Zum Material - Martina Steinkühler
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Religion<br />
Was ist Religion?<br />
Ich bevorzuge die Herleitung, religio käme von „religari“ – „sich zurückbinden“, in dem<br />
Sinn, dass man bei allem, was man sagt, entscheidet oder tut, eine Rückversicherung sucht<br />
bei einer guten höheren Macht. Ich lebe von klein auf in der Annahme, dass die Welt, die<br />
mich umgibt, und auch mein eigenes Leben, von einem guten höheren Willen getragen sind.<br />
Dass es einen Sinn im Leben gibt, eine Instanz für Gut und Böse, eine Hoffnung, auch gegen<br />
den Anschein.<br />
◦ Vielleicht habe ich zuerst diese Instanz respektiert: Es ist nicht egal, was ich tue, es<br />
gibt einen Unterschied zwischen richtig und falsch. Diesen Unterschied setze nicht<br />
ich. Der ist gesetzt.<br />
◦ Als Nächstes kam für mich die Frage nach dem Sinn: Es ist nicht egal, was aus uns<br />
wird, aus dem Leben ringsum, aus der Welt als Ganzer. Die Welt ist nicht zufällig<br />
entstanden, sie wird nicht sang- und klanglos vergehen. Wir leben uns nicht selbst,<br />
wir sterben uns nicht selbst. Es hat einen Sinn. Und dieser Sinn ist da. Auch wenn<br />
ich ihn nicht immer sehe.<br />
◦ Und schließlich: Leid, Kummer, Schmerz, Tod. Gewalt, Erbarmungslosigkeit, Zerstörung.<br />
Sie haben nicht das letzte Wort. Wie schlimm auch ist, was geschieht – es<br />
ist nie ohne Hoffnung. Eine Blume wächst in der Wüste. Ein verlöschendes Feuer<br />
flammt auf. Das geknickte Rohr richtet sich auf und reckt sich zum Himmel. Das<br />
letzte Wort heißt: trotzdem!<br />
Inzwischen weiß ich, dass laut Cicero „religio“ wohl eher von „relígere“ kommt – etwas<br />
immer wieder durchdenken –, aber auch das passt ja durchaus zu dem, was ich gerade beschrieben<br />
habe. Bedenklichkeit gehört dazu, auch das ist Rückbindung.<br />
Im Latein-Wörterbuch finde ich als Umschreibungen für das Nomen „religio“: Rücksicht, Bedenken,<br />
Skrupel. Gottesfurcht. Glaube, Aberglaube. Gottesdienst, religiöse Handlung. Kult. Heiligtum,<br />
Heiligkeit, das Heilige, heilige Pflicht. (Der Kleine Stowasser)<br />
Der „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–<br />
1834), führte die Religion auf ein allgemein menschliches „Empfinden schlechthinniger<br />
Abhängigkeit“ zurück; der katholische Theologe und Symboldidaktiker Hubertus Halbfas<br />
(* 1932) spricht im Zusammenhang mit Religion von einem „dritten Auge“ des Menschen.<br />
Mit diesem dritten Auge sei der Mensch in der Lage, hinter die Oberfläche der sichtbaren<br />
Welt zu schauen und ihre tiefere Bedeutung, ihre Transzendenz zu entdecken. – Zwei Seiten