04.11.2013 Aufrufe

Sample Pages

Sample Pages

Sample Pages

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Spaziergangswissenschaft<br />

in Praxis.<br />

Formate in Fortbewegung<br />

Maren Brauner<br />

Andreas Denk<br />

Irene Grillo<br />

Kai-Olaf Hesse<br />

Klaus Hoppe<br />

Mark A. Hunter<br />

Christoph Laimer<br />

Marie-Anne Lerjen<br />

Clare Qualmann<br />

Elke Rauth<br />

Tina Saum<br />

Margit Schild<br />

Martin Schmitz<br />

Hannah Stippl<br />

Andrea Thiele<br />

Bertram Weisshaar (Hg.)<br />

Kaspar Wimberley<br />

Carl Zillich


„Wieso kann man eine Landschaft beschreiben, obwohl sie gar<br />

nirgends so aussieht, wie man sie charakterisiert?“ (Lucius Burckhardt)<br />

Bertram Weisshaar, (ohne Titel). Zu: zwischengrün, Leipzig 2009.<br />

Fünfzig Meter schräg hinter dem Schild verläuft die „Parthenaue“;<br />

zu sehen auf den Fotos auf den Seiten 8 / 9 und 16 / 17.


Inhalt<br />

10 Mit Herumlaufen allein ist es nicht getan<br />

Bertram Weisshaar<br />

18 Gehend verstehen – Spaziergangswissenschaft<br />

Margit Schild<br />

24 Warum ist Lucius Burckhardt heute aktuell?<br />

Martin Schmitz<br />

32 Die Idee kommt beim Gehen. Bertram Weisshaar<br />

und die Ursprünge der Spaziergangswissenschaft<br />

Andreas Denk<br />

46 Von der Sehnsucht nach Wüste in Deutschland.<br />

Spaziergänge und transitorische Gärten in<br />

Braunkohlelandschaften<br />

Bertram Weisshaar<br />

63 und dennoch. Reise auf den Spuren der<br />

Fruchtbringenden Gesellschaft<br />

Andrea Thiele<br />

68 Die Suche nach dem Taschentuchbaum. Eine vier wöchige<br />

Fußreise von Leipzig nach Köln durch die Kleingärten<br />

Bertram Weisshaar<br />

76 Gärten auf Reisen<br />

Bertram Weisshaar<br />

84 Der promenadologische Spaziergang<br />

Hannah Stippl<br />

100 Der dialogische Spaziergang. BaukulTOUREN der<br />

Bundesstiftung Baukultur<br />

Bertram Weisshaar, Carl Zillich<br />

115 Talk Walks. Spaziergangsforschung in Leipzig<br />

Bertram Weisshaar<br />

130 Kunst des Spazierenführens. Arttours im Spannungsfeld<br />

von Kunstpraxis und Tourismusmarketing<br />

Bertram Weisshaar, Kaspar Wimberley<br />

140 Gehen oder Flanieren. Gedanken & Gänge in Stuttgart<br />

Tina Saum, Bertram Weisshaar<br />

150 Spazierengehen am Rand der Stadt. Im GrünGürtel<br />

von Frankfurt am Main<br />

Klaus Hoppe<br />

160 Konzeptspaziergänge. Experimente zur Gehkultur in<br />

der Schweiz<br />

Marie-Anne Lerjen, Bertram Weisshaar<br />

168 kunstpassanten. Spaziergangswissenschaft als Form<br />

des kritischen Kuratierens<br />

Maren Brauner, Irene Grillo, Bertram Weisshaar<br />

180 Urbanisieren Sie sich! Forschungsreisen ins Gewebe<br />

der Stadt. Nicht nur in Wien<br />

Christoph Laimer, Elke Rauth<br />

190 Spuren verfolgen: Walking and Talking East London<br />

Mark A. Hunter, Clare Qualmann; Übersetzung: Petra Frese<br />

204 Sind Fotografen eigentlich Spaziergangsforscher?<br />

Kai-Olaf Hesse, Bertram Weisshaar<br />

217 Busbahnhöfe. Eine Europa-Reise durch unscharfe<br />

Landschaften zu übersehenen Architekturen<br />

Bertram Weisshaar<br />

250 Unvollendet: Die unendliche Geschichte der Atom-<br />

Landschaften<br />

Bertram Weisshaar<br />

282 Autoren<br />

285 Dank<br />

286 Bildnachweis<br />

287 Literaturhinweise<br />

288 Impressum


„Wie also müssen wir dem Bewohner der Metropole die Natur<br />

darstellen? Denn die Natur selbst sieht er nicht.“ (L. Burckhardt, a. folg. Zitate)<br />

Picknick an der Parthe, Leipzig 2009.<br />

Anlässlich Finissage Walks & Views<br />

8<br />

9


Mit Herumlaufen allein ist es nicht getan<br />

Bertram Weisshaar<br />

„Wenn mich aber die Notwendigkeit zwingt, in der Stadt<br />

zu sein, habe ich gelernt, mir inmitten des Volkes<br />

Ein sam keit, in den Stürmen einen Hafen zu schaffen mit<br />

einem Kunstmittel, das nicht allen bekannt ist: ich<br />

beherrsche meine Sinne so, dass sie nicht wahrnehmen,<br />

was sie wahrnehmen.“ 1<br />

Francesco Petrarca, 1356<br />

„Der wichtigste Grund, warum man von einem Platz zu<br />

einem anderen geht, ist der, weil man sehen will, was<br />

zwischendurch passiert. Daran hatten die Menschen<br />

viel Freude. Dann, irgendwann einmal, entdeckte einer,<br />

dass wenn man so schnell als möglich gehe und nichts<br />

anderes als seine Schuhe anschaue, man viel schneller<br />

zu seinem Ziel gelange. Keiner interessierte sich mehr<br />

dafür, wie alles aussah. Und je schneller sie sich bewegten,<br />

um so scheußlicher und schmutziger wurde alles.<br />

Und je schmutziger und scheußlicher alles wurde, desto<br />

schneller rannten die Leute. Und dann geschah etwas<br />

sehr Merkwürdiges. Nachdem sich kein Mensch mehr<br />

darum kümmerte, begann die Stadt zu verschwinden.<br />

Täglich wurden die Gebäude schemenhafter, die Straßen<br />

verschwanden, bis schließlich die Stadt unsichtbar<br />

geworden war…“ 2<br />

Norton Juster, 1963<br />

Gehen um zu verstehen<br />

Gehen ist nach wie vor die einfachste Art,<br />

sich eine Stadt oder Landschaft zu erschließen.<br />

Viele tun dies auf nicht alltägliche Weise:<br />

Arttours, Audio-Walks, BaukulTOURen,<br />

Dialogische Spaziergänge, Dérives, Konzeptspaziergänge,<br />

Promenadologische Spaziergänge,<br />

Silent Walks, Stadtsafaries, Talk<br />

Walks usw. – die Liste der Formate, die sich<br />

„in Fortbewegung“ durch den Raum mit der<br />

Gestalt und der Wahrnehmung des Raumes<br />

und der Entwicklung von Stadt und Landschaft<br />

auseinandersetzen, wird vielfältiger.<br />

Dieser Band legt einen Schwerpunkt auf diese<br />

Formate, die mittels des Gehens zu einer<br />

Analyse, einer Aussage oder beabsichtigten<br />

Wirkung gelangen. Er verschafft einen Überblick<br />

über die Vielfalt der Spaziergangskonzepte<br />

3 , ohne dabei einen Anspruch auf<br />

Vollständigkeit zu erheben oder mit der<br />

getroffenen Auswahl eine Bewertung vorzunehmen.<br />

Versammelt werden neben einigen Projekten<br />

des Herausgebers auch mehrere Positionen<br />

und Akteure aus dem deutschsprachigen<br />

Raum und Großbritannien, die unterschiedlichen<br />

Professionen und Anliegen entspringen<br />

und sich nicht notwendigerweise selbst<br />

auf die Spaziergangswissenschaft beziehen.<br />

Viel mehr ist das gemeinsame Merkmal der<br />

vorgestellten Formate, dass sie alle gehend<br />

– in Fortbewegung – zum Ausdruck kommen.<br />

Dabei jedoch – und das ist wichtig – geht es<br />

bei den hier versammelten Positionen nicht<br />

um das Gehen an sich, sondern darum, wo<br />

dieses Gehen hinführt, wobei wiederum<br />

nicht ein geografischer Ort gemeint ist,<br />

sondern ein anderer Blick, ein wacherer Zustand,<br />

ein geweitetes Denken – im Idealfall:<br />

Eigenes Denken. Oder mit anderen Worten:<br />

Mit Herumlaufen allein ist es nicht getan.<br />

„Hinter den Spaziergängen in der Stadt<br />

steht die Annahme, dass wir das Alltägliche<br />

nicht mehr wahrnehmen.“ 4 Es geht also<br />

darum, Wahrnehmung herzustellen und<br />

das bloße Sehen zum Erkennen zu führen:<br />

„‚Wahrnehmung‘ ist ein weiterer Begriff als<br />

‚Sinneswahrnehmung‘. Für ästhetisches Denken<br />

sind gerade Wahrnehmungen ausschlaggebend,<br />

die nicht bloße Sinneswahrnehmungen<br />

sind. ‚Wahrnehmung‘ ist hier vielmehr in<br />

dem zugleich fundamentaleren und weiterreichenden<br />

Sinn von ‚Gewahrwerden‘ zu verstehen<br />

[…] hat den Charakter von Einsicht.“ 5<br />

In diesem Verständnis geht es den in diesem<br />

Buch dokumentierten Projekten um unsichtbares<br />

Design, also um Zusammenhänge hinter<br />

den Dingen, auf welche wir jedoch durch<br />

sinnliche Erfahrungen aufmerksam werden.<br />

Baukultur<br />

Neben der Darstellung der Vielfalt der Formate<br />

untersucht der vorgelegte Band die Potenziale<br />

des Spaziergangs in Bezug auf die<br />

Analyse des Raumes und des Ortes sowie<br />

seine Qualitäten und Funktionen als Format<br />

der Vermittlung und Darstellung, als Kommunikationsmedium.<br />

Gerade in den Diskussionen<br />

und Verhandlungen zur Baukultur<br />

kann der hier aufgefächerte Spaziergang<br />

eine hilfreiche Rolle als Mediator übernehmen,<br />

in dem Sinne, wie dies etwa Matthias<br />

Sauerbruch eingefordert hat: „Ganz abstrakt<br />

verspricht man sich natürlich vom Mittun<br />

aufgeklärter und solidarischer Bürger sehr<br />

viel; tatsächlich stellt diese Diskussion für<br />

viele Mitbürger aber eine inhaltliche Herausforderung<br />

dar. Für einen wirklich produktiven<br />

Austausch bedarf es eines Mediators,<br />

der erklärt, informiert, übersetzt und anregt.<br />

Die Erfindung der Rolle eines solchen<br />

professionellen Mediators könnte eine Reaktion<br />

auf die Transformation des Öffentlichen<br />

sein.“ 6<br />

Gerade zum jetzigen Zeitpunkt, da tradierte<br />

Planungsinstrumente angesichts der<br />

Problemlagen beispielsweise in schrumpfenden<br />

Städten nur mehr bedingt wirksam<br />

werden und auch in Anbetracht einer neuen<br />

Wertschätzung des Fußverkehrs in den Städten,<br />

erwächst der Spaziergangswissenschaft<br />

eine erneuerte Bedeutung. Früh schon benannte<br />

Burckhardt als eines der Hauptprobleme<br />

„die fehlende Beteiligung der Menschen<br />

an der Gestaltung ihrer Umwelt. Diese<br />

Beteiligung gilt es, von planerischer Seite zuzulassen<br />

und zu moderieren. Aber da sie<br />

ein ungewohntes Angebot darstellt, muss<br />

10<br />

11


„Ein Spaziergang schafft Schönheit.“<br />

Spaziergang entlang der Parthe. Zu: zwischengrün, Leipzig 2009.<br />

Führung durch Michael Berninger und Bertram Weisshaar<br />

16<br />

17


Gehend verstehen –<br />

Spaziergangswissenschaft<br />

Margit Schild<br />

Dieser Text behandelt das Gehen, genauer das Spazierengehen – nicht sitzen,<br />

nicht fahren, sondern einfach gehen. Rein physiologisch funktioniert das so:<br />

Schwung und Standbein wechseln sich ab und transportieren den Oberkörper<br />

wie einen Passagier durch den Raum, er pendelt im zyklischen Wiederholen<br />

der gleichen Abläufe. Das so erzeugte Bestreben, in Bewegung zu<br />

bleiben, garantiert ein Weiterkommen und ein Wechseln des Standortes 1 ,<br />

das Gehen ist damit eine wesentliche Voraussetzung, sich Gegenwartszuständen<br />

anzunähern.<br />

Strecke machen<br />

Etymologisch beinhaltet das Wort Spazieren<br />

einen Bezug zu den Begriffen Raum, Strecke<br />

und Weite und verweist damit auf den<br />

Gegenstand, von dem hier im Folgenden<br />

die Rede sein soll. 2 Strecke machen: Räume,<br />

Orte und Landschaften werden von der Gehenden<br />

in einer Abfolge durchschritten, sie<br />

reihen sich aneinander, wie „Perlen an einer<br />

Schnur“ 3 .<br />

Obwohl sie mehrere unterschiedliche Orte<br />

gesehen hat, gelingt es ihr, am Ende etwas<br />

zusammenfassend über ihren Spaziergang<br />

zu sagen. 4 „Die Umgebung von Leipzig ist<br />

schön!“, ist eine typische Aussage. Demnach<br />

addiert die Spaziergängerin die während<br />

des Ganges gewonnenen Einzelbilder der<br />

durchlaufenen Stationen im Kopf zu einem<br />

Gesamteindruck. Auch können einzelne,<br />

besonders prägnant erscheinende Eindrücke<br />

als Stellvertreter für das Gesamte haften<br />

bleiben. Mit anderen Worten: Während eines<br />

Spazierganges wird ein Landschaftsbild kognitiv<br />

geformt und individuell erarbeitet. Eine<br />

der wichtigsten Schlussfolgerungen der Spaziergangswissenschaft<br />

lautet demnach: „Ein<br />

Spaziergang schafft Schönheit.“ 5<br />

Die daran anschließende Fragestellung<br />

lautet: „Wieso kann man eine Landschaft beschreiben,<br />

obwohl sie gar nirgends so aussieht,<br />

wie man sie charakterisiert?“ 6<br />

Spaziergänger können es deshalb, weil für<br />

sie Gebäudekonstellationen, Flächennutzungen<br />

und Landschaftsbestandteile mit speziellen<br />

Bedeutungen und individuellen Vorstellungen<br />

behaftet sind. Ihre persönlichen<br />

Bilder im Kopf unterscheiden sich von denen<br />

anderer Menschen. Während der eine im<br />

Naturgarten ökologische Ziele verwirklicht<br />

sieht, bewerten andere den vermeintlichen<br />

Wildwuchs als ernstes Anzeichen ordnungsgefährdender<br />

Tendenzen. Landschaft ist<br />

demnach immer „ein Konstrukt der Wahrnehmung“.<br />

7 Anders formuliert: „Die wahre<br />

Landschaft ist im Kopf“ 8 und somit als politisches,<br />

soziales und kulturelles Produkt<br />

ständigen Veränderungen unterworfen. Die<br />

Promenadologie, Spaziergangswissenschaft,<br />

widmet sich dem Erforschen und Verstehen<br />

von Räumen und dem Hinterfragen der auf<br />

sie projizierten Bilder, Anschauungen und<br />

Wahrnehmungskonstrukte. Der im Jahr 2003<br />

verstorbene Soziologe Lucius Burckhardt<br />

entwickelte diese erfahrungswissenschaftliche<br />

Disziplin, um „dem verborgenen Sinn<br />

der Sachen“, dem „steten Wandel von Welt-<br />

Anschauungen“ nachzuspüren. 9<br />

Die Geschichte des Spazierengehens als<br />

„zur Erholung im Freien zu Fuß gehen“ einerseits<br />

und als ästhetisches Wahrnehmen<br />

andererseits, ist mit der historischen Trennung<br />

von Stadt und Landschaft verbunden.<br />

Der Begriff von schöner Landschaft entstand<br />

gewissermaßen in den Städten. Der Städter,<br />

der „aufs Land hinaustritt“ 10 , kann die umgebende<br />

Landschaft ohne den Hintergrund<br />

ökonomischer Zwänge betrachten, da er<br />

nicht mehr direkt in der Natur werktätig<br />

ist. Vom Spaziergänger als schön und erholungsversprechend<br />

erachtete Räume werden<br />

aufgesucht, andere wiederum gemieden.<br />

Dieses wichtige Charakteristikum des Spaziergangs<br />

wird sich für den nachfolgend<br />

skizzierten Kontext als brauchbar erweisen.<br />

Die Spaziergangsforscher und -forscherinnen<br />

gehen davon aus, dass bestimmte<br />

Gegenden als Landschaft zu identifizieren<br />

sind und andere hingegen nicht. Seen, Wiesen<br />

und Wälder, wenn sie außerhalb von<br />

etwas Bebautem liegen, erweisen sich als<br />

eindeutig. Diese Konstruktion einer richtigen<br />

Landschaft, bestätigen jeden Morgen<br />

Etiketten auf Joghurtbechern, Milchtüten<br />

und Müslipackungen. Viele Bereiche hingegen<br />

kommen für eine Betrachtung mit<br />

einem landschaftlichen Blick nicht infrage,<br />

denn sie befinden sich „außerhalb unserer<br />

Wahrnehmung“ 11 : Räume können sich unbekannt<br />

und versteckt halten, sind zwar<br />

präsent, aber bereits eindeutig mit einer<br />

Meinung, Anschauung oder Konvention besetzt<br />

oder gar wie in manchen Fällen privatrechtlich<br />

ausgegrenzt. Einzelne Räume sind<br />

zusätzlich in ihrer aktuellen Entwicklung<br />

diffus, d.h., wenn auch im Kern nicht näher<br />

begründet, negativ besetzt: Sie gelten als unzugänglich,<br />

zerstört, häßlich, unnütz, arm<br />

und/oder abgenutzt. Damit liegen genügend<br />

18<br />

19


„Die Verschlechterung unserer Umwelt ist nichts anderes als die<br />

Summe dessen, was bei der Planung …<br />

Stuttgart 2011<br />

28<br />

29


… als unwesentlich unter den Tisch fiel.“<br />

Köln 2009<br />

30<br />

31


L’idee vient en passant im Rahmen der Architekturwoche plan08<br />

konzipiert hat 2 : ein entfremdeter Lustgarten in der Höhe mit<br />

Panoramablick auf die steinerne Landschaft der Stadt, der sich in<br />

der rasch einsetzenden Fantasie der Besucher anstatt mit Bitumen<br />

versiegelt viel besser als paradiesisches Wiesenidyll, als Café oder<br />

als Freiluftlounge vorstellen ließe.<br />

Die Idee kommt beim Gehen<br />

Bertram Weisshaar und die Ursprünge der Spaziergangswissenschaft<br />

Andreas Denk<br />

Bertram Weisshaar ist Spaziergangsforscher – und sein Weg<br />

durch Köln folgt einem besonderen Erkenntnisinteresse des Verhältnisses<br />

von Landschaft und Stadt, das sich die Spaziergangsforschung<br />

oder Promenadologie zum Ziel gesetzt hat. Entwickelt<br />

hat diese unakademische Methode der Umwelterkundung und<br />

Wahrnehmungsinterpretation der Basler Kulturtheoretiker Lucius<br />

Burckhardt (1925 – 2003), dessen Lehre Weisshaar während seiner<br />

Studienzeit in Kassel kennengelernt hat. Die neue Methode<br />

des reflexiven Betrachtens der Umgebung im Schlendern, Gehen<br />

oder Wandern resultierte aus einer Kritik der tradierten Wahrnehmungsweisen<br />

von Landschaften und Regionen. Der Spaziergang<br />

und damit die Landschaftswahrnehmung sei eine Rezeptionsform,<br />

so der Soziologe Burckhardt, für die eine kulturelle Vorbildung<br />

nötig sei. Sie sei nichts anderes als eine Anleitung zur Selektion,<br />

zur Ausfiltrierung von Eindrücken. 3 Damit in der Vorstellung<br />

des Menschen Landschaftsbilder entstünden, müssten die Informationen,<br />

die nicht zu dem literarisch geprägten Bild gehören,<br />

unterdrückt oder verdrängt werden. „Kehrt ein Kind von einem<br />

Spaziergang zurück, so erzählt es, dass es eine bunte Blechdose<br />

gefunden habe, die es dann schließlich donnernd in einen Schacht<br />

zurückwarf; kehrt ein Erwachsener nach Hause zurück, so beschreibt<br />

er Dinge, die er pflichtgemäß in dieser Gegend hätte sehen<br />

sollen, die aber zum Teil für ihn unsichtbar oder nicht analysierbar<br />

sind“. 4 Entsprechend liege der Genuss eines Spaziergangs<br />

in einem mehr oder weniger stark vorgeprägten Zusammensehen<br />

bekannter, vorausgesetzter Elemente, das alles Störende ausblende.<br />

Die Spaziergangswissenschaft widmet sich also den Sequenzen,<br />

die der Mensch in der Bewegung wahrnimmt, betrachtet aber<br />

Die Stimme von Tom Waits erklingt auf dem obersten Deck des<br />

Parkhauses an der Cäcilienstraße in Köln. 1 Die Melancholie des<br />

grauen Tages im September wird durch die sehnsüchtelnd-rauhe<br />

Stimme des Hardcore-Barden ins Surreale verlagert. Waits‘ Stimme<br />

kommt aus einem kleinen „Ghetto-Blaster“ mit tragbarem Lautsprecher,<br />

den Bertram Weisshaar hier für einige Minuten aufgestellt<br />

hat. Zusammen mit dem Baden-Württemberger treiben sich<br />

an die 30 Leute auf dem Parkdeck herum, sondieren Ausblicke<br />

und reflektieren die unwirkliche Situation hoch über den Dächern<br />

der Domstadt. Weisshaar hat die Gruppe gezielt hierher geführt,<br />

das Parkhaus ist eine der Stationen auf seinem Weg durch die<br />

Stadt, den der Fotograf und Landschaftsarchitekt für die Reihe<br />

Spaziergang durch das Parkhaus Hochgarage anlässlich des Lübecker Architektursommers, Lübeck 2001<br />

32<br />

33


Von der Sehnsucht nach Wüste in Deutschland<br />

Spaziergänge und transitorische Gärten in Braunkohlelandschaften<br />

Bertram Weisshaar<br />

„Der Höhepunkt war die Sache mit dem Ballon.<br />

Schon reichlich zwei Stunden Weg lagen<br />

hinter uns. Wir waren durch schüttere Birkenhaine<br />

gewandert, hatten das alte, noch<br />

aktive Pumpwerk bestaunt, hatten im ‚Tal<br />

des ewigen Feuers‘ der Wüstenhitze getrotzt,<br />

im Aufstieg grellweiße Wanderdünen<br />

bezwungen, waren über die karstähnliche<br />

Hochebene zu einer terrassierten Teichlandschaft,<br />

den ‚Hängenden Gärten‘, vorgedrungen,<br />

durften an einer in der Wildnis verlorenen<br />

Bretterbude bei Grillwurst und<br />

Mineralwasser kurze Rast machen, verirrten<br />

uns anschließend in einem Labyrinth aus<br />

spitzen Sandkegelbergen, um endlich diesen<br />

wunderschönen See zu erreichen. Die zerklüfteten<br />

und in zahlreiche Seitenarme ausgreifenden<br />

Ufer waren mit Schilfgürteln umsäumt,<br />

Schwäne segelten vorbei, auf einer<br />

nahen Insel lockte ein Liegestuhl unter einem<br />

violetten Sonnenschirm - eine Fata Morgana?<br />

Aber der hölzerne Steg war echt, und<br />

die Erschöpftesten der Gruppe wurden eingeladen,<br />

den Rest der Tour mit zwei bereitstehenden<br />

Ruderbooten abzukürzen. Zuvor<br />

jedoch löste unser Wegführer eine verborgene<br />

Schnur, und der große orangefarbene Ballon,<br />

der da wie zufällig auf der Wasserober-<br />

fläche umher trieb, stieg vor aller Augen<br />

senkrecht in die Höhe. Zwanzig Meter stieg<br />

er auf und blieb dann stehen: Dort oben hatte<br />

sich einst das Dorf Gremmin befunden,<br />

und bis zu dieser Höhenmarke wird irgendwann<br />

das Wasser steigen. Apokalypse? Nein,<br />

‚Rekultivierung‘! Die 700 Hektar große Abenteuerlandschaft<br />

soll ab 1998 in einem See<br />

versinken. Wir hatten die Sohle eines Braunkohle-Tagebaues<br />

durchquert.“ 1<br />

So beispielsweise erlebte und schilderte<br />

Wolfgang Kil die öffentliche Spaziergangsveranstaltung<br />

durch die Grube Golpa-Nord<br />

(Sa.-Anh.). Ganz anders allerdings urteilte<br />

damals die allgemein vorherrschende Ansicht<br />

über die Bergbaubrachen: Die Stasi in<br />

den Tagebau. Nach der Wiedervereinigung<br />

gab es in Deutschland kein Bild, das stärker<br />

mit Zerstörung gleichgesetzt wurde<br />

als die ostdeutschen „Mondlandschaften“.<br />

Auch die Fachsprache der Bergleute nennt<br />

diese vermeintlichen Drecklöcher nur „Rest-<br />

Löcher“ – noch nicht einmal ein Loch, nein,<br />

nur der Rest von einem Loch. Und der Bund<br />

Deutscher Landschaftsarchitekten illustrierte<br />

1993 eine Anzeige mit einer Abbildung<br />

eines Braunkohletagebaus und verkündigte:<br />

„Mitten in Deutschland wächst Wüste. Wir<br />

tun etwas dagegen.“ Auch wenn es zeitlich<br />

schon etwas zurückliegt, lohnt es, an dieser<br />

Stelle die unterschiedlichen Sichten und Zugriffe<br />

auf Braunkohlebrachen noch einmal<br />

zu erinnern – führt dies doch auch einmal<br />

mehr zu der von Burckhardt aufgeworfenen<br />

Frage: Warum ist Landschaft schön? 2<br />

Wenn die Kohle alle ist<br />

Bei unvoreingenommener Annäherung zeig -<br />

ten die für „Unbefugte“ verbotenen Braunkohlebrachen<br />

eine faszinierende Formenvielfalt.<br />

Gesehen wurde dies – anfangs – jedoch<br />

nur von wenigen. Dabei bedurfte es nur<br />

46<br />

47


„Auch um der Ohnmacht<br />

– er kenne sie wohl – ein<br />

leises Dennoch abzunötigen“ 1<br />

und dennoch<br />

Reise auf den Spuren der Fruchtbringenden Gesellschaft<br />

Andrea Thiele<br />

Peter Isselburg, Versammlung der Fruchtbringenden Gesellschaft,<br />

um 1622. Der Schmackhafte - Birne mit Wespe - Erkannte Güte<br />

Ein Künstler konzipiert eine mehrtägige<br />

Wanderung durch Sachsen-Anhalt. Die Route,<br />

welche von einer größeren Gruppe gemeinsam<br />

zurückgelegt wird und nicht unbedingt<br />

Alltagswegen entspricht, wurde durch<br />

einen Kreis gelehrter Personen inspiriert,<br />

die sich vor langer Zeit im mitteldeutschen<br />

Raum zusammenschlossen: Es handelt<br />

sich um die Fruchtbringende Gesellschaft.<br />

Diese war „die“ deutsche Gesellschaft des<br />

17. Jahrhunderts, gegründet auf Initiative<br />

von Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen im<br />

Jahre 1617, fast zeitgleich mit dem Beginn<br />

des Dreißigjährigen Krieges. Ihre bis zum<br />

Tod des dritten und letzten Vorsitzenden<br />

im Jahre 1680 auf die Zahl von insgesamt 890<br />

angewachsenen Mitgliedern hingen meist dem<br />

protestantischen Bekenntnis an. Dem Stand<br />

nach waren es vor allem Adelige, unter ihnen<br />

bedeutende Fürsten, aber auch kleinerer<br />

Landadel, dazu fast alle deutschen Dichter<br />

des Barock.<br />

In der Idee der Fruchtbringenden Gesellschaft<br />

kann man einen Traum verwirklicht<br />

sehen: Ein Mensch wird seines Titels, seines<br />

Alltagsgeschäfts, seiner Lebensumstände entledigt<br />

– gleichzeitig erhält er einen Gesellschaftsnamen,<br />

welcher Wunsch, Ansporn<br />

und Inspiration zugleich ist. Fürst Ludwig<br />

von Anhalt-Köthen trug zum Beispiel den<br />

Namen „der Nährende“, der letzte Vorsitzende,<br />

August von Sachsen-Weißenfels, den<br />

Namen „der Wohlgeratene“. Jedem in einer<br />

feierlichen Zeremonie aufgenommenen Mitglied<br />

wurde zudem eine charakteristische<br />

Pflanze als Wappenzeichen verliehen. Diese<br />

Pflanze wiederum nahm ihren Platz im die<br />

Gesellschaft symbolisierenden „Garten der<br />

Palme“ ein, denn die Palme wurde als die<br />

Nützlichste aller Pflanzen angesehen. Der<br />

Einzelne wurde so zu einem Teil der Natur,<br />

zum Bestandteil eines – allerdings nur virtuellen<br />

– „Gartens“, der über einen entsprechenden<br />

Artenreichtum verfügte. Der Leitspruch<br />

der Gesellschaft, „Alles zu Nutzen“,<br />

bezog sich daher weniger auf Reformen, wie<br />

sie später im aufklärerischen Sinne verwirklicht<br />

wurden, sondern zielte auf das Streben<br />

nach sittlichen Werten und die Pflege und<br />

Belebung der deutschen Sprache.<br />

62<br />

63


Die Suche nach dem Taschentuchbaum<br />

Eine vierwöchige Fußreise von Leipzig nach Köln durch die Kleingärten<br />

Bertram Weisshaar<br />

Meine am Deutschen Kleingartenmuseum beginnende Reise – im Jahr 2004 zu<br />

Fuß von Leipzig nach Köln – führt mich durch zahlreiche Kleingartenan lagen.<br />

Mein Interesse gilt der aktuellen Gestaltung der Gärten, dem vorhandenen<br />

Wissen zur Kultivierung der Pflanzen und insbesondere den Bedeutungen und<br />

Geschichten, die den Gärten eingeschrieben sind. Welche Bedeutungen tragen<br />

die Pflanzen in den Kleingärten?<br />

Besonders neugierig bin ich auf die ehemals<br />

exotischen Gewächse, die inzwischen lange<br />

schon in den Gärten zu Hause sind. Ich<br />

wähle den Taschentuchbaum (botanischer<br />

Name: Davidia involucrata) als „Leitpflanze“.<br />

Die Geschichte seiner Einführung zählt<br />

zu den abenteuerlichsten, die ich kenne. Der<br />

englische Pflanzenjäger Ernest Wilson war<br />

monatelang in chinesischen Wäldern unterwegs,<br />

um diesen in Europa begehrten Baum<br />

als Erster einzuführen. Von einem Standort<br />

des auch in Asien seltenen Baumes erfuhr er<br />

durch vertrauliche Hinweise. Als er jedoch<br />

dort ankam – nachdem er 21.000 Kilometer<br />

gereist war – fand er einen Baumstumpf und<br />

ein neues Holzhaus. Zwar wurde er am Ende<br />

doch noch fündig, aber zu spät. Inzwischen<br />

war ihm ein französischer Pflanzensammler<br />

zuvorgekommen. Paul Guillaume Farges<br />

hatte bereits 1897 Samen des Taschentuchbaums<br />

nach Paris gebracht. Seither wächst<br />

der Taschentuchbaum nun auch in Europa.<br />

Auch ich will von meiner Reise Pflanzen<br />

mitbringen. Stellvertretend für die besuchten<br />

Gärten sollen sie als Herbarium die Reise<br />

dokumentieren. Mit Fotos und täglichen<br />

Berichten teile ich bereits während der Reise<br />

meine Begegnungen über das Internet<br />

mit. Freunde begleiten mich auf der ersten<br />

Etappe bis zum Leipziger Kleingartenverein<br />

Neu-Brasilien. Mit Taschentüchern winkend<br />

verabschieden sie mich.<br />

Gehen, gehen, gehen, ...<br />

Täglich werde ich gefragt, warum ich meine<br />

Reise zu Fuß und nicht mit dem Auto unternehme.<br />

Ist aber nicht doch das Gehen die<br />

einfachste und ursprünglichste Art der Fortbewegung?<br />

In jedem Fall wird mir aber, da<br />

ich die Distanz von ca. 500 Kilometer zu Fuß<br />

zurücklege, stets eine ehrliche und ernsthafte<br />

Zuwendung zugesprochen, werden mir<br />

Gartentore bereitwillig geöffnet, erhalte ich<br />

Einblicke in versteckte Winkel, erfahre auch<br />

von ganz persönlichen Gartengeschichten.<br />

Durch einen Spaziergang kann man dem<br />

Alltag ein Stück weit entfliehen: Man ist vorübergehend<br />

nicht erreichbar und entsagt<br />

sich jeder Erledigung von Arbeit. Entrückt<br />

schaut man dem Alltag zu, gleichwohl man<br />

doch mittendrin ist. Das Spazieren eröffnet<br />

einen temporären freien Zeitraum. Was passiert,<br />

wenn man diesen Zeitraum auf vier<br />

Wochen ausdehnt? 28 Tage lang gehen. Eine<br />

Strecke machen. Noch weiter gehen, als man<br />

blicken kann. Ein Gefühl von Freiheit stellt<br />

sich ein. Erstaunlich, wie schnell man auf<br />

seinen Füßen vorankommt. Der Aussichtsturm,<br />

auf dem man vor vier Stunden noch<br />

stand, ist schon weit entfernt, am nächsten<br />

Tag kaum noch zu sehen, am dritten Tag<br />

verschwunden.<br />

Die Art der Fortbewegung bedingt die<br />

Wahrnehmung des Raumes. Ob ich gehe,<br />

fliege, Zug oder Auto fahre, immer werde<br />

ich zu einem anderen Bild kommen, denselben<br />

Raum in einer anderen Realität erleben.<br />

Das ist nicht schwer zu verstehen. Es bedarf<br />

nicht notwendig einer vierwöchigen Wanderung,<br />

um sich dies klar zu machen. Aber was<br />

kann ich auf dieser Reise alles erleben! Tatsächlich,<br />

das Land, in dem ich aufgewachsen<br />

bin, das ich zu kennen glaubte, zeigt sich<br />

mir völlig anders, überrascht mich gewaltig.<br />

Allabendlich werde ich in einer Kleingartenanlage<br />

erwartet. Auch dort begegne ich zahlreichen<br />

Überraschungen.<br />

Nachtrag<br />

Die Suche nach dem Taschentuchbaum war<br />

ein Beitrag zu der Ausstellung Privatgrün<br />

2004, realisiert durch den Kunstraum Fuhrwerkswaage<br />

e. V., Köln. Die Konzeption der<br />

Ausstellung beabsichtigte „Kunst temporär<br />

aus dem sonst üblichen Betriebssystem von<br />

Museum und Ausstellungsraum in den privaten<br />

Raum zu überführen“ (aus: Flyer zur<br />

Ausstellung, Kunstraum Fuhrwerkswaage).<br />

Dieses Reiseprojekt machte sich das<br />

Konzept der Ausstellung selbst zu eigen,<br />

involvierte zahlreiche Kleingartenvereine<br />

und Gartenfreunde. Das Herbarium Vagans<br />

Weisshaarii und das ebenfalls während der<br />

Fußreise entstandene Online-Tagebuch ist<br />

archiviert auf der Website atelier-latent.de.<br />

68<br />

69


Gärten auf Reisen<br />

Bertram Weisshaar<br />

In jeder Stadt findet man sie: kleine Baustellen, gleichsam temporäre Besetzungen<br />

des öffentlichen Raumes, die scheinbar über Nacht entstehen und nach<br />

wenigen Tagen bereits wieder verschwinden, auf dem Weg zu einem anderen<br />

Ort. Die Gruppe alias – Atelier für Spaziergangsforschung 1 fragte sich, ob so<br />

auch Gärten gebaut werden könnten. Sie dachte an Gärten, die reisen können<br />

und die wie Flaneure durch die Straßen vagabundierend den städtischen Raum<br />

auf seine mögliche Eignung als Gartenort untersuchen. Eine promenadologische<br />

Versuchsanordnung also.<br />

Wichtige Elemente dieser Forschungseinrichtung<br />

bildeten drei mobile Gärten und<br />

ein Bauwagen. Letzterer diente als Gartensalon,<br />

-bibliothek und -leihstation. Die Gartenmobile<br />

selbst bestanden aus umgerüsteten<br />

Einkaufswagen, verschiedenen Topfpflanzen<br />

und einer kuriosen Ansammlung mehr oder<br />

weniger sinnvoller Accessoires. Passanten<br />

konnten sich für den japanischen Garten,<br />

den Rosengarten oder den Kuriositätengarten<br />

entscheiden, diesen borgen und mit ihm<br />

auf der Suche nach einem temporären Gartenort<br />

die Stadt durchkämmen. 2<br />

Die Gärten kamen also in Bewegung. Und<br />

hier und dort entstand für jeweils kurze Zeit<br />

ein Garten: auf vermeintlich belanglosen<br />

Grün flächen, an vergessenen, unbewussten<br />

Orten am Straßenrand, in kleinen abgelegenen<br />

Winkeln im Gehwegbereich oder auf<br />

Baulücken – überraschende Gartenorte. Das<br />

kurzzeitige Auftauchen und wieder Verschwinden<br />

eines improvisierten Gartens an<br />

einem zuvor nicht für möglich gehaltenen<br />

Ort interpretiert das Gewohnte um. Das Alltägliche<br />

wird bedeutungsvoll und poetisch.<br />

Auch wenn an den ausgewählten Örtlichkeiten<br />

keinerlei Veränderungen erfolgten, so<br />

bleibt doch die Poesie, die geweckt wurde.<br />

Auch die sonst übliche Distanz zwischen<br />

Akteur und Rezipient, hier also zwischen<br />

Stadtgärtner und Stadtgartennutzer, wird<br />

bei einem solchen Experiment aufgelöst.<br />

Denkbar wurden Modelle, die die traditionellen<br />

Vorstellungen zu Stadtgärtnerei aufbrechen.<br />

Schon sahen wir öffentliche Grünflächen<br />

in der festen Hand experimenteller<br />

Gärtner. Wir stellten Fragen. Was autorisiert<br />

den Stadtgärtner? Könnte nicht auch jeder<br />

Städter auf öffentlichen Flächen gärtnern?<br />

Wer bestimmt, wie viel Garten ist genug für<br />

eine Stadt? Wir zogen los und suchten nach<br />

Antworten.<br />

76<br />

77


Der promenadologische Spaziergang<br />

Zeichnung Lucius Burckhardt<br />

Hannah Stippl<br />

Warum ist Landschaft schön? Diese Frage nach Wahrnehmung und Ästhetik<br />

der Landschaft umreißt den Forschungsgegenstand der von Lucius und<br />

Annemarie Burckhardt entwickelten Spaziergangswissenschaft, auch Promenadologie<br />

oder englisch Strollology genannt. Die vordergründig einfache<br />

Frage gibt auch Einblick in das methodische Vorgehen Burckhardts, einem<br />

gewitzten Beobachter und exakten Forscher, der seine wissenschaftliche,<br />

planerische und künstlerische Tätigkeit statt auf heroischen Superlativen auf<br />

dem Spaziergang aufbaute. Die Bezeichnung Spaziergangswissenschaft<br />

wird oft als lediglich ironisch interpretiert – ein grundlegendes Missverständnis.<br />

Sowohl planungs- als auch wissenschaftskritisch wendet sich Burckhardt<br />

gegen eine oberflächlich verwissenschaftlichte Rhetorik und betont die<br />

gesellschaftliche und politische Verantwortung der Planer. Er wirft den Gestaltern<br />

vor, nicht im Bewusstsein dessen zu handeln, was sie eigentlich gestalten:<br />

gesellschaftliche Zusammenhänge.<br />

Spazieren gehen will erlernt sein.<br />

Burckhardt geht Fragen der Landschaftswahrnehmung<br />

auf Exkursionen nach, „Wissenschaftsspaziergängen“<br />

mit interdisziplinärem<br />

Charakter, wie dem sogenannten<br />

„Urspaziergang’“ im nordhessischen Dorf<br />

Riede, wo 1976 Wissenschaftler, Künstler<br />

und Studierende gemeinsam die Beschreibung<br />

einer Landschaft erarbeiten. Ausgehend<br />

von diesem paradigmatischen Spaziergang<br />

formuliert Burckhardt grundlegende<br />

Überlegungen zu den Entstehungsbedingungen<br />

ästhetischer Betrachtung der Natur<br />

als Landschaft. Landschaft wird nicht auf<br />

einmal, sondern mit vielen Blicken sehend,<br />

zusehend, hineinsehend, umhersehend aufgefasst,<br />

denn: „Die Landschaft ist ein Konstrukt.“<br />

Er betont immer wieder, „dass die<br />

Landschaft nicht in den Erscheinungen der<br />

Umwelt zu suchen ist, sondern in den Köpfen<br />

der Betrachter. In der Umwelt eine Landschaft<br />

zu erblicken, ist eine schöpferische<br />

Tat unseres Gehirns, hervorgebracht durch<br />

bestimmte Ausklammerungen und Filterungen,<br />

aber auch integrativer Tätigkeiten des<br />

Zusammensehens, die das Ergebnis einer<br />

vorausgegangenen Erziehung sind.“ 1 Landschaftswahrnehmung<br />

beruht auf der zeitstrukturierten<br />

Wahrnehmung in Bewegung,<br />

nicht auf dem Einzelbild oder einem einzigen<br />

Blick. Erst viele Blicke in der Zeit bilden<br />

Landschaft, Landschaftswahrnehmung<br />

zeigt von Beginn an deutliche Affinität zum<br />

bewegten Bild des Filmischen. Der Spaziergang,<br />

als Urform der Wahrnehmung in Bewegung,<br />

dient so als Instrument der Aneinanderreihung<br />

und Strukturierung der Bilder.<br />

Der Spaziergang bedeutet dabei deutlich<br />

mehr als nur die Fortbewegung zu Fuß, er<br />

ist ein avanciertes Medium zur Betrachtung<br />

der Umwelt, das sich erst im Verlauf des<br />

18. Jahrhunderts als eigenständige kulturelle<br />

Praxis herausbildet. Die Entstehung der<br />

Landschaft als ästhetische Betrachtungsform<br />

der Umwelt zeigt sich historisch aufs<br />

engste mit der bürgerlichen Tätigkeit des<br />

Spazierengehens verbunden.<br />

Kaum etwas erscheint als eine so gewöhnliche<br />

und unspektakuläre Alltagspraxis wie<br />

das Spazierengehen, doch hier trügt der<br />

Schein: Spazierengehen muss im 18. Jahrhundert<br />

erst erlernt werden. Das Gehen<br />

und die damit verbundene ästhetische Betrachtung<br />

der Natur zu genießen, entbehrt<br />

der Selbstverständlichkeit. Der Spaziergang<br />

als bürgerliche Kulturtechnik und Ergebnis<br />

einer gesellschaftlichen Entwicklung ist<br />

ein durch den Wandel des Naturgefühls im<br />

18. Jahrhundert ausgelöstes Phänomen, an<br />

dem er gleichzeitig maßgeblich beteiligt ist.<br />

Wo die Herausforderungen der Natur gebannt<br />

und bewältigt erscheinen, wird die<br />

Schönheit der Natur und ihre Lesbarkeit als<br />

Landschaft entdeckt und bewundert. Dabei<br />

hat der Spaziergang nicht zum Ziel, die<br />

Distanz zur Natur aufzuheben, sondern er<br />

bezeichnet eben diese Distanz positiv, als<br />

Freiheit des Städters, des Bildungsbürgers,<br />

dessen Trennung von der Natur die notwendige<br />

Voraussetzung für das Schauen<br />

und Genießen der Natur als Landschaft ist.<br />

Die bürgerliche Aneignung der Natur verdankt<br />

ihren Sinn der Aufrechterhaltung der<br />

Trennung, die den ästhetischen Genuss des<br />

Spazierganges möglich und überhaupt erst<br />

nötig macht. Der Spaziergänger nämlich,<br />

der Nutzen und Vergnügen aus dem Erleben<br />

der Natur ziehen will, muss diese decodieren:<br />

„Man muss die Natur zum Sprechen zu<br />

bringen wissen, damit sie wirklich spricht.“ 2<br />

Diese Formulierung spricht für sich: Die<br />

Wahrnehmung der Natur trägt einen gewalttätigen<br />

Zug in sich. „Das Naturschöne müsse<br />

im Blick erst erzeugt werden, formulierte<br />

Riehl. Die Aufgabe des Landschaftsmalers<br />

sei es, dem Publikum einzuimpfen, dass es<br />

‚die nämlichen Schönheiten aus der Landschaft<br />

heraussieht, welche das Auge des<br />

Künstlers hineingesehen hat’.“ 3 Die ästhetische<br />

Wahrnehmung ergibt sich nicht für<br />

jedermann und nicht von selbst. Sowohl die<br />

unzulängliche Bildung als auch die Distanzlosigkeit<br />

des Landmannes zur Natur sind<br />

der Naturempfindung hinderlich. Nur für<br />

das gebildete Bürgertum hat die Natur an<br />

Bedrohlichkeit verloren und an Beherrschbarkeit<br />

gewonnen, nur für ihre distanzierte,<br />

ästhetische Aneignung der Natur ist diese<br />

84<br />

85


Bertram Weisshaar: „Die Bundesstiftung Baukultur fördert das<br />

Gespräch über den gestalteten Raum als Bühne unseres alltäglichen<br />

Miteinanders.“ So lautet der erste Satz auf der Website der<br />

Stiftung. Und an anderer Stelle ist zu lesen: „Ein Bewusstsein für<br />

den Einfluss, den die gestaltete Umwelt auf den Alltag und die<br />

Lebensqualität eines jeden hat, bildet sich nur dann heraus, wenn<br />

sie entweder Identifikation oder Betroffenheit auslöst. Das heißt,<br />

Baukultur muss vor allem sinnlich erfahrbar sein – im Alltäglichen<br />

wie im Einzigartigen.“ Zielt die Arbeit der Stiftung also in erster<br />

Linie auf eine Sensibilisierung und eine Veränderung im Bewusstsein,<br />

aus dem heraus dann in der Konsequenz ein qualitätvolleres<br />

Sein folgen würde?<br />

Der dialogische Spaziergang<br />

BaukulTOUREN der Bundesstiftung Baukultur<br />

Bertram Weisshaar, Carl Zillich<br />

Carl Zillich referierte bei dem Talk Walks Kolloquium in Leipzig über das Format<br />

des dialogischen Spaziergangs. Das hier dokumentierte Gespräch reflektiert<br />

dessen Eignung als Kommunikationsmittel in Diskursen zur Baukultur.<br />

Carl Zillich: Tatsächlich muss sich die Bundesstiftung Baukultur<br />

auf die vielen weichen Faktoren beschränken, die unsere gebaute<br />

Umwelt prägen, da sie weder eine Förderstiftung ist noch wirkliche<br />

Richtlinienkompetenzen hat. Zunächst müssen wir dazu<br />

einen Diskurs über Qualitäten, Defizite und Potenziale zwischen<br />

allen denjenigen Disziplinen initiieren, die in Deutschland im Planen<br />

und Bauen beteiligt sind oder Einfluss haben. Daher wollen<br />

wir eine breitere Öffentlichkeit erreichen, denn in der Politik und<br />

bei Investoren sehen wir durchaus Fortbildungsbedarf in Sachen<br />

Baukultur. Es geht dabei aber nicht darum, über herausragende<br />

Architektur zu reden. Es geht uns vielmehr um den Alltag und<br />

welche Prozesse dort zu einer qualitätvolleren Gestaltung führen.<br />

Als eines unserer Ziele sehen wir den Dialog zwischen Nutzerund<br />

Fachkompetenz. Um hierbei wirklich auf Augenhöhe miteinander<br />

zu reden, brauchen wir unbedingt eine Streitkultur, die<br />

der Gesellschaft grundsätzlich schwer fällt. So interpretieren wir<br />

unseren Kommunikationsauftrag eben nicht als Verkündung von<br />

Wahrheiten, sonder als das Stellen von Fragen, auch dort wo es<br />

zum Beispiel unserem Zuwendungsgeber wehtut. Diese Auseinandersetzung<br />

mit der Realität und wie wir mit Ihr umgehen, geht<br />

am besten vor Ort. Um dort unseren integrativen Anspruch umzusetzen,<br />

finden wir das Format des dialogischen Spaziergangs<br />

sehr passend.<br />

BW: Wie kam es dazu, dass ihr den Spaziergang als Kommunikationsmittel<br />

entdeckt habt? Hast du diese Erfahrung vielleicht<br />

mitgebracht aus Deinem Studium an der GHK Universität Kassel?<br />

Du hast ja Lucius Burckhardt noch kennenlernen können und hast<br />

auch an einigen seiner Spaziergänge teilgenommen.<br />

CZ: Ja, es gibt da die Linie von Burckhardt über mich zur Stiftung.<br />

Ab 1993 habe ich schon als Student des Grundstudiums an seinen<br />

letzten Spaziergängen in Kassel und Umgebung teilgenommen.<br />

Als sich die Stiftung dann auf die Suche nach Diskursformaten<br />

machte, war es naheliegend, dass ich da meine Erfahrungen eingebracht<br />

habe und wir es einfach ausprobiert haben. So waren die<br />

100<br />

101


Talk Walks<br />

Spaziergangsforschung in Leipzig<br />

Bertram Weisshaar<br />

Talk Walks sind öffentliche Spaziergangsveranstaltungen<br />

– eine Art „Talk-Show in<br />

Fortbewegung“. Sie verstehen sich als Beitrag<br />

zur Baukultur – in dem Sinne, wie dies die<br />

Initiative Architektur und Baukultur formulierte:<br />

„Baukultur umfasst gutes Planen und<br />

Bauen und das Reden darüber. Baukultur<br />

kann nur in einem gesellschaftlichen Umfeld<br />

gedeihen, in dem eine hohe Aufmerksamkeit<br />

auf die Qualität der gebauten Umwelt<br />

sowie deren Herstellung, Umgestaltung<br />

und Nutzung gerichtet ist.“ 1 In der Regel begleiten<br />

und kommentieren jeweils ein Talk-<br />

Gast von vor Ort und ein Gast von auswärts<br />

diese Spaziergänge entlang einer zuvor ausgearbeiteten<br />

Route. Die Talk Walks besitzen<br />

damit formal eine gewisse Ähnlichkeit zu<br />

den dialogischen Spaziergängen (vgl. Artikel<br />

mit Carl Zillich). Der spezifische Beitrag der<br />

Talk Walks besteht darin, dass diese das Reden<br />

über das Planen und Bauen und öffentliche<br />

Aufmerksamkeit an konkrete Orte bringen,<br />

beispielsweise an Projekt-Orte, die auf<br />

markante oder stellvertretende Weise eine<br />

Position und Haltung der geführten Diskussionen<br />

veranschaulichen bzw. überprüfen<br />

lassen. Dem Talk-Gast von vor Ort fällt dabei<br />

die Aufgabe zu, über die lokalen Hintergründe<br />

und Sachverhalte der aufgesuchten<br />

Orte und Projekte zu informieren, während<br />

der eher fremde Talk-Gast einen Blick von<br />

außen einbringen und eine Einordnung zu<br />

vergleichbaren Projekten in anderen Städten<br />

leisten soll. Durch den Einsatz eines mobilen<br />

Verstärkers oder einer Personenführungsanlage<br />

(Kopfhörer & Funkempfänger) sind die<br />

Gespräche entlang des Weges für die Teilnehmer-Gruppe<br />

gut hörbar. In einer eventuell<br />

abschließenden Talk-Runde können die<br />

Beobachtungen entlang der zurückgelegten<br />

Route jeweils gemeinsam reflektiert oder<br />

auch kritisch hinterfragt werden.<br />

114<br />

115


[ Der nachfolgende Text entstand 2011 unmittelbar im Nachgang<br />

des Kolloquiums und wurde erstmals veröffentlicht auf dem<br />

Webblog spaziergangswissenschaft.de ]<br />

Bertram Weisshaar: Für euch scheint sowohl das Thema Tourismus<br />

als auch die kritische Auseinandersetzung mit der Stadt<br />

Stuttgart wichtig. Was reizt euch dabei? Warum spielt Tourismus<br />

für euch eine solche Rolle?<br />

Kaspar Wimberley: Nach mehreren Jahren, in denen wir als nomadische<br />

Künstler in der Rolle des Besuchers und außenstehenden<br />

Beobachters praktizierten, suchten wir die Herausforderung, in<br />

der Stadt zu arbeiten, in der wir leben. Uns interessierte, was Tourismus<br />

in Stuttgart bedeutet und wie wir eine Möglichkeit finden<br />

könnten, die bestehenden Hierarchien zu unterlaufen und einen<br />

Dialog über die (potenzielle) Rolle des Tourismus und des Touristen<br />

zu entwickeln. Mich interessiert vor allem, wie Tourismus<br />

soziale und kulturelle Zustände reflektiert – sowohl die des Urlaubsziels<br />

als auch die des Herkunftsortes des Reisenden – und<br />

wie Tourismus präsentiert, verpackt, vermittelt und konsumiert<br />

wird. Wie werden unsere Erwartungen und Eindrücke dadurch beeinflusst?<br />

Kunst des Spazierenführens<br />

Arttours im Spannungsfeld von Kunstpraxis und Tourismusmarketing<br />

Bertram Weisshaar, Kaspar Wimberley<br />

Bei dem TALK WALKs Kolloquium in Leipzig berichtete Kaspar Wimberley von<br />

den Projekten und Stadtspaziergängen, die er gemeinsam mit Susanne Kudielka<br />

unter dem Label Arttours in Stuttgart vermittelt und kuratiert. Sie selbst beschreiben<br />

die Arttours als alternative Stadtführungen durch Stuttgart, die von Künstlern<br />

aus den verschiedensten Sparten entwickelt werden. Die Touren geben den<br />

Besuchern die Möglichkeit, die Stadt neu zu entdecken, zu definieren und zu<br />

verstehen. Während einige Künstler die Tour auf Ihre eigene subjektive Wahrnehmung<br />

zurückführen, ermöglichen andere Führungen ihren Teilnehmern die<br />

Stadt selbst zu erkunden. Die traditionellen Erwartungen einer Stadtführung sollen<br />

so erweitert und teilweise umgekehrt werden.<br />

BW: Bleiben wir zunächst bei dem „offiziellen Bild“ der Stadt Stuttgart,<br />

wie es beispielsweise durch die Stuttgart Marketing GmbH<br />

verbreitet wird. Durchaus erfolgreich übrigens – Stuttgart gehört<br />

zu den zehn am meisten besuchten Städten Deutschlands. Man<br />

könnte also fragen: Was stört euch an dieser Bild-Vermittlung?<br />

KW: Zunächst ist Stuttgart die achtgrößte Stadt Deutschlands und<br />

die Mehrzahl der Besucher sind Geschäftsreisende. Doch uns stört,<br />

dass die Stadt zum Unternehmer wird und dass das Bild der Stadt<br />

und deren Erkundung zu einem Produkt erklärt wird. Das Unternehmen<br />

Stuttgart Marketing GmbH und der Verband Region Stuttgart<br />

präsentierten beispielsweise im Jahr 2008 das Video Stuttgart<br />

- Enjoy the city (www.youtube.com/watch?v=vrMkFCStOew) und<br />

vermittelten darin ein ganz bestimmtes Bild der Stadt. Bei denjenigen,<br />

die Stuttgart nicht kennen, entstehen konkrete Erwartungen,<br />

für Stuttgart-Kenner hingegen ist das Video eher fragwürdig.<br />

Anders als in dem Video suggeriert wird, besteht diese Stadt natürlich<br />

nicht nur aus Glanz und Glamour, Weinbergen, Hochkultur<br />

und Automobilindustrie. Vergleicht man das Video mit Werbefilmen<br />

anderer deutscher Städte, stellt es doch eine Ausnahme dar<br />

und erinnert eher an den Trailer von Dubai. Welche Auswirkung<br />

hat ein solcher Trailer und solches Werbematerial auf das Erlebnis,<br />

die Wahrnehmung und die Entscheidungen eines Besuchers?<br />

Wenn ein Erlebnis, in diesem Fall eine Stadt, vermarktet wird, wird<br />

das reale Erlebnis möglicherweise reduziert oder ersetzt durch<br />

130<br />

131


Bertram Weisshaar: In unserer Gesellschaft wird das Flanieren<br />

meist als eine zeitlich zu begrenzende (Ausnahme)Tätigkeit verstanden.<br />

Du hingegen bezeichnest dich selbst als Flaneur. Was interessiert<br />

dich an der Figur des Flaneurs und am Flanieren?<br />

Gehen oder Flanieren<br />

Gedanken & Gänge in Stuttgart<br />

Tina Saum, Bertram Weisshaar<br />

„Was kann das Flanieren zutage fördern, das zuvor nicht oder wenig beachtet<br />

wurde? Wie funktioniert Flanieren und welche Voraussetzungen müssen gegeben<br />

sein, dass Flanieren möglich ist? […] Was macht eine gehende Fortbewegung<br />

zum Flanieren? Ist Flanieren eine Fortbewegungsart oder ist es eine Haltung,<br />

die sich gehend fortbewegend äußert?“ Diese und ähnliche Reflexionen<br />

finden sich auf der Website von „flanerie. labor für gedanken & gänge“. Bertram<br />

Weisshaar sprach mit Tina Saum, die 2011 gemeinsam mit Daniela Metz<br />

die flanerie in Stuttgart gründete und seither mit verschiedenen Kultur-Projekten<br />

versucht, Lust aufs Flanieren zu machen.<br />

Tina Saum: Ich habe über die Literatur das Flanieren entdeckt. Vieles,<br />

was mir im Leben wichtig ist, konnte ich plötzlich benennen.<br />

Flaneur zu sein impliziert nicht nur eine bestimmte Sichtweise auf<br />

die Wirklichkeit, die Stadt und die Gesellschaft, sondern ist für<br />

mich auch eine Haltung, eine Entscheidung, wie ich mich in dieser<br />

Welt positionieren möchte. Wenn man als Flaneur in der Stadt<br />

unterwegs ist, dann weiß man davor nicht, wohin der Weg einen<br />

führen wird und man kann danach oft auch nicht den Weg rekonstruieren,<br />

den man gegangen ist. Von verschiedenen spontan auftretenden<br />

Impulsen gelenkt, entdeckt der Flaneur die Urbanität,<br />

d. h. die oft widersprüchliche Vielfalt einer Stadt. Hierdurch bleibt<br />

das Stadtbild ein Fragment, zusammengesetzt aus vielen kleinen,<br />

unterschiedlichen Bildern. Dieses Stadtbild beinhaltet nicht nur<br />

die Highlights, sondern auch das scheinbar langweilige und schon<br />

in- und auswendig bekannte Alltägliche, das beinahe schon Vergangene<br />

und das Verdrängte, oft zu finden in dreckigen Hinterhöfen,<br />

kleinen, dunklen Gassen und an den verlassen wirkenden<br />

Stadträndern. Das Urbane einer Stadt ist eine wichtige Inspirationsquelle<br />

für mein Arbeiten und auch für meine Auseinandersetzung<br />

mit unserer Gesellschaft. Ich versuche deshalb so oft wie<br />

möglich zu flanieren. Wenn ich dann weiß, jetzt geht´s los, jetzt<br />

kann ich flanieren, dann ist das wie so eine nervöse Unruhe, die<br />

in mir aufkommt. Und am schönsten ist es, wenn ich in eine Art<br />

Selbstvergessenheit gerate. Ich kann dann nicht mehr zwischen<br />

mir und der Stadt unterscheiden. Ich werde dann zum Teil der<br />

Stadt, lasse mich durch ihre Straßen treiben, schaue, gehe, schaue,<br />

bleibe stehen, beobachte, gehe weiter und habe dabei keine Ahnung,<br />

wohin mich die Stadt, mein nächster Schritt, mein nächster<br />

Blick führen wird. Diese Unmittelbarkeit – dieses Gefühl, jetzt<br />

völlig hier zu sein – stellt sich auch nicht sogleich ein, sondern es<br />

braucht manchmal viel Zeit und hält dann vielleicht auch nur für<br />

Momente an. Die Zeit wird während des Flanierens ein dehnbarer<br />

Begriff, da es kein Ziel gibt, das zu einer bestimmten Uhrzeit<br />

erreicht werden muss. Erstaunlicherweise ist ja die Anmerkung<br />

des Flaneurs Franz Hessel, der Anfang des letzten Jahrhunderts in<br />

Berlin und Paris unterwegs war, bis heute aktuell: „Ich bekomme<br />

immer misstrauische Blicke ab, wenn ich versuche zwischen den<br />

Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen<br />

Taschendieb.“ 1<br />

Die Höhe des Entdeckungs- und Erlebnisfaktors beim Flanieren<br />

lässt sich vorab kaum einschätzen. Ich flanierte manchmal schon<br />

stundenlang in einer Stadt und fand keinen rechten Zugang zu<br />

ihr. Allmählich wurde mir jedoch bewusst, dass eben dies viel mit<br />

meiner Erwartungshaltung zu tun hat. Durch das Flanieren lerne<br />

140<br />

141


„Es gibt keine beste Lösung; […] Oder mit anderen Worten,<br />

Worten von heue: Planung ist Leidensverteilung.“<br />

Aus der Serie Stuttgart von hinten, 2011<br />

148<br />

149


Spazierengehen am Rand der Stadt<br />

Im GrünGürtel von Frankfurt am Main<br />

Klaus Hoppe<br />

Seit 1999 führt die Stadt Frankfurt am Main jährlich sechs Spaziergänge im<br />

Frankfurter GrünGürtel durch. Dieser ist der grüne Stadtrand Frankfurts, der seit<br />

1991 per Stadtverordnetenbeschluss als ringförmiger 80 qkm großer Freiraum<br />

geschützt ist. Der GrünGürtel enthält die Essenz der traditionellen Kulturlandschaften<br />

Frankfurts: den Stadtwald im Süden, die Obstwiesen im Osten, das<br />

Niddatal im Westen und die weiten Äcker im Norden. Und wie in so vielen Städten<br />

wird diesem Freiraum so manches zugemutet: Autobahnkreuze, ICE-Trassen<br />

und ein Flughafen mitten im Wald. Infrastrukturachsen reißen und zerren an<br />

allen Ecken und zersplittern die großen Landschaftsräume in viele kleine Räume.<br />

Immer wieder müssen Fußgänger Unterführungen oder Brücken benutzen. Und<br />

Freiraum heißt auch, dass die Stadtgesellschaft sich die Freiheit nimmt und diesen<br />

entsprechend nutzt: wildes Gartenland mit idyllischen Nischen, Sportplätze<br />

und Schrottplätze. Es gibt so manch Merkwürdiges hier zu entdecken. Diesen<br />

Freiraum, in all seiner Verschiedenheit und seiner Bedeutung für die Lebensqualität<br />

in der Stadt zu kommunizieren, das ist eine der Aufgaben der Projektgruppe<br />

GrünGürtel, die im Umweltamt federführend ihren Sitz hat. Das dazu das<br />

Instrument der Spaziergangsforschung zum Einsatz kommt, ist Lucius Burckhardt<br />

zu verdanken. Die von ihm entwickelte Methode der Spaziergangswissenschaft<br />

hilft, einen neuen unverstellten Blick auf unsere Stadtlandschaft zu werfen. Dieser<br />

Blick des Fußgängers auf den Freiraum ist zwangsläufig ein kritischer. Es<br />

gibt unzählige Orte in der Stadt, die nicht für Fußgänger geschaffen sind. Dort<br />

zu Fuß unterwegs zu sein ist eine Herausforderung, die ungewohnte Einblicke<br />

verspricht und das Verlangen nach Veränderung schürt. Einige Beispiele aus vierzehn<br />

Jahren umkreisen das Spektrum der Frankfurter Spaziergangsforschungen.<br />

150<br />

151


Bertram Weisshaar: Was treibt dich an, dass du mit anderen Menschen<br />

gemeinsam spazieren gehst, in der Rolle einer Spaziergangsexpertin?<br />

Marie-Anne Lerjen: Über zehn Jahre habe ich im Bereich der<br />

Architekturvermittlung gearbeitet. An der Abteilung Architektur<br />

der ETH Zürich (Eidgenössische Technische Hochschule) habe ich<br />

Ausstellungen und Publikationen sprachlich begleitet. Ursprünglich<br />

habe ich Literatur studiert, mich also mit fiktionalen Texten<br />

beschäftigt. Bei der Architektur hat mich nun beeindruckt, welchen<br />

Einfluss das Gebaute auf unseren realen Lebensalltag hat.<br />

So fing ich an, mich intensiver mit der Vermittlung von gebauten<br />

und gelebten Räumen zu befassen. Von dieser Seite, aber auch<br />

von eigenen künstlerischen Projekten her bin ich auf das Gehen<br />

gekommen. Abseits von klassischen Führungen liegt im Spazieren<br />

noch ein großes Potenzial zur Raumerkundung. Deshalb habe ich<br />

mich auf den Weg zur Spaziergangsexpertin gemacht.<br />

BW: So kam es wohl auch, dass wir uns 2009 kennen lernten bei<br />

dem Seminar Geh doch – Spaziergang als künstlerische Praxis an<br />

der Bundesakademie in Wolfenbüttel (D).<br />

Konzeptspaziergänge<br />

Experimente zur Gehkultur in der Schweiz<br />

Marie-Anne Lerjen, Bertram Weisshaar<br />

Marie-Anne Lerjen lebt und geht in Zürich. Anfang des Jahres 2012 gründete<br />

sie die Agentur für Gehkultur. Mit Spaziergängen und Wanderungen in Zürich<br />

und der Schweiz macht sie vielfältige Räume erfahrbar. Bertram Weisshaar traf<br />

sich mit ihr in Schaffhausen zu einem Gespräch. Entlang des Rheins entwickelte<br />

sich ein Redefluss über Konzeptspaziergänge und Spaziergangskonzepte.<br />

MAL: Beim Lesen der Ausschreibung war sofort entschieden, dass<br />

ich dorthin musste. Das Seminar war dann auch ein Schlüsselerlebnis<br />

und hat mich sehr inspiriert. Für mich wurde weiter klar,<br />

dass das Spazieren genau die „Methode“ ist, mit der ich arbeiten<br />

möchte. Zurück in Zürich habe ich angefangen, mit ungewöhnlichen<br />

Spaziergängen zu experimentieren. Freunde und Bekannte<br />

durften dann als Testpersonen immer wieder ihre „Füße“ herhalten.<br />

BW: Wie muss man sich diese Experimente vorstellen?<br />

MAL: Ich überlege mir für jeden Spaziergang eine Anordnung oder<br />

einen Fokus. Meist spielt dabei der Kontext, für den ich den Spaziergang<br />

plane, eine Rolle. Man kann also von einer Art experimenteller<br />

Versuchsanordnung sprechen. Nur dass hier nicht eine<br />

Hypothese belegt werden soll, sondern ein Rahmen vorgegeben<br />

wird, der eine Erfahrung ermöglicht. Diese Erfahrung ist offen gehalten<br />

und von den einzelnen Personen abhängig, die mitgehen.<br />

Es geht also um einen anderen Blick oder auch einen fokussierten<br />

Zugang zum Stadtraum oder Landschaftsraum – je nach dem,<br />

wo das Experiment stattfindet. Ich nenne diese Art auch „Konzeptspazieren“.<br />

Zentrale Begriffe sind das Gehen, der Weg und<br />

der Ort. Der Ort, der erkundet wird, durch den Weg, auf dem man<br />

zu Fuß unterwegs ist.<br />

BW: Und wie sieht so ein Spaziergang mit dir ganz konkret aus? Du<br />

hattest einmal von einem „Schablonenspaziergang“ gesprochen.<br />

160<br />

161


kunstpassanten<br />

Spaziergangswissenschaft als Form des kritischen Kuratierens<br />

Maren Brauner, Irene Grillo, Bertram Weisshaar<br />

Im Zeitraum Oktober 2009 bis Juni 2010 präsentierte das Projekt kunstpassanten<br />

in Zürich elf Künstler-Arbeiten, bei denen es sich durchweg um Spaziergänge<br />

handelte. Als Ausstellungs-Raum diente ausschließlich der öffentliche<br />

Stadt-Raum. Die beiden Kuratorinnen Maren Brauner und Irene Grillo erprobten<br />

mit kunstpassanten eine andere Praxis des Ausstellens, ebenso wie sie auch<br />

eine andere Art der Kunstrezeption vorschlugen: „Anstelle eines Museums- oder<br />

Galeriebesuchs nimmt der/die Interessierte an einem geführten Spaziergang<br />

durch den ‚Ausstellungsraum‘ Stadt teil. Alle Spaziergänge werden dokumentiert,<br />

wodurch das Angebot besteht, sich im Archiv einen Spaziergang auszuwählen<br />

und diesen eigenständig abzugehen. Die Spaziergänge richten sich<br />

demnach hauptsächlich an BewohnerInnen und KennerInnen, aber auch an<br />

interessierte BesucherInnen Zürichs, die sich mit der Stadt aus neuen Blickwinkeln<br />

auseinandersetzen wollen.“ Besonderes Augenmerk richtete sich dabei auf<br />

die Frage, wie öffentliche Räume entstehen und welche Rolle hierbei „Kunst im<br />

öffentlichen Raum“ einnehmen kann. Mithin sollte also die Sichtweise auf die<br />

Stadt und ihre Kunstwerke reflektiert werden: „Vor dem Hintergrund der Tatsache,<br />

dass öffentliche Kunstwerke häufig von den Bewohnern der Stadt nicht mehr<br />

wahrgenommen werden und mit der Zeit in Vergessenheit geraten, möchten<br />

wir sie vor dieser besonderen Art des Verschwindens bewahren und eine neue<br />

Auseinandersetzung mit Kunstwerken im öffentlichen Raum der Stadt Zürich anregen.<br />

Zusätzlich soll kunstpassanten einen weiteren Beitrag zum Diskurs über<br />

Entstehungsprozesse von öffentlichen Räumen aus der Perspektive der bildenden<br />

und darstellenden Kunst leisten.“<br />

Mit ihren Überlegungen bezogen sich die Kuratorinnen nach eigenen Aussagen<br />

einerseits auf die Spaziergangswissenschaft von Lucius Burckhardt, andererseits<br />

basierten diese auf dem Forschungsprojekt Kunst Öffentlichkeit Zürich, das zwischen<br />

2004 und 2007 vom Institut für Gegenwartskünste (IFCAR) der Zürcher<br />

Hochschule der Künste realisiert wurde. Daneben setzten sie sich ausführlich mit<br />

bisherigen „Spaziergangs-Ausstellungen“ auseinander, führten beispielsweise<br />

ein online abrufbares Video-Interview mit Stéphane Bauer und Christine Heidemann,<br />

dem Kurator und der Kuratorin der Berliner Ausstellung Walk!. Bereits<br />

diese Ausstellung thematisierte das Spazierengehen als künstlerische Praxis,<br />

untersuchte dessen Potenzial, die Wahrnehmung der Umgebung zu schärfen<br />

wie auch dessen Eigenschaft als spezifische Vermittlungsform. Maren Brauner<br />

und Irene Grillo interpretieren die Spaziergangswissenschaft als eine Form des<br />

kritischen Kuratierens – verstanden als Chance, Fragen darauf zu richten, wie<br />

zeitgenössische Themen zu eben solchen werden und wie dabei gleichzeitig<br />

zeitgenössische Kunstprojekte neue Perspektiven auf diese Themen ermöglichen.<br />

Ganz in diesem Sinne wollten auch die kunstpassanten-Spaziergänge nicht Wissen<br />

pädagogisch vermitteln, vielmehr wurde eine Sensibilisierung der Wahrnehmung<br />

und ein Diskurs über Kunst und öffentlichen Raum beabsichtigt. Jeder<br />

Spaziergang ist auf der Website kunstpassanten.ch dokumentiert und abrufbar.<br />

Bertram Weisshaar traf sich mit Irene Grillo und Maren Brauner in Zürich und<br />

sprach mit ihnen über das „Ausstellen“ von Spaziergängen – entlang des Spaziergangs<br />

EGAL von San Keller.<br />

168<br />

169


Dieselbe Modernisierung, die<br />

der Reise die Zeit entzogen hat,<br />

hat auch die Realität des Raums<br />

entzogen.<br />

Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels<br />

Urbanisieren Sie sich!<br />

Forschungsreisen ins Gewebe der Stadt. Nicht nur in Wien<br />

Christoph Laimer, Elke Rauth<br />

Erkundungsreisen in den städtischen Alltag stellen eine besondere Herausforderung<br />

dar: Gilt es doch, das Bekannte, die tausendmal peripher im Archiv<br />

unserer Sinne gespeicherte urbane Oberfläche abzustreifen, den Blick des Alltäglichen<br />

auszuschalten, um Kopf und Körper frei zu machen für das Eintauchen<br />

in das Gewebe des Städtischen, für Entdeckungen, Erlebnisse, Erfahrungen.<br />

Besonders gut gelingen diese Tauchgänge in den Alltag des Urbanen zu<br />

Fuß: Offenbart das Gehen doch alleine durch seine Geschwindigkeit eine Fülle<br />

an Sinneseindrücken, die wohl von keiner anderen Fortbewegungsart geleistet<br />

werden kann. Denn erst die Gewährung einer der Raumwahrnehmung adäquaten<br />

Geschwindigkeit schafft die Voraussetzung für das Erfassen der „Realität<br />

des Raumes“ wie es Guy Debord bezeichnet hat. Zu Recht steht das Gehen als<br />

forschende Praxis daher seit langem im Mittelpunkt urbaner Raumerfahrungsund<br />

Aneignungsstrategien. Die anhaltende Beschäftigung von Wissenschaft<br />

und Kunst mit dem Gehen als urbanistischer Wissensproduktion in Form von<br />

Spaziergangsforschung, Flanerie, Promenadologie lässt vermuten, dass weder<br />

der Höhepunkt in der Auseinandersetzung erreicht noch bereits alles dazu gesagt<br />

ist – gut so.<br />

Laboratoire dérive<br />

Dem Gehen als lustvoll-forschender Praxis<br />

seit vielen Jahren verschrieben hat sich auch<br />

dérive: Der in Wien ansässige Verein für<br />

Stadtforschung bezieht sich nicht nur namentlich<br />

direkt auf die radikal gesellschaftskritische<br />

Situationistische Internationale und<br />

ihre bereits in den 1960er Jahren erprobte,<br />

umherschweifende Raumerforschungs methode,<br />

er verfolgt auch seit vielen Jahren<br />

eine spielerisch-hedonistische Praxis urbaner<br />

Raum wahrnehmung. Laboratoire dérive<br />

– Forschungs reisen International nennt sich<br />

das Format der von dérive entwickelten und<br />

von den Ideen der Psychogeographie beeinflussten<br />

künstlerischen Forschungsmethode<br />

mit Hilfe des Zufallprinzips: In Form eines<br />

Spiels erfolgt die Bewegung zu Fuß, unterstützt<br />

durch öffentliche Verkehrsmittel. Die<br />

Knotenpunkte des öffentlichen Verkehrs<br />

dienen dabei als urbane „Raumlöcher“, um<br />

in das Gewebe der Stadt ein- und an einem<br />

zufälligen, per Würfel bestimmten Ort wieder<br />

aufzutauchen, von dem aus die jeweilige<br />

Forschungsreise fortgeführt wird. Der Zufall<br />

bestimmt die Richtung des ziellosen Driftens,<br />

geleitet von Plätzen, Straßen und Orten<br />

selbst. In Eigenregie gilt es nichts und alles<br />

zu erforschen, in einem weitgehend planungs-<br />

und erwartungslosen Zustand. „Ergebt<br />

euch der Psychogeographie“ lautet die<br />

vielleicht entscheidendste der fünf einfachen<br />

Handlungsanweisungen des Stadterforschungsspiels,<br />

bei dem „der neugierige<br />

Blick zum Wegweiser der umherschweifenden<br />

Erkundung wird.“<br />

Forschen bedeutet in diesem Zusammenhang<br />

in erster Linie wahrnehmen abseits<br />

einer eingeübten Routine – die eigenen Normierungen<br />

im Raum ebenso wie den Raum<br />

selbst. Die zu diesem Zweck gegründeten<br />

Forschungsbanden bestehen idealerweise<br />

180<br />

181


-----Ursprüngliche Nachricht-----<br />

Von: Clare Qualmann [mailto:studio@amesroom.com]<br />

Gesendet: Mittwoch 16/1/2013 16:42 Uhr<br />

An: Mark A Hunter<br />

Betreff: Beginn der Buchunterhaltung!<br />

Lieber Mark,<br />

ich denke also darüber nach, wie wir mit Blick auf die gegenwärtige<br />

Praxis ein Gespräch über die in London „spazierengehenden“<br />

Künstler beginnen können, das auch das Netzwerk Walking Artists<br />

und den soziopolitischen Kontext berührt, den wir bezüglich<br />

der Olympischen Spiele und anderer Maßnahmen der Stadterneuerung<br />

und urbanen Transformation diskutiert haben.<br />

Spuren verfolgen:<br />

Walking and Talking East London<br />

Mark A. Hunter, Clare Qualmann; Übersetzung Petra Frese<br />

Dieser E-Mail-Austausch entstand im Januar 2013 im Anschluss an eine Reihe<br />

persönlicher Gespräche über das Spazierengehen, über Kunst, die Kunst des<br />

Spazierengehens, London und die Olympischen Spiele 2012. Mark A. Hunter<br />

und Clare Qualmann haben mit Unterstützung der University of East London und<br />

des Arts and Humanities Research Council zusammen an der Einrichtung des<br />

Netzwerks Walking Artists 1 gearbeitet.<br />

Und ich habe beschlossen, dass ich am Anfang beginnen muss –<br />

für mich begann alles mit walkwalkwalk, 2 meine weiterhin bestehende<br />

Zusammenarbeit mit Gail Burton und Serena Korda. Mein<br />

Interesse am Spazierengehen und meine Arbeit darüber haben<br />

mit diesem Projekt begonnen. Als wir 2004 unsere Zusammenarbeit<br />

starteten, wussten wir nur von wenigen Künstler, die das<br />

Spazierengehen in ihre Arbeit integrierten, und die meisten von<br />

ihnen gehörten nicht zu unserem Umfeld. 3 Mit Fortschreiten des<br />

Projekts lernten wir Künstler wie Clive Brandon, Melissa Bliss und<br />

Viv Corringham kennen. Infolge dieser Begegnungen entstand die<br />

Idee des Netzwerks Walking Artists.<br />

Obwohl es nur ein Treffen gab, 4 kamen wir in Kontakt mit vielen<br />

anderen Leuten, die mit Spaziergängen arbeiten 5 und die aus überraschend<br />

vielen Bereichen zum Spazierengehen kamen; bildende<br />

Künstler, Konzeptkünstler, Musiker, Tänzer, Theatermacher trafen<br />

alle in diesem Raum zusammen. Das kann man heute deutlich<br />

am Mitgliederverzeichnis 6 des Netzwerks erkennen – auch außerhalb<br />

der bildenden und der darstellenden Kunst identifizieren<br />

sich Leute mit dem Spazierengehen als einer Form der kreativen<br />

Erkundung.<br />

Um auf die Besonderheiten Londons zurückzukommen: Ich erinnere<br />

mich an das erste öffentliche Event von walkwalkwalk im<br />

Jahr 2005. Es gab eine Route, die die Teilnehmer alleine gehen<br />

konnten 7 – sie wurde später zum „Herzen“ des Projekts und führte<br />

durch Bethnal Green, Whitechapel und Teile von Shoreditch.<br />

Was wir damals nicht wussten – und was sich erst dadurch herausstellte,<br />

dass wir die Route immer aufs Neue gingen –, war, dass<br />

als Nebenprodukt dieses Spaziergangs gewissermaßen ein Protokoll<br />

des sich wandelnden Aussehens der Stadt entstand. Der offene<br />

Raum um die Pedley Street, der als Zwischenstopp auf unseren<br />

Nachtspaziergängen so wichtig war, wurde in den Jahren 2007<br />

bis 2009 durch den Ausbau der East-London-Eisenbahnlinie vollkommen<br />

verändert. Während dieser Jahre mussten wir die Route<br />

immer wieder anpassen, manchmal in allerletzter Minute, weil<br />

190<br />

191


„Unser Unterricht […] möchte sichtbar machen, was […] sichtbar ist,<br />

aber von dem Städter offenbar nicht mehr wahrgenommen wird.“<br />

Studie zu Das Omnipräsente sichtbar machen,<br />

Karlsruhe 2010<br />

202<br />

203


BULB – The strolling Gallery,<br />

Dresden 2010<br />

Sind Fotografen eigentlich<br />

Spaziergangsforscher?<br />

Kai-Olaf Hesse, Bertram Weisshaar<br />

Es ist im Grunde ein naheliegender Gedanke, dass das Fotografieren und der<br />

Spaziergang sehr ähnliche Annäherungsstrategien an Räume teilen und auch<br />

als Medium im Zugriff auf Welt große Parallelitäten aufweisen. Sind diese beiden<br />

Praktiken etwa grundsätzlich verwandte Medien? Aus diesem Gedanken<br />

entstand die Idee zu dem folgenden Gespräch zwischen Bertram Weisshaar<br />

und Kai-Olaf Hesse.<br />

Kai-Olaf Hesse: Fotografen, die im Freiraum, der Stadt oder der<br />

Landschaft arbeiten, gehen ja auch viel spazieren, um ihre Motive<br />

zu finden. Von der Street- über die Stadt- zur Landschaftsfotografie<br />

usw. Sind solche Fotografen eigentlich auch Spaziergangswissenschaftler,<br />

oder worin unterscheiden sie sich?<br />

Bertram Weisshaar: Ich sehe einige sehr interessante Überschneidungen.<br />

Zunächst fällt jedoch ein Unterschied auf: Die Intention<br />

der Fotografen zielt sehr eindeutig auf das Produkt „Foto“, mit<br />

welchem der Fotograf dann die Kommunikation mit der Öffentlichkeit<br />

sucht. Die Fotografen, die wir gerade vor Augen haben,<br />

nutzen das Spazierengehen als Recherchemethode im Arbeitsprozess,<br />

nicht als Werkform. Als Spaziergangsforscher ziehe ich<br />

meistens den Spaziergang als Vermittlungsform vor oder ziehe<br />

auch mehrere Medien in Betracht. Dies wäre also zunächst einmal<br />

eine recht einfache Unterscheidung – von der Kommunikationsform<br />

oder der Werkform aus betrachtet.<br />

204<br />

205


„goethe hat eine ‚reise nach italien‘<br />

geschrieben. was wäre daraus<br />

geworden, wenn der titel<br />

gelautet hätte ‚urlaub in rom‘ ?“<br />

Otl Aicher 1<br />

Busbahnhöfe<br />

Eine Europa-Reise durch unscharfe Landschaften zu<br />

übersehenen Architekturen<br />

Bertram Weisshaar<br />

Busbahnhöfe markieren oftmals merkwürdige urbane Situationen. Dies trifft insbesondere<br />

für die größeren Knotenpunkte des europäischen Buslinien-Netzes<br />

zu. Gemeinsam ist diesen Transit-Orten eine eigentümliche Atmosphäre. Im Kontrast<br />

zu den anderen Verkehrsnetzen findet sich hier weit weniger Glamour,<br />

weniger Chromglanz. Diese Orte scheinen so gesehen nahe dran am „ungeschminkten”<br />

Alltag des jeweiligen Landes.<br />

Zwei längere Busreisen 2009 und 2011 führten den Autor zu den Busbahnhöfen<br />

in Berlin, Hamburg, Hannover sowie in Brno, Budapest, Kielce, Kiev, Lviv,<br />

London, Paris, Warschau und Wien. Der besondere Fokus richtete sich dabei<br />

auf die Wahrnehmung der Städte und Landschaften aus der Fahrt heraus sowie<br />

auf die Art und Weise, wie die Architektur und das Areal des jeweiligen Busbahnhofs<br />

mit dem urbanen Kontext zusammentreffen – oder eben auch nicht.<br />

216<br />

217


Unvollendet: Die unendliche Geschichte<br />

der Atom-Landschaften<br />

Bertram Weisshaar<br />

Die mit diesem Kapitel dokumentierte Reise unternimmt eine Annäherung an<br />

eine, gemessen nach dem Zeitmaßstab einer einzelnen Generation, unendliche<br />

Geschichte. Es ist auch der Versuch, der Verwandtschaft zweier denkbar<br />

unterschiedlichen und fast fünftausend Kilometer voneinander entfernten Landschaften<br />

nachzugehen, die zugleich in Beziehung stehen zu noch ferneren und<br />

nicht weniger unterschiedlichen Gegenden. Was alle diese über die Erdkugel<br />

verstreuten Landschaften gemeinsam haben, ist ihr unsichtbares Brandzeichen:<br />

URAN. Die hier geschilderte November-Reise beginnt in der einen, in dem zu<br />

einem Gartenschaugelände umgestalteten, ehemaligen Uran-Tagebau bei Ronneburg<br />

nahe von Gera (Thüringen, Deutschland), und sie führt in die andere,<br />

in die kasachische Steppe nach Kurtschatov, nahe von Semej (ehemals Semipalatinsk).<br />

An dem einen Ort wurde das Uran aus der Erde geschafft, nahe dem<br />

anderen Ort in der Steppe von Kasachstan explodierte es in die Luft.<br />

250<br />

251


Autoren<br />

Maren Brauner<br />

studierte Publizistikwissenschaft, Englische Literaturwissenschaft<br />

und Kunstgeschichte in Zürich und Valladolid<br />

(Spanien) und absolvierte das Postgradu ate<br />

Programme in Curating an der Zürcher Hochschule<br />

der Künste mit einem CAS (Certificate of Advanced<br />

grafiebezogene Projekte konzentrierten sich auf<br />

Fragestellungen nach historischen und kulturellen<br />

Fakten an den Schnittstellen gegenwärtiger Räume,<br />

gesellschaftlicher Befindlichkeiten und deren Bildwelten.<br />

Wandte er bisher seinen Blick eher aus der<br />

Totalen in die topografischen Gegebenheiten von<br />

gebauter Umwelt an Schnittpunkten von Gegenwart<br />

und Vergangenheit, so hat sich in den letzten Jahren<br />

Christoph Laimer<br />

ist Obmann von dérive – Verein für Stadtforschung<br />

sowie Gründer und Chefredakteur der seit 2000 vierteljährlich<br />

erscheinenden, internationalen und interdisziplinären<br />

Zeitschrift für kritische Stadtforschung<br />

dérive. Er ist Co-Kurator von urbanize! Int. Festival<br />

für urbane Erkundungen in Wien. Studium der Politikwissenschaft<br />

und Philosphie; Mitbegründer und<br />

Kulturarbeit seit 1991, freie Publizistin seit 2000.<br />

Editorial Board Mitglied von Eurozine – Netzwerk<br />

Europäischer Kulturzeitschriften seit 2013. Studium<br />

der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft,<br />

Theater-, Film- und Medienwissenschaften, Politikwissenschaft.<br />

Postgraduate Kulturmanagement.<br />

www.derive.at, www.urbanize.at<br />

Studies). Seit 2008 ist sie als Assistenzkuratorin an<br />

der Kunst Halle Sankt Gallen tätig und seit 2012 als<br />

Dozentin an der Schule für Gestaltung im Lehrgang<br />

Bildende Kunst in St. Gallen. Zuvor arbeitete sie als<br />

Assistentin der Leiterin Kommunikation am Museum<br />

für Gestaltung Zürich. Mit Irene Grillo kuratierte sie<br />

von 2009 bis 2010 das Projekt kunstpassanten sowie<br />

2011 die Ausstellung Immer noch und noch nicht mit<br />

eine subjektivere Herangehensweise herausgebildet:<br />

Detailblicke ins Kaleidoskop der realen Welt. Diese<br />

werfen den Blick weniger in den offenen Raum, sondern<br />

kristallieren „gesellschaftliche Sittenbilder“ mittels<br />

unserer hinterlassenen Zeichen in der Welt en détail.<br />

Dabei kann man die Details als Worte, die Straße<br />

als Satz und die Stadt als Text verstehen. Aus diesen<br />

„Worten“ entsteht ein „Text“ zur Stadt, die Bilder.<br />

leitend. Redakteur (1998–2000) des Kunstfanzines<br />

IWI.<br />

www.derive.at, www.urbanize.at<br />

Marie-Anne Lerjen<br />

ist Kulturvermittlerin und Künstlerin, seit 2012 Inhaberin<br />

von lerjentours. Agentur für Gehkultur in<br />

Zürich. Studium der Germanistik, Hispanistik und<br />

Tina Saum<br />

ist Flaneurin und Forscherin. Mitbegründerin und<br />

künstlerische Leiterin der flanerie. labor für gedanken<br />

& gänge. Tina Saum ist zudem als Regisseurin<br />

und Dramaturgin in der freien Theaterszene, bspw.<br />

DRAMA KÖLN und als Lehrbeauftragte an der Universität<br />

Tübingen (2011 und 2012) tätig. Literatur- und<br />

Rhetorikstudium (MA) an der Universität Tübingen.<br />

Adrien Tirtiaux und Hannes Zebedin in der Kunst<br />

Halle Sankt Gallen.<br />

Andreas Denk<br />

Klaus Hoppe<br />

studierte in Kassel Landschaftsplanung u.a. bei Prof.<br />

Lucius Burckhardt. Seine beruflichen Stationen waren<br />

Geschichte an der Universität Zürich. 1999–2011<br />

PR-Zuständige und Redaktorin für Architekturausstellungen<br />

und -publikationen am Institut für<br />

Geschichte und Theorie der Architektur der ETH<br />

Abschlussarbeit über flanierendes Wahrnehmen in<br />

der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (2010).<br />

http://dieflanerie.wordpress.com<br />

studierte Kunstgeschichte, Städtebau und Geschichte<br />

in Bochum, Freiburg und Bonn. Seit 2000 ist er Chefredakteur<br />

der Zeitschrift der architekt und seit 1990<br />

ständiger Korrespondent von Kunstforum International.<br />

Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen.<br />

Irene Grillo<br />

studierte Philosophie in Venedig und Berlin und absolvierte<br />

das Postgraduate Programme in Curating<br />

an der Zürcher Hochschule der Künste. Seit ihrem<br />

Abschluss 2009 an der ZHdK ist sie als freie Kuratorin<br />

tätig und seit 2010 im Team des Corner College<br />

für die Programmation mitverantwortlich. Zusammen<br />

mit Maren Brauner, mit der sie auch das Projekt<br />

kunstpassanten ins Leben rief, kuratierte sie die Ausstellung<br />

Immer noch und noch nicht mit Adrien Tirtiaux<br />

und Hannes Zebedin in der Kunst Halle Sankt<br />

Gallen. Für die baugenossenschaft mehr als wohnen<br />

kuratierte sie in Zusammenarbeit mit Stefan Wagner<br />

die erste Phase des Kunst und Bau Projekts Mehr als<br />

Kunst. Seit einigen Jahren ist sie außerdem immer<br />

wieder in der Organisation der Diplomausstellung<br />

des Master in Fine Arts der ZHdK involviert. Des weiteren<br />

arbeitete sie als Assistentin bei plug.in in Basel,<br />

das Stadtplanungsamt der Stadt Frankfurt am Main<br />

und ab 1995 das Umweltamt ebenda. Hier umfasste<br />

sein Aufgabenbereich die gesamtstädtische Freiraumplanung<br />

und den Natur- und Artenschutz. Ab<br />

1997 stand er der interdisziplinären Projektgruppe<br />

GrünGürtel Frankfurt vor. In diesem bundesweit<br />

bedeutenden gesamtstädtischen Freiraumprojekt<br />

setzte er u. a. durch ungewöhnliche Kooperationen<br />

mit den Karikaturisten der neuen Frankfurter Schule<br />

eigene Akzente. Die Eroberung eines ehemaligen militärischen<br />

Flugplatzes durch die Natur in Frankfurt<br />

Bonames ist eines seiner Vorzeigeprojekte, das zeigt,<br />

wie Freiraumgestaltung, Naturschutz und Nutzungsansprüche<br />

heute neue, auch ästhetisch interessante<br />

Lösungen entstehen lassen können. Ab 2009 steuerte<br />

er zum 20-jährigen Bestehen des GrünGürtels einen<br />

strategischen Neuausrichtungsprozess dieses Projektes,<br />

das den GrünGürtel durch einen neuen „grünen<br />

Speichenplan“ künftig fest mit der Kernstadt Frankfurts<br />

verbinden soll. Seit März 2013 Abteilungsleiter<br />

„Landschafts- und Grünplanung“ in der freien und<br />

Hansestadt Hamburg. Diese Abteilung ist der Kern<br />

der ehemals selbstständigen und traditionsreichen<br />

Gartenverwaltung der Stadt Hamburg.<br />

Zürich. Weiterbildungen in Kulturmanagement, Museologie,<br />

Sprachen sowie Szenischem Gestalten, Spazieren<br />

und Gesang. Künstlerische Praxis mit Walks,<br />

Installationen, Performances und Publikationen.<br />

www.lerjentours.ch<br />

Clare Qualmann<br />

is a London based artist working across a wide range<br />

of media; from drawing and sculpture to artist’s<br />

books and live art events. With Gail Burton and Serena<br />

Korda she forms the collective walkwalkwalk: an<br />

archaeology of the familiar and forgotten, an ongoing<br />

project that uses walking to explore and investigate<br />

place. She is a member of the Institute for Performing<br />

Arts Development at the University of East London,<br />

and the Visual Art Practice research group at London<br />

Metropolitan University, where her teaching and<br />

research focus on live art, participatory and interdisciplinary<br />

practices. Clare was a founder member<br />

of the Walking Artists Network in 2007, established<br />

with the goal of connecting walkers across disciplines,<br />

and with Mark Hunter worked to reinvigorate the<br />

network in 2009/10 — including a successful bid to<br />

the Arts and Humanities Research Council for fun-<br />

Margit Schild<br />

ist Konzeptkünstlerin, Kuratorin, Regisseurin und<br />

Autorin. Filme, Animationen und Kunstprojekte zu<br />

kollaborativer Autorschaft und partizipativer Kunst.<br />

Fachveröffentlichungen zu Kunst und Stadtforschung.<br />

Sie beschäftigt sich mit dem Thema „künstlerische<br />

Transformationsprozesse“ in Praxis, Lehre<br />

und Forschung. Derzeit „Artist in Residence“ 2011–<br />

14 am TRIUMF, Canada’s National Laboratory for<br />

Particle and Nuclear Physics, in Vancouver/Kanada,<br />

zusammen mit Elvira Hufschmid und Ingrid Koenig.<br />

Aktuelles Projekt: Goethe Satellite @ Vancouver, RAW<br />

DATA. Artistic Transformation gefördert vom Goethe<br />

Institut Toronto. 2010 und 2011 Visiting Artist<br />

und DAAD-Stipendiatin an der Emily Carr University<br />

of Art & Design in Vancouver, zusammen mit Elvira<br />

Hufschmid. 2007–2009 Gastprofessorin für künstlerische<br />

Transformationsprozesse an der Universität<br />

der Künste Berlin zusammen mit einem Team<br />

von Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen. Sie<br />

ist Dipl.-Ingenieurin der Landschafts- und Freiraumplanung<br />

und promovierte 2004 an der Fakultät für<br />

Architektur und Landschaft der Leibniz Universität<br />

Hannover. www.less-art.de<br />

wo sie zusammen mit Raffael Dörig die Ausstellung<br />

ding support.<br />

AD/HD vom italienischen Künstlerduo Eva und Franco<br />

Mattes aka 0100101110101101.ORG kuratierte.<br />

Kai-Olaf Hesse<br />

ist Buchgestalter und Fotograf, dessen Arbeiten sich<br />

lange mittels künstlerisch-dokumentarischer Bildsprachen<br />

in den Feldern „sozial-historischer Landschaftsfotografie“<br />

bewegten. Stadt-, geschichts- und topo-<br />

Mark A. Hunter<br />

is teacher/practitioner specialising in public and<br />

community negotiated projects. His areas of research/practice<br />

include performance pedagogy,<br />

process-based work and cross-disciplinary theatre/performance/<br />

live art. He is the director of<br />

Performing Arts at the University of East London.<br />

http://www.uel.ac.uk<br />

Elke Rauth<br />

ist stellvertretende Obfrau der unabhängigen Urbanismusplattform<br />

dérive – Verein für Stadtforschung,<br />

Mitarbeiterin des Urbanismusmagazins dérive sowie<br />

leitende Redakteurin von dérive – Radio für Stadtforschung.<br />

Sie ist Leiterin und Co-Kuratorin von urbanize!<br />

Int. Festival für urbane Erkundungen. Freie<br />

Martin Schmitz<br />

studierte im FB Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung<br />

an der Universität Kassel bei Lucius Burckhardt.<br />

Autor d. Buches Currywurst mit Fritten – Über<br />

die Kultur der Imbißbude, Zürich 1983, Kurator des<br />

Filmprogramms der 8. documenta 1987 und der Tagung<br />

„Dilettantismus“ in Görlitz 1995. Lehraufträge<br />

in Saarbrücken, Weimar und Kassel. Kurator des do-<br />

282<br />

283


cumenta urbana-Symposiums „Kunst plant die Planung“,<br />

Kassel 2007 und des internationalen Kongresses<br />

„Spaziergangswissenschaft: Sehen, erkennen und<br />

planen“, Frankfurt am Main, 2008. Mitherausgeber<br />

der Bücher von Lucius Burckhardt: Wer plant die Planung?<br />

Architektur, Politik und Mensch, 2004; Warum<br />

ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft,<br />

2006; Design ist unsichtbar. Entwurf, Gesellschaft und<br />

Pädagogik, 2012 und Lucius Burckhardt Writings. Rethinking<br />

Man-made Environments, Wien/New York<br />

2012. www.martin-schmitz.de<br />

Hannah Stippl<br />

ist bildende Künstlerin, Kuratorin und Landschaftstheoretikerin<br />

mit Schwerpunkt „Ästhetik und Partizipation“.<br />

Kuratorische Projekte waren u.a.: (landscape)<br />

with flowers (2013, IG Bildende Kunst Wien und<br />

Botanischer Garten der Universität Wien), und Die<br />

Lesbarkeit der Brache (2009, Botanischer Garten der<br />

Universität Wien). In ihrer vorwiegend im Medium der<br />

Malerei angesiedelten künstlerischen Arbeit befragt<br />

sie Gewohnheiten und Aberrationen der Wahrnehmung<br />

von Natur. Projekte waren u.a.: Episodes of a<br />

Flowerbed – Participatory Painting, Interpreting and<br />

Planting (mit Anita Duller, 2012 Chelsea Fringe, London),<br />

AIR Wurlitzer Foundation (2011 Taos/NM USA).<br />

In ihrer Dissertation „Nur wo der Mensch die Natur<br />

gestört hat, 
wird die Landschaft wirklich schön. 
Die<br />

landschaftstheoretischen Aquarelle von Lucius Burckhardt“<br />

(2011) beschäftigt sie sich mit den Grundlagen<br />

der Spaziergangswissenschaft. Sie ist Mitarbeiterin<br />

des PEEK Forschungsprojektes Eden’s Edge und<br />

unterrichtet in der Abteilung Landschaftsdesign/<br />

Landscape Art an der Universität für angewandte<br />

Kunst Wien.<br />

Andrea Thiele<br />

ist Kunsthistorikerin und Historikerin. Tischlerausbildung.<br />

Studium der Kunstgeschichte und Geschichte<br />

in Halle (Saale). 2003–2009 Doktorandin, Arbeit an<br />

der Studie Residenz auf Abruf? Hof- und Stadtgesellschaft<br />

in Halle unter dem letzten Administrator des<br />

Erzstifts Magdeburg, August von Sachsen (1614-1680)<br />

(ersch. 2011). 2009 Promotion zum Dr. phil.; 2009–<br />

2011 Postdoc-Stipendiatin, Lehrbeauftragte und Autorin;<br />

seit 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im<br />

Editionsprojekt des Briefwechsels des Juristen und<br />

Frühaufklärers Christian Thomasius (1655–1728)<br />

Bertram Weisshaar<br />

absolvierte eine Lehre zum Fotografen und studierte<br />

Landschaftsplanung an der GHK Kassel. Seit<br />

1996 freiberuflich tätig als Spaziergangsforscher.<br />

Melitta Förderpreis Bildende Kunst (1999); Kulturpreis<br />

Schwarzwald-Baar 2006; Stipendium der Kulturstiftung<br />

des Freistaates Sachsen (2009); 2010 artist-inresidence<br />

Krems an der Donau, Österreich. Projektförderungen<br />

durch: VG Bild-Kunst, Kulturstiftung des<br />

Freistaates Sachsen, Lucius und Annemarie Burckhardt<br />

Stiftung. Seminare für Bundesakademie für<br />

kulturelle Bildung Wolfenbüttel, Universität Leipzig,<br />

Universität für angewandte Kunst Wien, u.a.. Konzeption/Leitung<br />

„TALK WALKs Kolloquium“ in Leipzig<br />

(2011). Zahlreiche Ausstellungsbeiträge und Spaziergangsinszenierungen,<br />

wie z. B. GPS-Spaziergang zur<br />

AVUS in Berlin (2008). Seit 2011 Aufbau des Audio-<br />

Spaziergangs-Archiv TALK WALKs Audio.<br />

www.atelier-latent.de; www.talk-walks.net;<br />

www.spaziergangswissenschaft.de<br />

Kaspar Wimberley, Susanne Kudielka<br />

Seit mehreren Jahren arbeitet das Künstlerpaar als<br />

Interventionskünstler und Performance Researcher<br />

mit dem Schwerpunkt auf orts-spezifische und ortsbezogene<br />

Projekte, die alternative Strategien in der<br />

Interaktion mit der Öffentlichkeit und neue Formen<br />

künstlerischer Zusammenarbeit untersuchen. Projekte<br />

wurden als Einladungen beschrieben. Diese<br />

sind subversiv, in ihrer Art vergänglich oder temporär;<br />

spielerische Auseinandersetzungen, die die<br />

Geschichte und Wahrnehmung einer bestimmten<br />

Aktion oder eines gegebenen Ortes neu definieren.<br />

http://stuttg-arttours.de<br />

Carl Zillich<br />

studierte Architektur und Stadtplanung an der Universität<br />

Kassel und DAAD-Stipendiat an der Columbia<br />

University in New York. 2002–2008 wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Institut für Geschichte<br />

und Theorie der Architektur an der Leibniz Universität<br />

Hannover. Seit 2004 eigene realisierte Architekturprojekte<br />

(u.a. Sonderpreis des Landesbaupreis<br />

Mecklenburg-Vorpommern 2012). Seit 2006 Jurys,<br />

Gastkritiken, Vorträge und Moderationen u.a. an Universitäten<br />

im In- und Ausland sowie am Aedes Network<br />

Campus Berlin. 2008–2013 wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter der Bundesstiftung Baukultur. Seit 2012<br />

außerordentliches Mitglied des BDA. Publikationen<br />

zu Schnittstellen von Architektur und Kunst, zur<br />

Transparenz in der Architektur, zum Umgang mit<br />

der Nachkriegsmoderne sowie zur zeitgenössischen<br />

Baukultur.<br />

Dank<br />

Danken möchte ich allen Mitautoren und Interview- bzw. Gesprächspartnern<br />

des vorgelegten Bandes, für ihre geleistete Mitarbeit, für die zur Verfügung<br />

gestellten Texte und Abbildungen. Dank gilt hier insbesondere auch Martin<br />

Schmitz für den langjährigen kollegialen Austausch. Maren Franzke und Andrea<br />

Zeumer danke ich für die geduldige Durchsicht der Texte, Lurett Seyde für<br />

ihre wertvolle Hilfestellung bei den Layoutarbeiten.<br />

Ganz besonderer Dank gilt Annemarie Burckhardt, die mir durch ihre Aufmerksamkeit<br />

und Wertschätzung in den letzten Jahren eine wertvolle Stütze war<br />

und mich zu diesem Buch ermutigte. Die von ihr gegründete Lucius und Annemarie<br />

Burckhardt Stiftung leistete dankenswerter Weise die nötige finanzielle<br />

Unterstützung zur Herausgabe dieses Bandes. Dank gilt nicht weniger Lucius<br />

Burckhardt, der mir nicht nur an der Universität Kassel die Inhalte der Spaziergangswissenschaft<br />

nahebrachte, sondern auch über das Studium hinaus einen<br />

anregenden Austausch bot. Ebenso verdanke ich Jürgen von Reuß wertvolle Unterstützung<br />

während der Diplomarbeit, aber auch danach durch sein Mitwirken<br />

bei dem Claimsummer in Golpa-Nord.<br />

Nicht vermissen möchte ich, mich an dieser Stelle bei allen Kooperationspartnern<br />

und Auftraggebern zu bedanken, die durch ihr entgegengebrachtes Vertrauen<br />

in den zurückliegenden Jahren viele Projekte erst ermöglichten. Ohne<br />

diese Zusammenarbeit wäre hier weniger von einer Praxis zu berichten. Alle zu<br />

nennen würde hier zu weit führen, genannt werden sollen aber doch die Partner<br />

einer mehrjährigen Zusammenarbeit: hierbei zuerst die Stiftung Bauhaus<br />

Dessau, da diese mich meine ersten Schritte in der Öffentlichkeit erproben ließ.<br />

Des Weiteren: die Projektgruppe GrünGürtel Frankfurt, Michael Berninger für<br />

den Kunstverein Leipzig, dem Projektteam koopstadt in der Abteilung Stadtplanung<br />

Leipzig, Inge Kunath vom Amt für Stadtgrün und Gewässer Leipzig; dem<br />

Büro agl in Saarbrücken; und nicht zuletzt Hannah Stippl und Mario Terzic an<br />

der Universität für angewandte Kunst Wien.<br />

Danken möchte ich an dieser Stelle auch noch einmal für die erhaltenen Förderungen<br />

und Preise. Diese waren mir wichtige Unterstützung, den Weg weiter<br />

zu gehen: Melitta Förderpreis Bildende Kunst, Kulturpreis Schwarzwald-Baar,<br />

Förderung durch VG Bild-Kunst, Förderung durch Kulturstiftung des Freistaates<br />

Sachsen.<br />

284<br />

285

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!