„Wie also müssen wir dem Bewohner der Metropole die Natur darstellen? Denn die Natur selbst sieht er nicht.“ (L. Burckhardt, a. folg. Zitate) Picknick an der Parthe, Leipzig 2009. Anlässlich Finissage Walks & Views 8 9
Mit Herumlaufen allein ist es nicht getan Bertram Weisshaar „Wenn mich aber die Notwendigkeit zwingt, in der Stadt zu sein, habe ich gelernt, mir inmitten des Volkes Ein sam keit, in den Stürmen einen Hafen zu schaffen mit einem Kunstmittel, das nicht allen bekannt ist: ich beherrsche meine Sinne so, dass sie nicht wahrnehmen, was sie wahrnehmen.“ 1 Francesco Petrarca, 1356 „Der wichtigste Grund, warum man von einem Platz zu einem anderen geht, ist der, weil man sehen will, was zwischendurch passiert. Daran hatten die Menschen viel Freude. Dann, irgendwann einmal, entdeckte einer, dass wenn man so schnell als möglich gehe und nichts anderes als seine Schuhe anschaue, man viel schneller zu seinem Ziel gelange. Keiner interessierte sich mehr dafür, wie alles aussah. Und je schneller sie sich bewegten, um so scheußlicher und schmutziger wurde alles. Und je schmutziger und scheußlicher alles wurde, desto schneller rannten die Leute. Und dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Nachdem sich kein Mensch mehr darum kümmerte, begann die Stadt zu verschwinden. Täglich wurden die Gebäude schemenhafter, die Straßen verschwanden, bis schließlich die Stadt unsichtbar geworden war…“ 2 Norton Juster, 1963 Gehen um zu verstehen Gehen ist nach wie vor die einfachste Art, sich eine Stadt oder Landschaft zu erschließen. Viele tun dies auf nicht alltägliche Weise: Arttours, Audio-Walks, BaukulTOURen, Dialogische Spaziergänge, Dérives, Konzeptspaziergänge, Promenadologische Spaziergänge, Silent Walks, Stadtsafaries, Talk Walks usw. – die Liste der Formate, die sich „in Fortbewegung“ durch den Raum mit der Gestalt und der Wahrnehmung des Raumes und der Entwicklung von Stadt und Landschaft auseinandersetzen, wird vielfältiger. Dieser Band legt einen Schwerpunkt auf diese Formate, die mittels des Gehens zu einer Analyse, einer Aussage oder beabsichtigten Wirkung gelangen. Er verschafft einen Überblick über die Vielfalt der Spaziergangskonzepte 3 , ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben oder mit der getroffenen Auswahl eine Bewertung vorzunehmen. Versammelt werden neben einigen Projekten des Herausgebers auch mehrere Positionen und Akteure aus dem deutschsprachigen Raum und Großbritannien, die unterschiedlichen Professionen und Anliegen entspringen und sich nicht notwendigerweise selbst auf die Spaziergangswissenschaft beziehen. Viel mehr ist das gemeinsame Merkmal der vorgestellten Formate, dass sie alle gehend – in Fortbewegung – zum Ausdruck kommen. Dabei jedoch – und das ist wichtig – geht es bei den hier versammelten Positionen nicht um das Gehen an sich, sondern darum, wo dieses Gehen hinführt, wobei wiederum nicht ein geografischer Ort gemeint ist, sondern ein anderer Blick, ein wacherer Zustand, ein geweitetes Denken – im Idealfall: Eigenes Denken. Oder mit anderen Worten: Mit Herumlaufen allein ist es nicht getan. „Hinter den Spaziergängen in der Stadt steht die Annahme, dass wir das Alltägliche nicht mehr wahrnehmen.“ 4 Es geht also darum, Wahrnehmung herzustellen und das bloße Sehen zum Erkennen zu führen: „‚Wahrnehmung‘ ist ein weiterer Begriff als ‚Sinneswahrnehmung‘. Für ästhetisches Denken sind gerade Wahrnehmungen ausschlaggebend, die nicht bloße Sinneswahrnehmungen sind. ‚Wahrnehmung‘ ist hier vielmehr in dem zugleich fundamentaleren und weiterreichenden Sinn von ‚Gewahrwerden‘ zu verstehen […] hat den Charakter von Einsicht.“ 5 In diesem Verständnis geht es den in diesem Buch dokumentierten Projekten um unsichtbares Design, also um Zusammenhänge hinter den Dingen, auf welche wir jedoch durch sinnliche Erfahrungen aufmerksam werden. Baukultur Neben der Darstellung der Vielfalt der Formate untersucht der vorgelegte Band die Potenziale des Spaziergangs in Bezug auf die Analyse des Raumes und des Ortes sowie seine Qualitäten und Funktionen als Format der Vermittlung und Darstellung, als Kommunikationsmedium. Gerade in den Diskussionen und Verhandlungen zur Baukultur kann der hier aufgefächerte Spaziergang eine hilfreiche Rolle als Mediator übernehmen, in dem Sinne, wie dies etwa Matthias Sauerbruch eingefordert hat: „Ganz abstrakt verspricht man sich natürlich vom Mittun aufgeklärter und solidarischer Bürger sehr viel; tatsächlich stellt diese Diskussion für viele Mitbürger aber eine inhaltliche Herausforderung dar. Für einen wirklich produktiven Austausch bedarf es eines Mediators, der erklärt, informiert, übersetzt und anregt. Die Erfindung der Rolle eines solchen professionellen Mediators könnte eine Reaktion auf die Transformation des Öffentlichen sein.“ 6 Gerade zum jetzigen Zeitpunkt, da tradierte Planungsinstrumente angesichts der Problemlagen beispielsweise in schrumpfenden Städten nur mehr bedingt wirksam werden und auch in Anbetracht einer neuen Wertschätzung des Fußverkehrs in den Städten, erwächst der Spaziergangswissenschaft eine erneuerte Bedeutung. Früh schon benannte Burckhardt als eines der Hauptprobleme „die fehlende Beteiligung der Menschen an der Gestaltung ihrer Umwelt. Diese Beteiligung gilt es, von planerischer Seite zuzulassen und zu moderieren. Aber da sie ein ungewohntes Angebot darstellt, muss 10 11