>in</strong>aus.<br />
Am 23. Dezember 1965 erhielt Pater Kentenich ganz überraschend die Erlaubnis,<br />
nach Deutschland zurückzukehren. Man bekam gerade noch am Heiligen Abend<br />
Plätze <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Flugzeug nach Frankfurt. Das „W<strong>und</strong>er der Heiligen Nacht”, das<br />
heißt die Heimkehr des Gründers, für die die Schönstattfamilie genau unter diesem<br />
Motto gebetet <strong>und</strong> geopfert hatte, war buchstäblich wahr geworden. Alle,<br />
die von der überraschenden Heimkehr erfuhren, waren unterwegs. Zuerst nach<br />
Frankfurt zum Flughafen, dann <strong>in</strong> langer Wagenkolonne nach Schönstatt.<br />
Der <strong>in</strong> Schönstatt zusammenströmenden Menge wurde von M<strong>und</strong> zu M<strong>und</strong> die<br />
Parole durchgegeben: Wir gehen gleich <strong>in</strong> die Aula der Marienschule zu e<strong>in</strong>em<br />
feierlichen Empfang Nur die Spitzen der Verbände sollten vor dem Empfang Pater<br />
Kentenich zum Urheiligtum zu e<strong>in</strong>er kurzen Statio begleiten.<br />
Pater Kentenichs E<strong>in</strong>zug zum Urheiligtum, dem heiligen Ort der Gründung se<strong>in</strong>es<br />
Werkes, se<strong>in</strong> stilles Gebet an der Kommunionbank waren ergreifende Augen-<br />
94
licke von unaussprechlicher Dichte. Die kle<strong>in</strong>e Beterschar im Heiligtum war mit<br />
ihm gee<strong>in</strong>t <strong>in</strong> der Atmosphäre e<strong>in</strong>es stillen <strong>und</strong> überwältigenden Dankes.<br />
Vielleicht auch deshalb geschah es, dass sich Pater Kentenich nach den M<strong>in</strong>uten<br />
des stillen Betens an der Kommunionbank umdrehte <strong>und</strong> anhob: „Eigentlich sollte<br />
ich hier nicht sprechen, aber: ‚Die Katze läßt das Mausen nicht‘ …” Und damit<br />
begann die erste Ansprache nach vierzehnjähriger Trennung.<br />
Dass man Pater Kentenich bevorzugt zu behandeln suchte <strong>und</strong> ihm e<strong>in</strong>e solche<br />
Behandlung auch gönnte, entsprach e<strong>in</strong>fach der Ausstrahlung se<strong>in</strong>er Persönlichkeit<br />
<strong>und</strong> der Anhänglichkeit se<strong>in</strong>er Gefolgschaft. Er war der e<strong>in</strong>zige, der sich dagegen<br />
wehrte, <strong>und</strong> zwar aus <strong>in</strong>nerer Abneigung gegen jegliche Privilegien, aus<br />
„sozialer E<strong>in</strong>stellung”, wie er selbst es nannte.<br />
Der junge Joseph Kentenich lehnte es deshalb im Gymnasium ab, als e<strong>in</strong>ziger aus<br />
der Klasse Klavierunterricht zu erhalten.<br />
Nach dem zweiten Weltkrieg, als Fleisch <strong>und</strong> Wurst sehr teuer waren, nahm der<br />
herumreisende Gründer bevorzugt Käse <strong>und</strong> ließ es geschehen, dass sich das Gerücht<br />
verbreitete, er habe ihn besonders gerne; was natürlich überall dazu führte,<br />
dass er bevorzugt Käse vorgesetzt bekam.<br />
Als im November 1965 die Exilszeit Pater Kentenichs zu Ende g<strong>in</strong>g <strong>und</strong> er sich <strong>in</strong><br />
Rom frei bewegen konnte, strömten dort aus allen Himmelsrichtungen Vertreter<br />
des Schönstattwerkes zusammen, um mit dem Gründer die vergangene Zeit auszuwerten<br />
<strong>und</strong> sich für die Zukunft zu rüsten. Das damalige Generalat der Ma<strong>in</strong>zer<br />
Vorsehungsschwestern, schön am Rand der Heiligen Stadt gelegen, bot Unterkunft<br />
für alle – <strong>und</strong> wurde zu e<strong>in</strong>em wahren Taubenschlag. E<strong>in</strong>e der ständig<br />
anwesenden Marienschwestern hatte es übernommen, für den laufend wechselnden<br />
Strom der Besucher Verb<strong>in</strong>dungsoffi zier zur Hausleitung <strong>und</strong> besorgte „Hausfrau”<br />
für die Gäste zu se<strong>in</strong>.<br />
In dieser hausfraulichen Sorge bemerkte <strong>sie</strong> auch, dass Pater Kentenich beim<br />
Frühstück etwas umständlich mit dem dortigen Brot – dem für die südlichen Län-<br />
95
der typischen Weißbrot mit knuspriger R<strong>in</strong>de <strong>und</strong> weichem Innerem umg<strong>in</strong>g. Vielleicht<br />
hatte der Herr Pater lieber e<strong>in</strong> Schwarzbrot nach deutscher Art, dachte <strong>sie</strong>.<br />
Und fand auch e<strong>in</strong> Geschäft, wo man solches kaufen konnte.<br />
Am nächsten Morgen fand Pater Kentenich Schwarzbrot bei se<strong>in</strong>em Gedeck. Er<br />
ließ se<strong>in</strong>en Blick über die Tafel schweifen, an der er mit den Priestern saß, bemerkte,<br />
dass nur bei ihm das Schwarzbrot stand <strong>und</strong> berührte es nicht.<br />
Am anderen Morgen war Schwarzbrot gedeckt für den ganzen Tisch, an dem die<br />
Priester saßen. Dazu hatte die besorgte Schwester den neben Pater Kentenich<br />
sitzenden Priester aufgefordert, dem Herrn Pater ja das Schwarzbrot anzubieten<br />
<strong>und</strong> selbst tüchtig davon zu nehmen.<br />
So gab es also Schwarzbrot für e<strong>in</strong>ige Tage ... bis Pater Kentenich während des<br />
Frühstücks e<strong>in</strong>mal ans Telefon gerufen wurde <strong>und</strong> auf dem Weg dorth<strong>in</strong> an Tischen<br />
vorbeikam, an denen die anderen Gäste ihr Mahl e<strong>in</strong>nahmen. Er kam zurück<br />
<strong>und</strong> aß ke<strong>in</strong> Schwarzbrot mehr. Auch nicht am folgenden Tag. Das fre<strong>und</strong>liche<br />
Angebot der Priester lehnte er kommentarlos ab.<br />
Als sich se<strong>in</strong> Verhalten am nächsten Tag zu wiederholen drohte, kam schließlich<br />
die „Hausfrau” selbst <strong>und</strong> erk<strong>und</strong>igte sich, warum er denn ke<strong>in</strong> Schwarzbrot mehr<br />
esse. <strong>Mit</strong> der leichtesten Wendung des Körpers nur stellte Pater Kentenich die<br />
Gegenfrage: „Haben die anderen Gäste auch Schwarzbrot?” Und beendete se<strong>in</strong><br />
Frühstück ohne Schwarzbrot.<br />
Die Folge war, dass am nächsten Tag auf allen Tischen Schwarzbrot stand.<br />
Wenn Pater Kentenich früh am Morgen e<strong>in</strong>en Telefonanruf. erhielt, konnte eigentlich<br />
nur jemand aus der Schönstattfamilie am anderen Ende der Leitung se<strong>in</strong>. Er<br />
wußte es. Und so geschah es mehrfach, dass er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er guten Morgenlaune den<br />
Hörer abnahm <strong>und</strong> den Anrufer, wer immer es war, sofort begrüßte mit:<br />
„Nachdem gestärkt ich darf erwachen, um neu die Liebe zu entfachen, laß, Vater,<br />
frohen Gruß dir sagen mit allen, die de<strong>in</strong> Schönstatt tragen …“,<br />
96
dem Anfang des Morgengebetes aus „Himmelwärts”, den Gebeten, die er selbst<br />
im Konzentrationslager verfaßt hatte. „Passen Sie nur auf, Herr Pater, me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong>es<br />
Tages daraufh<strong>in</strong> jemand. „Sie fallen mit dieser Begrüßung noch e<strong>in</strong>mal here<strong>in</strong>.”<br />
Nach e<strong>in</strong>iger Zeit traf Pater Kentenich die nämliche Person‘ <strong>und</strong> raunte ihr sofort<br />
<strong>und</strong> ohne Begrüßung zu: „Heute b<strong>in</strong> ich! wirklich here<strong>in</strong>gefallen. Das Fräule<strong>in</strong><br />
von der Post war am Apparat, um e<strong>in</strong> Telegramm durchzugeben …”<br />
Während der letzten Jahre se<strong>in</strong>es <strong>Leben</strong>s gab es e<strong>in</strong>e ständige Bewegung von<br />
Menschen um Pater Kentenich. Es war schwer, zu ihm zu gelangen. Immer war<br />
er „belagert”. Viele, die ihn wenigstens e<strong>in</strong>mal sehen oder kurz begrüßen wollten,<br />
hielten sich deshalb dort auf, wo <strong>sie</strong> annahmen, dass er vorbeikomme. Andere<br />
beteten ausgiebig <strong>in</strong> dem Heiligtum oder <strong>in</strong> der Kapelle des Hauses, <strong>in</strong> dem<br />
er sich gerade aufhielt, <strong>in</strong> der Hoffnung, dass er vielleicht dort ersche<strong>in</strong>e. Natürlich<br />
war man immer darauf aus, ihn bei e<strong>in</strong>er Predigt oder e<strong>in</strong>em gelegentlichen<br />
Vortrag zu hören.<br />
Pater Kentenich hatte se<strong>in</strong>e Messe im Heiligtum zelebriert. E<strong>in</strong>er Gruppe Studenten<br />
hatte er zugesagt, ihnen danach dort e<strong>in</strong>en Vortrag zu halten. Es sollte e<strong>in</strong>e<br />
„geschlossene Veranstaltung” se<strong>in</strong>.<br />
Während Pater Kentenich se<strong>in</strong>e Gewänder <strong>in</strong> der Sakristei ablegte, waren die<br />
meisten Teilnehmer der Messe auch schon ihres Weges gegangen. <strong>Mit</strong> den Studenten<br />
blieben aber e<strong>in</strong>ige Schwestern im Heiligtum, wohl <strong>in</strong> der Ahnung, dass<br />
sich hier bald etwas tun müsse.<br />
Pater Kentenich kommt von der Sakristei zurück, geht nach vorne an den Altar,<br />
macht e<strong>in</strong>e langsame Kniebeuge <strong>und</strong> wendet sich um das unmißverständliche<br />
Zeichen, dass er reden will. Die Studenten setzen sich. Die Schwestern bewegen<br />
sich nicht <strong>und</strong> harren gespannt der D<strong>in</strong>ge, die da kommen sollen. Pater Kentenich<br />
schmunzelt <strong>und</strong> beg<strong>in</strong>nt auch tatsächlich ganz langsam:<br />
„Die Schwestern s<strong>in</strong>d herzlich e<strong>in</strong>geladen”... macht e<strong>in</strong>e kurze Pause <strong>und</strong> fährt –<br />
97
während es sich die ersten bereits auf den Bänken bequem machen – fort: ”das<br />
Kapellchen zu verlassen.“<br />
E<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Gelächter verabschiedet die Schwestern bei ihrer flüchtigfrommen<br />
Kniebeuge <strong>und</strong> begleitet <strong>sie</strong> h<strong>in</strong>aus.<br />
In der Erziehungsschule Pater Kentenichs standen Offenheit <strong>und</strong> Realismus hoch<br />
im Kurs. Schwierigkeiten wurden nicht umgangen, sondern angepackt. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
– <strong>und</strong> dar<strong>in</strong> zeigte sich der hausbackene Realismus – nur <strong>in</strong> dem Maß, <strong>in</strong> dem dies<br />
Reife <strong>und</strong> seelische Kraft der Beteiligten zuließ.<br />
Diese Gr<strong>und</strong>e<strong>in</strong>stellung fand ausgiebige Anwendung im gegenseitigen Verhältnis<br />
der Geschlechter. Die naturgegebene Spannung zwischen Mann <strong>und</strong> Frau war<br />
e<strong>in</strong> zentrales Thema <strong>in</strong> Pater Kentenichs Erziehungsarbeit. Sie sollte positiv gesehen<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong>tegriert werden, gleich ob <strong>in</strong> der ledigen, jungfräulichen oder verheirateten<br />
<strong>Leben</strong>sform. Andererseits war Pater Kentenich realistisch genug, um zu<br />
wissen <strong>und</strong> auch zu sagen, dass die Polarität zwischen den Geschlechtern gefährlich<br />
se<strong>in</strong> kann <strong>und</strong> dass der Umgang der Geschlechter mite<strong>in</strong>ander durch Pr<strong>in</strong>zipien<br />
<strong>und</strong> Formen geregelt <strong>und</strong> geschützt werden muß. Zu diesen Pr<strong>in</strong>zipien gehörte<br />
auch, dass nach se<strong>in</strong>em Willen – <strong>und</strong> auch dem Beispiel se<strong>in</strong>es eigenen <strong>Leben</strong>s<br />
entsprechend – ke<strong>in</strong> Priester unter 35 Jahren hauptamtlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gliederung<br />
der „Frauensäule” arbeiten sollte. Natürlich waren solche Pr<strong>in</strong>zipien ke<strong>in</strong>e absoluten<br />
Gesetze, sondern aus der Erfahrung gewonnene Richtl<strong>in</strong>ien, die deshalb –<br />
auf Gr<strong>und</strong> anders gearteter Erfahrung – auch wieder modifi ziert werden konnten.<br />
Wegen großen Personalmangels dachten die Obern der Schönstattpatres daran,<br />
e<strong>in</strong>en jungen Pater <strong>in</strong> der weiblichen Jugend e<strong>in</strong>zusetzen; 27 Jahre alt, etwas<br />
über e<strong>in</strong> Jahr geweiht. Der Pater kannte die Pr<strong>in</strong>zipien Pater Kentenichs <strong>und</strong><br />
wehrte sich: Er sei höchstens bereit, den Auftrag anzunehmen, wenn der Gründer<br />
selbst ihm dazu die Erlaubnis gäbe.<br />
E<strong>in</strong> mehrtägiger Besuch bei Pater Kentenich kam zustande. Gleich am ersten Tag<br />
brachte der Pater se<strong>in</strong>e Bedenken vor. „Warten wir”, antwortete Pater Kentenich,<br />
„ich werde Ihnen später me<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung sagen.”<br />
98
Der Tag des Abschieds kam. E<strong>in</strong> letztes Gespräch war vere<strong>in</strong>bart. Nachdem der<br />
Pater gebeichtet hatte, mußte er jetzt noch auf jeden Fall erfahren, was Pater<br />
Kentenich über se<strong>in</strong>e geplante Ernennung zum Standesseelsorger der weiblichen<br />
Jugend dachte. Gerade setzt er das Gespräch darüber an, als das Telefon läutet.<br />
Pater Kentenich nimmt ab, hört kurz zu <strong>und</strong> sagt dann ganz langsam <strong>und</strong> mit tiefer<br />
Stimme <strong>in</strong> den Hörer: „Ne<strong>in</strong>, Sie können jetzt nicht zu mir kommen. Sie s<strong>in</strong>d<br />
sehr schön, <strong>und</strong> hier ist e<strong>in</strong> ganz junger Priester. Das ist gefährlich. Ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>,<br />
jetzt können Sie nicht kommen.” Dann legt er lachend den Hörer auf <strong>und</strong> fährt<br />
fort: „Ich gebe Ihnen die Erlaubnis, bei den Mädchen zu arbeiten <strong>und</strong> bitte Sie<br />
nur um e<strong>in</strong>s: Sie müssen <strong>in</strong> allen Maria großziehen. Das soll Ihr Programm se<strong>in</strong>.”<br />
Die Arbeitslast der drei Jahre nach Pater Kentenichs Exil war übermenschlich. Er<br />
mußte ab <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>e Pause e<strong>in</strong>legen; sei es, um sich mit größerer Ruhe auf e<strong>in</strong>e<br />
bedeutende Tagung vorzubereiten – wie zum Beispiel die traditionellen Oktoberwochen<br />
für H<strong>und</strong>erte von Delegierten des gesamten Schönstattwerkes – oder<br />
auch um sich – meist durch e<strong>in</strong>e Erkältung veranlaßt – etwas zu erholen. Um sich<br />
des ständigen Andrangs Rat- <strong>und</strong> Hilfesuchender zu erwehren, zog sich Pater<br />
Kentenich zu diesem Zweck gerne <strong>in</strong> das Haus der Schönstattpriester, die „Marienau”,<br />
zurück. Der Rektor des Hauses hatte dann – von Pater Kentenich ausdrücklich<br />
so gewünscht – die <strong>und</strong>ankbare Aufgabe, den Gründer abzuschirmen <strong>und</strong> für<br />
se<strong>in</strong>e Ruhe zu sorgen.<br />
Während e<strong>in</strong>er dieser Aufenthalte <strong>in</strong> der Marienau fand dort e<strong>in</strong>e Tagung für Lehrer<br />
statt. Der Pater, der <strong>sie</strong> hielt, traf sich e<strong>in</strong>es Nachmittags mit e<strong>in</strong>em <strong>Mit</strong>bruder<br />
zu e<strong>in</strong>er Besprechung. Sie beschlossen, im Garten der Marienau etwas auf<br />
<strong>und</strong> ab zu gehen.<br />
Als <strong>sie</strong> so dah<strong>in</strong>spazierten, kam der Rektor auf <strong>sie</strong> zu <strong>und</strong> machte <strong>sie</strong> darauf aufmerksam,<br />
dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ecke des Gartens an e<strong>in</strong>em sonnigen Plätzchen Pater Kentenich<br />
sitze. Er habe ihn dorth<strong>in</strong> gebracht, damit er sich <strong>in</strong> der warmen Sonne etwas<br />
ausruhe. Er bitte, dies zu berücksichtigen <strong>und</strong> den Herrn Pater nicht zu stören.<br />
„Selbstverständlich”, versprachen die beiden <strong>und</strong> setzten ihren Spaziergang<br />
fort, mit Bedacht die Ecke des Gartens meidend, <strong>in</strong> der Pater Kentenich saß.<br />
99
Der Rektor war aber noch nicht lange verschw<strong>und</strong>en, als sich Pater Kentenich erhob<br />
<strong>und</strong> auf die beiden zug<strong>in</strong>g. „Er ist weg”, me<strong>in</strong>te er verschmitzt, „jetzt können<br />
Sie mir von der Lehrertagung erzählen.” Um das Gespräch so kurz wie möglich<br />
zu halten, gab der Tagungsleiter nur e<strong>in</strong>e pauschale Auskunft. „Sie müssen mir<br />
mehr erzählen”, <strong>in</strong>sistierte Pater Kentenich, „auch die E<strong>in</strong>zelheiten”. Aus dem Gespräch<br />
wurde e<strong>in</strong> detaillierter <strong>und</strong> erschöpfender Bericht. Dann war Pater Kentenich<br />
zufrieden.<br />
Als die beiden Patres wieder <strong>in</strong>s Haus zurückg<strong>in</strong>gen, wurde auch Pater Kentenich<br />
vom Rektor, dem der lange „Stehkonvent” nicht entgangen war, abgeholt <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong> Zimmer zurückgebracht. Im Flur begegnen <strong>sie</strong> e<strong>in</strong>em der beiden Patres. Der<br />
Rektor kann e<strong>in</strong>e tadelnde Bemerkung darüber nicht unterlassen, dass die beiden<br />
nun doch den Herrn Pater gestört hätten. Schon holt der so Angeklagte Luft,<br />
um sich zu rechtfertigen, nämlich, dass ja gar nicht <strong>sie</strong> das Gespräch angefangen<br />
hätten, sondern Pater Kentenich selbst.. als dieser ihn im Vorbeigehen ernst<br />
anschaut, ihm den Briefumschlag, den er gerade <strong>in</strong> der Hand hat, vor den M<strong>und</strong><br />
hält <strong>und</strong> ihn so zur schweigenden H<strong>in</strong>nahme des Tadels br<strong>in</strong>gt.<br />
Die notwendigen Ruhe- <strong>und</strong> Erholungspausen e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> der Andrang der<br />
Gefolgschaft wie eigenes Interesse andererseits brachten Pater Kentenich nicht<br />
nur <strong>in</strong> „Konflikt” mit sich selbst, sondern auch die vorhergehende Geschichte deutete<br />
es schon an – mit dem Rektor der „Marienau”, der ihn „beschützen” sollte.<br />
Im September 1967 rüstete sich e<strong>in</strong>e Gruppe der Mädchenjugend aus der Marienschule<br />
<strong>in</strong> Schönstatt zu e<strong>in</strong>er Fahrt nach Frankreich zur Gedächtnis<strong>und</strong> Todesstätte<br />
Josef Engl<strong>in</strong>gs. Der große Wunsch der Mädchen war, von Pater Kentenich<br />
durch e<strong>in</strong>e Ansprache zu dieser Fahrt ausgesandt zu werden Jener aber weilte zu<br />
der Zeit <strong>in</strong> der „Marienau”.<br />
E<strong>in</strong>em Pater gel<strong>in</strong>gt es, das Anliegen der Mädchen an Pater Kentenich heranzubr<strong>in</strong>gen.<br />
Dieser überlegt h<strong>in</strong> <strong>und</strong> her: Er soll sich ja hier zurückziehen, möchte<br />
aber doch gerne …<strong>und</strong> außerdem paßt der Rektor auf…<strong>und</strong> er will ihn auch nicht<br />
kränken <strong>in</strong> der Aufgabe, die er ihm selbst zugedacht hat. Schließlich wird folgende<br />
Lösung geboren: Der „Marienau” gegenüber befand sich damals die Hauska-<br />
100
pelle der Schönstätter Marienbrüder. Zu e<strong>in</strong>er unauffälligen Zeit am Abend sollten<br />
die Mädchen sich dort e<strong>in</strong>f<strong>in</strong>den. Er, Pater Kentenich, komme dann schnell<br />
über den Weg, um ihnen die Ansprache zu halten. Als der vermittelnde Pater an<br />
dem Abend <strong>in</strong> die „Marienau” kommt, um Pater Kentenich abzuholen, ist jener etwas<br />
ungehalten. Es soll doch e<strong>in</strong>e „heimliche” Ansprache se<strong>in</strong>.<br />
Die Ansprache fand statt. Unbemerkt konnte Pater Kentenich zum anderen Haus<br />
h<strong>in</strong>überwechseln <strong>und</strong> ebenso, nach e<strong>in</strong>er halben St<strong>und</strong>e, wieder zurück.<br />
E<strong>in</strong>e beliebte Form, sich mit Pater Kentenich zu verb<strong>in</strong>den, war, ihm den eigenen<br />
Rosenkranz zu geben, damit er e<strong>in</strong>e Zeitlang mit ihm bete.<br />
In e<strong>in</strong>em älteren Herrn <strong>in</strong> Milwaukee, der Pater Kentenich öfters vor se<strong>in</strong>er Wohnung<br />
auf <strong>und</strong> ab gehen sah, die Arme verschränkt <strong>und</strong> den Rosenkranz <strong>in</strong> der<br />
Hand, entstand genau dieser Wunsch, den er für sehr orig<strong>in</strong>ell hielt. Er näherte<br />
sich Pater Kentenich mit der Frage, ob er denn nicht für e<strong>in</strong>ige Tage an se<strong>in</strong>em<br />
Rosenkranz beten wolle. Er wolle ihn sich dann <strong>in</strong> ungefähr e<strong>in</strong>er Woche wieder<br />
abholen. Gerne <strong>und</strong> wie selbstverständlich nahm Pater Kentenich den Rosenkranz<br />
<strong>in</strong> Empfang <strong>und</strong> fuhr – gleich den neuen benützend – <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Gebet<br />
fort.<br />
Nach e<strong>in</strong>er Woche erschien der Herr wieder zur selben Abendzeit, fand Pater Kentenich<br />
betend <strong>und</strong> erk<strong>und</strong>igte sich, ob er denn jetzt se<strong>in</strong>en Rosenkranz wieder <strong>haben</strong><br />
könnte. Pater Kentenich blickte erstaunt auf. Offensichtlich er<strong>in</strong>nerte er sich<br />
nicht mehr an den ersten Tausch. Und tatsächlich, der Rosenkranz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Hand<br />
war e<strong>in</strong> fremder. Pater Kentenich hatte <strong>in</strong>zwischen wieder getauscht – <strong>und</strong> wußte<br />
wieder nicht mehr, mit wem.<br />
Wenn e<strong>in</strong> Mensch vital liebt, wacht se<strong>in</strong>e ganze Spontanität auf. Er „muß” se<strong>in</strong>e<br />
Zuneigung zeigen. Und das gilt nicht nur für Liebespärchen. Es ist e<strong>in</strong> Gesetz der<br />
Liebe <strong>in</strong> sich. Man beobachtet es nur außerhalb der romantischen Liebe viel seltener.<br />
Dann aber kann es die orig<strong>in</strong>ellsten Formen annehmen.<br />
E<strong>in</strong>e Familie suchte e<strong>in</strong> passendes <strong>und</strong> preiswertes Haus, um es zu kaufen. Pater<br />
Kentenich wußte um diese Suche. Durch ihn erfuhr auch e<strong>in</strong>e ältere Frau davon;<br />
101
e<strong>in</strong>e ganz e<strong>in</strong>fache alle<strong>in</strong>stehende Putz- <strong>und</strong> Küchenfrau, die <strong>in</strong> Pater Kentenich<br />
vielleicht zum ersten Mal <strong>in</strong> ihrem <strong>Leben</strong> e<strong>in</strong>en Menschen gef<strong>und</strong>en hatte, der ihr<br />
zuhörte, <strong>sie</strong> schätzte, sich für erwiesene Dienste dankbar zeigte, von dem <strong>sie</strong> sich<br />
verstanden <strong>und</strong> angenommen erlebte.<br />
Die Frau kannte e<strong>in</strong> eventuell geeignetes Haus, das zum Verkauf angeboten war.<br />
Gerne war <strong>sie</strong> bereit, e<strong>in</strong>e Besichtigung zu ermöglichen. E<strong>in</strong> Zeitpunkt wurde verabredet,<br />
wann man sich bei der betreffenden Adresse des Hauses treffen wollte.<br />
Die Familie hatte nun, ohne Wissen der Frau, auch Pate Kentenich zur Hausbesichtigung<br />
e<strong>in</strong>geladen, <strong>und</strong> er hatte ausnahmsweise, angenommen. Als der Wagen<br />
mit de <strong>in</strong>teres<strong>sie</strong>rten Käufern vorfuhr, war die Frau schon im Haus. In ihrer<br />
lebhaften Art begrüßte <strong>sie</strong> die ersten, die e<strong>in</strong>traten <strong>und</strong> begann, ihnen sofort das<br />
Haus zu zeigen. Pater Kentenich war etwas zögernd nachgekommen. Immer zu<br />
e<strong>in</strong>en Schalk aufgelegt, stellte er sich zuerst h<strong>in</strong>ter die Tür <strong>und</strong> dann <strong>in</strong> den Sichtschatten<br />
der Frau <strong>und</strong> hörte sich schweigend <strong>und</strong> schmunzelnd ihre eifrigen Erklärungen<br />
an. Bei e<strong>in</strong>er plötzlichen Wendung ... <strong>sie</strong>ht <strong>sie</strong> ihn, macht e<strong>in</strong>en Luftsprung<br />
<strong>und</strong> eilt – mit dem Ausruf „Herr Pater!” auf ihn zu. Er nimm die freudige<br />
Begrüßung an <strong>und</strong> me<strong>in</strong>t dann: „Wenn alt Scheunen brennen, brennen <strong>sie</strong> lichterloh!”<br />
Pater Kentenich erhielt laufend Geschenke verschiedenster Art: Meßgewänder,<br />
Kelche, Mäntel, Süßigkeiten, Rosenkränze … Sie waren die bunte Antwort von<br />
Menschen, die sich von ihm beschenkt erlebten <strong>und</strong> das spontane Bedürfnis hatten,<br />
wiederzuschenken.<br />
Gewöhnlich blieben die Geschenke nicht lange bei ihm. Sowie er <strong>sie</strong> erhielt,<br />
schenkte er <strong>sie</strong> weiter. Den Schenkenden, sofern <strong>sie</strong> davon erfuhren, war das oft<br />
nicht recht. Das Geschenk war Symbol ihrer Zuneigung zum geistlichen Vater; der<br />
Wunsch, dass es bei ihm bleibe, mehr als verständlich.<br />
Das wußte <strong>und</strong> empfand Pater Kentenich. Dennoch gab er fast alle Geschenke<br />
weiter. Und das war wiederum e<strong>in</strong> Symbol: die Zuneigung zu ihm sollte<br />
weitergeleitet werden.<br />
102
Sie sollte zu Gott führen <strong>und</strong> andere Menschen e<strong>in</strong>schließen.<br />
Zu e<strong>in</strong>em Festtag der Gottesmutter brachte ihm e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e <strong>Mit</strong>arbeiter<strong>in</strong> besonders<br />
schöne Blumen <strong>und</strong> stellte <strong>sie</strong> auf se<strong>in</strong>en Schreibtisch. Pater Kentenich freute<br />
sich ehrlich darüber <strong>und</strong> nahm <strong>sie</strong> dankbar an; für die Gottesmutter <strong>und</strong> auch<br />
für sich. Bald jedoch klopft es. E<strong>in</strong>e Frau betritt das Zimmer, nur um e<strong>in</strong>e kurze<br />
Sache zu erledigen, wie <strong>sie</strong> sagt. Die <strong>Mit</strong>arbeiter<strong>in</strong>, mit Pater Kentenichs Gewohnheit<br />
vertraut, ahnt die mögliche Gefahr <strong>und</strong> flüstert ihm zu, während die Frau<br />
noch das Zimmer betritt: „Bitte, nicht die Blumen!” Dieser aber steht auf, nimmt<br />
– nach Begrüßung <strong>und</strong> Erledigung der Angelegenheit – seelenruhig die Blumen<br />
von se<strong>in</strong>em Schreibtisch <strong>und</strong> schenkt <strong>sie</strong> der nichts ahnenden <strong>und</strong> hocherfreuten<br />
Frau. Der betroffenen <strong>Mit</strong>arbeiter<strong>in</strong> aber raunt er zu: „Ätsch!”<br />
Die vielen Geschenke, die Pater Kentenich bekam, gab er nicht e<strong>in</strong>fach willkürlich<br />
fort. Er war sich der symbolischen Bedeutung von Geschenken sehr bewußt.<br />
Schenkte er weiter, dann auch, um durch die äußere Gabe e<strong>in</strong>en geistigen Wert<br />
zu vermitteln, etwas von sich selbst zu geben, e<strong>in</strong>e Botschaft damit zu verb<strong>in</strong>den.<br />
Am 24. Dezember 1965 war Pater Kentenich nach 14jährigem Exil wieder nach<br />
Schönstatt zurückgekehrt. Se<strong>in</strong> Aufenthalt <strong>in</strong> Deutschland war zunächst auf wenige<br />
Tage begrenzt. Am 13. Januar 1966 mußte er nach Rom zurükkfliegen. E<strong>in</strong>ige<br />
Schönstätter <strong>in</strong> München erfuhren per Telefon, dass Pater Kentenich <strong>und</strong> der<br />
mit ihm reisende Weihbischof von Münster dort das Flugzeug wechseln mußten,<br />
also auf dem Flughafen Riem e<strong>in</strong>en kurzen Aufenthalt hatten. In e<strong>in</strong>igen Autos<br />
fanden <strong>sie</strong> sich zur gegebenen Zeit auf dem Flugplatz e<strong>in</strong>. Zu ihrer großen Überraschung<br />
<strong>und</strong> Freude war es auch ohne Schwierigkeiten möglich, sich mit den beiden<br />
Reisenden <strong>in</strong> dem rot ausgelegten feierlichen Empfangssaal des Flughafengebäudes<br />
zu treffen.<br />
Kaum jemand hatte den Gründer seit se<strong>in</strong>er 14jährigen Abwesenheit gesehen.<br />
Obwohl also der Flug nach Rom g<strong>in</strong>g, stand die Begegnung dennoch viel mehr<br />
unter dem E<strong>in</strong>druck von Heimkehr <strong>und</strong> Begrüßung.<br />
103
Unter den Anwesenden befand sich e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Gruppe von Marienschwestern.<br />
Sie erwarteten Pater Kentenich mit e<strong>in</strong>em Strauß roter Rosen. Auch zwei der<br />
„Frauen von Schönstatt”, des anderen weiblichen Verbandes im Schönstattwerk,<br />
hatten sich e<strong>in</strong>gef<strong>und</strong>en. Sie überreichten Pater Kentenich zur Begrüßung e<strong>in</strong>e<br />
Schachtel Pral<strong>in</strong>en. Pater Kentenich nahm die große Pral<strong>in</strong>enschachtel entgegen,<br />
ließ sich damit fotografieren, plauderte e<strong>in</strong> wenig <strong>und</strong> schenkte <strong>sie</strong> dann den Marienschwestern<br />
weiter. Dann nahm er den Rosenstrauß <strong>und</strong> reichte ihn den „Frauen<br />
von Schönstatt”.<br />
„Gehen Sie heim . . .”<br />
Von heiligmäßigen Menschen weiß man, dass <strong>sie</strong> manchmal <strong>in</strong> Situationen reagieren<br />
oder anderen e<strong>in</strong> Wort sagen, das e<strong>in</strong>e tiefere Bedeutung hat <strong>und</strong> mehr<br />
E<strong>in</strong>sicht verrät, als re<strong>in</strong> natürlich erklärbar ist. Gläubiger S<strong>in</strong>n erkennt bei solchem<br />
Verhalten das besondere Wirken des Heiligen Geistes <strong>in</strong> solchen Menschen.<br />
Auch Pater Kentenich begleitete der Ruf – aus vielfältiger Erfahrung genährt<br />
– <strong>in</strong> den Seelen lesen <strong>und</strong> geradezu prophetische Antworten geben zu können.<br />
Hier e<strong>in</strong> Beispiel für viele.<br />
„E<strong>in</strong>e Frau kam mit ihrer Familie nicht mehr zurecht. Ihre Situation war zum Verzweifeln.<br />
Schon hatte <strong>sie</strong> <strong>in</strong> ihrem <strong>Herz</strong>en beschlossen, die Familie zu verlassen<br />
<strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>em anderen Mann zu gehen. Die Kirche, den Glauben, alles wollte <strong>sie</strong><br />
an den Nagel hängen.<br />
Die E<strong>in</strong>ladung nach Schönstatt schien der Frau die richtige Ausrede zu se<strong>in</strong>. Sie<br />
wollte h<strong>in</strong>fahren <strong>und</strong> von dort aus nicht mehr nach Hause zurück, sondern den<br />
anderen <strong>Leben</strong>sweg antreten.<br />
Ohne eigentlich Lust zu <strong>haben</strong>, nahm <strong>sie</strong> mit e<strong>in</strong> paar anderen Frauen den Weg<br />
auf den Berg Schönstatt, um e<strong>in</strong>en Vortrag zu besuchen. Die Gruppe kam gerade<br />
an, als Pater Kentenich aus dem Auto stieg. Wie erstaunt war diese Frau, als<br />
dieser geradewegs auf <strong>sie</strong> zukam <strong>und</strong> ihr die Hand reichte. Er fragte <strong>sie</strong>, woher<br />
<strong>sie</strong> komme, <strong>und</strong> sagte dann, ohne weiteres von ihr zu wissen: „Von hier aus gehen<br />
104
Sie wieder heim!” Die Frau sah ihn groß an, fragend, so dass er vielleicht me<strong>in</strong>te,<br />
<strong>sie</strong> habe nicht richtig verstanden. Jedenfalls wiederholte er nachdrücklich: „Und<br />
dann gehen Sie wieder heim.”<br />
Das Wort ‚heim‘ – so erzählte die Frau – habe er dabei so betont, dass <strong>sie</strong> im selben<br />
Augenblick wußte, was <strong>sie</strong> zu tun hatte. Sie gab ihre Pläne auf <strong>und</strong> fuhr zu<br />
ihrer Familie zurück.<br />
Wie sehr Pater Kentenich das <strong>Leben</strong> der ihm Anvertrauten mitsollzog <strong>und</strong> erzieherisch<br />
begleitete, überraschte diese immer wieder von neuem.<br />
„Herr Pater, ich muß unbed<strong>in</strong>gt beichten”, me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong>mal jemand, der bei ihm <strong>in</strong><br />
Seelenführung war. „Es ist so lange her, dass ich selber schon nicht mehr weiß,<br />
wann ich das letzte Mal gebeichtet habe.”<br />
„Das kann ich Ihnen genau sagen. Es war vor sechs Wochen <strong>und</strong> drei Tagen.”<br />
„Herr Pater, Sie machen e<strong>in</strong>en Scherz. Sie können doch nicht mehr so genau wissen,<br />
wann ich das letzte Mal gebeichtet habe.”<br />
„Doch, ich weiß es ganz genau. Seit diesem Tage stelle ich Sie nämlich auf die<br />
Probe.”<br />
„Mich, auf die Probe? Ja, auf was für e<strong>in</strong>e Probe denn?”<br />
„Na, so etwas, jetzt wird er auf die Probe gestellt <strong>und</strong> merkt es noch<br />
nicht e<strong>in</strong>mal! Ich habe seit Ihrer letzten Beichte erprobt, wie selbstlos Sie s<strong>in</strong>d.<br />
Seit dem Tage <strong>haben</strong> wir nie mehr über Sie selbst gesprochen.”<br />
„Aber, Herr Pater, ich war doch viele Male seither bei Ihnen <strong>und</strong> wir <strong>haben</strong> häufi<br />
g geredet!”<br />
„Ja, aber immer über anderes, die <strong>Mit</strong>brüder, das Werk, nie über Sie. Und Sie <strong>haben</strong><br />
es nicht e<strong>in</strong>mal gemerkt. Wollen wir jetzt beichten?”<br />
Welche von den zahlreichen Gliedgeme<strong>in</strong>schaften der Schönstattfamilie hatte<br />
nicht den Wunsch <strong>und</strong> – wenn <strong>sie</strong> sich e<strong>in</strong>e Chance ausrechnen konnte – die kon-<br />
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krete Erwartung, der Gründer <strong>und</strong> Vater möge e<strong>in</strong>mal mit ihnen den Heiligen<br />
Abend feiern? Wegen der vielen Anwärter <strong>und</strong> der schwierigen Wahl, feierte Pater<br />
Kentenich gerne den Heiligen Abend für sich <strong>in</strong> der Stille. Doch gab er auch<br />
mal dem Drängen der Stürmischsten nach, – was dann alle anderen enttäuschte.<br />
Um e<strong>in</strong>e solche Enttäuschung wiedergutzumachen, lud Pater Kentenich jemand<br />
an e<strong>in</strong>em Weihnachtstag zu e<strong>in</strong>em Besuch e<strong>in</strong>. „Nun muß ich Ihnen aber<br />
auch noch etwas schenken”, me<strong>in</strong>te er gegen Ende des Besuches. „Und zwar das<br />
Schönste, was ich habe.” Er suchte unter den verschiedenen Geschenken, die er<br />
erhalten hatte, <strong>und</strong> fand e<strong>in</strong>e Kerze mit Ständer. „Ich me<strong>in</strong>e, diese Kerze ist die<br />
richtige. Wenn es e<strong>in</strong>mal ganz dunkel wird <strong>in</strong> Ihrem <strong>Leben</strong>, dann zünden Sie <strong>sie</strong><br />
an, damit Ihnen e<strong>in</strong> Licht leuchtet.”<br />
Es verstrichen e<strong>in</strong>ige Jahre bis 1968. Pater Kentenich war den ganzen Sommer<br />
schon sehr krank. Dennoch konnte der damalige Weihnachtsbesuch e<strong>in</strong>mal zu<br />
ihm kommen. Die Sorge um den erkrankten Gründer kam zum Ausdruck; das<br />
Leid, nicht genau zu wissen, wie es ihm geht. „Übrigens”, meldete sich im Gespräch<br />
Pater Kentenich, „hat die Kerze eigentlich schon e<strong>in</strong>mal gebrannt, die ich<br />
Ihnen damals zu Weihnachten geschenkt habe?”<br />
„Ne<strong>in</strong>, Herr Pater. Es darf schon noch etwas dunkler werden, bis die Kerze brennen<br />
muß.”– ,Ja, was muß denn da pas<strong>sie</strong>ren, bis es dunkel genug ist?” – „Wenn<br />
Sie e<strong>in</strong>mal sterben, Herr Pater, dann wird es wohl ist dunkel genug se<strong>in</strong>.”<br />
„So dann wird also die Weihnachtskerze me<strong>in</strong>e Sterbekerze.”<br />
Als der Gründer am 15. September 1968 <strong>in</strong> der Sakristei der Anbetungskirche verschied,<br />
brannte die Kerze an der Todesstelle zum ersten Mal.<br />
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